Montag, 30. Mai 2016

Frisch gepreßt #366: Zuckerklub "Jeden Moment mit Myri am See"


Neulich saß ich mit Chio und Marlen in ziemlicher Seenähe in der Wiese, und während Rudi (auf dem Cover: 3. v. l.) wie eine plötzlich aus der Hege der Zivilisation herauserumpierende Verkörperung der wilden Natur durch die Gegend schoß, Hasen verbellte (oder begrüßte?) und sich in den sumpfigen Froschteich schleuderte, ratschten wir müßig über die Welt und fanden von München nach Berlin, landeten von Berlin wieder in München.
Seltsame Geschichte, diese alte, unverbrüchliche Verbundenheit der beiden augenscheinlich gegensätzlich(st)en deutschen Städte: Ich will da gar nicht mit Bayern und Preußen anfangen, lieber mit Karl Valentin, dessen so typisch münchnerische, verzweifelte Empörung über die Absurdität der Welt dazumal niemand so gut verstand wie die Berliner, und umgekehrt fühle ich mich, wenn ich in Berlin in ein Taxi steige oder einen Laden betrete, immer sofort so zu Hause wie sonst nur zwischen Giesing und Schwabing; selbst die Dialekte spiegeln sich irgendwie: Dem Münchner fällt es leichter, spontan berlinerisch zu denken (und vielleicht umgekehrt), als zum Beispiel ein schwäbisches Wort auch nur auszusprechen, ohne wenigstens innerlich loszukichern.
So wie die beiden Städte sich auf seltsame Weise ergänzen, tun das auch Chio und Marlen: Als hätte man eine ideale Person ideal symmetrisch geteilt zu zwei idealen Figuren und Charakteren, meinetwegen äußerlich: Da sind die Gegensätze augenscheinlich; vor allem aber künstlerisch: Da entsteht aus der (Wieder-)Vereinigung etwas so Schönes und Großes, wie es einer/m Einzelnen wohl niemals entspringen könnte.
Hier also: Chios empörter Trotz, ihr sich gegen die Unbill der Welt förmlich schmeißender unbeugsamer Lebenswille, der sich in einer Stimme sammelt, die bisweilen zumindest ideell an die ähnliche Haltung von Sinead O'Connor und Siouxsie Sioux erinnert und in entscheidenden Momenten so bezaubernd durchdringend wird, daß die Seele des Hörers sich ihr schutzlos ergibt. Und dort: Marlens poetische, beharrliche Demut und Zartheit, die über und hinter den Dingen zu schweben scheint wie eine schimmernde Seifenblase, sie aber mühelos durchdringt und erfüllt. Die Verbindung von beidem gebiert die kaum widerstehliche Magie der Band Zuckerklub: Kämpferisch und verletzlich, kraus und filigran, derb und weich ist ihre Musik, sind ihre Texte, eine (noch mal) ideale Verbindung von Charme und Peng.
Das läßt sich, wie das bei echter, unprätentiös großer Kunst halt so ist, kaum greifen und festnageln, aber ein paar Textzeilen machen spürbar, was es ist, etwa aus „Zimmer für immer“: „Ich steh hier oben am Fenster / Und schaue euch beim Leben zu / Ihr seht aus wie Gespenster / Und das läßt mir keine Ruh / (…) Ich glaub nicht an die Rente / Ich glaube nicht an Gott / Ich habe Angst vor meinem Essen / Und sehne mich doch nach Kompott / Alles stinkt nach Scheiße / Nur nicht du und ich / Ich glaub nicht an Parteien / Ich glaube nur an dich.“ Der Entschluß, „immer im Zimmer“ zu bleiben, macht das Gegenteil fast zwangsläufig: Wir müssen, denkt man beim Hören, hinaus! sofort! und überallhin!
Und dann kommt, während sich die zugleich charmant bescheidene und umreißend hymnische Melodie noch im Kopf festwurzelt, in „Keine Zeit“ der simpelste und gleichzeitig raffinierteste Ohrwurmchorus daher, den ich seit Ewigkeiten gehört habe, und da ergibt man sich und hat gewonnen und läßt sich fallen und wird getragen von dieser famosen Musik. Es mögen „nur“ zehn Songs sein, aber wenn der unterschwellig an die DIY-New-Wave von 1979, ihre konkrete Offenheit und reduziert-antivirtuose Virtuosität erinnernde Sommertraumreggae „Herz auf Papier“ verklingt, ist alles gesagt, was zu sagen ist, und dann geht es von vorn los, automatisch, weil man das Geheimnis vollkommen verstanden hat und doch nicht greifen kann. Und tatsächlich: wird die Platte mit jedem Hören schöner, tiefer, weiter.
Ein Freund nannte Zuckerklub kürzlich die „beste Mädchenband der Welt“, was ebenso geschert ist, als hätte man (als abwegiges Beispiel) die Beatles 1966 als „beste Bubenband der Welt“ bezeichnet. Sagen wir es so: Ich werde diesen Sommer am See, am Wasser, in der Stadt, in der Welt verbringen, und ich werde dafür nur ein einziges Album und auch sonst nichts brauchen, um durch und durch glücklich zu sein: dieses. Wer es anders probieren mag: bitte sehr, selber schuld.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 11. Mai 2016

Belästigungen 09/2016: Vom „Grundkonsens“ und der Vernunft des Bärlauchs (ein Frühlingsidyll)

Aprilfrühling in München: Mit flammenden Gesichtern und sorbetgefrosteten Rückseiten flaniert man durch die waldmeisterzart ergrünenden, zwecks Gemütserbauung in den Moloch gefrästen Anlagen und bildet sich Meinungen.
