Eine Kindheit und Jugend ohne Mark Twain ist (nicht nur) für
meine Generation unvorstellbar. Der „Wilde Westen“, Hintergrund so gut wie
sämtlicher Rollenspiele und Tagträume, wäre ein in jeder Hinsicht
schwarz-weißes, von blutleeren bis faschistoiden sozialstrukturellen Vorgaben
geprägtes Terrain geblieben ohne jene zwei Ewigkeitsbücher, deren das erste und
sowieso alles andere Verfügbare weit überragendes zweites mit dem so typisch
ironisch verknäuelten Satz anhob: „Ihr könnt nichts von mir wissen, wenn ihr
nicht das Buch über Tom Sawyer gelesen habt, aber das hat weiter nichts zu
besagen.“ Ein solcher Satz bleibt hängen; der dreht sich wie ein Korkenzieher
hinein in ein jugendliches Gemüt, das bald selbst kaum anderes mehr will als
das: schreiben, Geschichten erfinden, Bücher machen, und wenn’s nur
selbstgeheftete Broschüren mit blumigen Titeln ohne Inhalt sind.
Dabei trug das dicke, kinderfest gebundene und daher trotz
hundertfachem Gebrauch auch unter freiem Himmel über die Jahrzehnte immer noch
nicht zerlesene Buch den harmlos kleingedruckten Hinweis „für die Jugend neu
bearbeitet“, was bedeutete, daß Passagen, die das Gemüt des deutschen
Nachkriegs-Nachwirtschaftswunder-Nachwuchses in seiner euphorischen
Grundhaltung beeinträchtigen mochten, mindestens „entschärft“ worden waren.
Aber was drinstand, genügte uns allemal – daß der Neger und selbst der „edle“
Indianer sowie deren Lebensumstände nicht das und nicht so waren, wie und was
wir von Karl May, „Bonanza“ und dem Micky-Maus-Magazin vorgegaukelt bekamen,
wußten wir da her, ohne es bewußt zu erfahren. Auch fast alles andere, was wir
von den Weiten, Tiefen, den Wundern und Schrecken des „Westens“ sahen,
spielten, verinnerlichten, kam irgendwie von Mark Twain.
Da her kam freilich noch viel mehr: Überhaupt keine
US-amerikanische Literatur hätte es gegeben ohne den „Huckleberry Finn“, meinte
Ernest Hemingway, der ansonsten vielleicht nicht viel verstand, dies aber
pfeilgrad. Möglicherweise auch das Lesen als Kulturtechnik, denn als wir das
lernten, stand in vielen Stuben schon der Fernsehkasten, der fast alles (was
wir kannten, etwa den erwähnten Karl May) besser zeigen konnte als das
betüpfelte Papier, an den wuchernden, wunderbaren Bildern und dem Witz eines
Mark Twain indes kläglich scheiterte – ich erinnere mich an die enttäuschte
Ermüdung des Zehnjährigen angesichts der Wiederholung einer preisgekrönten
ZDF-Verfilmung: Da war das Buch (anders als etwa auch beim „Lederstrumpf“) die
bessere Wahl, zu der er zurückkehrte und bei der er (überwiegend) blieb.
Ich schweife ab, durchaus angemessenerweise: Das Geraten vom
Hundertsten ins Tausendste unter Ausblendung des Ersten, Siebten, Dreihundertzwölften
ist eine wesentliche „Technik“ des Twainschen Erzählens; das erfährt, wer nur ein
paar Seiten seiner autobiographischen Konvolute überfliegt. Der (ehemalige)
Dampferlotse, Goldgräber, Korrespondent, Reporter, Weltreisende, Geschäftsmann
(und Bankrotteur), Stand-up-Komiker, der fanatische Raucher, Moralist, Spötter,
Romantiker und Zyniker fängt stets irgendwo an, läßt sich treiben, wirft Namen
und reale, nebulöse, erfundene Ereignisse hin wie Körner vors Geflügel, schweift
wieder ab, und zwar genüßlich: „Der Leser, wenn er nur tief genug in sein
geheimes Herz schaut, findet dort – aber vergessen wir, was er dort findet.
