Samstag, 26. August 2017

Belästigungen 14/2017: So! So! So! (Achtung: Blödbla-Attacke 4.0!)

Der Deutsche hat zu Büchern ein eigentümliches Verhältnis, das sich in ein paar Faustregeln zusammenfassen läßt: Mit acht kriegt man sie geschenkt, mit achtzehn klaut man sie, mit achtundzwanzig kauft man sie, mit achtunddreißig schreibt man sie, mit achtundvierzig verschenkt man sie, mit achtundfünfzig schmeißt man sie weg, mit achtundsechzig kann man sie nicht mehr richtig lesen, mit achtundsiebzig läßt man sie sich vorlesen, mit achtundachtzig kann man sich an kein gelesenes und vorgelesenes Wort mehr erinnern.
So kommt es, daß deutsche Verlage Menschen, die eigentlich ihrem Alter entsprechend klug, intelligent und erfahren sind (oder sein könnten), Bücher für zehn Jahre jüngere Menschen schreiben lassen (oder vielmehr für das, was man sich unter zehn Jahre jüngeren Menschen vorstellt), bei denen man nach dreißig Seiten weiß, worauf die Sache hinausläuft, und spätestens nach hundert Seiten die ersten Symptome einer Art Sprachlähmung erleidet.
Diese Bücher stehen dann, ohne fertiggelesen worden zu sein, zwanzig Jahre im Regal. Dann werden sie an zwanzig Jahre jüngere verschenkt, und der Kreislauf beginnt von vorn. Und immer mal wieder fragt ein verhärmter Kulturpessimist, wieso die jungen Leute eigentlich so verblödet sind, und wir fragen zurück: Tja, was gebt ihr den Leuten für Bücher zu lesen? und war das bei Ihnen damals anders? Und er tönt: Selbstverständlich! Schließlich gab es damals noch eine echte Kultur, Suhrkamp und so! Ja ja, sagen wir, freilich.
Was er meint ist zum Beispiel folgendes. Neulich fragte mich jemand, ob ich als studierter Sprachwissenschaftler erklären könne, wieso die jungen Leute heute immer so komisch reden. Nämlich so: „Meine Mama so … und ich so … und er so ...“
Ganz einfach, sagte ich: Schau und hör dir mal die Medien an, die plappern genauso! Weil er das nicht glauben wollte, schaltete ich den Radio an, und es ertönte der übliche repetitiv-wirre Bullshitschwall, wie gewohnt punktiert durch Einschübe: „... so Schäuble … so Merkel … so Dingsbums“. Die Medien, erläuterte ich, ersetzen seit Jahren flächendeckend „sagte“ durch „so“, was im Teilzitateinzelfall vertretbar, insgesamt aber falsch ist, sich jedoch supi erhaben und amtlich anhört und eine Hintertür angelehnt läßt für den Einwand, „so“ habe man das gar nicht „gesagt“. Und „die jungen Leute“ (die meist alles andere als jung sind) plappern es nach, weil man ihnen beigebracht hat, daß das, was die Medien sagen, richtig ist.
Apropos. Das gilt selbstverständlich nicht nur für die Grammatik, sondern auch für das, was sie angeblich transportieren soll, also „Sinn“ oder so und vor allem „Innovation“. Vor vielen Jahren, als „das Web“ langsam langweilig wurde, weil es nicht mehr richtig innovativ war, erfand jemand den Slogan „Web 2.0“, und alle blubberten den Schmarrn nach und hängten an jeden denkbaren Begriff von Affenstall bis Zirbeldrüse ein „2.0“ dran. Bis ihnen doch noch jemand sagte, daß diese Art der Innovationsinnovierung spätestens seit Windows 3.1 ein stinkalter Hut war.
Die Dümmsten freilich bleiben an so was hängen, weil sie den Blödbla-Automaten zwischen Nase und Kinn mangels (Verbindung zum) Denk- und Einsichtsapparat nicht mehr stoppen können, wenn er mal läuft. Drum plakatiert derzeit die bayerische Einheitsstaatspartei den gesamten Münchner Südosten mit der Parole „Wirtschaft 4.0 – Deutschland fit für die Zukunft“ voll. Wir Armen, die täglich daran vorbeiradeln müssen, fragen uns verzweifelnd, was wohl als nächstes kommt: „Wirtschaft NT“? „Wirtschaft 10“, „Wirtschaft Sierra“?