„Ich“, sagt F und blinzelt fast hörbar, „weiß manchmal nicht, was ich denken soll.“
„Man soll nichts denken“, sage ich mit knackendem Fußgelenk. „Also: denken sollen tut man nichts. Nein: Etwas denken sollen. Herrgott, Wörter sind manchmal renitente Tracken! Die Gedanken denken sich selbst, sozusagen, irgendwie.“ Ich deute auf ein eigensinniges Bärlauchblatt, das sich abseits der Meute seiner Artgenossen zwischen erstaunten Grashalmen aus dem Boden reckt. „Stell dir vor, der da denkt sich, während er noch in der Erde herumzwiebelt: Ich weiß nicht, wie ich wachsen soll!“
„Das ist was anderes!“ sagt F, trotziges Kind. „Beispiel: private Altersvorsorge. Was soll ich da denken?“
„Nichts“, sage ich. „Wenn man nicht weiß, was man denken soll, bedeutet das Alarm: Manipulation!“
„Aha“, Skepsis umflirrt sie wie gefrorener Nebel, „und wie soll das gehen? Wenn ich mich doch informieren kann?“
„Ganz leicht: Man bildet einen sogenannten 'Grundkonsens', auf dem alle deine 'Informationen' beruhen. Das ist die unbedingt notwendige Basis für wirksame Manipulation. Zum Beispiel schreibt eine führende Tageszeitung so was wie: 'Klar ist, daß private Altersvorsorge alternativlos ist.' Oder: 'Alle sind sich einig, daß es ohne private Altersvorsorge nicht geht.' Damit wird aus einer offensichtlichen Lüge ein 'Grundkonsens'. Ab dort wird dann weiterinformiert und -diskutiert, und weil die Meinungen scheinbar so unterschiedlich sind, bemerkt niemand mehr, daß der Grundkonsens eine Lüge und damit die ganze Diskussion von vorneherein komplett irrelevant ist. Das nennt man Manipulation: Alle denkbaren, vernünftigen, plausiblen, notwendigen Vorschläge und Möglichkeiten von Anfang an ausschließen und nur eine einzige zulassen, die von mächtigen Mächten gefordert wird. Und dann so tun, als gäbe es auf Grundlage dieses einzigen, alternativlosen Irrwegs unterschiedliche Möglichkeiten der 'Ausgestaltung'. Das ist die Wahl zwischen Leberkrebs und Magenkrebs, und wenn man in solche Diskussion hineingezogen wird, soll man nichts denken und auch nichts sagen. Außer: Wo ist der nächste Biergarten?“
F schlendert eine Weile dahin, chic desillusioniert, umflort von eisig-diamantenen Sonnenstrahlen.
„Aber“, sagt sie dann, „man kann doch den sogenannten 'Grundkonsens' in Frage stellen, nein?“
„Nein. Der Mensch unterscheidet sich vom Bärlauch durch die fehlende Vernunft. Deshalb ist er überhaupt empfänglich für sogenannte … hm, 'Grundkonsense'. Oder -senten. Oder -senses, -sensis, Himmelarsch, da müßte ich jetzt den B anrufen, um in dieser Hinsicht einen Grundkonsens herzustellen.“
„Du hast“, lächelt F, „die Anführungszeichen vergessen.“
„Absichtlich weggelassen“, lächle ich zurück, weil man einen Satz nicht lächeln kann und weil ich weiß, daß F weiß, was ich weiß: „Ein 'Grundkonsens' ist das Gegenteil von einem 'Grundkonsens'.“
Aus der nahen Ferne weht zu unaufdringlich charmanter Zärte verdünnte Blasmusik durch die schauernden Zweige.
„Wäre der Bärlauch nicht so vernünftig“, sagt F, sich versinnend, „könnte ihm der Löwenzahn klarmachen, es sei alternativlos, daß er zukünftig nach unten wächst.“ Die Metapher zerpufft mit einem milde enttäuschten „Biff!“, weil sie sich ihrer selbst nicht würdig fühlt. Mir hat sie gefallen, aber Demut ist eine Tugend, deren Entfaltung man nicht hindern soll.
„Es gibt“, sage ich, „sowieso keine Altersvorsorge. Du kannst das, was du in dreißig, vierzig oder sechzig Jahren brauchen wirst, nicht irgendwo bunkern und dann wieder hervorholen und auch noch hoffen, daß es mehr geworden ist.“
„Wozu auch“, sagt F und läßt das Fragezeichen achtlos liegen. „Es ist ja genug für alle da. Man muß es nur verteilen.“ Am Horizont beginnen Wolken, sich fürs anstehende Dräuen einzukleiden: aschblau, bleigrau, probeweise warnender Blick. Ein grüner Zeitungskasten kreischt verzweifelt plärrend den „Grundkonsens“ des Tages, irgendwas mit „Riester“. Vergeblich; in unseren Ohren klingt die Musik der Klarheit und Liebe. „Altersvorsorge:“, singt F, „Iß keinen Dreck, arbeite keinen Dreck, beschäftige dich nicht mit Dreck, sei still und zufrieden und freu dich über den Tag. Für den heutigen Tag ist es vollkommen egal, ob ihm drei oder fünf oder tausend folgen. Oder kei-ei-ei-ner.“ Die Sonne schmilzt wie eine Kugel Vanilleeis.
„Das ist der Unterschied!“ erkläre ich in grotesk übertriebener Predigerpose einem zerknirschten Mädchen, das uns mit angstvollem Blick und sorgendem Schritt entgegenstrebt und den „Grundkonsens“ vor sich hin mantraiert, weil er sich nicht recht in ihr sich sträubendes Unterbewußtsein fügen will. „Wenn einer für den anderen zahlt, nennt man das 'Altersvorsorge'. Wenn einer für den anderen zahlt und ein dritter sich ein Fünftel davon krallt und in die eigene Tasche steckt, nennt man das 'private Altersvorsorge'. Frag den Bärlauch, was vernünftiger ist!“
Zu Tode erschrocken hält sich das Mädchen die Ohren zu und flieht; ihr Murmeln, nun fast so laut wie ein Hilferuf, übertönt das melodische Summen der Zwiebeln im Boden. Schon ist sie verschwunden in einer Chimäre, auf deren schimmernder Seifenblasenhaut sich das Wort „Zukunft!“ spiegelt.
Der Biergarten empfängt uns mit offenen Armen, leicht beschämt, weil auch hier ein grüner Kasten den „Grundkonsens“ plärrt.
