Freitag, 22. Dezember 2017

Belästigungen 23/2017: Gemein: Schweinsbraten öffentlich geschlachtet (ohne schlechtes Gewissen)!

Als Mensch, der kein Fleisch ißt, hat man es manchmal nicht leicht. Das heißt: Man hat es selbstverständlich schon leichter als die Menschen, die Fleisch essen, weil man gesünder, friedlicher und ohne das dräuende schlechte Gewissen lebt, das viele Fleischesser mit sich herumschleppen, die deswegen auch bei jeder Gelegenheit betonen und beteuern, sie wollten ab jetzt oder ganz bald auch endlich kein oder jedenfalls viel weniger Fleisch essen, wegen der Umwelt und den armen Tieren und weil das doch alles ein Wahnsinn sei, diese industrielle Massenhaltung und so.
Das bleibt einem erspart, allerdings nicht ein anderes schlechtes Gewissen, das einen zwangsläufig überkommt, wenn man all diese Schwüre und Beschwörungen über sich ergehen lassen muß, immer verbunden mit dem zerknirschten Geständnis, man sei halt noch nicht ganz so weit und könne sich hin und wieder (was in solchen Fällen heißt: immer) einfach nicht beherrschen, wenn einem Wammerl, Ripperl, Lüngerl, Sülzerl, Würstl, Backhendl oder Omas wunderbarer Schweinsbraten vorgesetzt werde.
Man könnte diesen Menschentyp den Überzeugungs-Beinahe-Vegetarier nennen: Tagtäglich studiert er Zeitungsartikel und glotzt Fernsehsendungen, in denen ihm erklärt wird, was für ein gigantischer Skandal die Fleischproduktion und -fresserei ist, geht in sich und gelobt ganz arg Besserung, bis ihm vom vielen Geloben und Selbstzerknirschen der Trotzkragen platzt. Dann pfeift er auf die Halden von Bio- und sonstiger Gutmenschnahrung im Kühlschrank, zieht los und stopft sich Hamburger und Currywurst in die Wampe, kippt einen Schnaps hinterher und stimmt im Überschwang der Seligkeit Tiraden auf die blöden Körnerfresser und Kohlrabiapostel an, die ihm seinen Lebensgenuß vergällen wollen. Die sollen gefälligst ihr Tofugematsche nicht „Wurst“ nennen, weil wir ihnen sonst aufs Dach steigen, und wenn schon, denn schon!
Am nächsten Tag schleichen die armen Sünder dann wieder schwer bratenverkatert durch die Gänge der Biosupermärkte, legen Kürbis, Pastinake und Urkorn in den Korb und informieren sich eifrig über die Unterschiede zwischen Quinoa und Chia. Und so geht das immer weiter, ein Teufelskreis der abwechselnden Selbstkasteiung und Entgrenzung, dessen Anblick so mitleiderregend ist, daß man ihnen am liebsten sagen täte, sie sollten sich doch nach Herzenslust ihr Schweinernes hineinhauen, damit man wenigstens die abwechselnd schuldbewußten und hochmütigen Gesichter nicht mehr anschauen muß.
Es ist eine seltsame Geschichte mit dem Menschen und seinem Fleisch, das ihm so irre gut schmeckt, zumindest wenn es kein Gesicht hat und nicht mehr als süßes Tier erkennbar ist, von dem er aber gleichzeitig weiß, daß es einmal ein Gesicht und ein Leben und alles mögliche hatte, was er auch hat. Zum Beispiel hat mir noch nie jemand schlüssig erklären können, weshalb man ein Schwein selbst als Ferkelkind jederzeit verzehren kann, einen rein äußerlich (zumindest im gebratenen Zustand) sehr ähnlichen Hund jedoch keinesfalls. Oder eine Katze: freilich, die ist putzig, pelzig und possierlich, aber gilt das für Kaninchen etwa nicht?
Dann kommt die Sache mit dem Schlachten ins Spiel, das offenbar ein derart obszöner Vorgang ist, daß niemand was damit zu tun haben will (außer er leidet an komplett durchgeknalltem Midlife-Machismus und frißt sein Tier am liebsten roh, wenn nicht lebendig). Wieso können empfindliche Gemüter, wenn sie Zeuge der Tötung eines Huhns werden, die daraus produzierte Hühnersuppe nicht mehr genießen (oder frühestens drei Tage später)?
Zufällig meldet gerade heute die Boulevardpresse einen ungeheuerlichen Vorgang: Ein Metzger in einem Schweizer Dorf hatte angekündigt, er wolle „dem Publikum sein traditionelles Handwerk nahebringen“ und werde zu diesem Zweck auf offener Straße zwei Säue schlachten. Offenbar war sein Dorf nicht einstimmig gewillt, sich so etwas nahebringen zu lassen: Der örtliche Pfarrer protestierte ebenso wie Tierschützer, denen jedoch nicht etwa der Schutz der Tiere am Herzen lag, sondern vielmehr das Seelenheil der Fleischesser – nämlich wurde nicht der Mord an zwei fröhlichen Zeitgenossinnen bemängelt, sondern dessen öffentliche Aufführung. „Öffentlich darf eine solche Gewalt nicht gezeigt werden“, mahnte der Pfarrer. In Drohbriefen mußte sich der wackere Fleischhandwerksmann gar sagen lassen, er sei auch nicht besser als das Terroristengeschwerl vom IS, das ebenfalls öffentlich töte.
Immerhin „einige Dutzend Zuschauer“ wollten dann doch sehen, wie die „Schlachtung samt Zerteilung vollzogen“ wurde. Photographieren und Filmen durften sie allerdings nicht. Am Ende wären die grausen Clips als Selfie mit Darm o. ä. auf Instagram gelandet – nicht auszudenken, welche Auswirkungen das auf die Eßmoral gehabt hätte, als man sich hinterher in einem Festzelt versammelte, um schlachtfrische Blut- und Leberwürste zu verzehren. Aber glotzen, Blut spritzen sehen und ein letztes Gurgeln hören wollte man halt doch, vorher.
Zufällig fand sich in demselben Boulevardblatt die folgende „Meldung“: „Worüber unterhielten sich Vater und Mutter, der Sohn und seine Ehefrau in dem BMW X3? Waren sie vergnügt, oder fielen in dem schweren SUV laute Worte? Was hatten die vier Familienmitglieder vor, wenn sie ihr Ziel in Rosenheim erreicht haben würden? Was führte schließlich zu dem schweren Unfall auf der Autobahn A8 in der Nähe von Irschenberg? Auskunft wird nur der Vater geben können, wenn er von seinen schweren Verletzungen genesen ist. Denn die drei anderen Insassen des Autos sind tot – gestorben am Sonntagnachmittag an einem Baum, gegen den der BMW gekracht ist.“
Ich ahne, daß irgendwo in diesem widerwärtig schmalzig-seimigen Salm ein Indiz verborgen ist, um die Mixtur aus Verdrängung und Verfettung, Todesangst und Mordlust, Gaff- und Freßgier zu erklären, die den modernen Menschen nicht nur am Eßtisch plagt. Aber darüber weiter nachzudenken, fiele mir schwerer als eine rohe Rinderniere zu verzehren.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 14. Dezember 2017