Leider nein. Als nächstes kommt, einen Meter weiter, auf zungenfärberlutscherbuntem Hintergrund einer von jenen „Demokraten“ daher, für die Freiheit mit Geld und Ellbogen und sonst mit gar nichts zu tun hat. Dieser Bursche, dem man offenbar das Hirn durch eine Amphetamindrüse ersetzt hat, weshalb er aus dem manischen Ärmelhochkrempeln gar nicht mehr herauskommt und nicht mal davor zurückschreckt, sich neben dem schlimmsten Sozialversager der letzten vierzig Jahre abbilden zu lassen, - dieser Bursche stellt auf seinem Plakat die Behauptung auf: „Wie wir in Zukunft arbeiten wollen“. Als wollte irgend jemand auf diesem Planeten wirklich arbeiten und nicht lieber sein bißchen Lebenszeit genießen. (Einschub: Das will immerhin die Linke, deren Plakate für ein „Sommerfest“ werben, das allerdings „Freitag bis Sonntag“ stattfand, und zwar von „23. bis 26. Juni“. Und dann wundern sich die Leute, wenn es wieder mal heißt, Linke könnten nicht rechnen. Die können ja nicht mal einen Kalender lesen!)
Damit nicht genug. Als nächstes ruft der neue Glubschguppy der Sozialverräter, „ohne soziale Dimension“ habe Europa „keine Zukunft“. Und da platzt uns der Kragen, und wir rufen zurück: „Klar! Und ohne fünfte Dimension hat Perry Rhodan im Hyperraum auch keine Zukunft!“ Weil es eine Zukunft nur bei Perry Rhodan (und Kollegen) gibt! Weil die Zukunft per definitionem das ist, was es nicht gibt und nie geben wird, ganz egal was Politiker und Medien darüber quatschen. Die tun das nämlich nur, um davon abzulenken, daß die Gegenwart in vielerlei Hinsicht höchst unerfreulich ist, sie aber nicht die geringste Absicht haben, daran was zu ändern. Das kann man nicht, weil es nun mal so ist, wie es ist. „Gestalten“ (brr!) kann man nur die Zukunft! Und dazu braucht es Parolen! „Schulz greit Merkel scharf an“, trompeten die Medien, und dann rennt der, der den Blödsinn verzapft hat, hinaus und stellt fest: Es ist wahr! Weil es in der Zeitung steht, in die ich es selbst hineingeschrieben habe! Und Schulz und Merkel glauben es aus demselben Grund ebenfalls. Ein perfekter „Echoraum“, möchte man meinen.
Drum ähnelt die Gegenwart dem Fußgänger- und Radlertunnel in Berg am Laim: eine dunkle, kaputte Röhre, erfüllt von Gestank und dem infernalischen Lärmterror der Autolawine nebenan. Drinnen plärren die Medien: „... so Schulz … so Merkel … so Özdemir“, und das Menschenecho hallt dagegen: „Merkel so … und Schulz so … und Özdemir so ...“ Und irgendwo am Ende diffuses Licht, das die Zukunft sein soll. Leider sieht die wiederum so aus wie eines der diversen Olympiagelände, mit denen der Planet übersät ist: ein paar Wochen lang hübsch futuristisch, ein paar Wochen später eine Wüste aus Schutt, Ruin und Untergang. Immerhin: das Hoffen ist dem Menschen offenbar nicht abzugewöhnen. Sonst wäre er wohl längst verzweifelt.
Oder zufrieden. Die „jungen Leute“ sind nämlich gar nicht so blöd, wie man im Echoraum der Polit-Zukünfte meint. Zum Beispiel sitzt an meinem Tisch ein Mädchen, das in ein sehr altes Buch vertieft ist (vermutlich gekauft), ein Buch aus einer Zeit, als deutsche Verlage noch anderes im Sinn hatten, und auf meine Frage, ob sie notfalls auch ohne soziale Dimension fit für die Zukunft sei, herzlich lachend antwortet: „Ach was, den ganzen Schmarrn gibt es doch gar nicht.“

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 19. August 2017

Frisch gepreßt #389: Liann „Goldjunge“


Sagt dies den (frisch) Verlassenen dieser Erde: Musik hilft!