„Kusch!“ sagt F, „du hast hier nichts verloren.“
Er, seiner Sendung gewiß, darf nicht weichen, aber am Tisch unter den Bäumen ist er nicht mehr zu hören, und hier: ist es endlich warm, und eine Meinung braucht man nicht.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 10. Mai 2016

Frisch gepreßt #365: Wire "Nocturnal Koreans"


Es gibt Gegenstände, die müßten, wenn sie mit der Post verschickt werden sollen, in ein unbemanntes Raumschiff gepackt und per Wurmloch durch 47 Dimensionen gejagt werden, wodurch ein elementarer Reinigungsprozeß in Gang gesetzt wird, der alles zerblippen läßt, was die reine Substanz verschleiert. Musik, etwa: Am Ende landete in zeitloser Ewigkeit das schimmernde UFO in ortlosen Räumen, bepackt mit einer kleinen Box mit ganz wenigen silbrigen Scheiben, die fast alle das Signet „Wire“ tragen.
„Was tut eigentlich der Sailer gerade? Muß man sich kümmern?“
„Ach, der … O wei! Er hat schon wieder ein neues Wire-Album gefunden! Nehmt ihm die Tastatur weg! Schaltet sein Gehirn ab!“
„Zu spät, die Archive sind geöffnet … er ist schon beim Remix.“
Reise durch ein Paralleluniversum, in dem Wire fast alles und fast alles Wire ist: Wer dieser … „Band“ ist ein unangemessener Begriff; sagen wir: Wer diesem Phänomen in einem günstigen Augenblick verfällt, findet sich Jahrzehnte später vor einem Schrank wieder, in dem hunderte Platten aus den Jahren 1977 bis heute lagern, die irgendwie mit Wire zu tun haben, offizielle und halboffizielle, Experimente und Klassiker, Nebenprojekte, Ausflüge, Solosachen, Kooperationen, dies und das und noch was anderes, Material genug für ein Leben voller Klang, von dem nicht ein Ton uninteressant, langweilig, uninspiriert ist. In dem ein Monolith wie „Manscape“ (1990) als einer der unteren Standanzeiger herhalten muß, weil darunter nichts ist.
Dabei ist fast alles schon gesagt und läßt sich aber ad nauseam wiederholen, ohne an Relevanz zu verlieren. Eine der wichtigsten Grundregeln der Popmusik lautet: Nichts ist so alt wie das Neue von gestern. Stimmt, manchmal ist das Alte von gestern neuer (und spannender) als das Neue von heute, aber kaum etwas bleibt, wenn es alt wird, immer neu. Oder nichts, außer Wire. Deren erste Alben (1977/78/79) sind drei der wichtigsten Tondokumente des 20. Jahrhunderts, aber wenn man sie heute hört, ist der Effekt der gleiche wie damals: eine Mischung aus Befremdung und Faszination, die man so nicht kennt; man gleitet daran ab und wird zugleich magnetisch hingezogen, man spürt: Das ist neu, ABSOLUT neu, und wird es immer bleiben.
Wire galten 1976 als Punkband. Ob sie je eine Punkband waren, wer weiß: Sie waren einerseits zu alt (jedenfalls: über 18), andererseits schnell und kurzhaarig genug; sie waren viel zu intelligent und andererseits nicht ganz so clever. Sie konnten kein Instrument spielen, als sie anfingen, nach ein paar Monaten konnten sie es aber besser als die meisten (monomanisch und antivirtuos) – dank einem Probenmarathon, der dem späteren „Saufen statt schuften“-Punk-Ethos komplett widersprach. Den situationistischen Grundgedanken, der Sex Pistols und Clash prägte, verstanden sie ganz anders (vielleicht besser). Man könnte New Wave sagen, wenn dabei nicht manch Verblendeter an Blondie und The Knack dächte.
Aber egal wie man die ungewöhnlichste Pop(!)-Gruppe ihrer (und unserer) Zeit einordnet: Es bleibt die Musik, die Worte überflüssig macht. Diese Musik hat in vier Jahrzehnten nichts von ihrer Energie, ihrer aufregenden Schönheit, Radikalität und Kraft, der enigmatischen Romantik, Strenge und kühlen Eleganz verloren – schon bei den ersten Tönen des Titelsongs ihres neuen Albums füllen sich Körper und Geist mit dem unvergleichlichen Wire-Gefühl: als säße man auf einer rasenden Rasierklinge, auf deren Schneide die Zukunft Gegenwart wird. In dieser Musik liegt eine unfaßbare, unerhörte, alles überstrahlende Schönheit, die völlig autonom funktioniert und nur ihrem eigenen System folgt, die wirkt wie eine erste große vergebliche Liebe, entkörpert zur reinen Substanz.
Die man früher gerne für sich behielt: Wire waren kein Fall zum Diskutieren und Schwärmen, weil man das Gefühl nie loswurde, irgendwas daran noch nicht ganz kapiert zu haben. Auch diesmal, wieder und mehr als auf den vorhergehenden Werken seit der sensationellen „Wiedergeburt“ 2002, gerät bei aller weisen Milde und Ruhe („Forward Position“!) jede Bewegung zur historischen Geste und jeder Ansatz zum Extrem; es entsteht ein Kaleidoskop faszinierender Höhepunkte zwischen architektonisch konstruierten Großgebilden, zerbrechlichen Kleinstmelodien, zwischen grandioser Erhabenheit, uneingeschränkt tobendem Vorwärtssog und einem Wagemut, der vor der vollkommenen Zerstörung nie zurückschreckte, auch der eigenen übrigens, die immer schon zwangsläufig erschien: Als einst das dritte Album „154“ mit „40 Versions“ verklang, rätselte man (und rätselt man beim Wiederhören) bis heute vergeblich, wie Musik noch weiter gehen sollte, obwohl man die Antwort kennt.
