Dienstag, 29. Dezember 2015

Belästigungen 22/2015: Ein paar abschließende Bemerkungen zu FJS (und dann ist eine Ruh!)

Neulich wurde ich von einem Leser gerügt, weil ich mich abfällig über den „größten Staatsmann der bayerischen Geschichte“ geäußert hätte. Gemeint war selbstverständlich Franz Josef Strauß, und gehen tat es darum, daß ich dessen postume Ernennung zum „Rebell“ durch ein Münchner Blödblättchen beanstandet hatte. Über die Toten, schrieb der milde zürnende Leser, sage man doch nichts Schlimmes.
Ja nun, das wäre zu diskutieren, eventuell anhand der Fallgeschichten von, sagen wir mal: Julius Caesar, Stalin und Andreas Baader. Personen der Historie werden es sich wohl oder übel gefallen lassen müssen, daß über sie wenn schon nichts Schlimmes und Böses, dann doch aber auch nichts unangemessen Löbliches, Reinwaschendes, Überhöhendes berichtet und erzählt wird. Ein hundertster Geburtstag böte hierfür einen günstigen, aber eigentlich gar nicht nötigen Anlaß, denn die Geschichte wird permanent diskutiert, interpretiert und umgeschrieben, und wenn in hundert Jahren in den Schulbüchern steht, welches globale Gesamtverbrechen europäisch-atlantische Politiker im mafiösen Schulterschluß mit dem militärisch-industriellen Komplex derzeit im gesamten Nahen Osten anrichten, werden deren Fans sich auch nicht beschweren dürfen, man möge doch bitteschön nicht despektierliche Fakten über Merkel, Gabriel und Co. unterrichten.
Und so wird man auch was FJS betrifft immer wieder mal was richtigstellen und dem huldigenden Gewölk seiner fanatischen Jünger entgegenstellen müssen. Umgekehrt allerdings ebenfalls, das hat die Sache so an sich.
Zum Beispiel prangert man in gewissen Kreisen immer noch beharrlich an, der Strauß sei gar kein Demokrat gewesen, sondern wahrscheinlich sogar ein Faschist. Das heißt erst mal nicht viel, denn die Demokratie ist in Deutschland schon immer unpopulär, und wenn einer zu behaupten wagte, Helmut Kohl, Gerhard Schröder oder Angela Merkel hätten während ihrer Regierungstätigkeit jemals versucht, so etwas wie eine Demokratie einzuführen, müßte derjenige wohl mit einer Verleumdungsklage rechnen.
Aber freilich erinnern wir uns alle an den entfesselten, vor keiner Form der Gewalt zurückschreckenden Vernichtungswillen, mit dem der Strauß auf jeden eindrosch, der sich ihm auch nur versuchsweise in den Weg zu stellen wagte, an die Hetzkampagnen, mit denen er Gegner überzog und (via Stoiber et al.) überziehen ließ, an den blindwütigen Haß auf alles, was sich in die entfernteste Nähe von Kommunismus und Sozialismus rücken ließ – und das war wirklich alles, bis hinaus an den rechtesten Rand der CDU, bis hin zu echten Nazis, die für ihn notfalls bloß braunlackierte „rote Ratten“ waren. Tatsächlich hat wohl seit Joseph Goebbels kein deutscher Politiker so oft und vehement „Bolschewismus“ als Schimpfwort gebraucht wie der Strauß.
Von dem (bzw. seinem engen Mitarbeiter Eberhard Taubert, laut Spandauer Volksblatt der „gefährlichste und militanteste Antisemit des Dritten Reichs“, der später den Verteidigungsminister Strauß als Berater für „psychologische Kriegführung“ diente) hatte er es aber ja auch gelernt, das Hetzen und Propagandisieren, und aus der Stellenbeschreibung seines Jobs als „weltanschaulicher Referent“ beim Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps und Offizier für „wehrgeistige Führung“ bzw. Nationalsozialistischer Führungsoffizier (NSFO), der ausdrücklich nur für „fanatische Nationalsozialisten“ vorgesehen war, dürfen wir ruhig schließen, daß er es gut gelernt hat. Ein Faschist war er aber wahrscheinlich trotzdem nicht; die Kerle nämlich, deren frühe Umtriebe er schon als Bub in der Maxvorstadt rund um den Schellingsalon täglich erlebte, verachtete er ebenso wie alles andere, was die wesentliche Eigenschaft entbehrte, die ihm das einzige und wichtigste Grundmerkmal eines echten Mannes war: Stärke.
„Stark“ mußte beim Strauß alles sein, ein „starkes Bayern“, geführt „mit starker Hand“ und so weiter und so fort, und die Urnazis waren das bestimmt nicht, diese weichlichen Uniformprotze, von pseudosozialistischem Gedankengut angekränkelt, womöglich homosexuell und am Ende nicht mal in der Lage, einen windigen Krieg zu gewinnen. Den hat dann nachträglich er gewonnen, und dabei kam ihm zugute, daß er eben kein Faschist, kein Demokrat und auch ansonsten von keinerlei politischer Überzeugung auch nur im geringsten angehaucht war. Seine Triebfeder, nein: sein Raketenmotor – unter dessen Trieb er, wie wir vermuten wollen, nicht selten litt – war (neben dem wahnhaften Kult um die „Stärke“) nur eines: eine maßlose, in alle Richtungen ausufernde und durch nichts zu bremsende Gier nach Macht und Reichtum. Dafür ließ er alles andere liegen und stehen, hat gelogen, betrogen, geschoben, gedreht, geschmiert, sich schmieren lassen, und wenn ihm mal wieder einer draufkam und eine seiner zahllosen „Affären“ (seit ihm der Fachbegriff für Verbrechen, die von Politikern verübt werden) ans Licht brachte, war ihm das vollkommen egal, weil er moralische Integrität und Anstand für Gesinnungspopeleien hielt, mit denen sich Weicheier, Bedenkenträger und Sonntagsprediger herumschlagen mögen, aber keine starken Führer.
So ging die Sache ihren Gang, so wurde aus dem Metzgersburschen über die Einehelichung in die Unternehmerfamilie Zwicknagel (er habe „gut, aber nicht sehr gut“ geheiratet, berichtete er einem Bekannten), die Übernahme des Kommandos über eine regionale politische Organisation und ein stetig wachsendes Netz von Händen, die ungeheure Geldsummen und sich gegenseitig wuschen, in wenigen Jahren einer der reichsten Männer in ganz Europa, der zum Zweck der Vermögensanhäufung nicht davor zurückschreckte, neben diversen Diktatoren auch dem Oberkommunisten Mao die Pranke zu schütteln und ein paar Milliarden Steuergelder in die kaputte DDR hineinzupumpen, um sie unten wieder abzuzapfen. Ob der Strauß in seinem ganzen politischen Leben jemals irgendetwas getan hat, woran er nicht mindestens kräftig mitverdiente, ist vorläufig unbekannt. Daran mögen sich künftige Historiker Doktortitel verdienen – wenn die Unterlagen und Quellen nicht längst von seinem Heer gesichtsloser Schranzen und Höflinge vernichtet wurden und die entsprechenden Archive jemals zugänglich werden.
Das alles ist nicht böse gemeint und auch keine Schmähung; es dient lediglich der historischen Einordnung. Daß ein Großteil der älteren bayerischen Bevölkerung noch heute instinktiv zum Beißreflex ansetzt, wenn das K-Wort fällt oder irgendwo ein Plakat der Linkspartei hängt, verdanken wir ebenso dem Strauß wie die fortdauernde Existenz einer ganzen Staatspartei von unfähigen, überzeugungslosen Karrieristen, deren Treiben seit seinem Tod dem Versuch einer Horde Dackel gleicht, sich selbst an der Leine Gassi zu führen.
Aber so ist's nun mal. Sehen wir's ein, nehmen wir's hin und Schwamm drüber. Daß der Strauß nebenbei ein höchst intelligenter und beizeiten witziger Redner war, mag uns trösten, und die Berge von Geld, die er aus dem Land herausgesaugt hat und auf denen seine Familie bis heute herumsitzt, die wird sich irgendeine künftige Generation schon zurückholen. Derweil gilt: über die Toten nichts Schlimmes. Er ruhe in Frieden, der arme starke Mann.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 25. Dezember 2015

Belästigungen 21/2015: Warum der Mensch ein Eichkatz ist (und weitere wirre Herbstgedanken)

