Mittwoch, 29. Januar 2014

(Aus dem tiefen Archiv:) Frisch gepreßt #1: U2 "All That You Can't Leave Behind" (November 2000)


Im Herbst befällt manche Menschen die Katzenkrankheit. Man müßte so viel tun und machen, und manchmal denkt man sogar daran, aber vom Denken allein schreibt sich ja nicht einmal eine Kolumne, also sitzt man da, sieht aus dem Fenster oder in den Fernseher hinein und ignoriert die verzweifelten Zurufe aus dieser anderen Welt, wo immer jemand wissen will, wann und warum nicht.
Das heißt nicht, daß man nicht beschäftigt wäre. Man ist sogar sehr beschäftigt, zum Beispiel damit, auf den Akkord zu warten, diesen einen, der besonders weh tut. Den spielen U2.
Es gibt eine bestimmte Theorie über U2 und Beziehungen: Wenn ein neues U2-Album erscheint, wird es Zeit, sich mal wieder ein bißchen Mühe zu geben, weil man sonst den Soundtrack fürs Selbstmitleid gleich mitgeliefert kriegt, und dann ist nicht nur die Liebste perdü, sondern auch der Musikgenuß. Ich kenne ungefähr neunzehn Leute, die schwören, sie könnten das Album “Achtung Baby” nie mehr in ihrem Leben hören, nicht einen einzigen Ton davon und schon gar nicht “One”, weil sie das damals tausendmal hintereinander gehört haben, in Startbahnlautstärke, wegen dieser einen Stelle vor allem, wo es dann heißt: “You asked me to enter” (hier kommt der Akkord!) “and then you made me crawl, now how can you be holding on to what you got, when all you got is hurt?”, und das haben sie mitgegrölt wie hysterische Seehunde und durch das Tränenmeer hindurch gebrüllt: “Ja! Genau!” und zwar so laut, daß sie da draußen die Qual da drinnen auch ganz bestimmt merkt. Und irgendwann war ihnen das Theater furchtbar peinlich, und “Achtung Baby” stand für immer im Regal, “Nicht berühren!” Zum Glück waren die zwei oder drei Folge-U2-Alben so scheiße, daß man sich höchstens mit wehmütigem Lächeln erzählte, wie schlimm es früher alles war und leider nicht mehr ist.
Aber jetzt Vorsicht: Es war noch nicht einmal richtig November vor zwei Wochen, da rief schon der melancholische Herbert* an, ein Spezialist für Musik und Katzenkrankheit: “Kann ich eine Zeitlang bei dir wohnen?” Und, natürlich: “Schon die neue U2 gehört?” Er empfahl mir “Walk On” zum Einstieg, und während das Telephon munter weiterklingelte (“Kannst du nicht mal mit Georg* reden?” – “Weißt du, ich gehe nach Argentinien”– “Du warst doch immer so gut als Vermittler” – “Scheiße, Monika* ist ausgezogen” – “Du, ich muß mal mit jemandem reden” – immer mit einem hinzugefügten Hinweis auf die Platte, die übrigens “All That You Can’t Leave Behind” heißt, was ja schon ein recht deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl ist) – während dies alles geschah, hörte ich die Platte und hatte eine Art umgekehrtes Deja-Vu: Ich wußte sofort, daß sie in spätestens einem Jahr direkt neben der neuen Placebo in jenem Regal stehen wird, wo die Sachen stehen, die man sich nie mehr anhören kann, ohne diesen furchtbar nostalgischen Sehnsuchtsschmerz zu leiden. Die man sich also überhaupt nie mehr anhören kann. Und die Textzeile hab’ ich auch gefunden: “I wasn’t jumping, for me it was a fall / It’s a long way down to nothing at all.” Oder lieber die? “Home ... hard to say what it is if you’ve never had one.” Und dann kommt der Akkord, dieser eine, ich erwähnte ihn schon.
Warum quält man sich so? Vielleicht weil es so schön ist. Und jetzt muß ich mal telephonieren und allen erzählen, wie phantastisch die neue U2 ist. Und noch so ein paar andere Sachen.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Diese Folge war der Beginn der Reihe im November 2000.


Freitag, 24. Januar 2014

Frisch gepreßt #307: Bruce Springsteen "High Hopes"