Im Regal: Werner Fuld "Das Buch der verbotenen Bücher. Universalgeschichte des Verfolgten und Verfemten von der Antike bis heute"

Unter den vielen sinnlosen Betätigungen menschlicher Autoritäten ist das Verbieten von Schrift-, Ton- und Bildträgern vielleicht die sinnloseste. Wer erinnert sich nicht an den Reiz idiotischer Erotik, primitiver Krimibrutalität, grellbunter Comics, martialischer Militär-Science-fiction, den all diese (und andere) Sumpfblüten des Bücherregals einzig dem Umstand verdankten, daß die Eltern sie als Schund, Schmutz, als Quellen unausweichlicher Manipulation und Verblödung gebrandmarkt und die Lektüre, oft schon das bloße Herausziehen untersagt hatten? Die Frage, wie das Zeug überhaupt ins Haus gekommen war, stellte sich nicht, erforscht mußte es werden, und immer war das Ergebnis Ernüchterung: Von Spillane bis Perry Rhodan, von Hansrudi Waescher bis Henry Miller erwies sich fast alles als unlesbar, schlecht, mindestens langweilig, aber das änderte nichts am Reiz; der blieb und führte dazu, daß das Zeug später „Kult“ wurde, als zerfleddertes Original für ungeheure Summen gehandelt, in Plastikfolie konserviert gelagert, nachgedruckt in Werkausgaben mit Kommentar und Expertise.
Dort im Regal stand, zumindest bei uns, übrigens auch das Werk des vielleicht schlechtesten deutschen Schriftstellers aller Zeiten, das indes (im Gegensatz zu manchem Akim-Comic) nie seit seinem Erscheinen „richtig“ verboten war, jedoch unter Aufbietung aller Mittel der Buchkunst – Lederrücken, Eichenholzimitat, Goldschnitt sowie (o Ironie der bösen Absicht!) Schwabacher „Judenletter“ – so monströs häßlich gestaltet, daß einen die Lust auf auch nur kursorische Lektüre schon beim Anfassen verließ.
Mit Hitlers Schwarte ist die Sache eine etwas verschlungene, versucht doch etwa der bayerische Staat in Form seines Finanzministeriums als selbsternannter Inhaber der „Nutzungsrechte“ derzeit wieder einmal, eine der vielen „Studien“- beziehungsweise „Dokumentations“- und jedenfalls Geldmacherei-Ausgaben gerichtlich zu verhindern, was auf den ersten Blick angesichts der ubiquitären Verfügbarkeit so lächerlich erscheint, wie es ist. Sollen sie ihn doch lesen oder zu lesen versuchen, den Schund, möchte man spontan rufen und den Fall damit für erledigt halten; aber so ist das mit den Verboten und der Zensur: Sind sie einmal in der Welt, strahlt ihr Glorienschein auch von nachträglichen Erlaubnissen unbeschattet weiter.
Daß der Hitler damit in derselben Kiste landet wie Nabokov, Proust, Flaubert, ist ein weiterer Dreh der Ironieschraube, die mehr Windungen hat als der längste Stahlstift im Kasten des Mechanikers. Es scheint so gut wie nichts zu geben, was nicht irgendwann einmal von Pädagogen, Herrschern, Religionsfanatikern und anderen Dumm- und Wirrköpfen jeder Coleur, von Besorgten und Bösen, Aufrechten und Verlogenen verboten worden wäre, meist aus einer Gemengelage von Motiven heraus, die schwer zu entwirren ist; und es wäre all dies in seiner offensichtlichen Peinlichkeit, Paradoxie und Hilflosigkeit ein treffliches Feld des Amusements, wenn nicht so viel Blut, Elend, Wahn und Grauen daran klebte, wenn nicht neben den Büchern oft genug auch deren Autoren und notfalls Besitzer und Leser auf Scheiterhaufen gelandet oder wenigstens gefoltert, verjagt, drangsaliert, ruiniert worden wären.
Aber amüsieren tut sie einen halt doch, diese Geschichte, weil sie gar so überreich ist an Irr- und unfreiwilligem Witz, der damit, daß es die meisten verbotenen Bücher ohne Verbot längst nicht einmal mehr als ferne Erinnerung gäbe, erst beginnt und noch lange nicht mit dem Versuch der Nazis endete, eine ganze Schrift (siehe oben) zu verbieten. Dazwischen tummeln sich: Autoren, die ihre Werke aus Reue, Einsicht, Vorsicht oder übertriebenem Hang zur Selbststilisierung vernichteten (um wie Franz Kafka aus der Welt zu verschwinden oder wie Margaret Mitchell überhaupt erst in sie einzutreten), Fürsten, die Boten durch die Welt schickten, um sämtliche verfügbare Pornographie einzusammeln, sie sorgsammlerisch verwahrten und zugleich strengst verpönten, eine katholische Kirche, die jahrhundertelang dermaßen vehement am Indizieren war (und ist), daß sie sogar das Lesen der Bibel verbot und man sich fragt, wann die