In unserem Hof wohnt Herr Eichkatz. Daß es sich um einen männlichen Vertreter der Spezies Sciurus vulgaris handelt, schließe ich aus einer gewissen Irrationalität seines Verhaltens. So feiert er etwa den Anblick der täglichen Nuß auf dem Fensterbrett mit einem Tanz, der wie eine hyperbeschleunigte Mischung aus Fußballerjubel und Hardrockfestivalgymnastik (Gitarrensolo!) wirkt – von weiblichen Gattungsvertretern zumindest des Menschen kennt man exzessive Bewegung eher in der militärisch-straffen Fitneßstudiovariante.
Indes schnappt sich Herr Eichkatz die Nuß nicht etwa zum Zwecke des Verzehrs; vielmehr trägt er sie quer durch den Hof vors Fenster der Nachbarin, wo der Topf mit meiner Blumenerde steht, gräbt sie dort ein und vergißt sie augenblicklich. Weil die typische Nußzeit (der Herbst) auch die Zeit des Umtopfens ist, kommt es derart immer mal wieder zu einem lustigen Spiel: Herr Eichkatz gräbt die Nuß ein, ich grabe sie wieder aus, lege sie erneut aufs Fensterbrett, er gräbt sie wieder ein und so weiter und so fort, bis ihn irgendwann doch einmal ein plötzlicher Hunger (oder möglicherweise auch der Trotz) befällt.
Wenn Herrn Eichkatz bei diesem Spiel niemand assistiert, hat die Sache Folgen, die sich zum Beispiel im Münchner Norden anschaulich zeigen: Weil dort die Immobilienmafia besonders tüchtig ihrem Geschäft nachgeht, leerstehende Häuser und Grundstücke verfallen und verwahrlosen zu lassen, um sie eines Tages ruhigen Gewissens und mit Duldung der Behörden abreißen und darauf neue Betonkäfige für mobiles Ausbeutungsmaterial erstellen zu dürfen, hat der Eichkatz absolut freie Bahn, muß aber ohne Spielgefährten auskommen. Da rast er dann herum, sammelt tonnenweise Nüsse, vergräbt sie beliebig in Gärten und Brachen und vergißt sie sofort – für die Auffindung und das erneute Servieren wäre ja der Mensch zuständig, aber der fehlt, weil er in solchen Gegenden mangels trendig-urbaner Konsumgelegenheiten nichts verloren hat.
So kommt es, wie es kommen muß, und nach wenigen Jahren hat sich, vom Klimawandel begünstigt, ein einstmals gepflegtes Kraut-und-Rüben-Gärtchen in einen undurchdringlichen Wald von Nußbäumen samt Haselgestrüpp verwandelt, in dem ein wildes Volk von Eichkätzchen herumschwirrt, -hüpft und -wirbelt und unablässig Nüsse vergräbt, bis … ja, bis was? Bis eines Tages ein weiser Artgenosse daherkommt und Aufkleber verteilt mit der Aufschrift: „Erst wenn der letzte Grashalm verkümmert, der letzte Sonnenstrahl verschattet und der letzte Pilz im Wurzelgewirr vertrocknet ist, werdet ihr feststellen, daß man Bäume nicht essen kann“?
Ich ahne, wie sich da ein kapitalismuskritischer Hintergedanke einschleicht und den süßen Herrn Eichkatz zur Allegorie umfunktionieren möchte, um vor dem Untergang der Welt zu warnen und zu Ein- und Umkehr zu mahnen. Aber nein, umkehren ist auf Einbahnstraßen nicht erlaubt, die Welt geht sowieso unter (zumindest für den Menschen), und im übrigen ist der Herbst die Zeit der großen Heimkehr, in der sich unter anderem erweist, daß auch der Mensch nicht mehr ist als ein Eichkatz mit Schulabschluß und Monatskarte (für was auch immer).
Nämlich kehrt im Herbst nicht nur der Mensch von Badestrand und Biergarten in die Wohnung zurück, sondern auch die Pflanzen, die den Sommer über auf Freigang im Hof waren, und wie immer steht man dann fassungslos in Zimmertüren und fragt sich, wie es sein kann, daß dieses wuchernde Volk dermaßen gewuchert ist, daß man kaum noch an Kleiderschränke und Bücherregale heran, ja eigentlich gar nicht mehr ins Zimmer hineinkommt.
Dabei ist das recht leicht zu erklären: Wie der Eichkatz schätzt auch der Mensch das Spiel mit den Kernen, von denen im Verlauf eines Jahres ziemliche Mengen anfallen: Mango, Traube, Avocado, Paprika, Mirabelle, Passionsfrucht, Melone, Marone, Dattel, Pfirsich, Papaya, Quitte, Orange, Mandarine, Granatapfel, Kaki, Birne, Zitrone, Holler, Beere, selbst die naturgemäß dem Eichkatz zustehende Restnuß oder -marone und notfalls auch mal ein vertrocknetes Stück Ingwer oder Kurkuma – alles vergräbt er in hübschen Töpfchen, stellt es in den Hof, vergißt es sofort wieder und wundert sich hinterher, was da so alles gesproßt, geschossen, getrieben und gefruchtet hat beziehungsweise ist. Und schon ist der Herbst da, und die Wohnung steht voll mit Bäumen, Sträuchern, Palmen, Büschen, die munter ihr Laub in alle Ecken streuen und zur winterlichen Zerstreuung ein Massenheer von Trauermücken, Blattläusen, Käfern und anderem Gekreuch und Gefleuch mit sich führen.
Da es kein feinfühliger Mensch übers Herz bringt, wehrlose Pflanzen zu meucheln (abgesehen vielleicht von den unseligen Kreaturen aus dem Bau- und Möbelmarktsortiment vom Buchsbaum bis zum Ficus), die zudem ja möglicherweise eines Tages reiche Ernten liefern werden (ein ewiger Phantasietraum, wie einem alljährlich bewußt wird, wenn man nach Monaten fürsorglicher Hege seine fünf krumpeligen Tomaten einsammelt), akkumuliert sich die Biomasse immer weiter, bis der Mensch endlich in eine größere Behausung umziehen muß, um seinem Wald ausreichend Auslauf zu bieten.
So transformiert sich der Planet: Wälder, einst eine Art kontinentaler Pelz unter freiem Himmel, bewohnen Gebäude, während Mensch und Eichkatz draußen herumturnen. Und der Sinn des ganzen Irrsinns? Und die Moral? Wer weiß. Vielleicht dient all das nur dazu, zu begreifen, daß die so oft beklagte Vergeblichkeit aller Mühen doch keine ist, zumindest aus bäumisch-evolutionärer Sicht.


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Belästigungen 20/2015: Schöne Sachen kaputt: na und! Schlimme Sachen weg: au weia! (eine anthropologische Studie)

Wenn der Herbst kommt und Menschen wie ich in Züge steigen, um kreuz und quer durch Deutschland zu fahren, Texte vorzulesen und mit lustigen Menschen Bier zu trinken, geraten diese Menschen irgendwann in einen leicht surrealen Gemütszustand. Nämlich reist man weitenteils mit dem Zug heutzutage nicht mehr durch Deutschland, sondern durch Tunnels, dunkle unterirdische und graugeblechte oberirdische aus Lärmschutzwällen.
Die eigentümlich melancholische Monotonie dieses Anblicks wird nur ganz hin und wieder unterbrochen von Vorführungen zeitgenössischer Architektur, mit der man jene Landschaften vollmüllt, wo die Menschen abgelagert werden, die sich noch keine Tunnels und/oder Lärmschutzwälle leisten können. Das ist dann fast noch melancholischer: daß es Menschen gibt, die sich tagsüber damit beschäftigen, Landschaften und andere schöne Dinge kaputtzumachen, und sich abends darauf freuen müssen, in diese dicht gepackten Haufen von in Reih und Glied stehenden Schreckenskisten einzubiegen, sich dort vor den Fernseh zu setzen und zur Erfrischung und geistigen Ertüchtigung drei Stunden lang Börsenkurse, Wirtschaftsdaten und andere Propaganda anzuglotzen. Wenn sie Glück haben, zeigt man ihnen dann noch (mit einem fast hörbar deutlichen „Ätsch!“) eine warenförmige Beziehungsanbahnung in irgendwelchen Geldadelsfamilien samt spaßiger Verwechslung und Hundegekläff am Frühstücksbuffet, von der sie den Schluß verschlafen.
Das sind so Gedanken, auf die man da kommt. Dann kommen wieder Tunnels und Lärmschutzwälle, und weil das auf irgendeine ironische Weise digitale Hell-Dunkel-Spiel das Lesen von Büchern äußerst strapaziös macht und man die lächerlichen Geschäftsmails des krawattierten Sitznachbarn längst auswendig kennt, klappt man halt das Realitätssurrogatgerät auf und schaut sich mal wieder „Fight Club“ an (wobei der Nachbar plötzlich doch die Armlehne freigibt, wenn man an den richtigen Stellen leise dissidentisch kichert).
Apropos. Ich mag „Fight Club“ irgendwie (zumindest gefällt mir, daß ich alle drei Jahre den Schluß vergessen habe und den Film drum ganz ohne Spoiler noch mal anschauen kann). Was mich aber immer wieder verwirrt, ist die seltsame Moral, die da offenbar (oder scheinbar, bis zum Schluß eben) transportiert werden soll.
Nämlich: Da haben wir erst mal einen (auf diffuse Weise) schlechten Menschen, eine Art Berufsverbrecher, der sein Geld damit verdient, daß er einer Autofirma hilft, Profit zu machen, indem Mängel an ihren Produkten vertuscht werden, die unzählige Menschen ihr Leben kosten. So was wie Beihilfe zum Massenmord also. Oder mindestens Totschlag, ich will mich da nicht festlegen.
Dieser schlechte Mensch (Obacht, jetzt kommt der Spoiler für Leute, die den Film noch gar nicht kennen:) verwandelt sich mittels einer ausgeklügelten Schizophrenie in einen (auf sehr diffuse Weise) guten Menschen, der reichen Säcken in die Muschelsuppe pinkelt, aufs Dessert furzt, ihnen ihr abgesaugtes Arschfett als Luxusseife verkauft, mit Billigramsch vollgestellte Betonkisten sprengt, diesen und jenen weiteren konsumkritischen Schabernack treibt und schließlich den wahrhaft messianischen Plan faßt, die Kreditkartenschulden sämtlicher Amerikaner durch Nitroglyzerin zu löschen.
So weit, so gut. Dann aber wird sich der Mensch plötzlich seiner Schizophrenie bewußt, und nun bildet er sich auf einmal ein, es sei gar nicht so gut, den Gesamtschuldenstand einer Gesellschaft auf Null zu stellen (woran man übrigens merkt, daß der Film älter ist als David Graebers Buch „Schulden“). Nein, das sei sogar äußerst verwerflich und müsse um jeden Preis verhindert werden, notfalls indem man sich selbst in den Kopf schießt.
Zum Glück schlägt der Film seinem Hauptdarsteller ein Schnippchen (dem darob erfreuten Zuschauer allerdings auch, so daß man am Ende gar nicht mehr recht weiß, wer hier eigentlich verarscht wird, und sich lebhaft vorstellen kann, wie über den Schnitt des Finales diskutiert wurde). Aber die Frage schwebt weiter im Vakuum zwischen Tunnelwänden und Lärmschutzwällen: Warum entsetzt es den Menschen stets, wenn etwas Häßliches, Verderbliches, Tödliches kaputtgemacht wird, während er ungerührt zuschaut, wie Jahr für Jahr, Tag für Tag, Sekunde für Sekunde alles Schöne an der Welt, in der er zu leben träumt, systematisch zerstört und nach und nach vernichtet wird?
Weshalb – nur als Beispiel – darf die bayerische Staatsregierung einfach so beschließen, das weltweit unvergleichliche Isental durch eine Autobahn für alle Zeiten zu beseitigen? Wieso darf irgendein Immobilienkonzern die ebenfalls unwiederbringliche Eggartensiedlung abzureißen und mit Beton vollzustellen? Und warum ist es andererseits so absolut undenkbar, in Eigenregie und Selbsthilfe derartiges zu verhindern oder die derart verbrecherisch erstellten Verschandelungen ihrerseits wieder wegzumachen?
Liegt das wirklich nur daran, daß ein Auto, eine Fabrik, ein Betonklotz, daß all dieses Zeug einen Geldwert und somit im Kapitalismus selbstverständlich auch einen Eigentümer beziehungsweise Besitzer hat, den man durch das Kaputtmachen „schädigen“ würde (obwohl ja auch er vermutlich unter der Verwandlung der Welt in eine Müllhölle leidet), während Schönheit einfach da ist (oder mal war) und sich weder kaufen noch verkaufen läßt, also auch niemandem gehört und frohgemut verwüstet werden darf?
Möglicherweise. Wenn dem so ist, ist es aber vermutlich Teil der menschlichen und damit insgesamt: der Natur. „Diese Spezies“, werden findige Forscher dereinst feststellen, „fand größten Gefallen daran, ihr Habitat in Klump und Asche zu hauen und sich damit selbst auszurotten. Ob diese gesamtsuizidale Neigung genetisch bedingt war oder durch die Beschallung mit Scorpions-Musik ausgelöst wurde, läßt sich leider nicht mehr feststellen.“
Und daß man bei derlei Gedanken zwischen den Wänden, Wällen und Würfelhaufen Lust kriegt, doch mal wieder ein bißchen harmlos scheppernde Sabotage zu veranstalten – das schreibt man lieber nicht hin. Man will den Nachbarn ja nicht erschrecken; der ist auch bloß ein Mensch, der seiner Bestimmung folgt.