Die Frage der Verehrlichkeit beziehungsweise Verwerflichkeit populärer Musik stellt sich kaum je irgendwo so dringlich und ambivalent wie bei dem 64jährigen Bruce Frederick Joseph Springsteen. Da hagelt es nur so die i/y-o-Wörter: Symptom, Ikone, historisch, Syndrom, Mythos … „Hero!“ brüllt der autofahrende Amerikaner dazu, steigt aufs Gas und wähnt sich im Stande sozialer Gerechtigkeit mittel Gitarrenakkord und Trommelknall (sein Nummernschild plärrt dazu den aus „Breaking Bad“ bekannten Slogan: „Live free or die!“) und ahnt nicht, daß er damit eine höchst sarkastische Beschreibung des Mannes, der ein Auto sein wollte, nachstellt, über die Tom Robinson schon 1977 nur mit Gänsehaut und Zunge in der Backe lachen konnte: „Furlined seats and lettered windscreen / Elbow on the window sill / Eight track blazing Brucie Springsteen / Bomber jacket, dressed to kill.“
Bruce Springsteen ist einer der dümmsten und zugleich einer der weisesten Männer der Rockgeschichte, Punkt. Der Titelsong seines neuen Albums (mit dem es, plump as plump can, anhebt) splattert Klischees durch die Gegend wie ein Mixer ohne Deckel, von „Monday morning“ und „Sunday night“ und „every mother with a baby crying“ und daß es nicht viel braucht, „to kill a loving smile“; dazu rasselt ein hüftlahmer Bo-Diddley-Beat, und eine Gitarre jault im Kachelraum, as if 1985 never happened.
Andererseits sollte, wer es schafft, den Titelsong von „The River“ (1980) ohne drei Tränen im Augenwinkel und senkrecht stehendes Haupthaar zu hören, einen Arzt aufsuchen und prüfen lassen, ob in seinen Adern noch etwas anderes fließt als die grüne Melange des Zynismus. Exemplarisch (und sicherlich historisch-ikonisch) niedergelegt ist dieses mesmerisierende Mißverhältnis in „Born In The USA“ (1984), dem die grauen Männer hinter allen US-Präsidenten von Kennedy bis Bush, die mit der diktatorischen Durchsetzung des weltumspannenden Kriegskapitalismus drei bis fünf Generationen um ihr Leben brachten, einen Nationalismus hinzu applaudierten, ohne zu merken, daß sie sich mit den Textzeilen, die sie da mitgrölten, selber ins Gesicht spuckten.
Genau: „ohne zu merken“ zum zweiten. Bei Springsteen merkt nie jemand was, und er selber ahnt offenbar auch nie, was er tut. Nur so einem konnte es gelingen, Woody Guthries Hymne der amerikanischen Arbeiter und Entrechteten zum Stadionbrüller der dumpfstolzen Colasäufer und Waffennarren umzumodeln, ohne (!) zu (!) merken (!), daß es am Ende der Ku-Klux-Klan selber war, der die kommunistischen Parolen mitgrölte. Andererseits wüßte ohne ihn vielleicht kein Zeitgenosse Mitte 40 mehr, wer Woody Guthrie überhaupt war.
Bruce Springsteen ist (Achtung, Magenkrampf!) der Rocker des kleinen Mannes, das Opium für den Tankwart, der Sozialrechtslehrer für den Bon-Jovi-Fan und der Katalysator der merkwürdigen Reaktion, die dafür sorgte, daß in den USA die längst fällige Revolution nur im Baseballstadion und auf dem Highway stattfindet. Der Prediger der Massen und ihr Bändiger: O ja, Jungs, alles ist gemein und furchtbar, und jetzt gehen wir hin und tun unseren Job! Der Mann, der singt wie ein Bergarbeiter, den jede Zeile im Kehlkopf und im Herzen den Schmerz der Jahrhunderte spüren macht.
Nebenbei hat er ein paar der schönsten und typischsten und ein paar der fürchterlichsten und auch typischsten US-amerikanischen Rocksongs aller Zeiten geschrieben. Und wieder ist es oft so, daß niemand was merkt. Zufallswahl: „Fire“ – den schrieb er 1977 für Elvis Presley, der aber leider starb, bevor der Postbote kam. 1979 hatten die Pointer Sisters damit einen Hit, und die meisten Springsteen-Konzertbesucher, die das Lied hörten, dachten, der covert da einen Ur-Oldie, nur weil das Lied so dumm war: „I’m driving in my car …“, na klar.
Und freilich ist ein Großteil dieses neuen, achtzehnten Albums so dumm und peinlich wie der Titelsong (für den Springsteen nur insofern etwas kann, als er ihn nach einer ersten Aufnahme 1995 noch mal ausgegraben hat: geschrieben hat ihn Tim Scott „Ledfoot“ McConnell) und das Cover. Aber nicht nur, sondern auch schön. Es ist ein Sammelsurium alter Songs, Überreste und Neuversionen, von denen man insgesamt gestehen muß, daß das Gefühl, beim Hören einen Teil der eigenen Lebens- und zugleich der Weltgeschichte zu erleben, nicht zu unterdrücken ist.
Und dann aber: sind noch zwei Coverversionen drauf, bei denen einem (mögen sie noch so mainstreammäßig aufgebonzt sein) der Hut ins Genick fällt – „Just Like Fire Would“ von den schmählich vergessenen, wahrhaft heroischen Saints. Und „Dream Baby Dream“ von Suicide, den vielleicht wüstesten Außenseitern der US-Musikgeschichte. Daß die es somit über einen Umweg von hunderttausend Meilen und 35 Jahren ins Wohnzimmer des Tankwarts geschafft haben, ist ein Trick, den nur dieser Mann hinkriegt. Ohne es zu merken (wahrscheinlich).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Sonntag, 19. Januar 2014