Der Weg, den Wire gingen, war stets verschlungen, konsequent und immer überraschend. Inzwischen gönnt sich die … na gut: Band, wenn etwa „Numbered“ das erste Album „Pink Flag“ zitiert und zugleich übermalt, ein verstecktes, freundlich-nonchalantes Lächeln über das Unvermeidliche, was sie seit Jahren selbst betreibt: klassisch zu werden, ewig endlich und endlich ewig. Jeder Gedanke, den man bei, nach dieser Musik faßt, ist klar, rein und leuchtend.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 8. Mai 2016

Die Idylle vor dem Keller: Der Münchner und seine Biergärten


Auf die Frage, was das Münchner Wesen von anderen, spezifisch dem „preußischen“ – mithin nördlich einer ungefähren Linie Erding-Passau wesenden –, unterscheidet, weiß der Volksmund vielerlei Antworten, die an Qualifiziertheit oft zu wünschen übrig lassen oder gleich in ein Gegrantel und Geblecke hineinlaufen, speziell wenn man die Frage in einem Biergarten stellt. Es gibt jedoch auch höchst wissenschaftliche Versuche, sich dem eigentümlichen Phänomen zu nähern, daß „der Münchner“ ein so scheinbar ungreifbar gänzlich anderer Mensch ist als „der Berliner“, „der Wiener“, sowieso der Schwabe und überhaupt ein jeder. In solchen Erklärungsansätzen ist prominent – eben – von Biergärten die Rede.
Aber was ist überhaupt ein Biergarten? Die nächstliegende Definition – ein Areal unter freiem Himmel, wo Bier verzehrt wird – ist falsch. So etwas findet man auf dem ganzen Erdball überall, wo nicht Dauerfrost oder Wüstenödnis natürliche Grenzen setzen. Der Münchner Biergarten ist etwas vollkommen anderes, und daß heutzutage jeder Standlbetreiber neben seine Bude einen Tisch hinstellt und darüber ein Schild mit der Aufschrift „Biergarten“ befestigt, ist nur die typische Anmaßerei einer Zeit, in der jeder Schmarrn mit genügend Reklame etwas Angebliches wird, das der entwurzelte und desorientierte Mobilmensch gerne annimmt, weil er es nicht besser weiß.
Zu einem Biergarten im engeren Sinne gehört zunächst, historisch betrachtet, ein Keller. In solchen nämlich, einer regelrechten „Kellerstadt“, tief in den Isarhang hinein getrieben, von Kastanien beschattet und drum auch sommers eisig kalt, lagerte man seit etwa 1770 das Bier, das nur im Herbst und Winter gebraut werden durfte, weil es sonst unreif verdarb oder dem Brauer beim zünftigen Einschüren während der Hitzewelle sein Brauhaus abbrannte. Weil aber selbiger Brauer zuallermeist kein Krugrecht für den Münchner Stadtfrieden innehatte, stellte er, da er schlau war, vor seinem Keller Tische und Bänke auf und sparte sich somit nebenbei den lästigen Transport des Biers in die Stadt hinein, wo nun aber die Wirte rebellierten und beim König Max I. vorstellig wurden, der im Jahre 1812 schlichtend verfügte, die aufblühende Ausflugskultur dürfe von Juni bis September weiterhin florieren, in den neuen Gärten aber außer Bier lediglich Brot und Salz serviert werden. Das ist heute nicht viel anders, lediglich sind aus dem Brot die bekannten, inwendig hygienischer Watte nicht unähnlichen Großbrezen geworden und mischt man den nicht auf selbige geklebten Salzverkrustungen Glutamat bei und verkauft sie als Schweinshaxen oder Würste, weshalb der echte Münchner seit eh und je seine Brotzeit selber mitbringt, was er einst mußte und nun, wo das Gewerberecht längst liberalisiert und sogar die Ostseemakrele als Steckerlfisch zulässig ist, immerhin noch darf.
Er darf es auch in jenem Biergarten im weiteren Sinne, der nun wirklich ein Areal ist, ein großes, ohne Keller zwar, wo ebenfalls ausgeschenkt, einstmals jedoch nicht über Brot und Salz hinaus bewirtet werden durfte, weshalb, wie der finnische Münchenreisende Johan Vilhelm Snellman aus dem Jahr 1841 berichtet, „umherziehende Weiber Käse und Rettiche feilbieten, und dann wird zu dieser einfachen Speise Bier in Mengen getrunken“. Aus denen gerne Unmengen werden – schließlich ist Bier in Bayern nicht nur ein wesentliches Lebensmittel, „das Element der Bayern, wie das Wasser das Element der Fische ist“ (wie Victor Tissot 1876 schrieb), sondern auch der Ursud sämtlichen sozialen Lebens. Im Biergarten wiederum ist dieses so urtümlich wie nur denkbar: „Von Tischtuch, Servietten und anderen Bequemlichkeiten ist keine Rede“, schreibt Snellman. „Messer bringt jeder selbst mit. Bedienung gibt es meistens auch nicht, sondern jeder geht mit seinem Bierkrug an die Theke, um sich ihn füllen zu lassen.“ Und zwar buchstäblich ein jeder, wie Otto Zierer für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg feststellt: „Wenn (…) der Professor neben dem städtischen Straßenkehrer, der königlich-bayerische Leutnant neben dem Studenten, der Handwerker neben dem Arbeiter auf der Bank sitzt, wenn die Keferloher Krüge zusammenstoßen und das Lied vom Alten Peter und das Prosit der Gemütlichkeit mehr gebrüllt als gesungen wird, dann sind alle nur noch Menschen. Da macht sogar der Mann aus Preußen keine Ausnahme, wenn er sich anzugleichen versucht. Niemand nimmt an der schwarzen Hautfarbe eines Negers oder am karierten Kilt des Schotten Anstoß. Alle sind Nachbarn und gehören zusammen.“ Höchstens ließ einmal ein Tagelöhner dem Prinzregenten am Ausschank den Vortritt. „Da“, so brachte es Friedrich Nicolai 1781 auf den Punkt, „wird dann viel geschwatzt, und man führt freche und freie Reden.“
Um diese Bedeutung der Biergärten wissen die regierenden Dynastien, seien es die Wittelsbacher, die Straußens oder die heutigentags die Interessen von Industrie-, Finanz- und Agrarmagnaten vertretenden CSU-Amigos, seit eh und je. „Biergärten“, bestimmt daher die in ihrer Art weltweit ziemlich einmalige Bayerische Biergartenordnung von 1999, „erfüllen wichtige soziale und kommunikative Funktionen, weil sie seit jeher beliebter Treffpunkt breiter Schichten der Bevölkerung sind und ein ungezwungenes, soziale Unterschiede überwindendes Miteinander ermöglichen. Die Geselligkeit und das Zusammensein im Freien wirken Vereinsamungserscheinungen im Alltag entgegen.“ Dies ist die zweite wichtige Eigenheit des Münchner Biergartens, in dem es durchaus heute noch vorkommen kann, daß der Börsenfunktionär, per W-LAN mit den Schaltzentralen der Spekulationsblasenblähung verbunden, sein (vom echten Münchner nicht als Getränk anerkanntes) Apfelschorle Tisch an Tisch mit dem Neigerlzuzler genießt, der sich seine Frühstücksmaß aus den in der Eile stehengelassenen Resten (Neigerln) der Touristenkrüge zusammenschüttet.
