Neulich wurde ich von einem Leser gerügt, weil ich mich
abfällig über den „größten Staatsmann der bayerischen Geschichte“ geäußert
hätte. Gemeint war selbstverständlich Franz Josef Strauß, und gehen tat es
darum, daß ich dessen postume Ernennung zum „Rebell“ durch ein Münchner
Blödblättchen beanstandet hatte. Über die Toten, schrieb der milde zürnende
Leser, sage man doch nichts Schlimmes.
Ja nun, das wäre zu diskutieren, eventuell anhand der
Fallgeschichten von, sagen wir mal: Julius Caesar, Stalin und Andreas Baader.
Personen der Historie werden es sich wohl oder übel gefallen lassen müssen, daß
über sie wenn schon nichts Schlimmes und Böses, dann doch aber auch nichts
unangemessen Löbliches, Reinwaschendes, Überhöhendes berichtet und erzählt
wird. Ein hundertster Geburtstag böte hierfür einen günstigen, aber eigentlich
gar nicht nötigen Anlaß, denn die Geschichte wird permanent diskutiert, interpretiert
und umgeschrieben, und wenn in hundert Jahren in den Schulbüchern steht,
welches globale Gesamtverbrechen europäisch-atlantische Politiker im mafiösen
Schulterschluß mit dem militärisch-industriellen Komplex derzeit im gesamten
Nahen Osten anrichten, werden deren Fans sich auch nicht beschweren dürfen, man
möge doch bitteschön nicht despektierliche Fakten über Merkel, Gabriel und Co.
unterrichten.
Und so wird man auch was FJS betrifft immer wieder mal was
richtigstellen und dem huldigenden Gewölk seiner fanatischen Jünger
entgegenstellen müssen. Umgekehrt allerdings ebenfalls, das hat die Sache so an
sich.
Zum Beispiel prangert man in gewissen Kreisen immer noch
beharrlich an, der Strauß sei gar kein Demokrat gewesen, sondern wahrscheinlich
sogar ein Faschist. Das heißt erst mal nicht viel, denn die Demokratie ist in
Deutschland schon immer unpopulär, und wenn einer zu behaupten wagte, Helmut
Kohl, Gerhard Schröder oder Angela Merkel hätten während ihrer
Regierungstätigkeit jemals versucht, so etwas wie eine Demokratie einzuführen,
müßte derjenige wohl mit einer Verleumdungsklage rechnen.
Aber freilich erinnern wir uns alle an den entfesselten, vor
keiner Form der Gewalt zurückschreckenden Vernichtungswillen, mit dem der
Strauß auf jeden eindrosch, der sich ihm auch nur versuchsweise in den Weg zu
stellen wagte, an die Hetzkampagnen, mit denen er Gegner überzog und (via
Stoiber et al.) überziehen ließ, an den blindwütigen Haß auf alles, was sich in
die entfernteste Nähe von Kommunismus und Sozialismus rücken ließ – und das war
wirklich alles, bis hinaus an den rechtesten Rand der CDU, bis hin zu echten
Nazis, die für ihn notfalls bloß braunlackierte „rote Ratten“ waren.
Tatsächlich hat wohl seit Joseph Goebbels kein deutscher Politiker so oft und
vehement „Bolschewismus“ als Schimpfwort gebraucht wie der Strauß.
Von dem (bzw. seinem engen Mitarbeiter Eberhard Taubert,
laut Spandauer Volksblatt der „gefährlichste und militanteste Antisemit des
Dritten Reichs“, der später den Verteidigungsminister Strauß als Berater für
„psychologische Kriegführung“ diente) hatte er es aber ja auch gelernt, das
Hetzen und Propagandisieren, und aus der Stellenbeschreibung seines Jobs als
„weltanschaulicher Referent“ beim Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps und
Offizier für „wehrgeistige Führung“ bzw. Nationalsozialistischer
Führungsoffizier (NSFO), der ausdrücklich nur für „fanatische
Nationalsozialisten“ vorgesehen war, dürfen wir ruhig schließen, daß er es gut
gelernt hat. Ein Faschist war er aber wahrscheinlich trotzdem nicht; die Kerle
nämlich, deren frühe Umtriebe er schon als Bub in der Maxvorstadt rund um den
Schellingsalon täglich erlebte, verachtete er ebenso wie alles andere, was die
wesentliche Eigenschaft entbehrte, die ihm das einzige und wichtigste Grundmerkmal
eines echten Mannes war: Stärke.