Belästigungen #426: Wenn (und wieso) das lüderliche Gesindel zur Nachtzeit lurpft …

Wichtigster Jahresend- oder -beginnvorsatz für den umsichtigen, auf das Leserwohl bedachten Kolumnisten: Nie mehr einen einzigen Lästerartikel über die deutsche Bahn! Das nämlich – das Abfassen von Lästerartikeln über die deutsche Bahn – ist ungefähr so originell und interessant, wie wenn der Pfaffe von der Kanzel den Deibel einen rechten Tunichtgut heißt.
Daß die deutsche Bahn ein Saftladen ist, dessen einziger Zweck darin besteht, milliardenteure Löcher unter die schwäbische Krume hineinzubohren, in die das beschauliche Stuttgart dereinst ebenso hineinsinken wird wie jetzt schon manch ein bäuerliches Anwesen im Umland, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Ebenso ist bekannt, mit welcher Vehemenz man dort Beschäftigungstherapie für Fahrplanphantasten betreibt, die durch die manische Erstellung immer noch schnellerer und lückenloserer „Fahrpläne“ – für die es Züge erst im Jahr 3000 und Bahnhöfe längst vorher längst nicht mehr geben wird – für ein Ausmaß an Ausfällen und Verspätungen sorgen, das die schlimmsten Befürchtungen aus den letzten Wochen des Ersten Weltkriegs übertrifft.
Ja, das wissen wir alles. Wir wissen auch, daß die diversen „Bahnchefs“ der letzten Jahre – Dürr, Mehdorn, Grube – vor ihrem Amtsantritt nie etwas mit Bahn zu tun und lediglich „Chef“ gelernt hatten, ebenso wie die Verkehrsminister Ramsauer und Dobrint übrigens, deren Namen zwar entfernt an Kosebezeichnungen für frühneuzeitliche Dampflokomotiven erinnern, die aber ansonsten verkehrspolitisch ebenso schimmerlos sind, im Gegensatz zu den „Bahnchefs“ indes immerhin so höflich waren, ihr Gehalt nicht innerhalb von zwei Jahrzehnten zu verzwanzigfachen.
Des weiteren wissen wir, daß in den Zügen der deutschen Bahn nicht nur die Sitze immer kleiner und enger, sondern insgesamt weniger werden, damit sich das derweil unermüdlich aufgespeckte Menschengewürm ordentlich tümmelt, drängelt und mit Grippe ansteckt, während es mit einer halben Arschbacke auf dem Restmüllbehälter von Garmisch nach Kiel tuckert – was heute immerhin trotz der Stillegung zehntausender Kilometer Strecke und (seit 1994) der Hälfte aller Bahnhöfe (in den Gegenden, in die laut Statistik immer mehr Menschen fahren wollen) kaum länger dauert als 1918.
Aber über was soll man schon sinnieren, wenn man zwei Winternächte damit verbringt, zwischen München und der Toskana hin- und wieder herzufahren, in Florenz hocherfreut feststellt, daß die Italiener in ihrem ebenso idiotischen „Firenze 21“-Milliardenverbuddelungswahn wenigstens so langsam vorankommen, daß die stinkige alte Sala d’attesa für die Übergangszeit in einen modern illuminierten Wartebereich mit angeschlossenem (und aber traditionell geschlossenem) Beauty-Center verwandelt wurde, der aussieht wie ein Science-fiction-Raumschiff aus den 80ern? Wenn man da drin dann fröhlich rülpsend und keckernd mit Nastro Azzuro anstößt und den Pecorino teilt, bis eine höfliche Raumschiffsfrau in Uniform einem erklärt, man müsse die restlichen zwei oder drei Stunden bis zur verspäteten Abfahrt leider irgendwo zwischen Gleis, Glasscherben und (immerhin fröhlichen) Bettlern herumhängen, weil der einst stolz in öffentlichem Auftrag eingerichtete Wartesaal jetzt einer privaten Aktiengesellschaft namens NTV gehört, die im gesamten Bahnhof Ausgabestellen für Reklamezettel errichtet hat, auf denen für den selben Hochgeschwindigkeits-Fernstrecken-Blödsinn getrommelt wird, für den die deutsche Bahn seit Jahrzehnten unser Geld in schwäbische Erdlöcher und aus sonstigen Fenstern schmeißt?