Oder so: Wenn alljährlich zwischen der Aprilmitte und den Eisheiligen der Winter noch einmal sein graukrauses Haupt erhebt, es vor die Sonne reckt und deren Strahlen mit klirrendem Froststurm und flockendem Schneegeschmeiß unterbindet, stellt sich bei Menschen, deren mindestens sonnenhaft strahlender Glückstraum aus dem Spätmärzsommer im Zweitwinter auf einem verwehten Abstellgleis langsam zu Stein gefriert, eine seltsame nostalgische Mixtur ein. Die Erinnerung an die jüngste Bauchlandung aus der romantischen Schwebe auf dem kalten Pflaster der Realität changiert und fließt hinein in aufwallende Gefühlsreminiszenzen vergangener Aprilwinter. So entsteht ein ewiges, auch in der zehnten Wiederholung nicht zu stillendes Sehnen, das sich dem „Es wird halt einfach nichts!“-Diktum der schnöden Lebenserfahrung einfach nicht beugen will.
Dann sitzt man äußerlich katatonisch gelähmt, innerlich tobend rotierend im Sessel, bestarrt das monoton stumme Schneiben und wünscht sich zurück oder vor oder weg oder wenigstens irgend etwas herbei, was das dumpf surrende Laufrad der zusammenhanglos wiederkehrenden Bilder und Gedanken zum Schweigen bringt. Musik könnte heilend sein, aber wo kriegt man sie her in diesen Zeiten, da gute Musik für solche Gelegenheiten immer nur die alte ist, unlösbar verstrickt in andere, gleiche Augenblicke, die die neuen überdunkeln?
Das Handwerk des Liedermachens ist heutzutage ein Ausbildungsberuf. Unablässig wie eine Legion von Fließbändern in Reih und Glied spucken die einschlägigen Lehrinstitute normierte Jungdamen und -herren hervor, die normierte Gefühlssurrogate beschwören oder dies zumindest möchten, mit immer den gleichen Akkordfolgen, Klischees und immer der gleichen Wirkungslosigkeit. Wer unversehens an ihr „Material“ gerät, erkrankt unmittelbar an musikalischer Kitschdiabetes und fühlt sich hohl und leer wie eine aufgebrauchte Klopapierrolle.
Daß es Ausnahmen gibt, ist unbestritten. Joni Mitchell, Robyn Hitchcock, Rickie Lee Jones ... Die Schatzkammer der tröstenden Juwelen ist tief und reich und läßt immer wieder hoffen, es könne doch mal wieder etwas Neues hervorblühen, etwas unergründlich Anrührendes, unsagbar Bewegendes, unfaßlich Schönes, was die Welt nicht zum glasierten Apfel glanzlackiert, sondern Kratzer macht, die ein Lächeln hervorkitzeln und auch mal schmerzen.
Ich weiß so eine Ausnahme, die nicht aus der fernen Vergangenheit winkt: Liann. Seine Lieder haben diese Qualität; sie erzählen Geschichten in scheinbar zusammenhanglos impressionistisch hingetupften Bildern, hellen und dunklen Farbpunkten, aus denen die Phantasie und die Erinnerung die eigene Geschichte weben. Sie tun mal weh, wenn sie unvermittelt ans Tiefe rühren, aber dann tragen sie einen hindurch durch den Nebel, lassen einen schweben in diffus warmem Licht.
Nach „Murmeltier“ mit sechs ist dies die zweite EP mit fünf Liedern, und wieder braucht Liann, um zu wirken, nur seine Gitarre, ein bißchen atmosphärische Begleitung und vor allem seine Stimme, diese entwaffnend offene, samtföhnige After-hours-Stimme, die unter dem Anschein von Gelassenheit und Naivität das Gewicht des Lebens trägt und auflöst. Zusammen wird daraus ein wundervolles Album, aber im Notfall genügt ein einziges (und zwar jedes) Liann-Lied, um aus einem düsteren Nachwinternachmittag eine in melancholischer Schönheit schimmernde Erinnerung zu zaubern, die einen nicht mehr verläßt und die man jederzeit wieder hervorholen kann, wenn Hilfe und Heilung nötig sind.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #391: The Beatles "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band (Super Deluxe Edition)“


„What’s so funny about peace, love and understanding?“ fragten Nick Lowe und Elvis Costello in einer Zeit, als es gerade sehr modisch war, derlei Kram nicht mal mehr lustig, sondern höchstens peinlich zu finden. Das heißt: in der Popkultur. Die übrige Welt hatte sich nicht verändert seit 1967, als die Beatles so ziemlich alles lustig fanden: Da herrschte Krieg, je nach Gegend heiß oder kalt, getragen und untermauert vom universellen Klassenkrieg, gefiedert mit sozialen Spannungen, Terrorismus, aufgewiegelten „Rassenunruhen“ und all den Dingen, die der Mensch so anrichtet, wenn man ihn läßt.
