Freitag, 30. September 2016

Belästigungen 18/2016: Vom Ein- und Auswickeln des Menschen und wer wen dazu zwingt (und warum)

Wenn der goldene Frühherbst daherrauscht, zieht es Menschen wie mich aus ihrer sommerlichen Entrückung in den Gefilden von Isarufer, Seestrand und Traumlandschaft notgedrungen ein bißchen hinaus und näher an die Gemeinschaft der Menschen hinan, die sich mit anderen Dingen als Wasser, Liebe und Hirngespinsten beschäftigen. Schließlich gibt es da ja auch noch eine Wohnung, in der man den Winter über wohnen wird müssen und die man deshalb entwahrlosen sollte, indem man (wenn es regnet) endlich mal wieder Staubsauger und Waschmaschine anwirft, Geschirr spült, Berge von Altpapier und sonstigen Ansammlungen hinausschmeißt und sich zwischendurch über die bekannten Kanäle sozialer Medien mal kurz umschaut, was sich so getan hat in der müßig verkümmelten Zwischenzeit.
Da gäbe es schließlich einiges zu diskutieren: Krieg, Zerstörung, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Kapitalismus, Hunger, Bomben, Nazis und notfalls ein paar vom ältesten Sommerwahn der Welt befallene Politkasperl, die zum hunderttausendsten Mal Steuersenkungen für die Reichen „ins Spiel bringen“, weil die Armen so was pfundig finden und sie dann wählen.
Aber lustig: Was die „öffentliche Meinung“ derzeit umtreibt, ist nichts davon, sondern so gut wie ausschließlich ein Thema – was muslimische Frauen am Badestrand (und im Grunde überhaupt) anziehen sollen und dürfen oder eben nicht dürfen. Jedenfalls, so lautet offenbar der Tenor, darf es nicht dieses Ding sein, von dem niemand so genau weiß, ob es Burka, Tschador, Niqab oder sonst wie heißt. Und zwar, so hört man, weil damit der Frau ihre Individualität genommen werde.
Klingt erst mal irgendwie plausibel. Daß böse alte Männer Frauen zwingen, sich in Stoff einzuwickeln, war uns noch nie sympathisch, schon damals nicht, als böse alte Männer hierzulande unter dem Eindruck von Sexwelle, Minirock und Bikini ebenfalls Frauen in Stoff einwickeln wollten. Allerdings ging es damals nicht so sehr um Individualität, und damals wie heute bin ich mir nicht so sicher, ob hinter der Einwicklerei wirklich (nur) Männer stecken: Die schauen sich im Normalfall ganz gerne mal eine hübsche Frau an, am liebsten leicht oder gar nicht bekleidet. Aber egal.
Noch unsympathischer ist andererseits, wenn böse alte Männer böse alte Männer zwingen wollen, ihre Frauen nicht zu zwingen, sich in Stoff einzuwickeln, und zu diesem Zweck die Frauen zwingen, sich auszuwickeln. Und sowieso ist das mit dem Auswickeln auch nicht ganz so leicht, schließlich gibt es da noch ein durch Gewohnheit entstandenes Schamgefühl, und wenn die bösen alten Männer das mal spüren möchten, sollen sie gerne am Samstagnachmittag nackt durch die Fußgängerzone spazieren und dann noch mal drüber nachdenken. Aber auch egal.
Interessant finde ich vielmehr, wer sich da alles zusammenfindet, um das Einwickeln zu verbieten. Nämlich sind das sowohl die Leute, die damals jeden Nacktbader zwangsweise einwickeln wollten, als auch die, die eingewickelt werden sollten. Individualität, da sind sich plötzlich alle einig, ist das höchste Menschenrecht und muß notfalls auch gegen den Willen der Rechteinhaberin durchgesetzt werden – schließlich will die ja nur deswegen nicht individuell sein, weil sie aufgrund von Gehirnwäsche und Zwangserziehung noch nicht weiß, wie toll das ist.
Und das ist es in der Tat! Deswegen kommt ja auch niemand auf die Idee, sich wie die buddhistischen Mönche (die damit irrerweise ihre Individualität auszulöschen trachten, weil sie glauben, daß es eine solche gar nicht gibt!) den Kopf zur Einheitsnichtfrisur zu rasieren oder modeweise mit einem genormten Pudel am Unterkopf oder einem tätowierten Arschgeweih herumzulaufen. Deshalb ließe sich ein deutscher Individualmensch niemals zwingen, aus religiösen, moralischen oder sonstigen Vorwänden seine Individualität abzulegen und sich in Mönchskutte, Nonnengewand, Wiesntracht oder Fußballfan-Stadionwäsche wickeln zu lassen. Und schon gar nicht würde er je die entwürdigende Kasperluniform von Fastfood-, Supermarkt- und Baumarktketten anziehen oder zulassen, daß jemand anderer gezwungen wird, das zu tun, oder sich zum Fasching mit einem der sieben Normkostüme samt Gesichtsvermummung maskieren.
Daß vermummte Gesichter eine gewisse Bedrohlichkeit ausstrahlen können, ist bekannt. Wem angesichts der gepanzerten Kampfroboter, die uns heutzutage bei Demonstrationen und Fußballspielen als „Freund und Helfer“ entgegentreten, nicht mulmig wird, der hält wahrscheinlich faschistische Stoßtrupps für fröhliche Kirmesbrüder. Andererseits ist die Trägerin eines salafistisch korrekten Badeanzugs in den allermeisten Fällen nicht bewaffnet und sichtlich nicht darauf aus, irgendwen niederzuknüppeln oder anzuzünden. Und seltsam ist zudem, daß die Forderung, der Mensch möge gefälligst sein Gesicht herzeigen, damit man sieht, was er im Schilde führt, auch von denen vertreten wird, die vor nicht allzu langer Zeit selber noch gar nicht so gern an jeder Ecke in eine Überwachungskamera glotzen wollten und sich bisweilen sogar unwohl fühlen, weil die NSA ihre Schuhgröße und der BND ihre Pornosammlung auf der Festplatte kennt.
Man sehe mir meine Verstocktheit nach; als Angehöriger der ersten (noch nicht genormten) Punkrockgeneration weiß ich sehr gut, daß Individualität etwas Schönes ist, jedweder Zwang zum Ein- und Auswickeln hingegen nicht. Es könnte aber auch sein, daß wir über die vermeintliche „Individualität“ nur deswegen so viel schwätzen, weil dahinter ein viel größeres Problem oder ein ganzes Gebirge von Problemen lauert, über das wir nicht reden und am besten nicht mal nachdenken sollen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 27. September 2016

Frisch gepreßt #374: The Divine Comedy "Foreverland"