Am besten über etwas ganz anderes. Zum Beispiel kann man dank der segensreichen Erfindung des Internets (von dem man sich nicht auszumalen wagt, es werde von der deutschen Bahn betrieben) endlich mal wieder wahllos in alten Büchern herumblättern und dabei in Franz Xaver Remlings „Geschichte der Bischöfe zu Speyer“ die haarsträubend faszinierende und belustigende Biographie von Damian August Philipp Karl Reichsgraf von Limburg-Stirum (1721–1797) entdecken, einem offenbar absolut maßlosen Streithansel, der sich mit Freund und Feind sowie seinem Domkapitel derart ausdauernd und vehement fetzte, daß sich das geistliche Gremium zu einschneidenden Maßnahmen gezwungen sah: Es „ließ den Koch desselben, in Mitte des Winters und vor Ablauf der Miethzeit, durch Ausheben der Thüre und Fenster aus dessen Wohnung im Fürstengarten verdrängen.“ Im Gegenzug verfügte August die Neuerrichtung einer Stadtmauer um Bruchsal, weil er „nicht ohne Befremden wahrgenommen“ hatte, daß dort „ohne einige Beschwerniß ein- und auspassiert werden könne und dahero dem lüderlichen und boshaften Gesindel, besonders zur Nachtzeit, gleichsam der Paß offen stehe“.
Über das äußere Erscheinen des Fürstbischofs berichtet Remling: „Seine Stimme war stark und durch lurpfende Gurgeltöne eigenthümlich.“ Aus Johannes Nasts „Teutschem Sprachforscher, allen Liebhabern ihrer Mutersprache zur Prüfung vorgelegt“ (1777) wissen wir: „Vile Menschen können das r nicht rein sprechen, und das heist man Lorpfen, oder Lurpfen.“ Aber das ist egal, denn während der mittlerweile greise Bischof auf der Flucht vor den wilden Horden der französischen Revoluzzer bereits zwei Testamente gemacht hat und korrespondierend immer noch tobt, er verbitte sich „für die Zukunft derley Gewäsche“ und lasse sich „ein für alle Male nicht am Narrenpfeile herumführen“, bis endlich am 26. Februar 1797 „ein Stickkatarrh die Auflösung herbei“ führt und er leider verscheidet – derweil sitzen wir endlich doch im vollkommen überfüllten Zug.
Und während die Reisegefährtin trotz qualvollem Gewimmel entschlummert, formt sich in meinem reisenden Gehirn auf traditionell wirr mäandrierende Weise ein kolumnistisches Lehrstück über Leben und Schicksal des Herrn Limburg-Stirum. Allerdings haben wir den Fehler gemacht, keine der schweinsteuren Liegen im furzschweißsudgesättigten Liegeabteil zu mieten, sondern ganz normale Sitze, und eine derartige Verweigerungshaltung muß bestraft werden; deshalb passirt in den folgenden Nachtstunden gefühlt alle zehn Minuten lüderliches und boshaftes Gesindel daher, um mit lurpfenden Gurgeltönen das Vorzeigen von wahlweise Fahrkarten oder Ausweisen oder beidem zu fordern, selbige zu betrachten und manchmal mit einem zwecklosen Zwackstempel zwackzustempeln, bis wir uns endlich nicht mehr am Narrenpfeile herumführen lassen und uns solche Beschwerniß, besonders zur Nachtzeit, verbitten.
Was antwortet darauf der Kerl, der momentan mit dem Zwackstempeln dran ist? „Hätten Sie eben im Liegewagen reserviert, hä hä!“
Tja. Und weil wir die Horden der Störenfriede leider nicht durch Ausheben von Thüren und Fenstern verdrängen konnten, ist aus dem schönen Vorsatz leider nichts oder vielmehr eine Kolumne über die deutsche Bahn geworden. Immerhin: die letzte, Ehrenwort.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Samstag, 11. Januar 2014