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Donnerstag, 12. November 2015

Frisch gepreßt #350: Robert Forster "Songs To Play"


Wenn Ende September der Föhn mit theatralischem Pathos (vermeintlich) endgültig zusammenbricht und der Herbst grimmig grummelnd seine bleiernen Plumeaus daherschiebt, versammeln sich die Menschen um die Feuerstelle und erzählen sich lustige und gruselige Geschichten. Wenn sie nicht auf Reisen gehen, was selbst der Autor dieser Zeilen, ansonsten nicht grundlos der exzessiven Stubenhockerei verdächtig, zu dieser Jahreszeit recht gerne mal tut. Lieber bis am liebsten ist ihm aber, wenn das Fenster, vor dem sich die herbstliche Landschaftskulisse elegant auf den Absätzen dreht und ein Szenario nach dem anderen flugs enthuscht, um dem nächsten Geschwister Raum zu machen, – wenn dieses Fenster ein Inneres ist und er auf sanften Gleisen durch die Welt schweben kann, ohne sein Sofa zu verlassen.
Ein besonders lieber Reise- weniger -führer als -begleiter ist ihm seit vielen Jahren Robert Forster. Robert wer? fragt der Zuspätgeborene und kriegt ein bisserl historische Nachhilfe: Forster, 58 Jahre alt, gründete Ende 1977 in der australischen Stadt Brisbane die Band The Go-Betweens, mit seinem Uni-Kommilitonen Grant McLennan, mit dem er eine absolut unzeitgemäße Begeisterung für supersimple, hochintelligente Popmusik und die damals so gut wie vergessenen antipodären Legenden Velvet Underground und Monkees teilte. Keine sehr schlaue Idee für eine Karriere, möchte man meinen. Aber als die Go-Betweens Anfang April 1978 (im Vorprogramm der Numbers, die später The Riptides hießen und eine Ausgrabung wert wären) das erste Mal auf der Bühne standen und zwei Songs spielten (mehr konnte der geliehene Drummer auf die Schnelle nicht einstudieren), waren ihr Charme, ihre Lässigkeit, die bezaubernd bescheidene Strahlkraft ihrer aufs Wesentlichste reduzierten Liedgeschichten so hinreißend, daß sie keine paar Wochen später einen Plattenvertrag über acht (!) Alben unterschreiben durften.
Leider ging das wagemutige Label (es hieß Beserkley und ist ebenfalls eine Wiederentdeckung wert) kurz darauf pleite, aber die Gleise waren gelegt, und der Go-Betweens-Zug rollte los. Bis das erste „richtige“ Album „Before Hollywood“ erschien, drehten sich fünf lange, ereignisreiche Jahre vor den Fenstern vorbei; inzwischen gab es eine sogenannte Indieszene um Bands wie Wire, die Smiths und die Talking Heads, die es verschmerzen ließ, daß Radiosender die Go-Betweens so stur ignorierten wie dazumal Velvet Underground. Als wollten sie die Kritiker, die sämtliche Platten der Band als Offenbarungen feierten, vorsätzlich ärgern.
Aber das Leben in der Nische ist kein leichtes, und 1989 hatten Forster und McLennan nach sechs längeren und vielen kurzen Platten genug davon, auf die Welt zu warten, und beschlossen, die Welt auf sich warten zu lassen. 2000 fuhren sie wieder los, nunmehr als „Kultband“ gehuldigt, aber weiterhin stracks an der oberen Hälfte sämtlicher Charts vorbei. Am 6. Mai 2006 starb McLennan 48jährig an einem Herzinfarkt, das war's.
Freilich nicht, denn der Songquell Robert Forster sprudelt weiter. Und obwohl man meinen möchte, er habe das Grundmodell (unverzerrt schimmernde Gitarren, simples Schlagzeug, mehr oder weniger gesprochener, an Lou Reed, Television und den frühen Morrissey erinnernder Gesang, eckig verzahnte Melodien, viiiieeeel Platz zum Hindurchschauen) so oft variiert, daß sich irgendwann mal was wiederholen müßte, tut es das nicht. „Learn To Burn“, „Let Me Imagine You“, „Turn On The Rain“ … jeder seiner neuen Songs könnte in jedem Jahr zwischen 1978 und heute entstanden sein, und jeder davon klingt so zeitlos nüchtern, frohmelancholisch und ewigrund, daß man schon heute weiß: Man wird diese Platte in zwanzig Jahren wieder auflegen und glauben, sie sei absolut neu oder fünfzig Jahre alt.
Und jeder dieser Songs ist eine Reise in einem imaginären Eisenbahnabteil, vor dessen Fenstern herbstliche Landschaften vorbeifließen, während der Betrachter die Gedanken flocken läßt und mit milde staunendem Lächeln ob ihrer Klarheit und Wahrheit den einfachsten poetischen Botschaften aller Zeiten lauscht. „Love Is Where It Is“ – o ja, wo denn sonst als hier, dort, überall und immer?

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #349: Max von Milland "Bis dir olls wieder gfollt"


Der Max ist ein Schlawiner. (Ich bin auch einer, hi hi: Ich verpacke ein Geständnis in eine Allegorie; nämlich:) Ich habe mal mit ihm zusammen eine Bar bedient, heißt: Wir haben Getränke ausgeschenkt, und der Max hat den ganzen Abend sein entwaffnendes Lächeln durch den Raum getragen, das in diesem Fall Menschen den Mund (zum Lächeln) und den Geist (für Getränke) geöffnet hat. Lustigerweise standen danach (und stehen seitdem) an einer Stelle, an der er oft vorbeikam, hübsche Flaschen herum, die dort vorher nicht standen: Vanillesirup, Weiße-Schokolade-Sirup, Mandelsirup, Haselnußsirup, Macadamiasirup, Holunderblütensirup, Lavendelsirup … (ein Zufall, sicher, der sich konventionell erklären läßt, aber:) Ahnt jemand, worauf ich hinaus will?
Das immerhin ist hiermit zugegeben: Ich kenne den Max, und wer ihn kennt, der mag ihn (Inkubationszeit: circa zwei Sekunden). Also mag ich ihn, und also darf ich kein „wertendes“ Wort über sein neues Album verlieren, weil das unparteiisch wäre, gelt. Zumindest kein empfehlendes. Kein lobendes. Kein … Dings. Ich müßte vielmehr: darauf hinweisen, daß man von dieser Platte, wenn man nicht Obacht gibt und sie zum Beispiel beim Einschlafen auf „Repeat“ laufen läßt, eine milde Form von Diabetes kriegen kann. Gib ihr acht Stunden, und sie verwandelt dich in einen Zuckerhut. Mit einer Individuo-Version von brasilianischem Sonnenvanilleschmelz außenrum, jedenfalls: pervers. Der menschliche Topfenstrudel, der aus acht Stunden Oasis-Embrace-etc.-Mißbrauch entsteht, ist dagegen eher ein herbkümmeliges Knabbergebäck.
Aber nein, Schmarrn. Stimmt gar nicht, weil das, was der Max an vermeintlicher Süße verströmt, aus Tiefen kommt, die solcherlei Anspielungen zu unangemessenen Beleidigungen degradieren. Wenn der Max in einem schäumenden Meer von tosenden, wallenden, wellenden Durakkorden steht, dann tut er genau das, was sonst keiner kann: Er tut sich nicht bäumen, den Helden markieren, zum grandiosisierten Gesamtweltkapitän sich stilisieren, der dies und das und alles erklären und deklarieren kann, sondern er lächelt fein, bescheiden und lieb, und schon ist aus dem Pathosgewölle ein kleines, liebenswertes Lied geworden, das das Herz wärmt und die Seele mit gelbrötlichorangenem Spätsommerlicht bestrahlt, nein: herzt. Dann grölt der Max nichts von Universalversöhnung und Heuchel-Wir-sind-alle-dies-und-das, sondern er sagt einfach: „I bin do.“ Weil er halt da ist, wenn du ihn brauchst.
Die Lieder vom Max sind Ohrwürmer, Evergreens, Klassiker, bei denen man immer nach spätestens drei Sekunden meint, man hat sie schon tausendmal gehört – kann sein, daß man sie teilweise wirklich schon tausendmal gehört hat („Wonderful Life! Black!“ plärrt einer aus einem zufälligen Fenster), aber kaum je so schön. Heißt im Umkehrschluß: Wer den Voreingenommenheitssirup nicht gekostet hat (Inkubationszeit: na gut, unter übelsten Bedingungen drei Sekunden), der wetzt sich weiterhin die vermeintliche Seele am aktuellen Deutschpop-Schmirgel (Plärr! Rappel! Ruckizuckizacki!) und wundert sich, wieso von den Jugendtraumseifenblasen nichts als ein bisserl Schorf (und viel Kopfweh) bleibt.
Machen wir anders. Wir blenden das alles, das Gezicke und Gezucke, das Geplärr und Geklirr, das Gehippe und Gehoppe und Gejaule und Gemaule vollkommen aus, verwandeln uns in eine ideelle Reihe aus Sirupflaschen und lächeln.
Das ist nicht wenig. Wer lächelt heutzutage schon noch? Wer wagt es, aus Südtirol zu kommen und zu lächeln und nicht mit verkniffener Fresse deutschnational tätowiertes Gebrüll abzusondern, für das er sich hinterher entschuldigt, es sei nicht „rechts“; oder vielmehr: „nicht rechts“, vielmehr: „nicht rechts gemeint“? Sondern einfach seinen ambient-panoramisch infektiösen Dialekt zu pflegen (und in einem Lied zu verteidigen, bei dem einem das Herz in Vanille schmilzt)?
Ja, freilich: Das ist der Max. Ein Schlawiner. Ein Mensch, ein liebenswerter. Das wiederum bedeutet: Er ist es wert, geliebt zu werden. Liebt ihn. Tut zwischendurch sonst was, aber das: auch, immer mal wieder, nicht am Stück, aber immer (mal) (wieder).