Neulich saß ich mit einem Freund beim letzten Bier, und da kamen wir auf 1996 zu sprechen, auf die Britpop-Supernova, die damals das gesamte Universum zu entflammen schien, obwohl sie ihren Höhepunkt längst überschritten hatte und die blendende Euphorie zu zähneknirschender Überheblichkeit aufgebläht war, deren letzter Furz mit „Be Here Now“ eine ganze Generation derart ins Vibrieren brachte, daß sie es kaum noch aufs Klo schaffte. Vor allem sprachen wir über den pyroklastischen Strom von tausenden Bands, die die Welt erobern wollten und froh sein mußten, wenn sie es ins Vorprogramm von Gene oder Heavy Stereo schafften. Die niemand mehr wahrnahm, obwohl viele davon doch einen guten Song zu bieten hatten, von Elcka bis Jocasta, von Speeed bis Ringo, von Hurricane #1 bis Babybird usw. usf. - die Namen fluteten nur so aus dem plötzlich erwachten Nostalgiegedächtnis, selbst solche, die wir uns nie eingeprägt, die wir überhaupt nicht bewußt gehört hatten.
Einen haben wir mal wieder vergessen. Einen, den alle immer vergessen. Der zwar dabei war, aber nicht recht dazugehörte, bis heute nicht dazugehört, nirgendwo, aber immer noch dabei ist, weil er das wohl irgendwie auch schon immer war: Neil Hannon, der vielleicht britischste und zugleich unbritischste aller britischen und sonstigen Songwriter. Manch einer wähnte ihn im Rausch des Rauschs zum neuen Bowie (zwischen „Uncle Arthur“ und „Hunky Dory“), andere zum neuen Paul McCartney (zwischen „When I'm Sixty-four“ und „Blackbird“), nannten ihn barock, verschroben, opulent, eigen, genial, whimsical, theatralisch, hyperintelligent, ein unheilbares Spielkind und dies und das, was ihm alles nicht gerecht wurde, weil es zwar stimmt(e), er aber immer anders war und doch bis heute genauso geblieben ist, wie er immer war.
Daß Neil Hannon (der sich als „Band“ The Divine Comedy nennt) weder die Euphorie noch Kater und Überdruß jener Zeit groß mitbekam, liegt an seiner gesund autistischen Grundeinstellung: Die Welt, wie sie angeblich ist, ist ihm wurst, der Ernst des Lebens und das ganze Gezippe, Gezappe und Gezuppe der großöffentlichen Schafherde da draußen (vor seinem Wolkenpalast) sowieso. Seine Lieder sind geschlossene Systeme einer endemischen, hermetischen Schönheit, in denen es vordergründig um alles Mögliche geht (Katharina die Große, Napoleon und ein Wesen mit dem sprechenden Namen „Funny Peculiar“ zum Beispiel) oder um nichts als einen netten Wortwitz, in Wahrheit aber immer um Liebe, Einsamkeit, Glück, Hoffnung, Verzweiflung und noch mehr Liebe.
Glück, genau, und Liebe: Niemand, den ich kenne, schreibt und musiziert mit so viel Glück und Liebe im Herzen und Trauer in der Seele, niemand tänzelt so graziös auf dem dünnen Spannseil zwischen Selbstironie, emotionaler Aufrichtigkeit und kindischer Freude am Blödsinn wie Neil Hannon. Und wenn ihm mal das Gleichgewicht zu verrutschen droht, bricht er ein gerade noch rührend poetisches Lied wie „Other People“ lieber mit einem lakonischen „Bla bla“ einfach ab, als zu riskieren, daß Tante Pathos es sich in seinem Salon gemütlich macht und ihm seinen Tee wegschlürft. Daß so einer seine dunklen Seiten kennt und weiß, was mit ihm passiert, wenn man ihn allein läßt, versteht sich von selbst. Daß er in einem durchaus lustigen Lied („How Can You Leave Me On My Own“) davon erzählt, das einem einen verdorbenen Tag sogar nachträglich retten und vergolden kann, obwohl und weil das alles unendlich traurig ist, versteht sich eben nur bei Neil Hannon.
Wer weiß, ob Popmusik jemals noch mal die Bedeutung und weltgeschichtlich-autobiographische Relevanz haben wird wie 1996 (die derzeitige Nummer eins in Großbritannien ist ein Best-of-Album von ELO mit 8.000 verkauften Exemplaren). Wer weiß, ob wir noch mal eine solche Supernova erleben (oder uns das wünschen sollten). Aber wenn, dann wird Neil Hannon, der alterslos unsterbliche Dandy mit der angewachsenen Rundbrille, irgendwie dabei und nicht dabei sein. Und wenn nicht, ist ihm das wahrscheinlich auch egal.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 23. September 2016

Frisch gepreßt #373: Die Höchste Eisenbahn "Wer bringt mich jetzt zu den anderen?"


Es gibt Leute, die finden es schade, daß die späten 60er so lange her und überhaupt vergangen sind. Weil da alles so anders war, so locker und lustig, frei, unbeschwert und bunt. Menschen flogen zum Mond, zogen in Kommunen aufs Land, ließen sich die Haare wachsen, diskutierten nächtelang über das gute Leben und gaben so viel auf gesellschaftliche Konventionen (Ruhe! Anstand! Ordnung! Krawatte!), wie die Menschen heute auf das Gegenteil geben. Musik hörte man mit schwingenden Batiktüchern und einer Tüte voller indischer Rauchkräuter im Mund, und wenn man heute eine tolle Idee hatte, war es morgen schon wieder eine andere. Vor allem war man sich einig: Es wird alles immer besser.
Vielleicht sollte man dazusagen, daß das nicht die Welt war. Die bestand aus einem Kapitalismus, der vor sich hin tickerte wie eine zu globalem Ausmaß angeschwollene elektrische Schreibmaschine mit Milliarden von Menschen als festgeschraubten Typenhebeln, die gerade erst angefangen hatten, sich mit den Schrauben in ihren Schädeln abzufinden, weil sie dafür mit krebserregend buntgefärbten Blubberlutschgetränken und einem Jahresurlaub in Caorle, Bibione oder Cesenatico entschädigt wurden, weil man ihnen mit schwärmerischen Reklamefilmchen versprach, es gehe „frischwärts!“, Top-Set sei groovy, und anders gehe es sowieso nicht. Sie bestand zudem aus der Blutmaschine eines laufenden Krieges, der fast fünf Millionen Menschen das Leben kostete, das ganze Land Vietnam verwüstete und die kriegführende Nation USA selbst an den Rand des Bürgerkriegs brachte, und einem dräuenden, angedrohten, beständig in Vorbereitung befindlichen noch viel epochaleren Krieg derselben Nation gegen die UdSSR, von dem man ahnte, daß mit ihm das Leben auf Erden zumindest menschlicherseits für immer enden würde.
Vielleicht war die Welt deswegen so schön: weil man all das nicht wahrhaben wollte, sich die Ohren zuhielt und mit manischem Grinsen „Lalalalala!“ sang, damit der böse Alptraum wegging. Aus dem „Lalalalala!“ wurde die vielleicht schönste, freieste, hoffnungsvollste, emanzipierteste, schrankenloseste, psychedelischste und schwingendste Popmusik aller Zeiten, in der wirklich alles erlaubt war und man trotzdem souverän auf dem Hochseil zwischen Liebe und Frieden über einem gähnenden globalen Abgrund tänzelte.
Es gibt Leute, denen ist das ganz egal. Zwar leben wir heute wieder in einer Welt, in der die Blutmaschine des Krieges an allen möglichen Orten, in allen möglichen Ländern Hoffnungen, Träume und Leben frißt, in der ein dräuender, angedrohter und beständig in Vorbereitung befindlicher Superkrieg der um eine ganze NATO erweiterten USA gegen ein Rumpfrudiment der ehemaligen UdSSR sehr bald das Leben auf Erden zumindest menschlicherseits für immer beenden könnte. Zwar ist der Kapitalismus inzwischen keine tickernde Schreibmaschine mehr, sondern ein digitales Superwesen, das das ganze Universum erfüllt und dessen virtuelle Bestandteile gar nicht mehr merken, daß sie einen Körper und einen Geist und ein Leben haben und Menschen sein könnten, und ihren Trosturlaub an den fernsten Orten einer langsam sterbenden Welt verbringen, die alle gleich aussehen, und ihre Blubberlutschgetränke nicht mehr färben, aber mit krebserregenden Süßstoffen diätkompatibel machen.
Egal ist das alles diesen Leuten, weil in ihrer Privatwirklichkeit alles so anders ist, so locker und lustig, frei, unbeschwert und bunt. Weil man in Kommunen aufs Land zieht, sich die Haare wachsen läßt und nächtelang über das gute Leben diskutiert, auf gesellschaftliche Konventionen (Leistung! Anpassung! Eigenverantwortung!) scheißt und mit einer Tüte voller indischer Rauchkräuter im Mund eine Musik hört, die nicht mehr klingt wie ein manisch grinsendes „Lalalalala!“, sondern wie ein blühendes Feld wilder Sonnenblumen, ein abendliches Lagerfeuer am dampfenden See im September, ein Tanz in wogenden Wiesen und ein tagelanges Frühstück auf der Terrasse in einer besseren Welt, die immer besser, immer freier, immer aufrichtiger und immer schöner wird.
Das zweite Album der Höchsten Eisenbahn ist ein Urlaub in dieser Welt. Nein, mehr: ein Versprechen, daß es diese Welt geben könnte und vielleicht eines Tages sogar geben wird. Wer das nicht glauben mag, der leihe versuchsweise zumindest „Lisbeth“ ein Ohr, und dann: kriegen wir das hin, gemeinsam, alles.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 21. September 2016