1967 fand man das lustig: Liebe! Friede! Rückwärts gespielte Gitarren, Orchester, fernöstliche Dudelinstrumente, Pop-Prominenz im Massenchor, Songtexte über den Marmeladenhimmel, Kaleidoskopaugen und noch weitaus verstiegeneren psychedelischen Klimbim, Auslaufrillen mit Rätselbotschaften, Hitler, Gandhi, Marx und Jesus auf einem Plattencover (drei davon fehlten dann doch), tausend tibetanische Mönche in einem Londoner Studio (die auch), dessen Tonbandgeräte übrigens mit vier Spuren arbeiteten, weshalb man zwei gleichzeitig laufen ließ, während Dutzende Musiker in mehreren Räumen von einem dazwischengeschalteten Roadie als Taktgeber „synchronisiert“ wurden, der am Ende einen Wecker läuten ließ, damit alle ungefähr gleichzeitig ans Ziel kamen. Hinterher wurden die Bänder dann zerschnipselt und nach dem Zufallsprinzip neu zusammengesetzt.
Davon ist meistens die Rede, wenn von dem „größten Popalbum aller Zeiten“ gequasselt wird, das „Sgt. Pepper“ schon deswegen sei, weil so etwas, ein solcher Aufwand, ein so geniales Durcheinander, ein solcher Wirrwarr an wirren Ideen, geilen Geistesblitzen, verrücktem Plunder, an Übertreibung, Besinnung, Spiritualität und Naivität, Intellekt und Bezüglichkeiten, schlicht: ein solches Übermaß an Sinn und Unsinn doch damals eigentlich gar nicht möglich war und trotzdem zustandekam, wow! Das Argument ist so richtig wie belanglos. Heute ist so was halt möglich, ja mei – und was heißt möglich: Jeder Vierzehnjährige kriegt es notfalls mit dem Telephon hin und braucht dafür nicht Monate, sondern ein paar Stunden. Und dann klingt es möglicherweise noch überladener!
Aber dann hört man mal wieder „With A Little Help From My Friends“, unschuldig-bübisch dahingesungen von einem Schlagzeuger, den (vermeintlich) schon damals die Hälfte seiner Gewerkschaft an die Wand spielte, und denkt: Da ist ja gar nichts drauf? Wo bleibt der vielbeschworene Jahrhundertbombast? „Fixing A Hole“: nettes Lied, klar, aber halte mal eine beliebige ELO-Schmalzstulle dagegen und erzähl mir noch mal was von vier oder acht Spuren! „She's Leaving Home“: Da hat jemand zu viel Beach Boys gehört und gedacht, das geht doch nicht nur an einem kalifornischen Strand, sondern auch in einer englischen Teestube. „Being For The Benefit Of Mr. Kite“: klingt aufs erste Hören wie eine Spielzeugkiste, die aus dem obersten Regalfach fällt (und hören Sie mal, was Steve Harley & Cockney Rebel in „Ritz“ über Pabo Fanque zu erzählen haben!). „Within You Without You“: Schon nett, was man mit einem Mellotron und ein paar Flohmarktfunden anstellen kann, aber kriegt hier jemand nicht spätestens nach drei Minuten große Lust auf eine Portion Rock 'n' Roll? „When I'm Sixty-Four“: Tutsi-tutsi! „Lovely Rita“: Ein paar weniger „innovative“ Akkordfolgen und verhallte Zwischenschnitte hätten's auch getan, nicht wahr?
Und schon ist man fast durch. Vor „Good Morning Good Morning“ kräht ein Hahn und verscheucht die Melodie, der Titelsong scheppert noch mal kurz nach … derweil man erinnernd heranzieht, was sich im selben Sommer noch so tat, von Frank Zappa bis Velvet Underground, von Jimi Hendrix bis zu den Doors, und das alles doch ziemlich konservativ, bieder und gymnasial finden mag.