Leute überhaupt noch Zeit fanden, ihre Gottesdienste abzuhalten (daß sie Kant für schädlich hielten, Hitler jedoch nicht, ist nur angesichts der Masse verwunderlich). Oft ist kaum noch nachzuvollziehen, was die Verbieter ritt: Ovid rätselte selbst, weshalb ihn Augustus ans Schwarze Meer verbannte, aber alle seine Schriften anstandslos veröffentlichen ließ. Und dem wunderbaren italienischen Großzyniker Dino Segre alias Pittigrilli wäre es sicherlich noch nach seiner Bekehrung eine Epistel wert gewesen, wenn er miterlebt hätte, daß sein famoser Roman „Kokain“ nicht nur von den Nazis und ihren Erben verboten wurde (weil er geeignet sei, „die Phantasie junger Menschen in ungesunder Weise sexuell zu erregen“, wie es 1954 hieß, wobei man gerne wüßte, was darunter zu verstehen ist), sondern 1988 mal wieder auf dem „Index für jugendgefährdende Schriften“ landete – und zwar nicht etwa weil das Buch nur so staubt vor verbotenen Betäubungsmitteln, sondern unter Berufung auf das Urteil von 1933 und folgende Passage: „Er nahm mich, stehend, gegen eine Tür gedrängt, wie man einen Schmetterling durchbohrt.“ (Im Original: „come si trafigge una farfalla“ – wogegen die italienischen Faschisten nichts einzuwenden hatten.)
Ob Welt- oder Selbstbilder wanken (von Galilei bis hin zum Exbeziehungsgeschwiemel eines Maxim Biller), Jugend oder Staat gefährdet sind, Erregung jedweder Art, von Erektion bis Massenwahn, zu befürchten steht oder (wie im 18. Jahrhundert in China) Hirnschaden durch mindere stilistische Qualität – Gründe zum Verbieten, Ächten und „Hinrichten“ von Büchern finden sich immer, und wenn man mal anfängt, ist der Furor schwer zu bremsen. Werner Fuld, der uns einst per Bestseller erklärte, „warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen“, müht sich in einem gewaltigen historischen Bogen unter Aspekten wie „Politiker und Propheten“, „Unmoral und Diktatur“ und „Persönlich und privat“ um Ordnung und Erklärung, sitzt dabei aber passagenweise der selbsterfundenen „Bildungslüge“ auf und ergeht sich in Aufzählungen, die außer Ermüdung wenig bringen und auch mal über die Wahrheit hinwegfegen (wenn er etwa nahelegt, die Dominikaner hätten im Mittelalter Hexen verbrannt). Wo er ins Detail geht und panoramisch blickt, ist sein Buch spannend, lehrreich und schön zu lesen, trotz vielen kleinen Fehlern (etwa der völligen Ignoranz gegenüber der unterschiedlichen Bedeutung der Wörter „mehrfach“ und „mehrmals“). Vor allem aber ist es eine reiche Quelle von Absurdem, Skurrilem und Haarsträubendem. So trug etwa die erste Liste, die Grundlage der Bücherverbrennungen im Mai 1933 wurde, den Titel „Schöne Literatur“ und war mit dem Hinweis versehen, ob die bösen Bände „alle ausgemerzt werden müssen, hängt davon ab, wie weit die Lücken durch gute Neuanschaffungen gefüllt werden“ – da schrieben die volkstreuen Dichter wohl nicht schnell genug. Gerne liest man auch von der Bücherverbrennung in Düsseldorf 1965, von der Ungleichbehandlung teurer und billiger Ausgaben desselben Buchs (weil „Pornographie zur Masturbation anrege und dadurch die Leistungsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung geschwächt werde“, nicht jedoch die anderer Klassen), vom Bürgermeister des Städtchens Burgdorf, der Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ vorantrieb, indem er „Schweinkram“ wie das Buch „Bikini“ (in dem es jedoch nicht um knappe Badekleidung, sondern um Atombomben ging) aus der Stadtbibliothek entfernen ließ, und vom US-Bücherhasser Anthony Comstock (1844-1915), der sich der Vernichtung von 160 Tonnen bedruckten Papiers rühmte (weniger allerdings die etwas präpotente Anmerkung, jemand „hätte ihm beizeiten alle Knochen brechen sollen“).
Eine Gänsehaut befällt einen allerdings bei dem Furor, mit dem Fuld im 10. Kapitel über die DDR und ihre Literatur herfällt („was in der DDR veröffentlicht wurde, verdient diesen Namen nicht“). Das ist bei aller Legitimität auch der bösesten Kritik so unangemessen und peinlich, daß man befürchten muß, da habe etwas von den erwähnten chinesischen Zensoren auf den Autor abgefärbt.

geschrieben Ende Januar 2012 für KONKRET

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Belästigungen 22/2017: Natur, Kultur und Kürbisbrust (und noch ein paar so Sachen)