Frisch gepreßt #306: Haley Bonar „Wntr Snds“



Die Erdbeer-Gang, so benannt zu Ehren der bedauernswerten römischen Legionäre, die einst im Auftrag des Druiden Miraculix entsandt wurden, um zur absoluten Jahresunzeit Erdbeeren für einen vermeintlichen Zaubertrank zu erstehen, zieht Zwischenbilanz: Und wie (fast) immer ist es die der Erdbeer-Gang angemessenste Aufgabe, in den weiten Breiten zwischen Ural und Atacamawüste hörenswerte Musik zu entdecken, die zwischen 16. und 21. Dezember erscheint.
„So dumm“, erklärt der Marktexperte, „ist niemand. Ein nennenswerter Absatz ist so gut wie ausgeschlossen, da jedermann Geschenkboxen, Weihnachtsalben, Best-of-Ramsch und Lieblingsplatten der letzten vier Jahre in Deluxeausgaben für Neffen und Tanten ersteht.“
„Genau“, sagt der Zyklusforscher, „und wenn die Läden nach Weihnachten wieder öffnen, ist oder wäre das Zeug veraltet und könnte höchstens nächstes Jahr als Deluxeausgabe neu angeboten werden, was aber keinen Zweck hat, da es ja niemand kennt.“
„Und sowieso“, fügt der Verhaltensanthropologe hinzu, „verbringt der Mensch die ‚stillen Tage’ am liebsten damit, in Vergangenem zu kruschen und sich an Erinnerungen an musikumspülte Lebensmomente zu ergötzen. Wenn er nicht, wie der moderne Musikologe, ohnehin beide Ohren voll zu tun hat, um die Halden und Hekatomben an Zeug abzuarbeiten, das in den letzten Wochen in die Läden gestapelt wurde.“
Alle nicken einmütig, man serviert Glühwein und beschließt, die Ausnahmen unter „Kuriosa und Parerga“ abzulegen: B.o.B, Thomas D. und Beyoncé werden sich schon was gedacht haben.
„Moment mal“, gibt der Medienmodernist zu bedenken, „was heißt schon ‚erscheinen’? Und was heißt hier ‚Läden’? Wer geht denn noch in Läden? Macht der Internetversandhandel etwa Weihnachtsferien?“
Man winkt ab: Mehr Weihnachtsramsch als auf einer einzigen Amazon-Empfehlungsseite ist in der gesamten Nachkriegsgeschichte des deutschen Schallplattenhandels nicht zu finden. Müßig, das zu durchpflücken. Statt Erdbeeren wird man nur vertrocknete Marshmallows finden. Erneut: einmütiges Nicken. Der Glühwein köchelt. Zunächst bemerkt niemand die merkwürdig sanften, einfühlsamen, leicht verloren-melancholisch-fröhlichen Klänge, die durch den Raum perlen. Der Musikentdeckungsbeauftragte wird dann doch aufmerksam.
„Was ist denn das?“
„Was ist was?“ Man lauscht. Ein allgemeines „Oh!“, wohlig und wundersam entspannt.
„This year is new“, flüstert der Nischenarchäologe, dessen mildes Grinsen mehr ahnen läßt als es verrät. Und als das fragende Geschau übermächtig wird, erzählt er:
„‚Erscheinen’ ist, der weihnachtlichen Tradition entsprechend, ein Vorgang, der sich den gewohnten Mechanismen entzieht. Niemand suchte den Stern im Kaufhaus, den Messias in der Gebärstation, Weihrauch und Myrrhe im Gartencenter. Hier erklingt eine … nun ja, verlängerte EP mit sechs Liedern von Haley Bonar, einer inwendig wie äußerlich wundersam schönen Dame aus dem amerikanischen Westen, die fast niemand kennt, weil sie wie ein Schmetterling durch die US-New-Folk-Szene turbelt und flittert und kaum Spuren hinterläßt. Sie war mit der vielleicht leisesten Band der Welt auf Tour – Low, deren Gitarrist sie bei einem Songslam entdeckte, woraufhin sie anderntags die Schule schmiß, ihren Honda Civic mit Gitarren und einem Schlagzeuger belud und losfuhr –, hat Aufnahmen mit Freunden von Bon Iver, Ben Kweller und Andrew Bird (und diesem selbst) gemacht, einige mindere Preise eher verschämt verschwiegen und ist meist dann, wenn ihr Gesicht irgendeine Titelseite zierte, in eine neue Stadt gezogen, wo sie wieder fast niemand kennt. Wer eines ihrer vier („offiziellen“) Alben zufällig mal gehört hat, ist an einem leicht goldenen Schimmer und an einer gelassenen Nonchalance gegenüber fast allem anderen zu erkennen. Und weil Haley das gerne tut, hat sie ohne Anlaß und Produktbindung diese sechs Stücke aufgenommen, die auf ihrer Webseite zu finden sind, als ‚handgemachtes Geschenk’. Nebenbei spielt sie übrigens in einer Postpunk-New-Wave-Band und wird im Frühling sicherlich ein neues Album veröffentlichen, weil sie sozusagen der Frühling ist.“
„Ja hm“, sagt der Marktexperte, „ist das denn erlaubt?“
Hingebungsvoll lauscht die Erdbeer-Gang und wird sich einig: Es ist sogar absolut unerläßlich.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 8. Januar 2014