„Stark“ mußte beim Strauß alles sein, ein „starkes Bayern“,
geführt „mit starker Hand“ und so weiter und so fort, und die Urnazis waren das
bestimmt nicht, diese weichlichen Uniformprotze, von pseudosozialistischem Gedankengut
angekränkelt, womöglich homosexuell und am Ende nicht mal in der Lage, einen
windigen Krieg zu gewinnen. Den hat dann nachträglich er gewonnen, und dabei
kam ihm zugute, daß er eben kein Faschist, kein Demokrat und auch ansonsten von
keinerlei politischer Überzeugung auch nur im geringsten angehaucht war. Seine
Triebfeder, nein: sein Raketenmotor – unter dessen Trieb er, wie wir vermuten
wollen, nicht selten litt – war (neben dem wahnhaften Kult um die „Stärke“) nur
eines: eine maßlose, in alle Richtungen ausufernde und durch nichts zu
bremsende Gier nach Macht und Reichtum. Dafür ließ er alles andere liegen und
stehen, hat gelogen, betrogen, geschoben, gedreht, geschmiert, sich schmieren
lassen, und wenn ihm mal wieder einer draufkam und eine seiner zahllosen
„Affären“ (seit ihm der Fachbegriff für Verbrechen, die von Politikern verübt
werden) ans Licht brachte, war ihm das vollkommen egal, weil er moralische
Integrität und Anstand für Gesinnungspopeleien hielt, mit denen sich Weicheier,
Bedenkenträger und Sonntagsprediger herumschlagen mögen, aber keine starken
Führer.
So ging die Sache ihren Gang, so wurde aus dem
Metzgersburschen über die Einehelichung in die Unternehmerfamilie Zwicknagel
(er habe „gut, aber nicht sehr gut“ geheiratet, berichtete er einem Bekannten),
die Übernahme des Kommandos über eine regionale politische Organisation und ein
stetig wachsendes Netz von Händen, die ungeheure Geldsummen und sich
gegenseitig wuschen, in wenigen Jahren einer der reichsten Männer in ganz
Europa, der zum Zweck der Vermögensanhäufung nicht davor zurückschreckte, neben
diversen Diktatoren auch dem Oberkommunisten Mao die Pranke zu schütteln und
ein paar Milliarden Steuergelder in die kaputte DDR hineinzupumpen, um sie
unten wieder abzuzapfen. Ob der Strauß in seinem ganzen politischen Leben
jemals irgendetwas getan hat, woran er nicht mindestens kräftig mitverdiente,
ist vorläufig unbekannt. Daran mögen sich künftige Historiker Doktortitel
verdienen – wenn die Unterlagen und Quellen nicht längst von seinem Heer
gesichtsloser Schranzen und Höflinge vernichtet wurden und die entsprechenden
Archive jemals zugänglich werden.
Das alles ist nicht böse gemeint und auch keine Schmähung;
es dient lediglich der historischen Einordnung. Daß ein Großteil der älteren bayerischen
Bevölkerung noch heute instinktiv zum Beißreflex ansetzt, wenn das K-Wort fällt
oder irgendwo ein Plakat der Linkspartei hängt, verdanken wir ebenso dem Strauß
wie die fortdauernde Existenz einer ganzen Staatspartei von unfähigen,
überzeugungslosen Karrieristen, deren Treiben seit seinem Tod dem Versuch einer
Horde Dackel gleicht, sich selbst an der Leine Gassi zu führen.
Aber so ist's nun mal. Sehen wir's ein, nehmen wir's hin und
Schwamm drüber. Daß der Strauß nebenbei ein höchst intelligenter und beizeiten
witziger Redner war, mag uns trösten, und die Berge von Geld, die er aus dem
Land herausgesaugt hat und auf denen seine Familie bis heute herumsitzt, die
wird sich irgendeine künftige Generation schon zurückholen. Derweil gilt: über
die Toten nichts Schlimmes. Er ruhe in Frieden, der arme starke Mann.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.