Das ist indes nicht mehr die Regel. Längst hat sich die neofeudale Spreizung der sozialen Schere auch im Biergarten niedergeschlagen und das Milieu geprägt: Der Nymphenburger „Leistungsträger“ wandelt in den Taxisgarten, in der Menterschwaige steigt die Zahl der Krawatten stetig, und der erwähnte Zuzler treibt sich höchstens noch dort herum, wo er im Getummel der Touristenmassen unerkannt zu bleiben hofft. Zum Beispiel am Chinesischen Turm, einem der nach wie vor volkstümlichsten Münchner Biergärten, dessen zentrales Bauwerk ja einst errichtet wurde, damit das Volk auf andere Gedanken als eine in der Luft liegende Revolution komme.
Eine solche, wenn auch recht harmlose, fand dort übrigens tatsächlich einmal statt. Als sich der damalige Wirt dazu verstieg, die berüchtigten „Schwarzen Sheriffs“ einer privaten „Sicherheitsfirma“ (mit dem martialischen Motto „Ehre und Gerechtigkeit“) als Ordnungspersonal durch die Tischreihen paradieren und Platzverweise erteilen zu lassen, wuchs der Unmut der Stammbesucher und entlud sich schließlich an einem scheinbar harmlosen Ereignis: 1989 fanden sich ein paar afrikanische Musiker am Turm ein, die nach Genuß einiger Maß Bier ihre Trommeln hervorzogen und fröhliche Synkopen klopften. Das mißfiel dem Wirt, der Umsatzeinbußen fürchtete und vom Fenster seiner Residenz aus die uniformierten Schergen zum Einschreiten befahl. Als diese die Trommler des Areals verwiesen, erhob sich indes an sämtlichen Tischen im weiteren Umkreis ein ohrenbetäubendes rhythmisches Klopfen, Klatschen und Schlagen, das so lange anhielt, bis der Wirt in Sorge um sein Mobiliar den Rückzug der „Sheriffs“ anordnete, die seither am Turm auch nicht mehr gesichtet wurden.
Bei einer anderen, bekannteren „Biergartenrevolution“ (der die erwähnte Biergartenordnung entsprang) handelte es sich lediglich um ein Scharmützel der als „Gentrifizierung“ bekannten sozialen Umschichtung, bei der es immer wieder um die sogenannte Nachtruhe geht, derer die (leider meist siegreich) Klagenden gar nicht bedürfen, weil sie den morgendlichen Wecker höchstens stellen, um sich ins Fitneßstudio zu begeben. Das war ein leichtes Spiel: die Interessen der Großgastronomen an mehr Umsatz abzuwägen gegen den unnützen Schlaf einiger. Schließlich ging es ja auch nicht um Kultur (Musik, Kabarett, Theater etc.) – dieser zieht die bayerische Verwaltungsmacht im Streitfall stets die Nachtruhe vor, und zwar eisern.
Um elf Uhr abends ist seitdem Schluß, aber wann die richtige Zeit ist, einen Biergarten aufzusuchen, bleibt umstritten. Der wahre Münchner sagt: spätestens am frühen Nachmittag, weil abends das Geschwerl kommt. Gemeint sind die Neumünchner, die ihre Tage in Büros gepfercht verbringen, bei Sonnenuntergang mit Tischdecken und ungeheuren Ladungen Wurst und Mayonnaisemischungen daherströmen und einen ebenso ungeheuren Lärm (i. e.: Konversation über Berufspläne und Kinderwünsche) veranstalten, der jeglicher Gemütlichkeit entgegensteht. Auch hier gibt es Ausnahmen, etwa den Biergarten am Lerchenauer See, den grundsätzlich nur Anwohner aufsuchen und in dem man sich zu späterer Abendstunde, wenn der selige Blick über das spiegelglatte Wasser gleitet, in einen Märchenwald an der mittleren Riviera versetzt fühlt.
Einen Verhaltenskodex, wie man ihn seit Anbruch des neuen Biedermeier selbst in den minderwertigsten Szenebars und Mikrowellenrestaurants kennt und pflegt, gibt es im Biergarten definitiv nicht. Hier darf man weitestgehend, was man will: Krawatte, Hemd und Schuhe ablegen, lachen und singen, schmusen und streiten, Karten, Schach und Flaschendrehen spielen, noch die peinlichsten Junggesell(inn)enabschiedspeinlichkeiten absolvieren, den wildfremden Tischnachbarn zurechtweisen, wenn er einen Schmarrn zusammenredet oder seiner zu Betörenden haarsträubend falsche Fakten zu Münchens Historie und Gegenwart ins Dekolleté trumpft. Man darf auch – zumindest solange man sich nicht zu weit vom Stadtkern entfernt – in ortsfremden Zungen sprechen; für ein barrierefreies Anbandeln etwa am Chinesischen Turm empfiehlt es sich sowieso, mindestens die circa dreihundert Vokabeln des durchschnittlichen kalifornisch/texanischen Wortschatzes (von „you guys“ bis „pardee“) in angemessen quäkender Intonation vortragen zu können.