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Freitag, 30. Oktober 2015

Belästigungen 19/2015: Von James Dean zu Markus Söder – sechzig Jahre „Rebellion“

Daß Deutsch eine komplizierte Sprache ist, müssen nicht nur Ausländer feststellen, wenn sie versuchen, ihre mühselig erworbenen Kenntnisse des Idioms anzuwenden, um von einem geborenen Stuttgarter etwas zu erfahren. Vor allem aber hat das Deutsche Lücken. Zum Beispiel gibt es kein Wort für eine Person, die nichts Bemerkenswertes tut und getan hat, außer prominent und noch am Leben zu sein.
Im Englischen (vor allem im amerikanischen) nennt man so jemanden einen „survivor“ – bevorzugt dann, wenn er sich mehr oder weniger vehement blöd bemüht, nicht am Leben zu bleiben, indem er zum Beispiel vor lauter Frust und Überdruß wegen seines schröcklichen Schicksals „zur Flasche greift“ oder „dem Heroin verfällt“. In den meisten Fällen handelt es sich um Popstars, Fußballer, Schauspieler beziehungsweise Filmdarsteller, Politiker sowie andere in der Öffentlichkeit Freischaffende, die im weiteren Umfeld des Schaugeschäfts erfolglos herumkreuchen und -fleuchen und denen das, was Kern und Zweck ihres Herumwesens ist, schon lange nicht mehr gelungen ist: die ewig keinen Hit mehr hatten, kein Tor geschossen, keine Rolle bekommen haben, nicht mehr gewählt oder in ein TV-Lager eingeladen worden sind und nur noch dann in den Medien auftauchen, wenn sie mal wieder ein „Comeback“ versuchen oder volltrunken jemanden auf den Kopf hauen oder die fünfte Ehefrau nach der zehnten Watschn vor laufender Kamera schon wieder zu einem erfolgreicheren Kollegen umgezogen ist.
Dafür gibt es im Deutschen keinen Begriff (außer „Depp“), wenn man nicht auf die saudumme Allerweltsfloskel „Kult“ zurückgreifen möchte. Die kann allerdings auch Leute treffen, die gar nicht mehr am Surviven sind und vor ihrem Abtritt möglicherweise diverse Erfolge hatten. Hingegen ist ein bloßer „Überlebender“ selten „Kult“, außer er überlebt zum Beispiel einen Flugzeugabsturz, was aber selbst dem hartnäckigsten „survivor“ selten gelingt. Und schon gar nicht ist es „Kult“, wenn einer einem Krieg entflieht, sich in ein wackeliges Miniboot hineinsetzt und die Fahrt übers Mittelmeer überlebt. So jemanden will niemand haben.
So jemand ist übrigens auch kein „Held“, selbst wenn es ihm gelingt, fünf Kleinkinder und seine greise Oma mitzuretten. Ein „Held“ ist vielmehr jemand, der etwas relativ selbstverständliches tut (etwa einen Handtaschendieb verscheuchen oder eine Katze vom Baum holen) und dafür sein heldisch-stolz grinsendes Gesicht in die Boulevardpresse hineingedruckt kriegt, unter einer Überschrift wie „Wir sind Helden“, die mich neulich von sämtlichen Papierverkaufskisten des Münchner Nordens angeplärrt hat. Daß es sogar eine Doofi-Popgruppe gibt (oder gab), die so heißt, zeigt, wie gern der Deutsche seine Helden hat – mindestens so gern wie der Ami seine „survivors“.
Fast ebenso sehr mögen beide jedoch seltsamerweise den „Rebell“, was erst verständlich wird, wenn man mal genauer hinschaut, was unter einem solchen zu verstehen sein soll: Ein „Rebell“ ist dem Deutschen und dem Ami keineswegs einer, der die Regierung stürzt, die Macht der Banken brechen möchte oder die Befreiung der ausgebeuteten Arbeiterklasse herbeizuführen versucht. Ein „Rebell“ braucht noch nicht mal bei Rot über eine leerstehende Kreuzung zu marschieren.
Ein „Held“ ist gerne mal auch ein „Rebell“, vor allem wenn er einigermaßen aussieht und tot ist. Das Paradebeispiel für so einen ist James Dean, dessen rebellischste Taten darin bestanden, ziemlich fesch zu sein, in einem Pepsi-Reklamefilm aufzutreten, als Tellerwäscher zu jobben und auf Parties zu gehen. Daß er in drei erfolgreichen Hollywoodfilmen zu sehen war, von denen einer „Rebel Without a Cause“ hieß, bewahrte ihn davor, ein „survivor“ zu werden: Noch bevor die larmoyante Schnulze in die Kinos kam, kaufte sich Dean von einem Teil seiner Gage einen neuen Porsche, ließ sich noch schnell für einen Reklamefilm gegen Raserei auf der Autobahn abfilmen und raste zwei Wochen später (vor fast genau sechzig Jahren) an einer Kreuzung, wie man so sagt, „in den Tod“.
Und schwupps! war er ein „Rebell“, sogar eine „Symbolfigur“, und zwar für die „Auflehnung gegen etablierte Strukturen“. Was in diesem wie in allen Fällen heißt: Er ließ sich – schon weil er sich nicht mehr dagegen wehren hätte können – prima zum „Idol“ aufblasen, zur Lichtgestalt einer angeblichen „Rebellion“, die dazu dient, „neue Märkte zu erschließen“, indem man Milliarden vom Kapitalismus frustrierten Ausgebeuteten einredet, der Grund ihrer Frustration sei nicht etwa der Kapitalismus und der von diesem angezettelte Krieg der Reichen gegen die Armen, sondern ein sogenannter „Generationenkonflikt“ - und gegen diese Frustration gebe es nur ein einziges Heilmittel: Konsumieren!
Um das zu dürfen, ist es wiederum unerläßlich, sich in die etablierten Strukturen nicht nur einzufügen, sondern sich und sein gesamtes Leben diesen Strukturen in einer Totalität zu unterwerfen, von der sogenannte „totalitäre Regimes“ nicht mal träumen. Sechzig Jahre nach James Deans Autotod ist das Leben sämtlicher Generationen so vollständig vom Kapitalismus beherrscht und durchstrukturiert, daß die Opfer sogar glauben, sie tun all das, womit sie ihr Leben verschwenden, freiwillig. Nach sechzig Jahren „Rebellion gegen etablierte Strukturen“ gilt man wahrscheinlich schon als „Rebell“, wenn man einem einjährigen Kind nicht mit angemessener Vehemenz tagtäglich „Leistungsbereitschaft“ einbleut (übrigens eines der vielen Wörter, die es nur im Deutschen gibt).
Seien wir gnädig: James Dean kann dafür nichts, Friede seiner Asche. Es könnte sich aber lohnen, ein bißchen mißtrauischer zu sein, wenn die Plärrmedien der herrschenden Klassen „Kulte“, „Rebellen“ und „Helden“ ausrufen. Neulich zum Beispiel brüllte mir einer der erwähnten Zeitungskästen entgegen, neuerdings sei sogar der verblichene Franz Josef Strauß, der Inbegriff der Brutalität von Macht, Gier und etablierten Strukturen, ein „Rebell“. Wird sich demnächst eine neue „Generation“ Strauß-Poster ins Kinderzimmer hängen?
Wie, da gab es schon einen Vorläufer? Na dann: Hut ab, Herr Söder – Sie Rebell, Sie (tätschel, tätschel)!


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Donnerstag, 29. Oktober 2015

Frisch gepreßt #348: Wilco "Star Wars"


Selige Frühneunziger: als man das abendliche Tresengeplauder allen Ernstes dem Thema widmen konnte, was die Unterschiede zwischen „Alternative“ und „Independent“ waren. Da wurden steinerne Standpunkte vertreten: das eine Rock, das andere Pop, beides jedenfalls nicht bei „etablierten“ Plattenfirmen, hier mit Philosophie, dort mit Stil, tiefgängig bzw. stolzbewußt oberflächlich, anders sowieso ohne Frage.
Zusammengefaßt ließe sich rückblickend sagen: Independent war, wer auf einem „unabhängigen“ Label erschien (das im Zweifelsfall längst von einem Major aufgekauft oder überhaupt erst gegründet worden war), klassische Songs mit großen Melodien schrieb und durch das bloße Überqueren einer Straße in persona bei Tageslicht einem Heer von (oft nur noch gefühlten) Teenagern Anflüge orgasmischer Massenhysterie verschaffte, stets jedoch mit einer bezaubernd anmaßenden Attitüde der Abgrenzung zu Vorläufern (Beatles und folgende) und sowieso zu allem, was „Rock“ war. „Rock“ nämlich waren jene Institutionen, die seit zehn, manchmal fast zwanzig oder noch mehr Jahren sporadisch millionenteuer aufgeblasene Mega-Alben in die Welt setzten und aussahen wie Kollegstufensprecher Mitte dreißig: Matte, Bart, lässiges Indienhemd, hautenge Glockenhose. Die fuhren im Rolls Royce herum, stritten vor Gericht jahrelang um Kleinigkeiten und waren insgesamt vollkommen aus der Zeit gefallen. Oldies, lebende Fossilien, Dinosaurier, deren möglicherweise relevante Wirkungszeit eine Generation zurücklag, die aber von den Titelseiten der Magazine nicht wegzukriegen waren. Sagen wir: Pink Floyd, Genesis, Eagles, Deep Purple.
„Alternative“ war die andere, diametral unterschiedliche … ähem: Alternative. Hier wirkten wenig gepflegte Männer in Karohemd und Lederstiefeln, gezeichnet von beiderseitiger Verweigerung (Niemand will uns! Niemand versteht uns! Dufte!), im Säurebad endloser Landstraßentourneen von jedem Glamour gereinigt, die sich von den alten Heroen vor allem dadurch unterschieden, daß sie kein Geld für Studios hatten, nicht sonderlich gut spielen konnten und aus beidem eine Tugend machten: Wie, wir haben keine richtigen Songs? Richtige Songs sind Mainstream, Baby! Wir verzichten absichtlich darauf!
Wilco galten mal als Verkörperung von „Alternative“ und gelten in mancher Hinsicht auch mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Gründung (oder Umfirmierung aus Uncle Tupelo nach dem Abgang von deren Sänger) als irgendwie „anders“, eigen, außenseitig. Das beruht wahrscheinlich auf einer Reihe populärer Mißverständnisse, ist aber nun mal nicht mehr aus der Welt zu schaffen und soll uns daher nicht weiter scheren, weil: Alternative Rock ist schon länger Mainstream, als die Beatles brauchten, um ihr Gesamtwerk zu schaffen, und Wilco (von Anfang an bei einem der größten und traditionsreichsten Musikkonzerne der Welt zu Hause) drehen schon immer beiden Fraktionen eine Nase. Sie machen Reklame für Apple und VW, werfen aber mit literarischen und anderswie „relevanten“ Begriffen und Anspielungen um sich, kontern jeden noch so berechtigten Versuch, sie zwischen Eagles und Jefferson Airplane zu lexikalisieren, mit einem geschickt inszenierten Schachzug in Richtung Zwielicht und Party-Talk-kompatible Intellektuello-Relevanz. Ein höchst gelungener Seiltanz in der Tat, aber lassen wir uns nicht ablenken.
Ihr neuntes Album verkörpert so ziemlich alles, was die Band ausmacht, im Guten wie im Schlechten: Es ist schön und leicht zu hören, zugleich interessant und spannend, voll von überraschenden Wendungen, aber auch ultratraditioneller Rockmusik, aufgeladen mit gefühltem Anspruch und Bedeutung, dabei aber frei von wirklich genialen oder auch nur originellen Kompositionen, an die man sich fünf Minuten nach dem ersten Hören noch erinnert (verwirrenderweise erkennt man sie beim zweiten Hören dennoch sofort wieder). Es erinnert mal an den John Lennon der „Imagine“-Jahre („More ...“), mal an ein B-Seiten-Demo der Glitter Band, das mangels catchy Chorus in der Schublade blieb („Random Name Generator“), oft an beides gleichzeitig. Es ist offenbar bewußt „billig“ produziert, läßt unter den Kofferradio-Gitarren und Pappkarton-Schlagzeugen aber den Aufwand ahnen, der nötig war, um diese Simplizität zu erzeugen. Es wirkt belanglos und macht neugierig.
Mit anderen Worten: ein Album, über das man mehr schreiben und sprechen als es hören wird. Vielleicht ist das der entscheidende Punkt, um die eingangs erwähnten Diskussionen mit einem Vierteljahrhundert Verspätung abzuschließen und die Pole zu verschmelzen. Vielleicht aber auch nicht, wer weiß, wer will's wissen?