Frisch gepreßt #305: Billie Joe & Norah „Foreverly“



Daß es einen „Weihnachtsmann“, der irgendwie aus dem Amerikanischen herkäme, nicht gibt, ist so gut wie gesichert. Historisch-etymologischer Forschung des Instituts für galoppierenden Starksinn an der Freien Universität Schwabing zufolge geht die Benennung auf eine fehlerhafte mündliche Überlieferung des Wortes „Iron Man“ zurück (III. Transärmelkanalische Lautverschiebung), und der Kerl, der ab dem Spätsommer, wenn die Lebkuchenindustrie Vollzug meldet und ihre Erzeugnisse in die Kohlehydratabgabestellen der Unterschichtbezirke karrt, nächtens durch die Gegend streift und kleine Kinder schreckt, indem er mit seiner Rute wedelt und „Ho! Ho! Ho!“ grölt (ohne den historisch verbürgten Zusatz „Tschi-minh!“, der höchstens noch zu Zeiten von Grippeepidemien erklingt), – dieser zwielichtige Bursche ist natürlich niemand anderer als Ozzy Osbourne.
Jetzt kreucht Ozzy wieder da draußen rum, wenn der Sturm schneit und der Schnee stürmt, und krächzt, er wolle uns „fucking“ hören, aber darauf fallen wir nicht mehr rein. Nämlich haben uns Norah und Billie Joe (so herum gebietet’s die Höflichkeit, werte Plattenbenenner!) daran erinnert, was man tun kann, wenn ein knisterknackendes Holzofenfeuer, Zimtorangenduft, dampfender Glühwein und gelbwarmes Kerzenlicht nicht ausreichen, um die Welt zur heilsten von allen zu wandeln und den Ozzy zu bannen: eine ururalte Platte aus dem Regal ziehen, die so buttersüß und schlicht tönt, daß sogar die Verfilmung einer Atombombenexplosion mit solcher Vertonung zum hinreißend romantischen Idyll wird.
Das war damals durchaus nötig, 1958, weil da alle paar Monate irgendwo auf der Welt eine Atombombe explodierte und man auch ansonsten so wenig friedlich gesonnen war, daß in dem zehnjährigen Ozzy vielleicht schon Klagelieder über „War Pigs“ und die „Hand Of Doom“ herankeimten. Auch ungefähr zehn waren Phil und Don Everly in der kaum weniger grimmen Nachkriegszeit, als Papa Ike sein Liederbuch zur Hand nahm und ihnen zum Trost zwölf alte Volksweisen beibrachte, die sie 1958 auf dem trefflich betitelten Album „Songs Our Daddy Taught Us“ so tröstlich schön, entwaffnend nüchtern und demutsvoll herzig trällerten, dass daneben ein Elvis mit lautem „Flump!“ im Schmalzkessel versank.
Freilich ist das lange her, aber hat sich die Welt gebessert in den 55 Jahren, die uns in einer Zukunft versetzt haben, angesichts derer sich damalige Science-fiction-Autoren vor Verzweiflung entleibt hätten und in der Atombomben ein alter Hut sind, für den man sich nur noch in Nordkorea interessiert?
Nein. Und drum ist’s nur zu verständlich und löblich, wenn Billie Joe Armstrong (o ja, der von dieser Comic-Punkerl-Gruppe – man sollte niemanden unterschätzen!) und Norah Jones (o ja, die konsenssüße Grammysammlerin – man sollte auch niemanden überschätzen) bei einer gemeinsamen Singstunde mit Stevie Wonder auf die Idee kommen, Trost bei einer ururalten Everly-Platte zu suchen, die 14 bzw. 17 Jahre vor ihrem Sturz in diese Welt Atombomben mit Lametta behängte und den Menschen eine schimmernde Träne der Freudentrauer aufs Lid zauberte.
Denn es gibt einen Kitsch jenseits vom Kitsch: die „Überwindung des Leidens durch dessen Veräußerlichung“ (Ludwig Hohl) in reiner, schmuckloser Schönheit; es gibt einen Klang knapp neben der Stille; es gibt Lieder wie „Roving Gambler“, die mit einem einzigen Akkord alles über das Leben erzählen, und solche wie „Barbara Allen“, in deren wenige Zeilen die Ewigkeit der Liebe eingeschrieben ist und noch nach einer Million Interpretationen in (mindestens) 350 Jahren mit klarer Stimme aus ihnen spricht.
Und wer die singt, ist eigentlich egal. Das könnte auch Ozzy sein.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Montag, 6. Januar 2014

Frisch gepreßt #304: Jake Bugg "Shangri La"