Belästigungen 17/2016: Alle elf Minuten integriert sich ein Migrant! (und keiner kriegt es mit)

In München steht ein Haufen Zeug herum, über das man viel zu selten nachdenkt. Zum Beispiel erfuhr ich heute von einer beleuchteten Werbetafel, die ich wahrscheinlich schon oft gesehen, aber noch nie wirklich bemerkt habe: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über (aufgrund von Gründen nicht genannter Name einer Internet-Datingseite)!“
Das erschien mir recht natürlich. Zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen gelingt es auch mir, mich alle elf Minuten zu verlieben. Aber das bringt halt nicht wirklich was, abgesehen von befremdeten bis empörten Blicken der Opfer solch hormoneller Überschießerei.
Aber apropos Opfer: In München steht auch ein Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, auf dem zu lesen ist, einige davon habe man zu jenen Zeiten „verfolgt wegen ihrer Behinderung“. Ein alter, leider verstorbener Freund, der zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen war und sich deshalb selbst als „Krüppel“ bezeichnete (was er heute wahrscheinlich nicht mehr so ohne weiteres dürfte), kam sommers fast täglich auf dem Weg von seiner Wohnung zum Biergarten an diesem Denkmal vorbei und fühlte sich betroffen: „Was für ein Schmarrn!“ pflegte er nach der dritten Maß zu schimpfen. „Seit wann hätten die Nazis Krüppel verfolgt? Die haben sie systematisch vernichtet!“
Was, wenn man mal drüber nachdenkt, tatsächlich ein Unterschied ist. Man könnte darüber streiten, ob die damalige Belegschaft der Deutschland AG nicht auch die Millionen von Menschen, die aus rassistischen Motiven „verfolgt“ wurden, eher systematisch vernichtet als verfolgt hat, aber in diesem Fall ist die Sache ziemlich eindeutig: Man mußte Krüppel nicht verfolgen – man wußte, wo sie wohnen und was ihnen fehlt, und konnte sie einfach abholen.
„Verfolgt“ werden Krüppel heute nicht mehr, vernichten (zumindest systematisch) will sie Gott sei Dank ebenfalls kaum noch jemand; statt dessen bemühte man sich jahrzehntelang nach Kräften, sie zu „integrieren“. Das tat man auch mit anderen Menschen: Flüchtlinge, Ausländer, vom Unglück in dieser oder jener Weise Getroffene, Frauen, Kinder, Straftäter, sexuell oder sonstwie eigentümlich Fühlende, Denkende, Lebende, Drogenkonsumenten, Arbeitslose, Ostdeutsche, Obdachlose, jugendliche Rabauken, Landbewohner, Stadtstreicher – allesamt sollten sie „integriert“ werden.
Mittlerweile hat sich die Sprachregelung der neoliberalen „Eigeninitiative!“-Ideologie angepaßt, derzufolge „man“ niemanden „integrieren“ soll, sondern gefälligst der sich selbst. Drum soll jetzt also das ganze bunte Volk, das da kreucht und fleucht und seine eigentümlichen Ausrichtungen pflegt, sich einzeln und so schnell wie möglich „integrieren“ (insbesondere selbstverständlich der Migrant, schließlich kommt der auch noch von woanders her!). Und niemand denkt darüber nach, in was die sich denn eigentlich hineinintegrieren sollen.
In die „Gesellschaft“, klar. Aber was wäre das für eine Gesellschaft, der all diese Menschen angeblich nicht angehören? Man stellt sich unwillkürlich eine illustre Runde von Männern in mittlerem Alter vor, allesamt tarifgebunden berufstätig, von guter Gesundheit und durchschnittlichem Körperbau, die zuverlässig alle paar Jahre ihr Kreuzerl bei einer der vier „etablierten“ Parteien machen und am Sonntagnachmittag im Hinterzimmer eines traditionellen Vorstadtwirtshauses beisammen hocken und austüfteln, wen und wie sie am besten als nächstes zur „Integration“ auffordern und was der- oder diejenige dafür leisten muß.
Da findet man dann schon Kriterien. Zum Beispiel könnte man verlangen, daß so ein Integrierungskandidat sich zum deutschen Grundgesetz „bekennt“, gegen das die CSU dazumal im Parlamentarischen Rat stimmte, das der bayerische Landtag auf Vorschlag der Staatsregierung mehrheitlich ablehnte, das allein seit 1993 etwa dreißigmal geändert wurde und das kaum ein betroffener oder nicht betroffener Staatsbürger je gelesen hat (wie wär's zum Beispiel mal mit der Frage, wer eigentlich „die Regierung“ ist und wer sie wählt?). Man könnte andererseits fordern, daß sich der Integrationswillige „in Deutschland zuhause“ fühlt. Dieses Kriterium betont die Organisation „Wissenschaft im Dialog (die Initiative der deutschen Wissenschaft)“, ohne zu fragen, wie „zuhause“ man sich wohl als Angehöriger irgendeiner prekären oder gefährdeten Minder- oder Mehrheit oder überhaupt als normaler Mensch zum Beispiel in einer ostdeutschen Nazigemeinde oder meinetwegen in Wuppertal fühlen kann.
Oder man nimmt die deutsche Sprache. Wer sich integrieren wolle, solle die gefälligst beherrschen, heißt es. So wie der Deutsche, der hat die schließlich auch gelernt, gelt, auch wenn er als Wissenschaftler nicht weiß, daß es das Wort „zuhause“ im Deutschen gar nicht gibt, auch wenn er als (zum Beispiel) oberbayerischer Integrierter in einer Kölner Bierwirtschaft ziemlich sprach-, verständnis- und fassungslos inmitten einer johlenden Masse offenbar irgendwie anderweitig Integrierter herumsteht und nicht weiß, was er soll. Ach ja, es gibt noch andere Kriterien: etwa arbeiten, das heißt zu einem Hungerlohn sich ausbeuten lassen, was der integrierte Deutsche total gerne täte, wenn er es mangels „Platz“ nicht darf, während bei jenen, die es dürfen, das Jammern, Stöhnen und Schimpfen naturgemäß überwiegt. Und: Man darf kein Kopftuch tragen, finden 38 Prozent der Integrierten. Adieu, süddeutsche Bäuerinnen!
Man könnte nun einwenden, es sei doch immerhin vor gar nicht langer Zeit einem deutschen Kaiser und seinen Beamten gelungen, diese groteske Mischpoke von schillernden, einander im Grundsatz fremden bis feindlichen Minderheiten, Stämmen und Individualidioterien zu einem Gesamtdeutschland zusammenzuintegrieren, das bald darauf imstande war, zwei richtig fette Kriege anzuzetteln und halb Europa auszurotten. Ja, freilich, aber selbst zu dieser enormen Kulturleistung wäre es nie gekommen, wenn man es der wimmelnden Masse von verbohrten Einzelholzköpfen und renitenten Kollektiven überlassen hätte, sich selbst in etwas hineinzuintegrieren, was es angeblich vorher schon gab.
Vielleicht wäre es am gescheitesten, beleuchtete Werbetafeln aufzustellen mit der Aufschrift: „Alle elf Minuten integriert sich jemand in die deutsche Normalgesellschaft!“ Und dem Zusatz: „Aber das bringt halt nicht wirklich was.“ (Und als Nachgedanke sei mangels Platz einfach mal so gefragt, wieso eigentlich niemand von den Nazis verlangt, sich zu integrieren.)