Neulich radelte ich an einem Reklameplakat für den Münchner Tierpark vorbei. Darauf zu sehen: eine Giraffe, hübsch sympathisch dreinblickend, und der Spruch „Papa, schau mal … ein Zebra!“
Da wurde mir die Krise erst bewußt. Eine kurze Recherche ergab, daß die heutige Jugend von der Natur so gut wie gar nichts mehr versteht. Die gestrige übrigens auch nicht unbedingt, mit galoppierend fortschreitender Tendenz: Nur ein Drittel der Sechst- bis Neuntkläßler weiß, wo die Sonne aufgeht, nur ein Viertel, daß sie Ende Juni am längsten scheint (die übrigen kriegen sie vermutlich sowieso nie zu sehen). Im Wald (den sie wohl nur aus Reklameplakaten im Supermarkt kennen), glauben die Kleinen, wachsen neben Äpfeln und Birnen vor allem Ananas, Mango und Banane. Den Größeren wiederum waren schon vor fünfzehn Jahren Pokemon-Monster vertrauter als irgendein Viech, das in ihrer Umgebung (sagen wir: hundert Meter) kreucht und fleucht.
Man nennt das (und vieles weitere) heute „Nature Deficit Disorder“ und macht sich Sorgen (oder nicht „man“, sondern ein paar schrullige Typen, die die Welt außerhalb der Bildschirme für interessanter und wichtiger halten als Börsenkurse, Wettbewerbsdrillspielchen und lebenslanges Training in Ausbeutbarkeit). Freilich: ein Kind, das sechzehntausend Apps kennt, aber nicht den Unterschied zwischen Zebra und Giraffe, ist ein armes Kind. Dem muß man helfen!
Die Erkenntnis ist nicht neu. Schon zu Zeiten meiner frühen Kindheit mühte sich die Erwachsenheit, besorgt über und aufgerüttelt durch unser fast monomanisches Interesse an italienischen Rennautos, Fußballspielern und (etwas später) utopischen Rißzeichnungen von Perry-Rhodan-Raumschiffen, uns beizubringen, wie eine Giraffe aussieht, ein Zebra, ein Löwe, ein Wolf und ein Elefant. Dazu schleppte man die Brut gerne in den Tierpark, wohin man nicht mal Donald-Duck-Hefte mitnehmen durfte (auch nicht mit dem Argument, da gehe es schließlich um Enten und Gänse).
Hingegen schwieg man schulischerseits (außer im Singunterricht) weitgehend von Amsel, Drossel, Fink und Star, gar Zaunkönig, Girlitz, Stieglitz usf. Pah, schien der Lehrplan zu sagen, bis ihr groß seid, ist das Kroppzeug sowieso ausgestorben! Außerdem kennen wir es selber nicht, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, neue Fahrwege für Rennautos zu bauen und Rißzeichnungen für Raumschiffe zu erstellen! Lernt gefälligst, daß Wasser eine Oberflächenspannung hat und bei hundert Grad zu Dampf wird, daß ein Motor durch Benzinexplosionen in Gang gehalten wird und das blaue Blechschild mit dem weißen Auto bedeutet, daß man hier nicht radeln darf! Was ihr über die Natur wissen müßt, erfahrt ihr per Käfig in Hellabrunn und sonntagvormittags von Dr. Grzimek.
Zusätzlich gedämpft wurde mein Interesse an der Natur, als ein sehr bärtiger Bekannter, ein Pionier der damals langsam sich wöllenden Grünen Partei (die übrigens rein gar nichts mit der heutigen Partei der Grünen zu tun hat; die hieß damals noch FDP, während es die heutige FDP damals gar nicht gab, weil noch niemand auf die Idee gekommen war, in der radikalen Marktdiktatur ein erstrebenswertes politisches Ziel zu sehen), – jedenfalls erklärte mir der Proto-Oköpax, eine Natur gebe es auf der Welt oder zumindest in Europa generell nicht mehr, das sei alles durch und durch Kultur.
Da fragte ich mich, was das nun sei, und erfuhr, daß man zu Zeiten der Nazis die urwüchsige deutsche Kultur (den kraftstrotzenden, Pflugschar und Streitaxt schulternden germanischen Stahlschädel und seine kürbisbrüstige Pomeranze mit dem gebärfreudigen Brauereiroßarsch) der verhaßten Zivilisation entgegengestellt hatte (hauptverdächtig: die verjudete Feingeisterei der dünnblütigen Intellektuellen). Andererseits sollte ausgerechnet der Goebbels gesagt (oder vielmehr: seinen literarischen Vor- und Mitdenker Hanns – gesprochen Hannnnnnß – Johst zitiert) haben, wenn er das Wort „Kultur“ höre, entsichere er seinen Revolver. (Erneut zitiert fand ich das Zitat dann bei Boris Vian, ironisch, aber egal.) Jedenfalls: von Natur keine Rede! So wurde mir schon als Bams zumindest halbklar, daß folglich auch der Tierpark alles andere als Natur zeigte, sondern vielmehr: Kultur.
Wie passend, daß ich das eingangs zitierte Tierparkplakat auf einem bunkerartigen Kleingebäude entdeckte, das von (vermutlich nicht der wirklich erwachsenen Generation zugehörigen) Graffitikünstlern bunt gestaltet war. Da stand um das Giraffenbild herum zwischen zielführendem Pfeilgewölk in modisch verschnörkelter Schrift, wie man die kulturisierte Natur richtig nach Begriffen sortiert: „Reich – Division – Klasse – Ordnung – Familie – Genius (sic) – Spezie (sic!)“.
Da scheinen sie auf, die Werte der deutschen Kultur: Reich! Ordnung! Familie! (Die „Klasse“ verweist vermutlich ideell nicht auf selbigen Kampf, sondern auf die Schule.) Nebenbei und ungehört zwitschert der notorische Störenfried dazwischen, in den letzten dreißig Jahren seien in selbigem Deutschland drei Viertel aller Insekten (gemessen als wirtschaftskonforme „Gesamtmasse“) ausgestorben und die meisten Vogelarten zumindest so selten geworden, daß eine normale städtisch-humanoide Arbeitsameise sie im Lauf ihres Lebens mit Sicherheit nicht ein einziges Mal in echt zu Gesicht bekommt. Was kümmert uns das? Immerhin wissen wir, daß eine Giraffe kein Zebra ist!
Auch mir, ich gestehe es, geht gelegentlich das Messer in der Hosentasche auf angesichts dessen, was sich in Deutschland „Kultur“ schimpft, was herausstinkt aus Fernsehgullis, Bierzelten und Knallheften an Dumpfgestampfe, Blödgeschwall, grellem Mist und biederem Odel, was an Reklamekunst und Kunstreklame zwischen die Autobahnen hineintrompetet wird, was häppchenschmatzende Krawattenheinis auf „Messen“ als „Literatur“ feiern, als wäre der primitive, in Schnellkursen an „Instituten“ zusammengeklopfte Schmonz mehr als schwarz betupftes Altpapier.
Andererseits frage ich mich aber, wozu der heutige Nachwuchs, der in einer Umgebung nachwächst, wo selbst im grünsten Grünstreifen nur noch fünf EU-genormte Pflanzenarten vegetieren und zehn Sorten Tierchen zwischen Industrieschornstein und Autobahnterror ihre traurigen Kreise drehen, – wozu der heutige Nachwuchs in einer solchen Welt wissen soll, wie man all das Zeug, das es früher mal gab, früher mal nannte? Wenn er das Glück hat, in einen Tierpark geführt zu werden, darf er immerhin ahnen, daß es schön war und daß selbst der traurige Rest, der davon noch übrig ist, schön ist, ganz egal, wie er heißt.
Und dann aber husch! zurück ins wirkliche Leben: vor den Bildschirm.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 9. Dezember 2017