Aber dann kommt „A Day In The Life“, und wenn die wenig belangvollen Zeitungsstrophen absolviert sind und das Geisterorchester seinen ersten hämisch-bedrohlichen Zwischenwurf macht, wird die Sache weird, renkt sich das Hirn aus und anders wieder ein, und dann schwebt ein böses E-moll und erfüllt das Universum, bis die koboldische Auslaufrille endgültig den Faden abreißt.
Und da fängt man noch mal von vorne an und versteht, plötzlich und nach und nach, daß die besten Antworten nur dann aus dem Dunkel des Wirrsinns treten, wenn man die richtigen Fragen stellt. Und wünscht sich, das auch die nächsten fünfzig Jahre nicht zu vergessen: „What's so funny about peace, love and understanding?“

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Freitag, 11. August 2017

Belästigungen 13/2017: Gemäßigt sei der Maikäfer, aber nicht der Mensch (oder was ansonsten geschieht)

Über den (in gewisser Weise zumindest körperlich) neuen französischen Präsidenten war neulich von der neoliberalen Propaganda zu erfahren, er sei „gemäßigt“. Wenn so etwas über den derzeit radikalsten Wirtschaftsfaschisten in ganz Frankreich behauptet wird, könnte das höchstens noch er selbst als Rufschädigung oder Vortäuschung falscher Tatsachen empfinden, weil es sich in Deutschland seit Jahrzehnten eingebürgert hat, sämtliche ausländischen Politiker, die rückhaltlos und notfalls mit dem erbärmlichsten Wischiwaschischwindel für die Vernichtungsideologie der deutschen Elite eintreten, samt und sonders, einzeln, kollektiv und generell als „gemäßigt“ zu betiteln.
Was im Grunde ja nichts anderes heißt als: Früher waren die Burschen schlimm, jetzt haben sie gelernt, Maß zu halten und ihre Schlimmigkeit in den Zaum zu zwingen. Weil sie sonst keiner mehr wählt, fügt der Naive hinzu. Aber das ist ein Schmarrn: Gewählt wird, was die Elite zur Wahl stellt und die neoliberale Propaganda zur Wahl befiehlt. Da ist es ganz gleich, ob sich der Vorläufer des derzeitigen „Gemäßigten“ früher mal „Sozialist“ nannte oder „linksliberal“ oder meinetwegen „Bussibär“. Was herauskommt, ist immer das gleiche. Man muß es nur jedes Mal anders nennen, weil ein „Sozialist“ nach dem Wirtschaftsfaschisten Hollande und ein „Linksliberaler“ nach den Wirtschaftsfaschisten Schröder und Blair halt wirklich nicht mehr wählbar ist (vom Bussibär, als der sich zuletzt Boris Jelzin maskierte, ganz zu schweigen). Also behängt man es im Zweifelsfall mit einem Begriff, der absolut gar nichts bedeutet, nicht mal mehr das, was er grundsätzlich bedeuten könnte. Und plötzlich gibt es in (fast) jedem Land der Welt genau einen Kandidaten, den die neoliberale Propaganda in Deutschland als wählbar und wünschenswert empfiehlt, und immer ist er angeblich „gemäßigt“.
Zufällig war mir „Mäßigung“ immer schon verdächtig und irgendwie widerlich. Die Temperenzler (benannt nach der lateinischen temperentia, eben: „Mäßigung“), die seit dem 19. Jahrhundert ihr Gewese trieben, wollten überhaupt nichts „mäßigen“, sondern den Genuß alkoholischer Nahrungs- und Getränkzubereitungen generell aus der Welt merzen, mit Stumpf und Stiel. Und zwar weil sie sich um die „Volksgesundheit“ sorgten, eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Ausbeutungswirtschaft, weshalb auch nicht etwa die dauerbesoffene Adelselite ihr Zielpublikum war, sondern Arbeiter und Bauern, die das Elend ihrer Aussaugung durch selbige in Bier und Wein ertränkten, was logischerweise ihre Arbeitskraft und –motivation schmälerte und sie zwischendurch auch mal ein bisserl renitent werden ließ.
Nicht zufällig war es die deutsche Sozialdemokratie, der Stammverein des ausbeutungswilligen Humankapitals – traditionell zuständig für dessen Ab- und Zurichtung auf klaglose Hinnahme seines Schicksals als Unterschicht, die das Maul zu halten und zu schuften hat und dafür ab und zu ein Trostpflästerchen zugestanden kriegt –, die hierzulande am vehementesten für „Mäßigung“ eintrat. Heute besteht der gesamte Resthaufen aus „Gemäßigten“ (wie man hört, soll der neueste Oberpappkamerad sogar ein echter Temperenzler sein) und wird wohl auch nur noch von SZ-Abonnenten gewählt. Und ist mir beileibe nicht deswegen verdächtig und widerlich, weil ich gerne Bier trinke. Sondern andersrum und überhaupt.