Indes sollte man bedenken, daß der Beruf eines Schankkellners kein leichter ist: Obwohl sich die meisten Münchner Biergärten mittlerweile in einen Wald von Hinweisschildern verwandelt haben, ist der gewöhnliche Kurzzugereiste nach wie vor weder willens noch in der Lage, zu erkennen, wo sich die Abgabestellen für Bier (zumal wenn sie nach Sorten differenziert sind, die er sowieso nicht kennt), diverse Ersatzgetränke, Speisen, die Pfandrückgabe und die Toiletten befinden, weshalb der Schankkellner heutzutage zusätzlich die Funktion eines unbezahlten Fremdenführers ausübt – mit im Verlauf des Tages entsprechend zunehmendem Grant, brummelnd bis schimpfend. Man sollte ihn daher nicht zusätzlich provozieren, indem man jedem Münchner von der Wiege an vertraute Fachbegriffe verhunzt und etwa „ein Mars“ oder „Mahs“ oder ähnliches bestellt. Die (!) Maß verdankt ihr Geschlecht dem Ursprung als Maßkanne und ist zwar eine Maßeinheit (bis zur Reichsgründung 1871: 1,069 Liter), wird aber – hier hilft ausnahmsweise die reformdeutsche Schreibung „Mass“ – hinten hinaus ebenso ausgesprochen wie das Faß, aus dem sie früher mal kam. Wenn einer das nach fünfmaligem Vorsagen nicht in den Sprechapparat hineinbekommt und höchstens das r bzw. h des ersten Versuchs etwas abmildert, hält man ihn nicht ganz zu Unrecht für renitent, aufsässig oder grundsätzlich deppert und behandelt ihn entsprechend.
Unter den Wirten waren einst echte Originale, die als Leuchtgestalten ganz allein einen Besuch ihrer Gärten reizvoll machten und weitere Reklame erübrigten. Etwa den selbsternannten „Kaiser von Deisenhofen“, Franz Xaver Kugler, dem manch einer die selbstgestrickte Legende, er habe an einem Frühlingssamstag 1922 aus Biermangel die Radlermaß erfunden, bis heute abnimmt. Weniger bekannt ist, daß Kugler als Wirt der gleichnamigen „Alm“ (ehemals eine Bude mit der Beschilderung „Kantine der Königlich-Bayerischen Eisenbahn“; später fanden dort zur Belustigung der bis zu 15.000 Gäste sogar Galopprennen statt) beim Einzug der Kapelle selbiger mit dem Taktstab voran zu paradieren pflegte und diesen so vehement auf den Boden rammte, daß er, als er 1935 versehentlich die eigene Zehe traf, an der daraus resultierenden Blutvergiftung verstarb. Aber vielleicht ist ja auch dies eines der vielen Märchen, die sich um ihn ranken.
Solche Individualfiguren gibt es in Zeiten der Groß- und Kettengastronomie nicht mehr; selbst die in den 80ern noch so beliebte wie gefürchtete Wirtin des dazumal idyllisch verwahrlosten Flaucher-Biergartens, die ihre Gäste mit lautem Blaffen disziplinierte und die Zeche mit zentimeterlangen Fingernägeln in die Kasse hackte, ist längst im wohlverdienten Ruhestand. So bleibt als Argument für den Besuch einzelner Biergärten eigentlich nur noch deren grundsätzliche Schönheit, eine ungreifbare Mixtur aus landschaftlichen Gegebenheiten, Hin- und Wegreiseweg, Architektur und Gestaltung – was bei letzterer vor allem den Verzicht auf das Zustellen des Gartens mit modernen Buden und Kinderspielgeräten bedeutet.
Ein seit Jahrzehnten beliebtes Spiel (um Anzeigenerlöse) der aus unerfindlichen Gründen immer noch als „Zeitungen“ firmierenden Münchner Reklamepostillen ist es, „Münchens schönste Biergärten“ zu küren oder küren zu lassen. Dabei kommen immer die aufs Treppchen, die sowieso jeder kennt und (als schlauer Münchner) seit Jahren meidet, plus als Feigenblättchen ein randständiger Außenseiter, der unlängst von einem prominenten Großwirt übernommen wurde und deshalb „Kult“ ist. Das hat sein Gutes: Die wirklich schönen Biergärten kennen nur die jeweils Eingeweihten; dem Touristen und beruflichen Interimsmünchner bleiben sie so verborgen wie die wirklich schönen (weil noch nicht von „Urbanauten“ und anderen „fun people“ zugesauten) Passagen der Isar.
Machen wir einen Kompromiß und empfehlen wir einen Biergarten, den eigentlich jeder kennt, aber mangels verkehrlicher Anbindung außer unmittelbar benachbart Wohnenden kaum jemand aufsucht: den bereits erwähnten Seebiergarten in der Lerchenau, wo man in annähernd mediterraner Atmosphäre direkt am See sitzt, umgeben von der idyllischsten aller denkbaren Gestaltungslandschaften, wo man Enten, Haubentauchern, Karpfen und Schildkröten bei ihrem müßigen Treiben aus nächster Nähe zuschauen kann und davon, obwohl im Hintergrund auf der Lasallestraße die Motorräder des Lone Star MC nostalgisch-rebellisch röhren, schon nach einer Maß so bezaubert ist, daß man erst nach der zweiten bemerkt, daß (auch) hier leider das ungenießbarste der Münchner Biere ausgeschenkt wird. (Ein zweiter Tip: Es gibt auch ein sehr gutes Dunkles.)

geschrieben im Juni 2015 für ein ADAC-Reisemagazin, dort stark gekürzt erschienen

Donnerstag, 5. Mai 2016

Frisch gepreßt #364: Kupfer "Der fette Tanz des Lebens"


Ich will das mal so sagen: Wenn man Kupfer mit einem anderen, weniger edlen Metall in der richtigen Weise zusammenbringt und dann mit dem Finger hinlangt, dann kann es einem ganz schön eine draufzünden. Diesen galvanischen Urmechanismus mußte in Urzeiten Abinadabs Sohn Ussa schmerzlich erleben, als er als Träger der Bundeslade das heilige Gerät verbotenerweise auf einen Ochsenkarren lud und dann, als es ins Schwanken geriet, mit der Hand hinlangte, um es am Herunterplumpsen zu hindern: Fatz! lag er da, vom Elektroschlag gefällt.
Zumindest lautet so (ungefähr) die Auslegung von Erich von Däniken, und der muß es wissen, schließlich ist er – auch wenn das kaum noch jemand weiß – nicht nur ein historiophantastischer Dampfplauderer und Theoriewolkengenerator, sondern auch Musiker. Und die Musik ist (meinetwegen neben der Starkstromtechnik, wir wollen nicht streiten) der Bereich, in dem die Galvanik für die größte Spannungsansammlung und -entladung im Universum sorgt. Oder sagen wir: mal gesorgt hat, bevor „man“ die Musik zur lullenden Alltagsbeschallung umdefinierte und kastrierte.