Frisch gepreßt #402: Zugezogen Maskulin "Alle gegen alle"


Wir leben in großen Zeiten wirrer Analysen: Ein ganzes Land, ach was: ein ganzer Kontinent, ein Halbplanet fragt sich, weshalb in seinen Parlamentspalästen plötzlich Horden von geschniegelten bis rüpeligen Nazis und anderen rechtsextremen Grimmgesichtern und Brüllfratzen drinsitzen. Fragt sich aber nicht, wieso es/er die Banden erst so lange durch die mediale Bekanntmachungsklappermühle von Talk und News gedreht hat, bis sie als manifeste Wirklichkeit aus dem Beton und Asphalt seiner Straßen erstanden, und sie dann auch noch selbst da hineingewählt hat. Fragt sich auch nicht, was an den endlos wiedergekäuten Hohlargumenten so zeitgemäß und attraktiv sein könnte, daß sie mittlerweile aus allen übrigen Parteizentralen so blechern schrill herausschallen, daß das „Original“ dasteht wie eine Fichte im Brombeergestrüpp und dort links drüben, wo mal Vernunft, Debatte, Streit und eben Analyse ihren Ort hatten, eine gigantische Wüste gähnt.
Gesiegt hat die Dekonstruktion. Deren letztes Plätschern umspült den Einzelmenschen, der durch seine Biographie von Erstellung und Konsum rödelt und inzwischen so oft „Kapitalismus“ gesagt hat, daß er auch „Wurst“ sagen könnte. Wie ist er da gelandet, diesseits seiner/aller Träume? „Mein Zimmer war eng, klein und muffig. Punk war tot und das Lego verstaubt. Durch die Straßen dröhnte die Stille, und dann kam da dieser Sound.“ Gemeint ist: der blechmaskierte Brutalo-Rap der frühen Nuller, dessen Urzgurz-Stimmklang und Trotzbub-Attitüde in Grim104 und Testo lange nach Anstoß und Erweckung nachhallen – wie im Namen (vgl. „Südberlin Maskulin“, Fler/Godsilla 2008).
Aber die Faust im Kopf ist aufgegangen, hat sich gespreizt zu mindestens fünf Zeigefingern, dem Rührei-Hirn ist eine Sarkasmusdrüse gewachsen: „Ohne Staat und Kollektiv, wie schlägt man da die Zeit tot? Beisenherz, Dagi Bee, Snapchat, Psaiko.Dino“ und „Was sagt ihr zu 'Kollegah trägt Versace'? Schreibt's uns in die Kommentare. Dafür gingen meine Großeltern '89 auf die Straße.“ Sie hätten daheimbleiben können; die Wege des Geldes sind nur kürzer geworden. „Alles ist zum Kotzen, Mittelmaß wohin man sieht. Na ja, mit etwas Glück sterb' ich bald in einem Krieg.“
Ach ja, beim Kotzen schleicht sich erfahrungsgemäß der Moralische in den Hinterkopf, die Larmoyanz schaltet das Rücklicht ein, mit dem die Chimäre der gelogenen Chance kichernd davonbraust. Da kann man sich raushalten aus dem kollektiv wissenden Nicken der ausgeplapperten Influencer und Redaktionspraktikanten, eine Linie ziehen und sagen: Klar, aber nun ist's auch wieder genug.
„Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, doch wir haben vorgeblättert: Auf den nächsten Seiten wird das Scheißbuch leider auch nicht besser.“ Lächelt schon jemand? Lieber nicht: „Denn wenn ich sympathisch lächele und ihr Selfies mit mir macht, rast in mir mein Planet weiter finster durch die Nacht.“ Jetzt aber doch, gelt?
Es ist nicht immer die beste Option, dem Dröhnen der geistigen Stille etwas anderes entgegenzusetzen als wahre Stille, nämlich: noch mehr Dröhnen als umgekipptes Zerrbild des Faselns, der wirren Analysen, die auf beiden Augen blind bleiben, weil der Mund so weit auf ist. Aber manchmal hilft nichts anderes als das: Die Ironie so dick mit Stahl ummanteln, daß der Tumbkopf mitbrüllt und (sowieso) nicht merkt, was er da brüllt. Die anderen sind ja auch nicht besser, hauen sich nur anderes Zeug rein, machen was „mit Kunst“ und ersetzen in der Forderung „Wenn du hier rappen willst, laß' mich erst mal deinen Stammbaum sehen“ ein kleines Wort durch ein anderes.
Die Wüste ist weit, ja. 41 Minuten Zugezogen Maskulin reichen nicht aus, um in ihr sichtbarer zu werden als ein abstürzender Funksatellit aus vergessenen Modernzeiten. Sind u. U. auch ein paar Minuten zu viel, wenn die Zeigefinger aufdringlich werden. Aber hinterher folgt die Stille, und die schaltet zum Rücklicht die Frontscheinwerfer ein und bringt zumindest schon mal Helligkeit ins Dunkel: „In mir ist die Steinzeit und der Krieg und die Geilheit und der Trieb. Und die Angst, daß das irgendeiner sieht.“ Da sind die Zeiten schon kleiner, und vielleicht fangen wir zur Abwechslung mal wieder das Denken an. Und das Streiten.