Mitten im Leben sind wir von Zukunft umgeben – so lautete das klassische Motto der Popmusik; viele Jahre lang versetzte sie uns in Hoffnungen und Träume von besseren Welten, Zuständen, Gefühlen … bis unser Rucksack so überladen war mit bonbonbunten Irrealitäten, daß ein kollektives Aufseufzen um die Welt zu wehen schien, wenn schon wieder jemand „neue Wege“ ging und etwas vordem nicht Versuchtes versuchte: Es wurde ja immer schwerer, war ja so vieles schon da und ging nicht mehr weg.
Aber wenn’s zu viel und zu laut wird, das Neue, dann ist es irgendwann nur noch ein Rauschen, das man ausblenden kann. Schwupps – ist die Welt wieder leer, frisch und unschuldig und eine andere geworden, die sich langsam füllt mit Schönheit, die Kulturunken wiedererkennen und krittelig bemängeln mögen. Aber ja, freilich war alles schon mal da, na und? Gäbe es nicht Ton- und Datenträger, wär’s uns wurst, und umgekehrt hätte die Ausgrabung einer CD mit frühmittelalterlichen Beatkapellenaufnahmen die Beatles auch nicht schlechter gemacht. Der irrwitzige Anspruch, man dürfe nichts tun, was jemand irgendwann schon mal so ähnlich getan hat, ist die elende Obsession der neidvoll Grimmigen, die alles verpaßt haben und es deswegen niemandem gönnen. Man stelle sich vor, im Reich von Sex und Liebe würden ähnliche Ansprüche gestellt. Pah!
Und so sitzen die frohgemut Vergeßlichen im Winter 2013 in virtuell verrauchten Beizen, schmökern in Penguin Classics und schwelgen schimmernden Auges in sanftem Swing und klassischen Kellerclub-Pop, während die Grimmigen den Finger heben und es skandalös finden, daß bei Penguin Classics erstmals ein lebender Autor erschienen ist (Morrisseys „Autobiography“), Robbie Williams in Frank Sinatras Sessel fläzt und Jake Bugg klingt wie eine Mischung aus Lonnie Donegan, George Harrison (Modell 1965), Elvis Costello (1977) und den Arctic Monkeys von 2005, die sich ja auch schon anhörten wie Dings und Dongs und pi pa po.
Ja ja, schon gut. Na und? Morrisseys Buch ist mindestens so klassisch und bedeutend wie alles von F. Scott Fitzgerald (bitte nicht schlagen!), Robbies zweites Swingalbum keinen Deut schlechter als „In The Wee Small Hours“ (bitte nicht treten), und als Jake Bugg zur Welt kam, wurstelte George Harrison gerade irgendwie mit Jeff Lynne herum, und zwar an uraltem Kram. Hätte er damals oder je zuvor oder danach ein Album wie Jakes zweites gemacht, hätte ihn die Welt als größten aller Beatles gefeiert und zum Ehren-Ewig-Neunzehnjährigen ernannt. Und das Argument, Jake finde alles schon vor, was George mühsam erst erfinden habe müssen? Wohlfeiles Papperlapp; fragen Sie Lonnie Donegan.
O ja, dieses Album ist ein Klassiker oder wird einer sein. Ob ruppig schnell, verhallt beschaulich oder einsam-verloren wie ein Novembersonntagnachmittag in einem Londoner Hinterhof 1963 – jeder der zwölf Songs auf „Shangri La“ ist ein Idealbild, eine perfekte Vorlage für Klischees. Tausende werden daraus lernen und ihre eigenen zwölf Songs hinterherschmeißen, und wenn zehn davon auch nur halb so gut und ewig sind, dann dürft ihr gerne prangern, ihr Grimmigen. Falls ihr aber in Versuchung geraten solltet, das hier – das Original! – in denselben Topf zu werfen, dann hört euch einfach mal „A Song For Love“ an, vergeßt das Jahr, das auf dem Kalender (dem heutigen und dem damaligen) steht und sagt mir, wann und wie die Beatles (oder sonst wer) das jemals besser (oder auch nur so schön) gemacht haben sollen. Na?
Fein, dann sind wir uns ja einig und können noch ein paar Kleinigkeiten verraten, die euren Anspielungshunger stillen (oder wecken) werden: Das Album hat Rick Rubin produziert, ein paar Gitarren spielt Matt Sweeney (ja, der von Bonnie „Prince“ Billy), den Baß Jason Lader (ja, der von The Mars Volta), und am Schlagzeug sitzt tatsächlich Elvis Costellos Mann Pete Thomas. Was Neil Diamond, The Longpigs, R.E.M., Snow Patrol, Belle & Sebastian mit Jake Bugg zu tun haben, findet ihr aber gefälligst selbst raus. Oh, und vergeßt nicht, eure Zukunft mitzunehmen, wenn ihr geht!

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint seit 2001 alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Belästigungen #425: Was ein Gender ist und wie man es am besten diskriminiert