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 20. September 2016

Frisch gepreßt #372: Ramones "Ramones (40th Anniversary Edition)"



„One Two Three Four!“
(Womit die kürzeste Schallplattenrezension der Welt an genau der Stelle zu Ende wäre, an der alles gesagt ist: vier Männer in vier Kleidungsstücken – Jeans, T-Shirt, Lederjacke, Turnschuhe – spielen in vier Tagen das größte Popalbum aller Zeiten und eines der prägendsten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte ein; es dauert vierzig Jahre, bis die Welt das verstanden hat. Aber wir wollen noch ein bißchen erzählen.)
„Was Gott nicht gefällig ist, das tilgt er von seinem Erdboden!“ - Mit (ungefähr) diesem wohl erfundenen Bibelzitat rechtfertigte sich ein Religionslehrer „ironisch“ dafür, daß er mir ein unter der Bank „verstecktes“ Donald-Duck-Heft abnahm und es dem Papierkorb überantwortete. Daran sind drei Dinge relevant: Die Geschichte, die ich zu diesem Zeitpunkt gerade las, hatte vier männliche Hauptdarsteller. Die vier männlichen Hauptdarsteller der hier erzählten Geschichte sind zu dem Zeitpunkt, da „sie den 40. Jahrestag ihres selbstbetitelten Punk-Meisterwerks feiern“ (Rolling Stone), alle vom Erdboden getilgt. Und: es war Sommer 1976.
„Bad Zeppelin“ - Ein Freund eines Freundes, der in einem Pasinger Plattenladen arbeitete, versorgte uns in den Sommerferien 1976 mit Neuerscheinungen, die er für „wichtig“ hielt. An diesem Tag hatte er eine Platte dabei, die nur als Import aus den USA erhältlich war und von der es daher wahrscheinlich in ganz München nur ein Exemplar gab. Sein Grinsen war „ironisch“: „Schau, Michi, das sind deine Brüder!“ Ich trug damals tatsächlich genau dieselbe Trotzmatte wie Dee Dee und Johnny, Turnschuhe, Jeans mit zerrissenen Knien und T-Shirt; die billige schwarze Plastikjacke hing draußen an der Garderobe. Beim Anhören der Platte glotzte die gesamte progressiv durchideologisierte Runde zunächst wie Busse, brach dann in ein kollektives Kichern aus, schlug sich auf die Schenkel und hielt sich die Bäuche. Ich, glühend errötet, kicherte nicht, sondern dachte: „Das ist es. DAS ist es!“ Aus naheliegenden Gründen traute ich mich nicht fragen, ob ich die Platte auf Kassette überspielen darf (es sollte fünf Jahre dauern, bis ich sie ganz hören konnte). Nach vier Liedern war Schluß mit dem Schmarrn, es wurde etwas von Octopus oder Led Zeppelin aufgelegt. (Das Wortspiel war die Begründung für die Ablehnung der Ramones durch den Plattenkonzern Warner, der das Album später vertreiben mußte; ha ha „Ironie“!)
„Es läuft nicht so gut, wir haben erst sieben Songs fertig“ - 1976 (und noch Jahre später) galten die Ramones als schnellste Band der Welt. Schnelligkeit war das Merkmal, das jedem an ihnen auffiel, vor allem jenen 99,9 Prozent, die ansonsten nichts mit ihnen anfangen konnten. Stimmt aber nicht. „Sound Chaser“ (1974) von Yes war zum Beispiel mindestens fünfmal so schnell, von „Fireball“ (Deep Purple) etc. zu schweigen. Neu oder vielmehr seit mindestens einer Generation unerhört war das komplette Weglassen bzw. Herausradieren von jedem Klimbim und Firlefanz; übrig blieb nur die pure Musik. (Die Einschätzung äußerte Johnny Ramone nach drei Stunden Studioarbeit in Sorge um das aus dem Vorschuß entliehene Geld; daß die Aufnahme einer Platte länger dauern konnte als die Platte selbst, war ihm völlig unverständlich.)
„Der Klang von 10.000 Klospülungen“ - Als „Ramones“ erschien, überschlug sich die gesamte Musik- und sonstige Presse und jeder, der sich irgendwie zu Musik äußern zu müssen glaubte, mit Spott, Schimpf, Moralpredigten und kulturpessimistischen Tiraden, in denen vom Neandertaler bis Adolf Hitler alles Erwähnung fand, was gegen irgendwas sprach. Es war der Chor einer Generationselite, die zehn Jahre lang daran gearbeitet hatte, sich ihre Deutungshoheit über eine sich stetig weiter entwickelnde und verfeinernde Jugendkultur zu sichern (in der nicht gelacht werden durfte und Absurdität, Widersprüchlichkeit, Zynismus und Minimalismus keinen Platz hatten) und der vier böse Buben den Hocker unter dem dicken Hintern wegzukicken versuchten. (Um zu verstehen, was für einen Bruch die Ramones bedeuteten, braucht man nur die „Humor“-Seite einer typischen Jugendzeitschrift von 1975 aufzuschlagen.) Sie haben noch mal Glück gehabt, die Deuter. Dachten sie und übersahen Johnnys rechten Mittelfinger auf dem Cover.
„One Two Three Four!“ - oder sagen wir: dreineinhalb. Weil es heutzutage ohne weiterführende Kaufanregungen nicht geht: Es gibt nur vier echte Ramones-Alben, davon sind die ersten drei für gute Menschen unverzichtbar, das vierte enthält immerhin zwei der schönsten Songs dieses Universums. Der Rest ist dies und/oder das, egal, wie alles andere ja sowieso auch.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 16. September 2016