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Dienstag, 5. Dezember 2017

Belästigungen 21/2017: Wo ein Und hingehört und wo ein Oder und wieso dann erst mal alles kleiner werden muß

Auf einem der Plakate, die zur Teilnahme an der unlängst absolvierten Wahlfarce aufforderten (erstaunlich erfolgreich übrigens, wenn man bedenkt, wie sinn- und zwecklos es für das Wahlvieh ist, sich für eine der identischen Verwaltungsorganisationen der Marktdiktatur zu entscheiden – aber das lassen wir mangels Anlaß heute mal, vorerst), – auf einem dieser Plakate, die nun, lange Wochen später, immer noch in Fetzen, Teilen und Trümmerschrott und hier und da (in unbewohnbaren Zonen unserer grundsätzlich trotz Gentrifizierungskrieg, Eventgebimse und Verkehrsterror immer noch recht schönen Stadt, etwa an den tödlichsten Abschnitten des Mittleren Rings) sogar intakt herumstehen und das Panorama (noch mehr) verunzieren …
Uff, wie komme ich aus diesem Gedankenfluß-Schachtelsatz hinaus? Gar nicht. Also noch mal neu: Auf einem dieser Plakate stand zu lesen, zwischen Wirtschaft und Umwelt gehöre „kein Oder“.
Da möchte man glatt eine grüne Partei gründen, um endlich klarzustellen und zu -machen, daß nirgendwo so dringend ein Oder hineingehört wie zwischen diese beiden Begriffe. Und zwar ein mächtiges, dringendes und drängendes Oder, breit und reißend wie der Oderfluß, der jeden Winter über Ufer und Dämme schwemmt und diversen Politikerdarstellern eine günstige Gelegenheit verschafft, sich als Weltenretter und Großorganisatoren zu inszenieren … Puh, der nächste Schachtelsatz! Jedenfalls tritt besagter Oderfluß gerade deshalb über seine Ufer, weil zwischen Wirtschaft und Umwelt niemand ein Oder hineinrammt, sondern immer nur ein Und, das nichts anderes bedeutet als „statt“.
Leider hat eine solche („grüne“) Partei schon mal jemand gegründet, um eben das – die Entfernung oder mindestens Fernhaltung aus der Umwelt und jedenfalls strengste Disziplinierung der Wirtschaft – zu erreichen. Und es ist so gründlich danebengegangen wie jeder andere Versuch, der alternativlosen Marktdiktatur eine „Alternative“ entgegenzusetzen, die in einer vernünftigen Welt keine Alternative sein dürfte, sondern zwingende Notwendigkeit sein müßte. Das alternativste, was die Marktdiktatur gerade noch zuläßt, ist eine linke Partei, die verspricht, die schlimmsten Folgen von deren Raubzügen ein bisserl abzumildern, wenn man es ihr erlaubt. Man erlaubt es ihr aber selbstverständlich nicht, wäre ja noch schöner.
Auf einem anderen Plakat stand (und steht, am Mittleren Ring), die AfD halte, was die CSU verspricht. Das ist wahrscheinlich richtig. Die CSU hält aber auch, was die CSU verspricht; ebenso tut das die CDU, die SPD, und es tun die Grünen. Die FDP sowieso, weil sie den Schmarrn schließlich einst in den 80er Jahren mit ihrem „Lambsdorff-Papier“ als gesamtgesellschaftliche Ideologie und Staatsreligion durchgesetzt hat: Wirtschaft, so lautet seitdem der Konsens, ist gleich Wachstum; es sei und werde deshalb Wachstum ist gleich Wirtschaft statt Umwelt.
Weil nun mal Herbst ist, wenn Wahlen sind, spricht das die Menschen offenbar an. Da stehen sie unter melancholisch ihr Laub herabweinenden Baumgerippen, bemitleiden gerupfte Vogelinvaliden und abgemagerte Eichkätzchen, die zwischen SUVs herumhumpeln und ein paar verstreute gebrannte Wiesnmandeln zusammenkratzen, blinzeln sehnend ins wolkengrau gefilterte Sonnenlicht, das an stetig schrumpfenden Tagen immer früher hinter den Wolkenkratzern am westlichen Stadtrand verdämmert, und wünschen sich herbei: ein Wachstum!
Weil es dann wieder schön wird! Weil dann im Dezember nicht nur der Oderfluß schwillt, sondern auch die Industrie brummt, die Sonne grellt und der Mensch bei fünfundzwanzig Grad zwar nicht im Biergarten sitzt, sondern am Leiharbeitsplatz, aber immerhin sich vorstellen kann, daß er dort jetzt sitzen könnte, anstatt nach getaner Wachstumsankurbelung durch Nieselregen und Nebelschleier zum ÖPNV-Modul zu hetzen, um rechtzeitig vor dem Fernseher zu sitzen, wenn die Pizza heiß ist und die Talkshow beginnt, in der ihm erklärt wird, wieso zwischen Wirtschaft und Umwelt kein Oder gehört, sondern ein schallendes UND, das STATT heißt.
Dabei ist Schrumpfen doch so was Schönes. Fragen Sie mal Ihre Hartz-4-Nachbarin, die zwischen zwei Sechsstundensessions auf dem Sofa mit Pralinenschachtel und Chipstüte immer mal die grellbunte Selbstertüchtigungsuniform anlegt und zehn Minuten lang ächzend und puffend das Erdreich im Englischen Garten verdichtet, um am Sanktnimmerleinstag auszuschauen wie die Promi-Zumsel auf dem Illustriertentitel an der Supermarktkasse, die grad mal wieder drei Zentner runtergespeckt hat. Oder fragen Sie die Katalanen, die Schotten, Wallonen, diverse Indianerstämme, Franken, Schwaben und vernünftige Altbayern, die genug haben von unaufhaltsam anschwellenden Großstaatenverbünden, in denen die nominelle Demokratie nur noch darin besteht, daß sie massenweise irgendwelche identischen Massenparteien ankreuzeln dürfen, die versprechen, das zu halten, was andere identische Massenparteien versprechen („Bayern stark für Deutschland“ oder andere hohlsinnige Schwachköpfigkeiten).
Wenn wir aus der unlängst absolvierten Wahlfarce und dem Herbst (und ein paar anderen Gegebenheiten) etwas lernen können, dann das: Klein ist gut, groß ist Mist. Masse, Macht und Manipulation sind blöd; Zwiegespräch, Ruhe und ein überschaubarer Horizont sind, ähem, die Vorstufe zum Paradies, und Schachtelsätze lassen wir weg. Und wenn uns dann noch mal jemand ein Protzplakat mit „Wirtschaft“ und „Umwelt“ vors Fenster stellt, dann schicken wir ihn an die Oder, zum Sandsäckeschichten. Weil dahinten nämlich schon der Dezember naht.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 1. Dezember 2017