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Sonntag, 20. September 2015

Belästigungen 18/2015: Wer hier kein Flüchtling ist, der hebe die Hand!

Ich habe in meinem Leben eine ganze Reihe von Menschen kennengelernt, die in irgendeiner Hinsicht das sind oder waren, was man heutzutage als Flüchtlinge bzw. Migranten bezeichnet. Der Unterschied übrigens ist kein geringer: Wer vor Krieg, Vernichtung, Hunger, Elend flüchtet, ist laut Genfer Flüchtlingskonvention kein Flüchtling, sondern ein Migrant und damit ohne Rechtsanspruch auf Asyl.
Das klingt ein bisserl trocken, drum sei es kurz illustriert: Ein beliebiger Bewohner eines beliebigen Landes, das von (zum Beispiel) deutschen Konzernen ausgebeutet und dessen Umwelt dabei so gründlich zerstört wird, daß es als unbewohnbar gelten kann, hat kein Recht auf Asyl im Land der Täter und Profiteure, weil er (da sind die Grenzen ausnahmsweise fließend) Elends-, Umwelt- oder Wirtschaftsflüchtling und damit kein richtiger Flüchtling ist. Schießt man ihm im Rahmen eines Krieges mit deutschen Waffen die Familie tot, zerbombt sein Haus und droht ihn selbst totzuschießen (möglicherweise auch bloß „kollateral“), ist er ebenfalls kein richtiger Flüchtling – dafür müßte er erst einmal ganz persönlich „verfolgt“ werden, und zwar aus ganz spezifischen Gründen, zu denen die Gefahr des Verhungerns und Totgeschossenwerdens nun mal nicht gehört.
Deshalb gibt es so viele Flüchtlinge, von denen höchstens zwei Prozent „richtige“ Flüchtlinge und alle anderen „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Asylbetrüger“ und sonst was sind, wogegen „Bild“ hetzen darf, worauf Politiker schimpfen dürfen, was „Patrioten“ und „Asylkritiker“ anzünden dürfen, was Polizisten und Soldaten mit Gewalt aus dem Land befördern und irgendwo abladen dürfen, was man notfalls auch einfach ersaufen oder anderweitig verrecken lassen darf, damit es bloß nicht darum bittet, deutsches Wasser trinken und deutsche Äpfel essen zu dürfen: Wo bitte schön wären denn da die „Verfolger“ (wenn man mal deutsche Politiker, Hetzblätter, „Asylkritiker“ und Vollzugsbeamte außer acht läßt)? Und haben diese Leute überhaupt eine „politische Überzeugung“ (oder notfalls eine „Hautfarbe“), wegen der man sie „verfolgen“ könnte (wie etwa deutsche Altnazis, die deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich „richtige“ Flüchtlinge waren bzw. sind)?
Auf solcherlei Definitionen und Begriffe – darüber sind wir uns hoffentlich einig – sollte man als vernünftiger Mensch pfeifen. Wer flüchtet, ist ein Flüchtling, basta. Und weil ihm dieselbe UN in einer anderen Konvention (die sogenannten „Menschenrechte“) immerhin ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zugesteht, darf er flüchten, wohin er will oder muß, und wer ihn daran hindert oder gar körperlich versehrt (sei es durch Zwangsmaßnahmen bei der „Abschiebung“, sei es durch die Errichtung von Zäunen, sei es durch bloße Untätigkeit und angeblich hilfloses Zuschauen), der ist ein Verbrecher, basta.
Ich kannte und kenne, wie gesagt, mancherlei Flüchtlinge. Einen Nigerianer, der in München studierte, weil er das in Nigeria nicht durfte. Einen Österreicher, der seit seinem dritten Lebensjahr in Bayern lebte, nach vierzig Jahren wegen schlechter Chancen auf dem Arbeitsmarkt ausgewiesen wurde und aber nicht ging, sondern fortan als illegaler Obdachloser auf der Straße und im Wald vegetierte. Ostdeutsche, denen man zugunsten westdeutscher Kapitalbesitzer die Lebensgrundlage entzogen hatte. Einen Südafrikaner, der von dort nach Österreich, München, Italien, Australien, Indien, Bali flüchtete, wegen einer nicht genehmen Liebesbeziehung „abgeschoben“ wurde, schließlich in London landete und meinte, er wolle endlich nach Hause, wisse aber nicht, wo das sei. Einen Münchner, der es mit dem Geschäftemachen übertrieben hatte und aus Furcht vor Strafverfolgung nach Hongkong flüchtete, weil sich die Leute da bekanntlich sowieso williger ausbeuten lassen (als er es dort erneut übertrieb, „schob“ man ihn nicht etwa „ab“, sondern steckte ihn ins Gefängnis).
Ich kannte einen ehemaligen Sowjetsoldaten, der nach dem Krieg in Deutschland verlorenging und in einem Münchner Wohnheim landete, von wo man ihn nicht mehr wegbekam, weil er keine bekannte Sprache sprach und verstand und möglicherweise taubstumm war. Ich kannte einen Ami, der es für eine tolle Idee hielt, in Kuba Pornohefte zu verkaufen. Die freundlichen kubanischen Behörden beschlagnahmten seine Ware und ließen ihn laufen, gaben ihm allerdings kein Geld für den Rückflug; seitdem streunert(e) er am Malecon herum.
Ich weiß von dutzenden Leuten, die aus München flüchten mußten, weil sie hier keine bezahlbare Wohnung fanden oder weil sie von Arbeitsvermittlungsbehörden oder „Arbeitgebern“ zum Wegziehen gezwungen wurden; ich kenne auch Leute, die nach München flüchten mußten, weil es anderswo noch wesentlich schlimmer ist. In ganz Bayern, Deutschland, Europa wimmelt es nur so vor Zwangsmigranten, die, vom Kapitalismus entwurzelt, von einer Kurzzeitbleibe zur nächsten hetzen und sich teilweise auch noch einbilden, sie täten das freiwillig.
Kein ganz neues Phänomen: Mitte des 19. Jahrhunderts wanderte halb Irland nach Amerika aus, um nicht zu verhungern (man stelle sich vor: zwei Millionen „Wirtschaftsflüchtlinge“ in vier Jahren!). Ein nicht geringer Teil meiner eigenen Familie übrigens flüchtete zu jener Zeit ebenfalls über den Ozean, aus demselben Grund. Mein Urgroßvater hingegen wurde 1918 von Freikorps-Faschisten in einer Laimer Kiesgrube „standrechtlich“ erschossen, weil er Milch „geschmuggelt“ hatte – immerhin war er wohl eine Art Kommunist, hätte also Chancen gehabt, als „richtiger“ Flüchtling anerkannt zu werden, wenn es denn eine Fluchtmöglichkeit gegeben hätte.
Und wer länger irgendwo bleibt, kommt da noch lange nicht her. Schon gar nicht aus Bayern, das seit gut 8.000 Jahren ein Ein- und Auswanderungsland par excellence ist: Bandkeramiker und Glockenbecherleute (nicht zu verwechseln mit heutigen Glockenbachhipstern!), Hallstätter, Kelten, Walsche, Boier, Germanen, Romanen, Markomannen, Langobarden, Alemannen, Ostgoten, Thüringer, Franken, Böhmen, Mährer, Schlesier, Banater, Donauschwaben und alle möglichen anderen kamen und gingen – das heißt: flüchteten und wurden vertrieben, und von manchen davon weiß man nicht mal, ob es sie wirklich gab, wer sie waren und wohin sie verschwunden sind. Eine wüstere Mischpoke von Flüchtlingen aus sämtlichen Himmelsrichtungen als das, was man heute „Bayern“ oder „Bajuwaren“ nennt, ist überhaupt nicht vorstellbar. Die einzigen, die irgendeine Art von „Ureinwohnerschaft“ für sich beanspruchen könnten, wären die Neandertaler, und von denen stammt wahrscheinlich nicht mal unser Innenminister ab.
Ich habe in meinem Leben buchstäblich unzählige Flüchtlinge kennengelernt. Und Nachfahren von Flüchtlingen, die wiederum zu Flüchtlingen wurden oder andere zu Flüchtlingen machten. Und wenn mich jemand fragt, ob ich nicht auch andere Menschen kenne – keine Flüchtlinge, ohne den geringsten „Migrationshintergrund“ –, dann fällt mir dazu nur eine Gegenfrage ein: Andere Menschen? Was für andere Menschen sollte es denn geben?

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Freitag, 18. September 2015

Frisch gepreßt #347: Herrenmagazin "Sippenhaft"