Belästigungen 16/2016: Was man so erlebt, wenn man nichts erlebt

Es passiert ja so viel in einer großen Stadt.
Menschen fahren sich mit Kisten über den Haufen, springen aus Fenstern, ertrinken in Flüssen und Gullis, sterben an eingeschleppten Seuchen und in Stanzmaschinen, und dazwischen saufen, tanzen und schreien sie, als wär' das Leben ein ewiges und irgendwann würd's schon besser; und wenn einmal gar nichts oder wenigstens zuwenig für die allgegenwärtigen Meldestellen passiert, dann schreit die Zeitung an jeder Ecke „München brodelt!“, und schon hat sich's wieder mit der gemütlichen Idylle.
Da läuft man auch Amok, bisweilen, in so einer Stadt. Vor nicht langer Zeit wurde ich erstaunt Zeuge, wie aus der Hauptstraße um die Ecke eine soeben hineingefahrene Trambahn rückwärts wieder herausfuhr (Trambahnen tun so etwas für gewöhnlich nicht) und daraufhin die Straße von drei Polizisten gesperrt wurde. Um was es da ging, durften sie nicht sagen, indes stellte sich am anderen Ende der weiträumig zu umfahrenden Sperrzone einer der dort Postierten als Beamter heraus, der mich schon mal verhaftet hatte, und der verriet mir „unter uns“, da sitze in dem grausligen Betonsilo über dem Supermarkt ein Amokläufer am Fenster und schieße in der Gegend herum.
Diese Gegend hatte damals einen gewissen Ruf. Nicht lange zuvor hatte gegenüber ein Enttäuschter die Wohnung seiner Exgeliebten und sich selbst aus einem Block förmlich herausgesprengt. Nicht zu reden vom pensionierten Hausmeister meines Nachbaranwesens, der etwas länger zuvor eine Schußwaffe aus seinem Bademantel zog und sie gegen einen verwenden wollte, der in der freizuhaltenden Einfahrt geparkt hatte, um sich Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen, und auf die Aufforderung, sich umgehendst zu entfernen, etwas patzig reagierte.
Vermutlich landeten die zwei Schießenden in der Psychiatrie; presseamtlich vermeldet wurde nur die Tat des ungeschickten Sprengmeisters, weil man damals besorgt war, keine Nachahmer auf den Plan zu rufen. Aber da gab es ja „den Terror“ noch nicht; da stritt man fröhlich über „Killerspiele“ am Computer, ohne sich auch nur darüber einig zu werden, daß ein Mensch, dem man oder der sich den größten Teil seiner Zeit und Aufmerksamkeit damit vollstopft, wie man Probleme mit ballernder Gewalt aus dem Weg räumt, irgendwann anfangen könnte, Probleme mit ballernder Gewalt aus dem Weg zu räumen. Kein großes „Thema“, der FC Bayern und die Wiesn waren nachrichtenmäßig allemal verkaufsträchtiger, und wenn's einmal ein Mord sein durfte, dann schon Promi an Halbweltsalat (Sedlmayr/Moshammer) oder richtig exotisch.
Aber jedenfalls: tut sich einiges in einer großen Stadt, da muß man an ermüdend lauen Sommertagen wie diesen mal hinaus und es abstellen, das Getue, in der Hängematte unter dem Kirschbaum zum Beispiel und abends in der Holzhütte, bei der außenrum nichts ist als Gekreuch und Gefleuch und das Rascheln der Blätter und kein menschliches Wesen und Gewese. Hie und da ein Hubschrauber, an den ist man gewöhnt, auch die paar Polizeisirenen und das Röhren der Rocker auf ihren schweren Maschinen die ferne Seestraße entlang.
Heute ist's nicht ein Hubschrauber, sondern viele, auch Sirenen, und die Rocker schweigen; was mag da sein? fragt man sich kurz, vergißt's gleich wieder und bemerkt's nur nebenbei, weil die Aufmerksamkeit der seit Jahrzehnten nicht gelesenen Geschichte von Dagobert, Gundel Gaukeley und den Bombastik-Buff-Bomben gilt.
Als indes die Abenddämmerung dämmert, ruft eine gute Freundin an und ist einigermaßen aufgewühlt, weil sie, mit sozialen Medien nur halbwegs verbunden, alles mögliche trotzdem erfahren hat. Ich solle, schärft sie mir ein, auf jeden Fall in der Hütte bleiben, sonst sei ich meines Lebens nicht mehr sicher. Nämlich werde in der Stadt wild herumgeschossen, gebe es Tote und Panik im Olympiaeinkaufszentrum, auf dem Tollwood-Festival, am Stachus, Marienplatz, Isartor, eigentlich überall, man erfahre ständig neues und wisse nichts. Die Polizei rate, das Haus nicht zu verlassen, Spezialeinsatzkräfte, GSG9 und Bundeswehr seien im Einsatz, Grenztruppen und Armeen in Österreich und Tschechien alarmiert.
Unser Gespräch verläuft, im Gegensatz zu sonst, stockend, wie von Bunker zu Bunker. Sie baut auf die Notration; man weiß nicht, ob man sich wiedersieht. Dann: große Stille, zerfurcht von mehr Hubschraubern und Sirenen, als ein Himmel tragen kann, der Lärm schwappt wie ein unwirklicher Ozean heran und wieder hinweg. Kurz nach neun Uhr höre ich vom See her zwei Schüsse, denen keine weiteren folgen. Sind dort alle schon tot?