Der Furor der „Gemäßigten“ bei der Umsetzung ihrer diversen antialkoholischen und neoliberalen Faschismen findet auf Erden ein Vergleichbares nur noch im Furor des deutschen Klein- und Mittelgroßgärtners, der wiederum sozusagen die Gartenzwergversion des Pegida-Rassisten ist. Oder wenigstens wird, sobald der Flüchtlingsstrom aus dem verwahrlosten Nachbargarten daherkommt und seine Zuchterfolge zu schmälern droht.
Da holt er Gift, Gas und Bombe aus dem Arsenal, verlangt sofortige Schließung sämtlicher Grenzen und Balkanrouten, und wenn seinem Anliegen nicht umgehend stattgegeben und brav gefolgt wird, läßt er die höchste Instanz anmarschieren und schmeißt notfalls Gift, Gas und Bombe eigenhändig über die Zäune. Ist schließlich sein Recht! und seine Pflicht! Wie soll der genormte EU-Apfel zu ordentlicher Kürbisgröße und Geschmacksfreiheit heranreifen, wenn ihn nachbarliche Antik-Gen-Pollen bastardisieren? Wer rettet die Gurke vor der Schnecke, die unanständige Faulenzer so lange sich mehren lassen, bis ihr Struppwucherareal dermaßen überhäuft und -kreucht ist von hungrigen Mollusken, daß deren Nachwuchs nur noch die Flucht bleibt?
Ist also auch der rasende und tobende Gartenbellizist ein „Gemäßigter“, den man daher als alternativloses Lebens- und Strebensvorbild dem gedankenlos vor sich hin dümpfelnden mittel- und vor allem südeuropäischen Genußbolzen vorsetzen und ihn damit zu mehr Leistungsbereitschaft anpeitschen sollte?
Mei, kann sein. Wer weiß. Ach ja. Und so. Tüdelü. (Hintergrundgeräusch zirpender Heuschrecken und flirrender Glühwürmchen sowie anderer Nichtsnutzwesen, die sich am wild wuchernden Nichtsnutzgrün rund um die Hängematte erfreuen.) Ich weiß, weil ich nichts zu tun habe als in gilbenden Nichtsnutzannalen menschlicher Histörchen herumzublättern, eine auch ganz putzige Geschichte: 1497 wurden Vorfahren des deutschen Rassengärtners in Avignon und drum herum von einer verheerenden Maikäferinvasion heimgesucht.
Der damalige Lösungsansatz bestand nicht etwa darin, das Saupack unter Inkaufnahme von Kollateralschäden mit Giftbomben auszurotten. Vielmehr befahl der zuständige Bischof der gesamten Schädlingssippe („Du unvernünftige, unvollkommene Kreatur“) per Plakataushang, binnen sechs Tagen davonzuweichen („von allen Orten, an denen wächst und entspringt Nahrung für Menschen und Vieh“). Andernfalls habe sie sich am sechsten Tage um 13 Uhr vor dem Richterstuhl des Bischofs einzufinden. Die Käfer, renitent wie sie sind und waren, ließen die Gnadenfrist verstreichen, erhielten einen letzten Aufschub und dann noch einen, blieben aber verstockt – und wurden daher ungeachtet aller Einwände ihres amtlich eingesetzten Verteidigers vom Bischof hochoffiziell exkommuniziert, mithin: zwangsgemäßigt, zumindest was ihre Hoffnung auf Eingang ins Himmelreich betrifft.
Oho! sagen wir. Und mäßigen unsere Ansichten über jene dunklen alten Zeiten, als alles so schlimm war, daß man irgendwann sich zu mäßigen sich angeblich gezwungen sah und deshalb heute zwingen sich lassen muß, „Gemäßigte“ zu wählen.