Im Regal: Jürgen Teipel "Ich weiß nicht"


Es gibt ein paar typische Elemente, die einem das Lesen „moderner“ oder sagen wir: zeitgenössischer Literatur schon auf den ersten Seiten verleiden können, und das ist ganz unabhängig davon, ob der Autor behauptet, diese „Stilmittel“ absichtlich einzusetzen oder nicht: Ein Ich-Erzähler, der sich sofort, unumwunden und ohne Andeutung einer doppelbödigen Strategie als sprachlich restlos unbedarfter, phantasielos stammelnder Volltrottel zu erkennen gibt und dessen enervierende, mittlerweile durch Überbeanspruchung fürchterlich langweilige Angewohnheit, wirklich jeden winzigen Nebensatz durch einen Punkt abzutrennen, einem das Gefühl gibt, sich beim Lesen in ein körnerpickendes Wackelkopfhuhn zu verwandeln – das sind zwei solche Elemente, die man wohlwollend als „teipelsche“ bezeichnen könnte, weil der Autor dieses „Romans“ (der es netto auf höchstens 80 Seiten bringt) durch „Verschwende deine Jugend“ bekannt wurde, den 2001 stapelweise verkauften „Doku-Roman“ über ein paar Darsteller der Neuen deutschen Welle, und auch dieses Buch so klingt, als hätte er ein Treseninterview direkt vom Diktiergerät abgetippt – allerdings ein recht lustloses, bei dem der Befragte sich in jedem dritten Satz mit einem „eben“ oder „jedenfalls“ aufraffen muß, alten Quark noch mal aufzurühren, und sich nicht die geringste Mühe macht, mehr als vage anzudeuten, um was es überhaupt geht.
Das kann sich der Leser erst nach und nach ungefähr zusammenreimen: Ein paar Leute fahren zu einem Technofestival in Mexico City, legen da auf und machen so rum, und immer ist alles irgendwie „nett“ und „schön“ und „interessant“ – man sollte meinen, so was lese sich wenigstens während einer S-Bahnfahrt locker herunter, aber das vereitelt die sprachliche und gedankliche Armut des Textes, die einen nach jedem Kapitel verzweifelt zu einem Gegenmittel (einem wirklichen Schriftsteller, der erzählen will und Nebensätze bilden kann) greifen läßt, um nicht infolge literarischen Unterzuckers ins Koma zu fallen.
Kehrt man dann zu den drei eigenschaftslosen Pappkameraden und ihrem belanglosen Gewese und esoterisch angezuckerten Gerede zurück, stellt man fest, daß man praktisch alles Gelesene vergessen hat, und irgendwann stört einen das aber auch nicht mehr, empfände man ein Zurückblättern als Zeitverschwendung. Also: möglichst schnell durch bis zum immerhin schlüssigen Finale ("Kommt runter!") und ab ins Altpapier mit dem Ding, woraufhin man eingedenk der traditionellen „Heiligkeit“ von Büchern in Gedanken einen flammenden Appell an Deutschlands Verleger formuliert, sich doch endlich auf ihren Beruf zu besinnen und zumindest den Anspruch zu haben, nicht potentiell verkäuflichen Mist (entstanden, so ist zu vermuten, als auf den zugkräftigen Namen ausgerichtete Auftragsarbeit mit Abgabetermin, aber ohne jegliches Lektorat und ähnliches), sondern richtige Literatur zu veröffentlichen, um lesewilligen Menschen den Umgang mit neuem Druckzeug nicht restlos zu verleiden.
Denn wenn es das ist, was als „junge Literatur“ verkauft wird, versteht man auch die angeblich so virulente Lesemüdigkeit der nachwachsenden Generationen: Unterhaltsamer, bunter, lebendiger als das ist noch das billigste Online-Game.