Die anfängliche, auch wegen eines noch nicht identifizierten Darmgrippeinfekts wallende Panik imaginiert eine faschistische Machtübernahme: Marodierende Horden in der ganzen Stadt, bewaffnet aus den Stay-Behind-Arsenalen von Gladio, Wehrsportgruppe Hoffmann und Konsorten, die ja überall in Bayerns Wäldern verteilt liegen und von denen immer mal wieder eines auffliegt? Aber der Realismus kehrt bald zurück: Der nächste Anrufer weiß nur noch von mehreren Männern mit Gewehren, die um das Olympiaeinkaufszentrum herum dutzende Menschen erschossen haben und auf der Flucht sind.
Und plötzlich kriegen die Hubschrauber eine andere Bedeutung, besonders wenn ihr Geknatter sich bis zur Fastnichtmehrhörbarkeit entfernt. Inzwischen ist es stockdunkel, und das heißt hier: In einem Umkreis von gut hundert Metern, die ohne Anhaltspunkt sehr weit sein können, nur noch schwarzes Dickicht und sonst nichts. Da wird es wirklich duster, zumal der inzwischen polternd rumorende Darm den tröstlichen Genuß von Bier ausschließt.
Da kann man also nur noch: warten. Und: sich vorstellen, daß.
Daß zum Beispiel aus dem Dunkel ein paar Gestalten mit Gewehren tauchen, in gespenstischer Eile durch den Garten zur Hütte, die Tür auftreten, das Fenster einschlagen … was dann?
Da stellt man sich vor, wie man zum Beispiel: den zum zersplitterten Fenster hereinragenden Gewehrlauf packt und an sich reißt und die Bande mit diesem Gleichgewicht der Kräfte zum Abzug zwingt. Wie man sie zur Vermeidung einer Eskalation hereinbittet und bewirtet, servil schwitzend und schlotternd, bis sie sich im Morgengrauen wieder davonmachen. Wie sich die Dunkelmänner als Polizisten erweisen, durch deren Barrikade aus fernsehbekanntem Gebrüll und gepanzerter Vermummung kein Unschuldsbeteuern dringt. Und noch dies und das.
Aber das Fieber ist gnädig und bringt Schlaf, wirre Träume, und dann graut wirklich ein Morgen, gelblich und verhangen, und beim Heimradeln liegt die Stadt in sommerlicher Stille, und die Zeitungskästen plärren so hysterisch, daß einem ganz schwummerig wird: „Terror! Eine Stadt in Angst“ (AZ), „Angriff auf München!“ (tz), „Blutbad in München“ (Bild), „Tote bei Anschlag in München“ (SZ). Und während man diesen blödsinnigen Quatsch über sich ergehen läßt – man kommt ihm ja nicht aus –, ahnt man schon, daß keine drei Stunden vergehen werden, bis aus dem ersten Verlautbarungshydranten der CSU der übliche Bullshit heraussprudelt und irgendein geifernder Mops „Sicherheitspakete schnüren“ und „alles auf den Prüfstand“ bringen wird. Und es ist einem so egal, weil der Wahnsinn, da mögen sie noch so laut zetern, ja jetzt zum Glück wieder mal vorbei ist.
Ist er das? Auf dringendes Einreden, man könne sich der Welt nicht entziehen und so weiter, öffne ich trotz ebenso dringendem Sonnenschein wenigstens kurz den Höllenpfuhl der Bombastik-Buff-Bomben, der Kreisch!s, Schluck!s, Aargl!s und Klickeradoms!e, dem offensichtlich vollkommen Irrgewordene das Schild „soziale Medien“ angeschraubt haben und der heute das einst als jugendverderbend gebrandmarkte gemütliche Idyll der gegenseitigen Aufreibungen von Dagobert, Gundel Gaukeley und Konsorten so wirksam ersetzt wie die Atombombe das Erbsenblasrohr. Man kann dem nicht folgen, was sich da tut oder zu tun scheint oder dräut, kriegt nur, ehe man es ungesehen weiterwallen läßt, kurz mit: Erstens, die vermeintlichen Schüsse am See waren Teil eines unwissentlich im Rahmen eines Grillfestes gezündeten Feuerwerks (hier folgt eine Verschwörungstheorie); und zweitens dies als typische Einschätzung der aktuellen wie der Weltlage:
„nicht die inteligenten sind das problem, sondern die dummen wie dich sind das problem, durch dummheit und ignoranz sind mehr kriege und konflikte entstanden als durch irgend was anderen, übrigens auch dieser konflikt, 87% sind analphabehten tolle atomforscher, alles wirtschaftsflüchlinge sonst nichts!! mit keinem gesetz der welt gedeckt!!kollega, keinem auch nicht flüchtlingskonfention §19. wenn du hier auf die kacke hauhen willst,dann must du dich schon besser als google belesen, gefährlichs halbwissen ist wie kanacke sein , also dumm!!!“
Von da weg führt nur noch ein Weg: ins Leben, in den Biergarten, in den Frieden, der immer dann eintritt, wenn der Mensch schweigt, wenn er nichts mehr tut, nichts mehr will, meint, weiß, besser weiß, am besten weiß, wo er keine Möglichkeit hat, sich zu verbreiten als durch ein Lächeln oder notfalls ein dahingebrummeltes „Leck mich doch am Arsch!“, dem das Schweigen und das Lächeln folgen.
Ja, es passiert wirklich so viel in einer großen Stadt. Und was davon erlebt man selbst? Für gewöhnlich und Gott oder wem auch immer sei's gedankt: nichts.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 14. September 2016