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Donnerstag, 10. August 2017

Frisch gepreßt #390: Diana Krall "Turn Up The Quiet"


Wenn es im Jazz um Liebe geht, dämmert am rosa Horizont meist ein verwandtes Genre heran, das der Fachmann als „Kazz“ kennt, gerne auch verbrämt als „Quitch“ oder „Shmaltz“. Da blüht die Geige, wabert der Nebel, trocknet der Martiniring unter dem längst abgeräumten Glas zu honigener Klebrigkeit, und die alten blauen Augen schimmern verzöglich im Halbdunkel der endlosen Winzigstunden, gräulich bald und erinnerungsschwanger.
Da herrscht Verläßlichkeit, wie sie das in toten Genres oft und unumschränkt tut: Die Akkorde perlen vertraut und blue, die Drahtbesen behauchen Becken und Felle wie alte, in Fleisch und Blut erschlaffte Partner dies vor der Fernsehglotze tun, und wenn sich mal einer in die Stiefel schmeißt und zum Solieren aufschwingt, muß man sich nicht Sorgen um Herzen, Nerven und schlummernde Aneurysmen. Am Ende trägt man die Interpreten davon in die Namenlosigkeit; könnte ja jeder kommen und tut das auch.
Diana Krall hat die Glätten und seichten Untiefen dessen, was die Welt „Smooth Jazz“ und der erwähnte Fachmann „Shmooze Kazz“ nennt, samt und sonders durchschritten, hat Nat King Cole, Dusty Springfield und Sergio Mendes (neben weiteren Standardstandarten) gecovert, Luxuskarrenreklame, Blockbusterabspänne und eine Astronautenbeerdigung bespielt, die Badablage mit Grammys bestapelt, mit Songs von Elton John, Gilbert O'Sullivan, Billy Joel und den Eagles (wiederum: n. w. St.) immer wieder den berüchtigten „Crossover“ von einem Sonntagnachmittagsradiosender zum nächsten weniger gewagt als halt mal getan. Aber irgendwie ging es ihr wie Moses, der trockenen Fußes das Schilfmeer durchschritt und ohne Fischgeruch an den Sohlen das Ufer des verheißenen Landes betrat: Es bleibt nichts hängen an ihr von Kazz, Quitch, Shmaltz und Shmooze – zumindest nichts, was der mindeste Hauch ihrer katzenartig pelzigen Rauchstimme nicht unmittelbar und nachhaltig vertriebe.
Hey, klar: die Dame hat Elvis Costello geheiratet, einen der letzten auf andere Weise verläßlichen Anker der geschmackvollen Songkunst im Ozean der Beliebigkeiten. Und sie hat nach zwölf Studioalben in dreiundzwanzig Jahren, die (die Alben) sich verkauften wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln (sagen wir mal: gut zwanzig Millionen), besseres zu tun als schnöde Erwartungen zu melken und den Ofen mit genormten Pellets zu beheizen. Und: Sie hat(te) mit Meistern wie Christian McBride, Marc Ribot, Stuart Duncan, Anthony Wilson, Jeff Hamilton, Russell Malone (gerne alle googlen) und dem leider kurz nach Fertigstellung ihres dreizehnten Albums verstorbenen Produzenten Tommy LiPuma eine ideale Auswahl von Menschen um sich, denen es ebenso geht, die ein Jahrhundert Jazz aus dem Ärmel schütteln können, es dann aber nicht einfach so da liegenlassen, sondern mit Nonchalance und einem stillen Lächeln noch aus der abgenudeltesten American-Songbook-Runzel ein bescheiden schimmerndes Goldstück ewiger Gegenwärtigkeit feilen (anstatt selbst glänzen zu wollen, übrigens).
Und dann kommt die Liebe ins Spiel, weil Frühling ist und Mai und überhaupt, und da droht, behagelt und belagert uns so viel unwerter Krach und Döns, daß es nicht nur schön, sondern notwendig ist, die Stille aufzudrehen, sie zu füllen mit ebenso verläßlichen wie stellenweise überraschenden Klängen, an denen nichts falsch, nichts grell, schief, derb, bieder, glatt und kazzig ist, die frei sind von plärrenden unverstandenen Unzuläng/verständlichkeiten. Da nimmt man sich in den Arm und schweigt verknallt, fühlt sich bis in die Haarspitzen und Fingernagelkanten und zieht, wenn die Dämmerung den Horizont fahl erleuchtet, aus dem gertenschlanken Regal der Platten für solche Zeiten und Gelegenheiten (in dem sonst eigentlich nur Bryan Ferrys unverwüstliches „As Time Goes By“ steht) dieses Album. Und fühlt sich wohl, ja.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.