„Wenn man sich zwanzig, dreißig Jahre mit Rockmusik beschäftigt, passiert es nicht mehr oft, daß man von einer Band, einem Album spontan so begeistert ist, daß man weiß: Das wird mir bleiben, für Jahre, vielleicht für immer, wird mich auf ewig an den gewaltigen Moment erinnern, in dem ich es zum ersten Mal, an die verzauberten Tage und Wochen, in denen ich nichts anderes gehört habe.“ Diese Zeilen äußerte ich vor gut fünf Jahren anlässlich des zweiten Herrenmagazin-Albums über deren erstes, noch mal zwei Jahre älter und damit im branchenmäßigen Sinne längst „durch“, in meiner musikalischen Grundausstattung aber ebenso unverzichtbar wie Gerste im Bier, Käse auf der Pizza, nein: sagen wir Wasser bzw. Hefe, ohne die geht’s wirklich nicht.
Es verging seitdem kein Jahr ohne mindestens eine Herrenmagazin-Phase, in der ich tage-, wochenlang nichts, wirklich gar nichts anderes hören will und kann, weil nichts annähernd herankommt, nichts vergleichbar ist mit diesen Wunderdrogen, die Rausch-, Heil- und Suchtmittel zugleich sind. So wurde aus einer, zwei, dann drei Platten eine Band fürs Leben, auf die man sich verlassen kann und konnte, die mit dem Urschreiknall „Atzelgift“ mit atemloser Wut, atemraubender Trauer und einer himmlisch-höllischen Weltexplosion von Gitarren und Schlagzeugen selbst die frühen Ton Steine Scherben aus dem Hirn fegte, auf „Das wird alles einmal dir gehören“ mit Geschichten von niederschmetternder Bildmacht und das Universum füllenden Melodien (für die die passenden Stadien leider immer noch nicht gebaut sind oder sich füllen mögen) seitwärts über sich hinauswuchs. Die mit „Das Ergebnis wäre Stille“ auf eine Weise poetisch und musikalisch reifte, wie das zuvor höchstens den Manic Street Preachers mit „Everything Must Go“ gelang, nein: passierte, weil so etwas niemand planen oder bewußt wollen kann.
Jetzt kommt der vierte Schritt, der vierte Gipfel in dem seltsamen Gebirge der deutschen Rockmusik, das ansonsten überwiegend aus Wanderdünen besteht, und längst ist jede Furcht verflogen, Herrenmagazin könnten mit einem schlimmen Patzer rückwirkend einreißen, was sie in Hirn und Herz dessen, der sie zur Lebensdefinition so dringend braucht wie die eigenen Tagebücher, aufgebaut haben. Längst weiß man: Die können nichts falsch machen, allerhöchstens dauert es ein wenig, bis man alle Tiefen, Winkel, Nischen, Fein- und Einzelheiten erkundet hat, sie sich zu einem großen Ganzen formen und verbinden, das erneut weit mehr erfüllt und verkörpert als einen Sommer, ein Jahr.
Typisch dafür sind die Texte: Die kann und wird man größtenteils nie verstehen, aber man begreift sie von der ersten Zeile an, weil die zwischen Distanz, Zorn, Analyse und brachialen Reflexen changierenden Couplets, die Unbedarften wie Resultate einer eigentümlichen soziologisch-lyrisch/subjektiven Cut-up-Technik erscheinen mögen, in jedem Gemüt und/oder Gedächtnis ein Häkchen finden, an dem sie sich einhaken und das sie assoziativ und sozusagen symbiotisch mit erleuchtendem, befreiendem, oft hochromantisch getöntem Sinn erfüllen.
Musikalisch geht die Reife weiter. Die typischen Schreddergitarren, der aus Kraut-Motorik, Punk-Ekstase und schierer technischer Brillanz geborene Schlagzeugdonner sind nach wie vor zu finden, aber nicht mehr als alleinige Wesensmerkmale und nicht mehr in unraffinierter Urform, sondern entwickelt, erwachsen in ein Biotop der Perfektion, in dem es kein Unkraut gibt, nur Wunder und Schönheit. Vielleicht bestes Beispiel: der Titelsong, bei dem die hohe (und von kaum jemandem beherrschte) Kunst des Weglassens so weit getrieben ist, daß die Zeit stehenbleibt und zur Ewigkeit wird.
Nein (schrieb ich damals), ihre Musik ist für Herrenmagazin kein Beruf, selbstverständlich auch kein „Hobby“, sondern das Leben. Das ist es wahrscheinlich, was diese Musik und diese Band so einzigartig und einmalig macht: daß daran nichts konstruiert, gewollt, bemüht klingt, keine Vorlagen, Vorgaben, „Elemente“ verarbeitet oder eingebaut werden, sondern alles natürlich entsteht, wächst und fließt. Deshalb wirken ihre Songs so entwaffnend und mitreißend: weil sie sich nicht anbiedern; du kannst sie hören, wenn du willst – aber mach dich, wie gesagt, darauf gefaßt, daß sie dich nicht mehr loslassen. Daß dich diese Band dein Leben lang begleiten wird, weil (ich zitiere eine Herrenmagazin-Zeile von 2010): „In mir trag ich alles / Was du dir vorstellen kannst.“
Aber hängen wir alles ein paar Äste niederiger: Wichtig an Herrenmagazin ist nicht ihre Genialität, ihre Bedeutung, ihre Wichtigkeit. Sondern die reinigende Kraft ihrer Songs. Sie räumen das Herz, die Seele, den Kopf frei, und egal wie schlecht es einem geht, bevor man sie hört – danach geht es einem besser. Herrenmagazin sind bloß vier Jungs, die Musik machen. Eine Band. Zufällig die beste, die ich kenne. Die um ihr Leben spielt, um euch, uns, allen, die ein Herz und ein Hirn haben, klarzumachen, was Rockmusik bedeuten kann. Nein: was sie bedeutet. Vielleicht nichts, notfalls alles.

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Montag, 7. September 2015

Frisch gepreßt #346: Ultravox "Vienna"


Zu einer Jahreszeit, wo die Dächer von den Häusern schmelzen und sich der Homo sapiens mehrheitlich in Flüssen und unter Wasserfällen tummelt, damit es ihm nicht ähnlich ergeht, das vierte (oder – wir kommen noch darauf – erste) Ultravox-Album zu hören oder zu veröffentlichen, ist ungefähr so wie … Ultravox sein, sagen wir mal. Die haben das damals nämlich genauso getan, 35 Jahre und sechs Tage vor dieser Neuauflage, der ungefähr dritten, die wahrscheinlich (man weiß das im Post-Musikindustriezeitalter nie so genau) zu eben diesem Anlaß erscheint.
Und das war durchaus typisch Ultravox: antizyklisch, gegen alle Trends (und Jahreszeiten), zeitpunktmäßig heroisch daneben und zielstrebig in den Graben abseits der Moden und des großen Geschäfts. 1973/74 unter dem Namen Tiger Lily als Glamrockband gegründet (als Glamrock seit mindestens einem Jahr im Champagner-&-Koks-Kater höchstens noch dahinvegetierte), dümpelten sie ein gutes Jahr lang hinter der einzig noch mit Vollgas laufenden Schiffsschraube des Roxy-Music-Dampfers dahin, benannten sich ziemlich genialisch in Ultravox! um (mit dem Ausrufezeichen als Deutfinger in Richtung der damals enorm kultischen Deutschmotoriker und Kraftwerk-Ableger Neu!), ließen sich von Brian Eno und David Bowie entdecken und machten ein Debütalbum, das die Popwelt in ihren Grundfesten erschüttert und erneuert hätte – wenn es nicht gerade im tobenden Punksommer 1976 erschienen wäre. So: bekamen es ein paar Leute mit, solitäre Außenseiter in der nebligen Randzone zwischen Prog (halbvergoren), Punk (noch frisch, aber mit Haut vom Aufkochen), Glam (madig) und einer eigenartig-obskuren Szene von theatralischen Kunst-New-Wave-Leuten, die – schon damals auf einem Nebengleis herumrangierend – heute samt und sonders vergessen sind (typisches Beispiel: die famosen Gloria Mundi).
Das zweite Album „Ha! Ha! Ha!“ warf den alten Ballast ab und definierte eine alternative, gloriose Version von Punk (nun offiziell „New Wave“ genannt), die ohne Zweifel den Planeten aus den Angeln gehoben hätte, wenn selbiger in seinem Sex-Pistols-Rausch irgendwas davon mitbekommen hätte: ein epochales, unvergänglich aktuelles Meisterwerk von Verzweiflung, Raserei, Melancholie und Wut; ein Grundstein, auf dem niemand etwas errichten wollte (oder konnte). Die Band selbst auch nicht: Die ließ nun das „!“ weg und ihr etwas unentschlossenes Restmaterial auf „Systems Of Romance“ von dem Krautrockmagier Conny Plank bügeln (etwas glatt). Wieder kein Erfolg, kommerziell nicht mal unteres Mittelfeld. Das experimentierfreudige, aber wenig konsequente Label Island klappte die Kiste zu, Sänger John Foxx entschwand Richtung Elfenbeintürmchen, und die Früchte ernteten später andere (nicht zuletzt U2, übrigens).
Auftritt Midge Ure, noch so ein Mann zwischen den Stühlen, noch so ein Glam-Spätnachzügler (mit Slik), Punk-Nebendarsteller (mit den Rich Kids, nachdem er einen Job bei den Sex Pistols verbummelt und sich dafür deren Exbassisten Glen Matlock geholt hatte) und Enthusiast einer leicht pathetisch aufgeblasenen Version von Kraut-Elektronik und kontinentaleuropäischer Melancholie: Der übernahm den Laden, bastelte eine angekitschte lyrische Mittelstufenessenz von Foxx' enigmatischen Visionen, lud sie mit lastwagenweise Elektronik und dem musikalischen Äquivalent leerstehender römischer Säulentempel voll, saugte aus dem Ergebnis den verbliebenen Teig ab – und landete mit dem von der englischen Musikpresse eilig als „New Romantic“ etikettierten Ergebnis einen historischen Zufallsvolltreffer. Erste Andeutungen lieferte die Kooperation mit den Ultravox-Resten unter dem Namen Visage (mit „Blitz“-Clubchef Steve Strange als Galionsfigur), aber so richtig rund wurde die Sache erst (und nur) mit und auf „Vienna“.
Und auch das – kommerziell – nur durch viel Geduld: Im Sommer 1980 schipperten die neuen Ultravox mal wieder zielstrebig am Zeitgeist vorbei (der, angeführt von Bow Wow Wow und Adam & The Ants, mit Urwaldtrommeln durch die Großstadttäler zog). Erst die im tief verschneiten Januar 1981 erschienene gleichnamige Single – die ein witziger Schreiber später mit einem Zeichentrick-Nilpferd verglich („pompös, aber liebenswert“) – trampelte alle Türen nieder und verschaffte der fortan in Manierismus erstarrenden Band ein sicheres Auskommen für Jahre.
Und zwar zu Recht. „Vienna“ mag, im saftig brütenden Sommertreibhaus gehört, nach 35 Jahren immer noch so kalt, künstlich, kalkuliert, hohl und pathetisch klingen wie im Hochsommer 1980. Aber wartet nur den ersten novemberlich verregennebelten Sonntagnachmittag Ende August ab, und ihr werdet feststellen: Der Schein trügt, oder vielmehr: Der Trug scheint, majestätisch, strahlend grau, berauschend schön(lich).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Samstag, 5. September 2015

Belästigungen 17/2015: Erst fällt ein Schild, dann schrumpft die Stadt, und keiner weiß, was los ist