Aus dem Kastl dieser Umdefinition kommt sie nur noch schwer und selten raus, da muß schon eine ganz schöne Galvanik losbrettern, und damit sind wir wieder bei Kupfer. Nämlich bei Stefan Weyerer und Nick Flade, deren individuell inhärente Ladung an extremkarätiger Musikalität und emotionaler Tiefe, Höhe und Kraft untereinander und in Kontakt mit der Welt für Entladungen sorgt, wie man sie selten erlebt.
Das kann man erleben, wenn man die beiden mal auf einer Bühne sieht: Da wird nicht choreographiert, sondern musiziert, nicht getanzt, sondern gebebt, nicht vorgeführt, sondern gelebt, was in einem kocht, strömt, tobt, so intensiv, daß schon manch einem der Mund abendfüllend offen gestanden ist. Da explodiert ein Feuerwerk an Finesse, an Raffiniertheit, von ineinander geklöppelten Ideen, antisimpel großen Riffs und Melodien, die sich unweigerlich ins Gedächtnis brennen, obwohl sie oft harmonisch so kompliziert sind, daß man sie eigentlich gar nicht nachmachen kann. Oder versuche doch mal einer von den Drei-Akkorde-Schmieden, „Der Tor und das Mädchen“ auch nur mitzuspielen – oder andersrum: sich dagegen zu wehren. Das ist, sagen wir es: eine galvanisch ideale Verbindung von Genie, Inspiration und zweifellos harter Arbeit.
So umwerfend es auf der Bühne wirkt, im Studio geht es fast noch besser, weil man da mehr Raum und Platz für Ideen hat. Was oftmals fett danebengeht, indem dann restlos überladene Möbellaster von Klängen heraustuckern, die den Hörer überwalzen wie ein … nun ja: Möbellaster, weil die Ingenieure am Pult vor Begeisterung über die Traglast ihrer digitalen Bänder (und aus unbewußtem Wissen um die Dürre des liederlich-liedlichen Grundmaterials) Spur um Spur aufhäufen, bis noch der letzte Rest der kargen Musik im Sumpf der Geräusche ersoffen ist. Hier nicht: Hier sprühen die Ideen wie Funken von der Wunderkerze, ohne Rauch und Qualm; der Ton darf schweben, der Raum bleibt klar. Nicht mal der übliche Hallterror vernebelt das Gerüst, nichts zerfließt, man sitzt beim Hören förmlich zwischen Nick und Stefan und glaubt jeden Ton mit Händen greifen zu können.
Seltsamerweise, darüber grüble ich seit Tagen, fällt mir zwischendurch immer mal wieder Münchener Freiheit ein, deren ganz frühe Phase vor der Einlieferung ins Industriegefängnis, in der sich altromantische Schwabinger Lebenslust mit zauberhaft unverstellter Naivität verband, die manch einer peinlich fand, weil das echte Leben immer einen starken Hang zur Unbeholfenheit hat, den erst das Korsett der Pose ihm nimmt (damit aber halt auch manch anderes). Dazu gehören auch: Texte, die nicht „cool“ sein wollen und sich deshalb auf konsente, unverdächtige Bilder und Phrasen beschränken, sondern wild wuchern, aus Herz, Bauch und Seele heraus in eine Welt hinein, in der sie ungeschützt sind, nackt.
Anders als anderen gelingt es Stefan und Nick, sie nackt zu lassen und doch zu kleiden, in ein fast faltenfreies musikalisches Gewand, das ihre inneren und äußeren Formen weniger umhüllt als ihnen Form zu geben und sie zu verstärken. Im Idealfall so perfekt, daß man's kaum glauben kann, etwa in dem dräuenden, dann fast Queen-mäßig kontrolliert rasenden Minigitarrensolo in (klar) „Normalsein ist Wahnsinn“, das bloß ein paar Sekunden und keinerlei Pathos braucht, um alles auszudrücken, was auszudrücken ist.
Ich will das mal kurz sagen: Schönheit ist nicht (immer) simpel. Und Kupfer ist ein verdammt guter Leiter für elektrische Spannung.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 4. Mai 2016

Belästigungen 08/2016: „Uck! Uck! Uck! Rrrrarrrgl! Das ist mein Revier!“ (nebst einer dringend gebotenen Alternative)

Daß Lebewesen Räume bewohnen, ist von der Natur so vorgesehen und eigentlich auch recht zwangsläufig: Da sie die Evolution nun mal in einen Körper hineingezwungen hat, müssen sie ja irgendwohin. Und was bleibt da schon außer der Welt, solange man ins Internet (das außer dem Menschen sowieso niemanden interessiert, weil es ein ziemlich nervtötender Wirbelsturm von buntem Plemperlzeug ist) noch nicht wirklich „gehen“ kann?
Aber wie sich das gestaltet und was für Folgen es hat, ist individuell ziemlich verschieden. Das Eichkätzchen zum Beispiel verwandelt innerhalb einer Generation seinen gesamten Lebensraum in einen undurchdringlich dichten Nußbaumwald, indem es jede verfügbare Nuß nach allen Regeln der alten Gärtnerschule in den Boden hineingräbt und sofort vergißt. Der Nadelbaum nadelt und wurzelt in seiner inhärenten Breitarschigkeit alles um sich rum so effektiv zu, daß dort außer ein paar Pilzen überhaupt nichts mehr ein Heim findet. Der Hund wiederum läßt eine Vorform des Großen Pazifischen Müllstrudels entstehen, indem er seinen schweiflosen Assistenten darauf konditioniert, jedes Häuflein Kot in einen Plastikbeutel umzufüllen und in einem Blechkorb zu deponieren, aus dem es die schwarzgeflügelten Assistenten wieder rausholen und den zerfetzten Beutel samt Inhalt ungefähr an den ursprünglichen Standort zurückbringen. Dann kommt erneut der zweibeinige Schweiflose daher und zerbläst mit einem benzinbetriebenen Monsterfön Kotbrösel und Tütenlumpen zu feinem Staub und winzigen Plastikfetzerln, die irgendwann jeden Fleck und jede Nische des Hundehabitats bedecken, inklusive Wohnungen, Nasen und Atemluft.