Frisch gepreßt #369: Marvin Gaye „Volume Three – 1971-1981"


Das Leben geht manchmal viel zu schnell. Man dreht sich dreimal um, schon ist es dahin, eine Epoche vorbei, hat sich alles verändert, ohne daß man es bemerkt hätte oder auf einen Punkt deuten könnte, an dem etwas verschwunden wäre.
21. Mai 1971: Ein Berliner Gericht verkündet die Urteile im Prozeß um die Befreiung des Kaufhausbrandstifters Andreas Baader. Die meisten Beteiligten, auch Baader selbst, bereiten derweil im Untergrund einen Guerillakrieg vor und haben einen Monat zuvor ihr Manifest „Das Konzept Stadtguerilla“ veröffentlicht. In Umfragen bezeichnen 40 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung die Gruppe als „politisch“, jeder zehnte würde ein flüchtiges Mitglied bei sich verstecken. In Santiago de Chile lobt der geschäftsführende Vorsitzende der Nationaldemokratischen Partei der DDR die sozialen und wirtschaftlichen Reformen des neu gewählten Präsidenten Salvador Allende, während in der SED diesbezüglich von „ultralinken Erscheinungen“ und „linksradikalen Abweichungen“ die Rede ist. Die USA verstärken die Bombardierung von Nordvietnam, während Richard Nixon als erster US-Präsident einen Besuch bei Mao Zedong vorbereitet. Marvin Gaye veröffentlicht sein Album „What's Going On“, auf dem er singt: „Father, father, we don't need to escalate, you see, war is not the answer, for only love can conquer hate.“
15. Januar 1981: In Brooklyn stirbt der 92jährige Emanuel Celler, der fünfzig Jahre lang US-Kongreßabgeordneter war und sich während dieses halben Jahrhunderts unablässig dafür einsetzte, Flüchtlingen und politisch Verfolgten die Einreise und Einbürgerung zu ermöglichen und zu erleichtern. Der von ihm initiierte „Immigration and Naturalization Services Act“ von 1965 gilt als historischer Meilenstein und ist nebenbei einer der größten Erfolge der US-Bürgerrechtsbewegung. Am Tag von Cellers Tod erscheint Marvin Gayes letztes Motown-Album „In Our Lifetime“, auf dem er singt: „Home is where you live and play and laugh and be happy.“
Juni 2016: So gut wie die gesamte Welt führt Krieg, privat und militärisch, sportlich und wirtschaftlich, individuell und kollektiv. Ein amerikanischer Präsidentschaftsbewerber verspricht seinen Wählern die Errichtung einer Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko. Auf deutschen Straßen, in deutschen Parlamenten und Medien grölen, hetzen und wüten „besorgte Bürger“ gegen Einwanderer und Flüchtlinge. Ein jugendlicher Zufallspassant antwortet auf die Frage, ob er wisse, wer Marvin Gaye war, erst mit einem Kichern (der Nachname!), dann mit einem Achselzucken und setzt den Kopfhörer wieder auf, in dem blecherne Maschinenstimmen zu blechernen Maschinengeräuschen etwas von „fun“ und „body“ plärren. Alle namentlich erwähnten Personen sind tot und weitgehend vergessen, auch Marvin Gaye, der am 1. April 1984 nach einem Familienstreit von seinem Vater erschossen wurde (mit einer Waffe, die er ihm zu Weihnachten geschenkt hatte) und dessen ehemalige Plattenfirma ohne besonderen Anlaß seine sämtlichen 22 Alben der Jahre 1961 bis 1981 in drei Boxen packt und für umgerechnet nicht ganz dreieinhalb Euro pro Platte verkauft.
Ohne besonderen Anlaß? Braucht es einen Anlaß, sich daran zu erinnern, daß in der Welt alles mit allem zusammenhängt, alles allem widerspricht, daß es eine Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit gibt, die weit über Reklame für Dessous und aromatisierten Beuteltee hinausgeht? Dann nehmen wir die dritte dieser Boxen, hören einen ganzen Tag lang nichts anderes als diesen genialischen bis genialen, manchmal an den eigenen Ansprüchen grandios gescheiterten Hexenkessel aus Funk, Sex, Soul, Blues, aus Philosophie, spiritueller Sehnsucht, Trauer, Wut und Freude, aus Blut, Schweiß, Tränen und Geist.
Und stellen fest: Das Leben geht manchmal viel zu schnell. Aber nicht alles geht verloren. Man muß nur bisweilen wissen, wo man suchen muß.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #371: Fuck Yeah! "Fuck Yeah!"


Manchmal muß was raus aus einem. Zum Beispiel mußte nach dem zweiten EM-Spiel des späteren EM-Zweiten Frankreich in diesem Sommer (erinnert sich noch wer?) etwas raus aus einem Mann namens Paul Pogba, der zum Zwecke des Herauslassens eine Geste machte, die man als bras d'honneur kennt. Oder auch nicht kennt: Ein Großteil der beobachtenden Journalisten hatte zwar die Geste bemerkt, fing aber umgehend zu rätseln an, was das denn nun bedeuten solle. Die einen meinten: „Fuck you!“, die anderen „Fuck yeah!“, und das Bildungsbürgertum ließ umgehend auch was raus, nämlich sei das ein Skandal und beleidigend.
Fuck yeah, und wie! Aber nur, wenn man sich morgens das Näschen mit Rosenwässerchen frischt, über einen Wortschatz verfügt, der sich aus einem Konversationslexikon von 1911 speist und aus dem sich mit ein bißchen Würfeln und Scrabbeln mühelos jeder „Zeit“-Meinungsartikel zusammenschmeißen läßt. Wer hingegen der urban language auch nur minimal mächtig ist, weiß: Wenn mal alles so hinhaut, wie man es sich gerade noch nicht träumen lassen gewagt hat, dann muß das raus, und dann sagt nur „Fuck you!“, wer partout nicht dran glauben mag.
Zum Beispiel klingelt es an der Tür, und der Mitbewohner sagt: „Da stehen drei superscharfe Stripperinnen, ein Typ mit einem Geldkoffer und einem Riesensack Gras, Grant-Lee Phillips und Frank Black mit Gitarren, zwei Kästen Bier und eine Art Känguruh vor der Tür, die wollen alle zu dir!“ Je nach mentaler Disposition muß dann eventuell ein „Fuck yeah!“ aus einem raus.
Aber reden wir mal über Musik, reden wir mal über die frühen Neunziger (erinnert sich noch wer?, Folge 2): Was ist damals eigentlich passiert? Kurz gesagt war das so: Da war gerade noch alles brav, anständig, geregelt; Männer in Krawatte und Anzug „signten“ kompetente Fachleute zwecks Erstellung amtlicher Tonträger, Designer schneiderten aus Glitzerstoff, Radlerhose und viel Flatterbehang angemessene Starverpackungen zusammen, und das Millionenheer der Rockkonsumenten tat sich den Salm brav, anständig und geregelt rein.
Dann mußte plötzlich was raus. Auf einmal flogen Noise-gates und Harmonizer aus den Fenstern, schepperten rostige Klappertrommeln und verbogene Becken zu verstimmten Gitarren und knisternden Schrottröhren, krähten und grölten mandelentzündete Outcast-Stimmen disharmonisch in übersteuerte Flohmarktmikrophone, dröhnte, krachte, zerrte und brüllte eine ganze Generation von Heute-laut-morgen-kaputt-Bands mit zufällig aus dem Schundheft zusammengesuchten Namen und Klamotten aus dem Container ein einziges lautes „Fuck yeah!“
Das war auf eine verquere Art schön, aber (und) auch kaum zu fassen, nicht zu regeln, nicht zu kontrollieren und schwer zu vermarkten. Drum war der schmutzige Sandsturm bald wieder vorbei, weggefegt von einer neuen Britpopwelle, der zwar auch ein lautes „Fuck yeah!“ enttönte, die aber wenigstens so viel Anstand hatte, chartskompatible Songs zu schreiben und sie so zu produzieren, daß sie Tante Klarabellas Radioohren nicht verletzten (solange sie nicht die Zeitung aufschlug).
Irgendwie schade, wenn Sachen so vergehen und man selbst die losen Fäden, die da noch aus der Vergangenheit herauswehen, nicht mehr sieht und schon gar nicht sich was dran knüpfen traut. Drum schön, daß vier Münchner Männer das tun: rostige Klappertrommeln, verbogene Becken, knapp verstimmte Gitarren, Knisterröhren und übersteuerte Flohmarktmikrophone in einen Keller schleppen, nach Herzenslust ihrer Liebe zum Krach und zur zerkrumpelten, verletzt-stolzen Rinnsteinmelodie, zum musikalischen Äquivalent eines Dieselmotors und zur weltvergessen-selbstverliebten Mülltonnenballade frönen und sich einen Dreck drum scheren, ob das „vermarktbar“ oder „authentisch“ ist und was Tante Klarabella davon hält. Ein lautes „Fuck yeah!“ eben.
Übrigens, das sei den wenigen, die noch nostalgische Wehmut mit damals verbindet, mit einem vertraulichen Augenzwinkern geflüstert: Die Erwähnung von Grant-Lee Phillips und Frank Black in diesem Text ist kein Zufall. Auf die übrigen Namen: kommt ihr dann schon selbst.