Eine Stadt ist ein ganz schön gewaltiges Konglomerat von Zeugs. Da kann schon mal was verlorengehen, ohne daß einer was merkt. Zum Beispiel ist mir vor vielen Jahren mal fast ein Straßenschild auf den Kopf gefallen, als ich an einer Kreuzung stand und auf Grün wartete. Es hing da so, als hätte es ein paar Maß zuviel getrunken und im Überschwang der rauschigen Lust eine Mutprobe unternommen, die typisch peinlich damit endete, daß es eben so rumhing und ächzte und mir bei einer vorsichtigen Berührung – pleng! – vor die Füße fiel.
Ich beschloß, dem Schild ein neues Zuhause zu geben. Vielleicht konnte man es (die Achtziger!) als originelle Salatschüssel oder ähnlich verwenden, und sowieso ist der Mensch nun mal ein Sammler. Seitdem steht das Schild im Keller.
Aus Gründen der Vorsicht – man weiß ja nicht, ob es sich dabei eventuell um ein Aneignungsdelikt handeln könnte und wann ein solches verjährt – möchte ich nicht verraten, an welcher Kreuzung sich dies abspielte (und vorsorglich gleich noch hinzufügen, daß der zweite Teil der Geschichte möglicherweise erfunden ist). Jedenfalls hat den Abgang des Schildes (wohin auch immer) offenbar nie jemand bemerkt, nicht mal ein kurzsichtiger Tourist, der ansonsten mangels Brille (es gibt ja noch drei weitere Schilder, aber in einiger Entfernung) nicht gewußt hätte, an welcher Kreuzung er sich befand, und seitdem auf der Suche nach einem Flughafen (den es damals noch nicht gab bzw. heute nicht mehr gibt), ziellos im Kreis herumirrte.
So geht das in großen Städten wie München auch mit anderen Sachen. Zum Beispiel Wohnungen, speziell solchen, die für normale Menschen bezahlbar sind: Die verschwinden andauernd, ohne daß es jemandem auffiele. Dann sind plötzlich keine mehr da, und dann finden es manche Leute sehr dringlich, neue zu bauen.
Auf den ersten Blick klingt das vernünftig: Bauwerke, die es nicht gibt, sollte man bauen, damit die Leute nicht auf der Straße herumkampieren müssen und durch ihren verwahrlosten Anblick den Fortgang des Aufschwungs stören und die Lebenswertigkeit der Stadt ankratzen. Zudem gibt es ja noch genügend idyllische Grün- und Brachflächen, Gärten, Höfe, Parks und historische Kleinhaussiedlungen, die man mit Betonriegeln vollstellen kann, vorzugsweise am Rand selbiger Lebenswertigkeit, damit das zusammengepferchte Elend ebenso außer Sichtweite bleibt wie das herumlungernde.
Aber dann fragt man sich doch mal: Wo sind eigentlich die x Fantastilliarden Wohnungen und insbesondere Sozialwohnungen, die in München in den letzten achthundert Jahren und vor allem seit dem letzten Weltkrieg gebaut wurden, hinverschwunden? Sind die etwa allesamt wieder zerbröselt und haben sich in Grünflächen verwandelt? Wieso ist die Stadt dann dermaßen gewachsen, und wieso stehen da so viele Häuser herum?
Das fragt man sich zum Beispiel, wenn man nachts durch einen Stadtteil geht – sagen wir mal Schwabing – und an schier endlosen Reihen prächtiger, wunderschöner, historischer Gebäude vorbeikommt. Die Frage ist aber leicht zu beantworten: Diese Häuser stehen leer. Da wohnen lediglich ein paar Computer und Telephone, und die sind nachts nicht in Betrieb. Und warum das so ist, weiß man ja auch: Wohnungen wie diese können sich Menschen nicht leisten. Das können nur Firmen; die haben genug Geld, weil sie den Menschen, die das Geld erzeugen, so wenig davon abgeben. Sie könnten auch in die vielen gänzlich leerstehenden, aus Spekulationsgründen hochgezogenen Bürohäuser an der Peripherie ziehen, aber erstens sind die ebenfalls nicht billig, und außerdem müssen die Firmen (Kanzleien, Agenturen, Büros etc.) ja repräsentativ protzen. Schließlich sind sie die Herren der Stadt und die Sieger im Wettbewerb und nicht die Menschen, die tagsüber, wenn sie Glück haben, ihre Computer und Telephone bedienen (!) dürfen.
Mit den Sozialwohnungen ist es ein bißchen anders: Die verwandeln sich. Und zwar in „normale“, d. h. überteuerte Wohnungen, wenn ihr Eigentümer – meistens eine Firma, die als Eigentümer schließlich nicht gezwungen werden darf, auf möglichen Profit zu verzichten – die Schmälerung seines möglichen Profits nicht mehr vom Staat ersetzt kriegt. Dann saniert die Firma hier und da herum, baut den einen oder anderen Duschtempel ein oder reißt das ganze Gelumpe ab und stellt einen neuen Luxusklotz dafür hin, in dem dann drei Viertel weniger Leute wohnen, die aber das Zehnfache an Miete blechen. Wieder fragt man sich: Wieso baut der Staat nicht gleich selber Häuser, anstatt unverschämten Firmen Geld zu schenken, damit sie das tun und ihm hinterher eine lange Nase drehen? Und wieder ahnt man die Antwort: Das kann er nicht, weil er nicht genug Geld hat. Das haben die Firmen, weil der Staat von ihnen keine Steuerzahlungen fordern will, damit sie nicht sauer werden.
So wird daraus eine Spirale und ein Wettlauf zwischen Hase und Igel, bei dem am einen Ende zehn neue Sozialwohnungen entstehen, während sich am anderen Ende zehn alte Sozialwohnungen in drei neue Luxuswohnungen verwandeln. Mittendrin stehen ganze Stadtteile voller grandioser Wohnungen leer, und am Rand sitzen ein paar Klugscheißer, die fordern, noch mehr Sozialwohnungen zu bauen, bis irgendwann der letzte Alpengipfel und die letzte niederbayerische Odelgrube mit Erzeugnissen des Wahnsinns, den man „postmoderne Architektur“ nennt, zugemüllt ist und der ADAC feststellt, daß im Ozean der Betonkisten nicht mehr genug Platz für neue Autobahnen ist.
Dann fällt möglicherweise mal jemandem ein Kanzlei- oder Agenturschild auf den Kopf, und er fängt das Denken an. Aber ehrlich: Hat das schon jemals was genützt?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1 bis 400 sind in vier Bänden als Buch erschienen.


Freitag, 4. September 2015

Frisch gepreßt #345: The Legends "It's Love"


Das ist nicht nur im Sommer so, aber da besonders: daß einem das sogenannte Leben, sobald man sich den Adern und Organen der Stadt und der Welt nähert, mit metallischer, säurescharfer, grell blendender Härte entgegenknallt und einen anpeitscht, als wäre es und alles ein globaler Wettbewerb im Brüllen, Schlagen, Brettern. Als ginge es darum, mit allen Mitteln und einem sämtliche Sinne betäubenden Feuerwerk eine Sehnsucht zu betäuben, die im Grunde jedem und allem innewohnt, die aber offenbar irgendwie nicht hineinpaßt in den verbissenen Mechanismus, dem sich angeblich alles einpassen muß: nach Beständigkeit, Ruhe, Wiederkehr; danach, herauszufallen aus dem irren Rasen, am Rande liegenzubleiben, ohne deswegen von einem Hochhaus zu springen oder Amok laufen zu müssen.
Damit man merkt, wie leicht das geht, das Innehalten, Herausfallen, Liegenbleiben, Loslassen, braucht es Raum und Zeit. Leere, Stille, Einsamkeit, einen Himmel, an dem sich mal nichts rührt, eine Landschaft, durch die sich nichts bewegt. Außer ein paar Tönen, die der Wind wie Flocken ohne Ziel dahinweht. Schmilzt man hinein in diese Szenerie und wird ein Teil davon, stellt man fest, wie sich der Krampf löst, die Sorgen und Bestrebungen, Nöte, Ziele, Ansprüche, Forderungen, Pflichten hinauslaufen aus einem, als hätte jemand einen Stöpsel an der Ferse gezogen.
Manchmal muß auch was vermeintlich Schlimmes passieren, das einen gewaltsam herausreißt. Bei Johan Angergård, dem „Chef“ (nicht nur) der schwedischen Ein-Mann-Popband The Legends – die mit ihrem typisch schwedisch retropoppigen Debütalbum „Up Against The Legends“ fast das heiße Superding von 2003 geworden wäre, war der Anlaß für die fünfte Platte (und die erste neue seit sechs Jahren) (wie um zu beweisen, daß Klischees die konstanteste Konstante in der Geschichte der Menschheit sind, weil sie sonst ja keine Klischees geworden wären): eine Trennung. Klassiker: Lebensgefährtin wechselt Haus und Mann, Tochter bleibt dazwischen hängen; klingt nach Geschrei, Quälerei, nach „Wenn ich jetzt ein Musikinstrument in die Hand nehme, werde ich alles zerfetzen!“
Ist aber ganz anders und anders herum auch nicht die trübselig zelebrierte Sehnsuchtsmelancholieabrechnung, die sich selbst in den Sumpf zieht und andere Menschen dazu bringt, ihre Schuhe anzustarren. Sondern ganz wenig, bescheiden, fast unauffällig schön. Ein Album wie ein Himmel, an dem sich nichts rührt, bei dem man nicht mal sagen kann, ob er bleigrau oder strahlend blau ist, eine Landschaft, durch die sich nichts bewegt außer ein paar Tönen, Melodielein, die eine sanfte Brise herumflocken läßt.
Ein Album, das in der Welt, von der wir eingangs sprachen, nicht auffallen wird. Aber wem es auffällt, der fällt zumindest zeitweise heraus, bleibt liegen, läßt los und wird selbst zur schwebenden Flocke. Und wenn man nach dem (in irdischen Maßstäben gemessen) kurzen (sieben Songs!) Ausflug wieder zurückkehrt in den konkreten Sommer, hat sich einiges verändert: Dem nächsten Plakat, das einen ankläfft, man solle das Maul halten und irgendwas tun oder werden oder sich holen und zwar sofort, dem streckt man nicht mehr die gebleckten Fuck-you-Zähne oder den Mittelfinger entgegen, sondern schenkt ihm ein gelassenes, fröhliches, höchstens ein winzig kleines bißchen mitleidiges Lächeln.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Donnerstag, 3. September 2015

Frisch gepreßt #344: Pete Townshend "Truancy - The Very Best"