Oft liegt diesen Bewohnungsvorgängen ein urtümlicher Reviersicherungstrieb zugrunde. Wenn zum Beispiel der Münchner Funhipster wochenends nach Schwabing hineinzieht, gefällt es ihm da so gut, daß er ähnlich wie der Hund durch das Vollbrunzen und -kotzen sämtlicher Hausecken klarstellt: „Das ist mein Revier, ihr Arschlöcher!“ Weil der Mensch jedoch – schon wieder: die Evolution – nicht mehr dazu neigt, solche sinnreichen Botschaften zu beschnuppern und zu achten, ist das ganze Entleerungsspektakel zu einem Atavismus verkommen (einem urzeitlichen Verhalten, das keinen aktuellen Zweck und Sinn mehr hat, also so was wie Wählengehen oder das Ersetzen sinnvoller sprachlicher Äußerungen durch Grunzgeräusche wie „Uck! Uck! Uck!“, „Rrrrrarrrgl!“ und „Obergrenze!“).
Deshalb geschieht die Revierabsteckung nun in neuer Form, indem der Funhipster die zu seiner Grundausstattung gehörende Bierflasche nach deren enthemmender Leerung an strategisch günstigen Stellen auf den Boden knallt und damit den Zugang zu seinem Bereich zumindest für Artgenossen auf Rädern beziehungsweise mit empfindlichem Schuhwerk problematisch gestaltet. Man munkelt, daß sich die Unterspezies des Möchtegern-Großbürgers, die seit den Achtzigern in Schwabing Einzug gehalten und mit einer Sintflut idiotischer Rechtsprozesse den kulturellen Sumpf trockengelegt hat, um ungestört dem Röhren von SUV-Panzern lauschen zu können, mittlerweile weniger von Musik, Tanz, Theater und Kabarett in der Ausübung ihrer Existenz gestört fühlt als durch die Häufung nächtlicher Geräusche von platzenden Radlreifen und schnittwundenbedingten Schmerzensrufen.
So oder so verbleibt am Ende eine sehr artspezifisch gestaltete Umwelt, von der sich Fremdes vorsichtshalber fernhält und in der der jeweilige Bewohner gemütlich herumwesen kann, wie es ihm beliebt. Um so mehr erschrickt er, wenn plötzlich doch mal wer daherkommt. Bestenfalls: ein Gast. Schlimmstenfalls: ein Flüchtling. Also irgendwie dasselbe, oder?
Wenn es derzeit um Flüchtlinge geht, ist meistens schnell die Rede von der Gastfreundschaft, die diese in Deutschland genießen. Gastfreundschaft, das betont die völkisch-nationale Fraktion bei jeder Gelegenheit, sei etwas, was man gewähren, aber bei ungebührlichem Betragen oder je nach Lust und Laune auch wieder entziehen könne.
Und da irren sie sich, die besorgten Spießbürger. Seit Anbeginn der Zivilisation ist Gastfreundschaft keine Gnade, sondern ein unveräußerliches, ja: das vielleicht unveräußerlichste Recht überhaupt. Wer es verweigert, verabschiedet sich aus der zivilisierten Welt und kehrt zurück in die Vorbarbarei. Das mußte schon der Kyklop Polyphem erfahren, der glaubte, er könne Odysseus und seine Gefährten teils verschlingen, teils einfach so aus seiner Höhle hinausbefördern, anstatt ihnen Speis und Trank zu entbieten, wie sich das gehörte, und dafür eine glühende Pfeilspitze ins einzige Auge bekam.
Gastfreundschaft hieß damals und immer: Bei wem ich einkehre, dem steht es jederzeit und unwiderruflich frei, bei mir einzukehren. Und nicht nur ihm, sondern ebenso seinen Kindern, Kindeskindern, Kegeln und Kegelkegeln. Und es steht ihm noch einiges mehr zu: Den alten Griechen war das Schutzgebot des Zeus Xenios so heilig, daß sich Gastfreunde im Krieg weigerten, gegeneinander zu kämpfen. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit sahen das kaum anders; die Hospitalitas als universelles und unbedingtes Gastrecht galt nicht nur in Klöstern; noch Kant und nöcher Derrida (allerdings, eine wichtige Einschränkung, nur für Menschen) feierten und verteidigten sie, und wer über einen „Mißbrauch“ oder ein „schamloses Ausnützen“ jammerte, entlarvte sich damit als kleingeistiger, gottloser Egoist, der eher durch ein Nadelöhr als ins Paradies kommt.
Die Industriekapitäne und Kapitalführer der Ganzneuzeit wiederum, die neuerdings das Hohelied der Gastfreundschaft flöten (oder von ihrer Kanzlerin flöten lassen) und sich die Hände reiben angesichts der heranschwappenden Massen von ausbeutbarem Menschenmaterial, die sollten an jenen namenlosen biblischen Pharao denken, der einst versuchte, Gastfreundschaft in die Bestückung mit Niedriglohnjobs und Praktika umzuwandeln, und am Ende inmitten einer Invasion von Fröschen, Heuschrecken, Stechmücken, Fliegen, Pest, Cholera, totem Vieh, toten Erstgeborenen, Hagel, Finsternis und einem Nil voller Blut dastand.
So kann es einem gehen mit dem Raum, den man bewohnt, wenn man ein paar simple Grundregeln nicht beachtet oder gar vergißt. Drum nehme ich mir jetzt mal ein Frühlingsbeispiel und gelobe, auch dieses Jahr der erstbesten Sippe von vagabundierenden Wespenviechern in meinem Hasenstall unbedingte Hospitalitas zu gewähren. Gestochen hat mich bislang noch k(aum)eine, und als trotzdem egoistischer Neuzeitler denke ich dabei freilich auch an meinen Vorteil: Das Stachelvieh hält Fliegen, Stechmücken und Bremsen zuverlässig fern, Frösche stören nicht, und den sporadischen Hagel ertragen wir gemeinsam.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.