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Dienstag, 13. September 2016

Belästigungen 15/2016: Ferien sind zum Lernen da (es kommt nur darauf an, was)!

Daß der Mensch was lernen muß, hat schon meine Oma hin und wieder betont, wenn die zügellose Kinderschar lieber in einer Gebirgslandschaft aus Donald-Duck-Heften, Knabberzeugs und Blubberlutsch kampierte als sich lateinischen Vokabeln und mathematischen Formeln zu widmen. Andererseits lernt der Mensch bekanntlich gerade dann besonders gut und nachhaltig, wenn er es aus reiner Lust und Laune tut und gar nicht merkt.
So haben ganze Generationen aus der Lektüre der Entengeschichten von Carl Barks die tief im Bewußtsein verankerte Erkenntnis davongetragen, daß Arbeit etwas Lästiges ist, dem man am besten weiträumig aus dem Weg geht, und daß einem viel Geld nur dann was nützt, wenn man Spaß daran hat, darin herumzukraulen. Und so hat ein überwiegender Teil der Weltbevölkerung durch fröhliches Mitträllern eines reichlich doofen Liedchens gelernt, daß in München ein Hofbräuhaus steht, in das man einmal im Leben hineinmuß, um dort das zu tun, was man auch im Stehausschank in Louisiana, Reykjavik oder Hintertupfing tun könnte (Bier trinken).
Daß das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland einen „Bildungsauftrag“ hat, erscheint im Licht dieser Erkenntnis nachvollziehbar. Zwar wird dort, was Nachrichten, Informationen, Zusammenhänge etc. betrifft, größtenteils der krudeste Blödsinn verzapft, den man sich nur vorstellen kann. Aber das ist ja auch nur die eine Seite, der Frontalunterricht sozusagen: das Gebüffel der ideologischen Grundlinien und Glaubenssätze von Wirtschaftsfaschismus, Rußlandschmähung, sogenannter Weltpolitik und diesem ganzen Kram. Das funktioniert immer schlechter, weil das hierfür zuständige Paukpersonal von Hans-Werner Sinn bis Sigmar Gabriel inzwischen geistig-moralisch derart verwahrlost, pädagogisch unfähig und durch Vorgänger wie Sabine Christiansen, Wolfgang Clement, Friedrich Merz und Oswald Metzger diskreditiert ist, daß man es durch einen beliebigen Pegida-Krakeeler ersetzen könnte.
Um den nachhaltigen Lernerfolg nicht zu gefährden, kommt daher die „Unterhaltung“ zum Zug: das Gewölle aus „Dramen“, Schnulzen, Schmonzetten und Seifenopern, in denen alles immer gleich abläuft. Da rödeln junge, fitaussehende Menschenfiguren in „kreativen“ Berufen herum oder streben solche an und widmen sich in ihrer „Freizeit“ neben der seriellen Anbahnung monogamer Für-immer-Kleinfamilien dem Konsumieren nach den Richtlinien von Mode und Trend. Für die älteren Zuschauer kommt gerne noch ein Sortiment von geld- oder blutadeligem Kroppzeug dazu, das in Villen, Schlössern, schimmernden Glas-Blech-Bürotürmen und Luxusautos west und seine popeligen Herzschmerz- und sonstigen Problemchen löst, indem es sich ebenso wie die jungen Streber unablässig optimiert, bewährt, an sich arbeitet und wettbewirbt.
Daß diese Art der Massenpädagogik wirkt, merkt man daran, daß es die „Gesellschaft“, die da gezeigt wird, zu Beginn der Ausstrahlung solchen Mülls (vor der neoliberalen Revolution der mittleren 80er) noch gar nicht gab, daß sich daran aber niemand mehr erinnert und es diese „Gesellschaft“ heute eben doch gibt. Und zwar nicht etwa als Folge von Zwang, sondern vollkommen „freiwillig“. Wer glaubt, dies sei Zufall oder einer sozusagen natürlichen Entwicklung geschuldet, muß sich fragen lassen, ob die offenbare Verstümmelung seines Gehirns ebenfalls natürlich oder zufällig und nicht doch durch die Propaganda von Kampfbünden wie der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ entstanden ist.
Das ist übrigens keine dieser vielgeschmähten Verschwörungstheorien: Es ist erwiesen, belegt und dokumentiert, daß selbige INSM es sich Geld hat kosten lassen, die Drehbücher (unter anderem) der Serie „Marienhof“ so zu gestalten, daß ihre zentralen Botschaften (Sklavenarbeit ist supi! Eigeninitiative top! Steuern runter! Sozialleistungen und Löhne kürzen! Deregulieren! Privatisieren!) indirekt und direkt in die Köpfe der Konsumenten hineingehämmert werden. Es war nicht viel Geld – ein fünfstelliger Betrag insgesamt, was ahnen läßt, daß es nicht viel Widerstand von seiten der zuständigen „Bildungsbeauftragten“ gab.
Nun könnte man fragen, ob und warum die INSM so etwas eigentlich darf. Man könnte fragen, wieso es überhaupt eine INSM geben darf, da es sich dabei doch zumindest mutmaßlich um eine kriminelle Vereinigung im Sinne von §129 Stgb handelt. Man könnte vieles fragen, aber dazu müßte man erst einmal in der Lage sein, Fragen zu formulieren, und das kann man nur, wenn man informiert wird, durch Schulunterricht und Medien zum Beispiel. Leider (und logischerweise) sind eben dies die Bereiche, in denen die INSM ihre Wirkungsmacht ganz besonders intensiv entfaltet, indem sie etwa Journalisten besticht, kauft, manipuliert, bedroht, anschwärzt, unter Druck setzt, ihre tumbe Propaganda als „Meldung“ in Zeitungen und Fernsehnachrichten verbreiten läßt und Lehrern als kostenloses „Unterrichtsmaterial“ zur Verfügung stellt.
Und weil der Mensch nicht nur was lernen muß, sondern das auch bereitwillig tut, wenn man ihm gewisse Botschaften ausdauernd genug von allen Seiten in die Birne hämmert, weiß heute jeder Absolvent einer beliebigen Schule, jeder brave Zeitungs- und Fernsehkonsument sehr genau, daß so Sachen wie Gewerkschaften, Mindestlohn, Vermögens- und Erbschaftssteuer, staatliche Rente und überhaupt so ziemlich alles, was der hemmungslosen Profitanraffung im Wege steht, böse, buh und igitt ist.
Drum ein Vorschlag zur Güte, liebe Kinder: Nutzt die anstehenden Sommerferien zum Lernen. Macht die Glotze aus, schmeißt die Zeitung und das Schulbuch weg, packt Knabberzeug, Blubberlutsch und Berge von Donald-Duck-Heften in den Tornister, kampiert an Seen, Flüssen und Bächen, in Wiesen und Wäldern und büffelt aus purer Lust und Laune die zentralen Lehrsätze des Lebens: Arbeit ist etwas Lästiges, dem man am besten aus dem Weg geht. Viel Geld nützt einem nur etwas, wenn man gern darin herumkrault. Und die INSM ist keine lustige Panzerknackerbande, sondern böse, buh und igitt.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.