Ach, ist sie nicht schön, die Zeit der Schafskälte, in der man, während es draußen stürmt und schüttet und die Wolkenspedition ihre Tiefladerflotte aus ozeanischem Dunkelgrau in einem gewaltigen Stauchaos von Küste zu Küste tuckern lässt, müßig dasitzen kann und ohne schlechtes Gewissen gegenüber Fräulein Sonne (i. A.) in virtuellen Plattenkisten wühlen, dies und das herausziehen, über dieses und jenes stolpern, von dessen Existenz man das alte Männlein im Hinterstüberl des Zufallsgedächtnisses munkeln gehört hat? Ist sie.
Es ist dies auch die Zeit des blitzartigen Gedenkens, wo unscheinbare, in der Nebelflut der Zeiten scheinbar ertrunkene Momente plötzlich wieder eintreten, einen von den Haarspitzen bis zum Zehennagel ausfüllen und Musik nötig machen, die längst verhallt und oft zu Recht vergessen ist.
Zum Beispiel der Moment in den noch frühen 80ern, als man, nicht geheilt und auf ewig nicht zu heilen von dem unfassbar geilen Buntkrawall, mit dem The Who von 1965 bis 1971 die Welt in grelle Scherben schlugen und ein Loch im Universum aufrissen, Pete Townshends Soloalbum „All The Best Cowboys Have Chinese Eyes“ aus einer Ramschkiste zog und sich, während der weitgehend belanglose Konsensrock durch die Wohnung flockte, fragte, was wohl mit den eigenen Augen dieses Mannes passiert war (es war nur Heroin, spätes Nachflackern jugendlicher Trotzrenitenz, die sich nicht abfinden mochte mit dem „Classic Rock“-Status und den Demütigungen, die die Welt ihm und er sich selbst zufügte).
So war das damals: Mochte er noch so ausdauernd Mist produzieren – Townshend war Townshend und ein Album mit seinem Namen drauf daher Hörpflicht, und irgendwas fand man dann doch (auf dem nächsten, „White City“, fand man nichts mehr, dafür war es aber ungeheuer erfolgreich), hier: „The Sea Refuses No River“, bei aller Weinerlichkeit ein Echo der urgewaltigen Akkordflut, deren Tabula-rasa-Wucht Stücke (Songs?) wie „Baba O’Reilly“ und „Won’t Get Fooled Again“ Ewigkeit verliehen hatte.
Pete, ach, Pete. Ich habe ihn mal getroffen und wollte über „Quadrophenia“ sprechen, das Grande Finale seiner Gesamtkunst, dem nach 1973 nichts Wesentliches mehr folgen konnte; aber er beharrte darauf, mir ein lächerliches Musical ans Herz legen zu wollen, das damals jemand aus (vermutlich) „Tommy“ (ewig überschätzt) geschreinert hatte. So marschierte er stets beharrlich an der eigenen Größe vorbei, verrannte sich in Getue, hasste seine nach Keith Moons Tod nicht mehr existente Band und ließ sich nach jedem Ende zu einem neuen „Comeback“ überreden, weil er nicht einsehen wollte, was er längst eingesehen hatte.
Drum muss man ihn halt irgendwie lieben, den rotzfrechen Lümmel im Körper eines gediegenen Spießers, den renditegierigen Erzkommunisten, den zerwuschelten Hippiehasser und hyperintelligenten Dummkopf, der den entscheidenden Punkt öfter getroffen hat als jeder andere, sich aber die meiste Zeit verzettelte wie niemand sonst.
Und man hört ihn wieder, an solchen Tagen, von „Pure And Easy“ (1972, süß und naiv wie ein Yes-Demo) über seine Zusammenarbeit mit dem armen Ronnie Lane (hier mit drei Tracks von „Rough Mix“ aus dem Punkwinter 1976/77 vertreten) bis hin zu der irgendwie rührenden Sülze, die er seinem Guru Meher Baba in den Bart flocht. Bis hin zu …
„The Very Best“? Schmarrn, das gibt es längst, da steht „The Who“ drauf; dies ist halt wieder mal eine Kruschkiste, ein Sammelsurium von Halbfertigem, nie fertig Gewordenem, Fehlgelaufenem, das der Eigensinn nicht im Schrank lassen mochte, possierlichen Fettnapftritten und liebenswerten Abwegen … bis hin, eben, zu „The Sea Refuses No River“, was ein schönes Motto gewesen wäre, aber vielleicht zu pathetisch, während „Truancy“ zwar nach Wahrhaftigkeit klingt, aber nichts weiter ist als Schulschwänzerei. Jetzt ist er 70, der Pete, und das trifft’s aber immer noch, mehr vielleicht als das alte Couplet aus „April’s Fool“ (das hier fehlt): „We used to roam so freely / It's been so long / I took my dreams to bed now / Where they belong.“

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 2. September 2015

Belästigungen 16/2015: Was Wohnen ist, was es kostet und was es nicht kosten darf

In einem Sommer wie dem, der nun langsam zu Ende geht, fällt es schwer, sich mit dem Thema „Wohnen“ zu befassen, weil man Wohnungen in solchen Zeiten ja höchstens zwischendurch aufsucht, ein paar Stunden lang zum Schlafen oder so. Ansonsten ergeht bzw. erliegt oder -sitzt man sich an Seen und Isarstränden, in Bier- und anderen Gärten, auf Wiesen und Festen. Anders Geneigte reihen sich in Staus auf Autobahnen ein, um mal wieder ausgiebig Bayern drei hören und überprüfen zu können, welche der fünfzig Standardplatten aus den Achtzigern immer noch nicht ganz durchgenudelt sind, oder sammeln sich an „Hipster“-Sammelstellen, lassen sich von Freiluftreklame beplärren und schütten sich Zuckerplörre in den Diekmann-Bart.
Das geht nach der jeweils bevorzugten Fasson; da ist der Mensch frei, sich zu „verwirklichen“, wie er wirklich sein oder wirken möchte. Zum Wohnen jedenfalls kommt er erst wieder, wenn er einen Platz braucht, um Regenschirm und Stiefel aufzubewahren. Und dann mag er sich eventuell auch mal fragen, was das eigentlich ist: „wohnen“.
Darüber grübelte bereits der großdeutsche Tiefdünkler Heidegger, wie stets ohne brauchbares Ergebnis, aber immerhin mit der Empfehlung, das Wohnen beim Bauen zu be-denken; nämlich be-wohne man Bauwerke „und wohnt gleichwohl nicht in ihnen, wenn Wohnen nur heißt, daß wir eine Unterkunft innehaben“. Das freilich ist eine Binsenweisheit: Be-wohnen kann man schließlich auch ein Gebüsch. Was aber ist das andere, das „existentiale“ oder eigentliche Wohnen?
Vielleicht hilft die Etymologie, derzufolge ein Mensch, der „baut“, damit bereits „wohnt“, was wiederum heißt, daß er „bleibt“ und „zufrieden ist“. Und schon erstrahlt vor dem inneren Auge eine märchenhafte Idylle, die wenig zu tun hat mit den notdürftig berümpelten Kammern, in denen der moderne Arbeitssklave ein paar Monate lang seine Fertignahrung und seine täglichen Ladungen an „Info“ einnimmt, ehe er weiterziehen muß, um anderswo dafür zu sorgen, daß die Börsen schwingen und die Säckel der Elite schwellen.
Kein Zweifel: Wir haben das Wohnen verlernt, zu einem nicht geringen Anteil sogar im gesetzlichen Sinne – weil laut BewG §181, Abs. 9 eine Wohnung aus mehreren Räumen besteht, „die in ihrer Gesamtheit so beschaffen sein müssen, dass die Führung eines selbständigen Haushalts möglich ist“, und die des weiteren die hierzu „notwendigen Nebenräume (Küche, Bad oder Dusche, Toilette)“ umfaßt. „Die Wohnfläche muss mindestens 23 Quadratmeter betragen.“
Wer sich im Besitz eines solchen Traumgebildes befindet, darf sich einerseits glücklich schätzen, andererseits wieder nicht. Nämlich sind die Zeiten längst vorbei, da ein normaler Ausgebeuteter wenigstens darauf vertrauen konnte, daß der ihm zugebilligte Bruchteil vom Erlös seiner Arbeit neben den zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Aufwendungen auch für den Mietzins locker reicht. Heute erleben wir die absurde Situation, daß ein Großteil der Arbeitenden schon deshalb kaum noch wohnt, weil sie immer mehr arbeiten müssen, um bis zu neunzig Prozent ihres Geldes für die irrwitzige Miete abzugeben.
Wie konnte das geschehen? fragt man sich. Die Antwort ist recht simpel, wenn man den Argumenten der Eigentümer folgt. Zum Beispiel wollten neulich die Vermieter der weltbekannten Münchner Lach-&-Schießgesellschaft dieser mal wieder die Miete beträchtlich erhöhen und meinten dazu, sie könnten darauf nicht verzichten, schließlich seien sie nicht dafür da, die Kultur zu finanzieren. Sondern umgekehrt ist die Kultur dafür da, ihren Profit zu finanzieren, gelt!
Aha! Diese verbreitete Denkprinzip bringt mich auf die Idee, von den Münchner Tageszeitungen und Reklameproduzenten (die sich ja teilweise auch für „Kultur“ halten) künftig die Zahlung einer Million, ach was: Milliarde Euro monatlich auf mein Privatkonto zu fordern, weil sie jeden Tag ihre blödsinnigen Schlagzeilen und Kaufbefehle in den öffentlichen – also auch mir gehörigen - Raum hineinbrüllen und diesen damit ebenso parasitär nutzen wie der Mieter, der im Eigentum des Vermieters herumwest. Wie bitte, die wollen nicht zahlen? Ja so was! Auf die Forderung verzichten kann ich aber keinesfalls, schließlich bin ich nicht dafür da, die „Kultur“ der Massenmanipulation zu finanzieren!
Nun könnten kommunistische Störenfriede auf die Idee kommen, zu fragen, wieso überhaupt Mieten immer teurer werden dürfen (in München in den letzten zehn Jahren durchschnittlich um die Hälfte). Schließlich ist Wohnen ein Menschenrecht, Profit hingegen nicht. Da antworten die Eigentümer: Es werde ja auch immer aufwendiger, Räume bereitzustellen, in die man die Leute hineinpferchen und ihnen Mietzins absaugen kann: Müllabfuhr, Strom, Kaminkehrer, Straßenreinigung, Instandhaltung, Renovierung – alles wird unablässig teurer, und irgendwer muß doch dafür aufkommen!
Hm. Durch einen glücklichen Zufall bewohne ich eine Wohnung, die ich sozusagen an mich selbst vermiete und die schon ziemlich ewig lang dasselbe kostet, während sich der Mietzins anderer Wohnungen in der gleichen Zeit verdoppelt oder verdreifacht hat (seien wir ruhig offen: auf das Fünf- bis Zehnfache dessen, was meine kostet). Da fragt man sich, wie und wieso das geht. Ganz einfach: weil nichts teurer geworden ist, insgesamt. Mal kostet in der Jahresabrechnung ein Posten ein bisserl mehr, mal der andere – man will ja das Dach decken, die Fassade neu verputzen, Treppenhaus, Fenster, Hof und dies und das renovieren und verschönern, Wasserschäden beseitigen, neue Stromleitungen verlegen und so weiter und so fort. Aber in der Summe: alles gleich.
Und wenn man den vermietenden Eigentümern, die unverschämt freimütig von der staatlich und städtisch gewährten Erlaubnis zur Erhöhung der Mieten Gebrauch machen, solcherart ziemlich eindeutig beweist, daß durch Mieterhöhungen keineswegs gestiegene Kosten ausgeglichen, sondern lediglich ihr sinn- und leistungsloser Profit gesteigert wird, dann sagen sie das, was Profiteure in solchen Fällen immer als Totschlagargument vorbringen: Der Markt bestimme die Preise. Das heißt: Weil einer bereit ist, eine Wuchermiete zu bezahlen, dürfen, ja müssen alle anderen ebenfalls Wuchermieten verlangen. Das heißt: Wir pressen euch aus, weil wir es können, ho ho!
Da jedoch könnten wir ein paar Gegenfragen stellen: In welchem Gesetz steht denn das? Und wenn es in keinem Gesetz steht, wieso wird es dann geduldet? Und von wem? Und wer könnte es unterbinden? Und könnten wir das am Ende vielleicht sogar selber? Und wer hat überhaupt und aus welchem Grund und mit welchem Recht und Ziel bestimmt, daß Teile unseres gemeinsamen Planeten und die darauf stehenden Gebäude irgendwem gehören dürfen oder auch nur können?
Interessante Frage. Es wird bald Herbst, Freunde. Vielleicht finden wir ein paar Antworten.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.