Schließlich schreibe ich nicht seine
Autobiographie, sondern meine.“
Es ist meist heikel, Tagebücher oder Erinnerungen zu lesen:
Sind sie geheim, fühlt man sich selbst bei Toten als obszöner Eindringling;
autorisierte Editionen ertränken einen gerne in narzißtischem Sud. Samuel
Langhorne Clemens (dessen der Mississippi-Schiffahrt entlehnter Künstlername
sich sehr frei ins Süddeutsche übersetzen ließe als „Zwoa Striech“), ein
Meister (auch) der Selbstverspottung, bleibt beidem fern. Er drehte seiner Welt
eine Nase, indem er die Veröffentlichung seiner „Autobiographie“ hundert Jahre
in die Zukunft verschob, publizierte gleichwohl Teile daraus zu Lebzeiten
selbst und kam auch nicht als Fluch darnieder über die, die immer mal wieder
etwas daraus zusammenkompilierten. Nun, da das festgesetzte Jahrhundert sich
verzogen hat, sollen drei Bände alles fassen, was verfügbar hinterlassen und
ein angemessener Wirrwarr ist, über viele Jahre sporadisch begonnen, ab 1906 diktiert
und gesammelt unter dem fruchtbaren Vorsatz, immer nur von dem zu sprechen, was
ihn augenblicklich gerade interessierte. Eine Heldenarbeit für Herausgeber, aus
diesem drei Aktenmeter breiten Vulkan von Anekdoten, Zoten, Ansichten und
Geschichten (immerhin einem erschlossenen und im Vorwort der US-Ausgabe
erläuterten Plan des Autors folgend) eine lesbare Edition zu machen.
Das ist indes im vorliegenden ersten Teil bravourös gelungen,
und zwar für jeden Anspruch, vom zufällig Interessierten bis hin zum
Werkarchäologen; die Texte sind sinnvoll angeordnet, der Apparat an
Anmerkungen, Kommentaren, Dokumentationen, Deutungen, Querverweisen,
Hintergrundinformationen und und und ist erschöpfend, aber frei von müßiger Klugscheißerei
(zusätzliche textkritische Kommentare finden sich unter
www.marktwainproject.org).
Lesen sollte man dieses Buch so, wie es entstanden ist:
hineinflanierend, blätternd, sich vertiefend, es wieder beiseite legen, wenn
das momentane Interesse erlahmt. Der Versuch, es als ganzes zu verdauen, wird
vergeblich bleiben. Der Schatz ist schlicht zu überreich, zu disparat in jeder
Hinsicht. Sowieso verbergen sich in manchen Episoden ganze Romane, etwa wenn
vom aus der Ferne „gemieteten“ Sklavenjungen erzählt wird, einem „fröhlichen
Geist“, der „den lieben langen Tag sang, pfiff, johlte, jauchzte, lachte“, was
Mark Twain als Kind „nervtötend, zerstörerisch“ (im Original „devastating“,
also ungefähr: „niederschmetternd“), „unerträglich“ fand, sich schließlich bei
seiner Mutter beklagte, die ihm mit Tränen in den Augen und zitternder Lippe
erklärt: „Der arme Kerl, wenn er singt, heißt das, daß er sich nicht erinnert,
und das tröstet mich; aber wenn er schweigt, fürchte ich, daß er nachdenkt, und
das kann ich nicht ertragen. Er wird seine Mutter niemals wiedersehen; wenn er
singt, darf ich ihn nicht daran hindern, sondern muß dankbar dafür sein. Wenn
du älter wärst, würdest du mich verstehen; dann würde dich der Lärm eines
Kindes ohne Freunde froh stimmen.“
Die hundertjährige Frist befreite den Erzähler von der
Furcht vor seinen strengen beziehungsweise vernagelten Zeitgenossen („Niemand
mag gehaßt, niemand gemieden werden“, schrieb er 1905). Wie stark Twains
Neigung zur radikalen Meinung in vielerlei Hinsicht – vom Kapitalismus bis zur
Religion – war, ist ahnungsweise bekannt; in diesem Buch erweist es sich in
seiner ganzen Tiefe und auch Ambivalenz. Frappant zudem, wie aktuell vieles
klingt: Manche Anmerkungen etwa eben zur Sklaverei lassen sich ohne weiteres als
Beschreibungen heutiger Lohnarbeit lesen.
Ein paar Anmerkungen zur deutschen Ausgabe, deren
wesentlicher Vorzug die Aufspaltung von Text und Apparat in zwei Bände ist – das
entlastet die Hände und erleichtert das Studium. Die Übersetzung des Textes selbst
ist brauchbar, sieht man von einigen Patzern ab (etwa dem oben angeführten oder
einem idiotischen, wie ein Betonklotz in einen stillen Weiher geschmissenen
„nichtsdestotrotz“). Der Apparat hingegen trägt deutliche Narben von
Anglistikseminaren; da hätte eine Nachbearbeitung durch einen des Deutschen
auch stilistisch Mächtigen nicht geschadet. Rätselhaft bleibt: wieso der Zusatz
„Teil eins“ gänzlich fehlt, was das Wort „geheim“ im Titel soll, weshalb die
Reihenfolge von „Vorläufigen Manuskripten und Diktaten“ und „Autobiographie“ gegenüber
der Originalausgabe umgestellt wurde und wieso man zugunsten von fünf Seiten
schwurbeligem „Vorwort“-Dampfgeplauder auf ein ausführliches Inhaltsverzeichnis
verzichtet hat.
geschrieben im November 2012 für KONKRET
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