Ein Freund, der auf der Universität was geworden ist, rief an und teilte mit, ich dürfe ihn demnächst „Professorin“ nennen. Oho, dachte ich, neulich noch so verliebt, und jetzt eine Geschlechtsumwandlung? Muß eine heftige Affäre gewesen sein.
Er klärte mich auf: Keineswegs werde er zur Frau, höchstens im grammatischen Sinne und da auch nur gewissermaßen. Nämlich habe man einst, um Frauen nicht mehr zu diskriminieren, aus der „Frau Professor“ eine „Professorin“ gemacht, die dann aber immer noch diskriminiert worden sei, weshalb auch in der Mehrzahl aus den „Professoren“ die „ProfessorInnen“ geworden seien. Leider habe sich herausgestellt, daß damit die Diskriminierung nicht zu beseitigen sei, weil „Professor“ nun mal die Stammform und „Professorin“ nur abgeleitet sei. Und drum sollten nun alle unterschiedslos „Professorin“ heißen, was zwar in gewisser Weise die Männer diskriminiere. Das sei aber nicht so schlimm, weil die schließlich die Frauen jahrhundertelang diskriminiert hätten; da müßten sie jetzt schon mal ein bißchen Gegendiskriminierung hinnehmen.
Doppel-Oho! Das, dachte ich, kommt davon, daß man heutzutage an den ehemaligen Universitäten so eifrig und plapperintensiv ein solches Zeug wie „Gender“ disputiert, anstatt sich ab und an der guten alten Wissenschaften zu entsinnen. Ein Professor, erklärte ich dem Freund, ist ebensowenig per Bezeichnung etwas Männliches wie ein Student – das eine bezeichnet jemanden, der „als Lehrer auftritt“, das andere steht für „interessiertes Bemühen“.
Da hätten wir’s ja schon, meinte er: „jemand, der“ – um nicht zu diskriminieren, müsse man unbedingt „die/der“ sagen, und dann bleibe immer noch das diskriminierende „jemand“, in dem unverkennbar ein Mann drinstecke und weiter diskriminiere. Dann, sagte ich, solle er eben „eine Person“ sagen, schon habe er sein „die“. Das, sagte er, gehe schon gar nicht, weil „Person“ abfällig klinge, mithin erst recht diskriminierend wirke.
Uff. Nun weiß ich ja längst: Wörter gehen bisweilen ihrer sozialen Konnotation verlustig. Wer heute noch „Neger“ sagt, will provozieren. Wenn Herr Ribbeck zu Ribbeck im Havelland heutigentags ein kleines Mädel als „lütt Dirn“ herbeiriefe, hätte er nicht nur Alice Schwarzer, sondern auch die Sittenpolizei auf dem Hals, und die zwielichtige Bande, die sich von solchen Regelungen unterdrückt fühlt und Blödsprüche wie „Wird man wohl noch sagen dürfen“ aus der Schmollecke herauströtet – das ist die alte, schwiemelig-käsige moralische Mehrheit der Sarrazins, die den Weltuntergang fürchtet, wenn sich irgendeine beleidigte Winzminderheit nicht mehr richtig unterdrücken lassen will.
Trotzdem, meinte ich, sei es möglich, daß das ganze Theater auf ein Mißverständnis zurückgeht: Ein Geschlecht im sexuellen Sinne nämlich gibt es in der Grammatik nicht. Die Liebe hat keinen Eierstock, der Türstock keinen Hoden, Sonne und Mond keine(n) Gleichstellungsbeauftragte(n). Die Ameise ist manchmal männlich, der Hund oft weiblich; ganz zu schweigen von halbseidenen Phänomenen wie „München“, das man nicht mal im angeblich neutralen Sinne als „das München“ bezeichnen dürfe, ohne mangelnder Sprachfähigkeit bezichtigt zu werden.
Wenn man „Professor“ widersinnigerweise als „männlich“ empfinde, sei die weibliche Form „Professorin“ aber schon deshalb ausgeschlossen, weil da der angeblich schwanztragende „Or“ ja immer noch drinstecke, die „Orin“ mithin eine „Er-Sie“ sei; es müsse also „Professin“ heißen und somit auch Händlin, Bauin, Künstlin, Ingenin, Frisin (oder notfalls Friseuse), wohingegen „der“ Student sich höchstens als Studenter neben die Studentin setzen dürfe, dito Geheimagenter, Referenter und so fort. Ansonsten sei auch bei anderen Wortbildungen das gleiche Prinzip anzuwenden: „rücksichtslos“ könne man nicht sein, höchstens „rücksichtübendlos“.
Im alten Indogermanischen, dem die meisten Sprachen entstammen, in denen in unserer Gegend herumgequasselt wird (klugschiß ich weiter, den Zeigefinger mühsam bändigend), habe es ein „Geschlecht“ nicht mal grammatisch gegeben, sondern nur eine Art von sogenannten Nominalklassen: Das handelnde Subjekt war ein „er“, das behandelte Objekt ein „es“. Daß eine „sie“ grammatisch überhaupt existiert, liegt daran, daß der Mensch in der Wirrnis seines Hirns abstrakte Ableitungen zu bilden begann, für die es einen bezeichneten Gegenstand entweder gar nicht gab (die Liebe und die Schwebe: versuch sie zu greifen, schon sind sie fort) oder erst durch eine weitere Übertragung (die Schule: man ging durch sie hindurch, auch als sie noch kein Gebäude war).
Die „sie“ hat also ebensowenig ein (sexuelles) Geschlecht wie der „er“ und sowieso das „es“. Daß man an irgendein Wort ein(e) „-in“ dranzuhängen begann, diente der Unterscheidung im Einzelfall: Wenn ein frühmittelalterlicher König mit seiner Frau vors Volk trat und sie als ihm ebenbürtig ausweisen wollte, konnte er sie freilich nicht als „König“ bezeichnen, weil das heillose Verwirrung gestiftet hätte („Zwei Könige? Der Weltuntergang naht!“). Drum: Königin. Ebenso bei der (nicht sexuellen) Freundin, die ein Mann damals üblicherweise nicht hatte (und im Englischen, wo es kein Wort dafür gibt, wohl bis heute nicht hat, good heavens!). In anatolischen Sprachen sind gar Mutter und Vater unterschiedslos (grammatisch) männlich. Und sowieso, brachte ich meinen Vortrag zu Ende, sei das alles bloß ein Pipifax, den der Kapitalismus in die Welt gebauscht habe, um den Klassenkampf wo hin zu verlagern, wo er außer Blabla nichts bewirkt.
Der Freund – zunächst demoralisiert, weil er sich zur weiteren Untermauerung seines/r GenderbewußtheiterIn zu 15 diesbezüglichen Symposien angemeldet hatte und nun erkennen mußte, daß er einem Popanz aufgesessen war – fauchte: Dann laß ihn uns angreifen, den Kapitalismus! Freilich, sagte ich, welchen Nebenschauplatz hättest du denn gern? alt gegen jung? Stadt gegen Land? Norden gegen Süden? Such dir einen aus, und dann viel Spaß beim Institutegründen!

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.