geschrieben Ende Juli 2010 für KONKRET

Im Regal: Airen "Strobo" & "I Am Airen Man"


In Martin Amis’ Roman „The Information“ hat ein Schriftsteller die skurrile Idee, die Geschichte der Literatur als eine „der fortschreitenden Erniedrigung“zu betrachten: Mit dem sozialen/moralischen Abstieg der Romanfiguren (von Göttern über gestürzte Könige und besiegte Helden bis hin zum „Abschaum“) würden auch deren Verrichtungen („Plots“) banaler und nichtiger; gleichzeitig schreite die Kosmologie unaufhaltsam fort, vertreibe den Menschen aus dem Zentrum der Welt und lasse alles immer größer erscheinen (von Homers Bronzehimmel bis hin zur Unendlichkeit multipler Universen). Nötig sei folglich eine Verkleinerung, hin zum „Universum des bloßen Auges“.
Auf diesem Weg könnte uns die Blogliteratur ein Stück vorangebracht haben, allerdings führt sie auch hinein ins Universum, nein: den Sumpf des bloßen Plapperns, exemplarisch vorführbar an ihrem per Plagiatsskandal zum solchen gewordenen derzeitigen Hauptprotagonisten Airen: Dessen Erstling „Strobo“ besteht aus titelgemäßen Momentaufnahmen aus der Berliner Party-, Sex- und Selbstvernichtungsszene; es kommt garantiert nichts vor, was der Erzähler nicht (in unterschiedlichen Stadien der Betäubung) erlebt hat, und alles ist erzählt wie in einem Tagebuch, das man nur für sich schreibt – diese Unmittelbarkeit macht den Reiz des Textes aus, aber auch seine schwere Zugänglichkeit, weil Personen und Vorgänge in keiner Weise erklärt oder analysiert werden; sie tauchen einfach auf und sind wieder weg.
Was passiert, kennt man aus den einschlägigen Vorlagen und -gängern von Bukowski bis Christiane F.: Airen haut sich Birne und Körper voll, geht tanzen, schwurbeln und ficken, findet das Leben anflugweise scheiße und schwärmt zwischendurch in unfreiwillig komischer Reklamemanier von den Vorzügen des Techno. Ein Roman kann das nicht werden, weil alles immer gleich bleibt und in öder Dauerwiederholung auch schnell ermüdet, aber es fallen ein paar hübsche Episoden ab, in denen fast was von dem Witz aufblitzt, der etwa Thomas Kapielskis Suffodysseen so brillant macht. Leider fehlt es Airen an Ahnung von und Begabung zur Literatur, so daß die guten Momente nur zufällig gelingen und die dicke Suppe unironischer Angeberposen und -prosa („Ja, das flasht mich retro.“) alles ertränkt.
Aber „Strobo“, 2009 erstmals erschienen, ist skandalbedingt ein Erfolg, drum mußte nachgelegt werden. In „I Am Airen Man“ (dessen saudummer Titel zumindest bewirkt, daß Black Sabbaths „Iron Man“-Riff während der Lektüre im Kopf für rhythmische Unterhaltung sorgt) rödelt der Erzählerautor weiter in seiner Bedröhnungstretmühle herum, diesmal in Mexiko (wohin offenbar – vgl. Jürgen Teipel – die gesamte Technoelite fliehen mußte, um nicht in Duisburg zu landen). Leider waren beim Zweitling nicht fünf Jahre Zeit, sondern nur eines, um ein Büchlein zusammenzutippen, dem es daher an den zufälligen Höhepunkten des Vorgängers weitestgehend mangelt. So sind die knapp zwei Stunden, die man damit verbringt, letztlich ebenso verschwendete Zeit wie die, von der erzählt wird.

geschrieben Anfang August 2010 für Konkret

Im Regal: Christian Kracht "New Wave. Ein Kompendium 1999-2006

Darf man einen Menschen, den man nicht kennt, mit dem man nie ein Wort gesprochen, von dem man nur ein paar Texte gelesen hat, die ganz bestimmt und hoffentlich nicht zu seinen besten zählen, – darf man so jemanden einfach als dumm bezeichnen? Ich tue das jetzt mal: Ich halte Christian Kracht für einen furchtbar dummen Menschen. Einen, der in der Welt herumflitzt wie ein verbogener Brummkreisel, aber nirgends etwas erfährt. Einen, der wahrscheinlich wahnsinnig viele coole Bücher gelesen (oder durchgeblättert) hat, die er gerne selber geschrieben hätte (was er deshalb in einigen Fällen auch versucht). Einen, der sich für die schönste, klügste, wichtigste und individuellste Individualperson an jedem beliebigen Ort und überall hält und sich dabei in eine Aura von Ennui-Melancholie zu hüllen sucht wie in einen mannsgroßen Luftballon. Einen, der schreibt, als putzte und feilte er (die Augenbrauen knapp unter dem Scheitel, die Mundwinkel knapp über dem Knöpfkragen) alle fünf Minuten an seinem Gänsekiel herum, damit er auch schön glänzt und ihm keine Schande macht, wenn ihn ein zufällig hereinschneiender Bewunderer auf dem Stehpult ruhen sieht; einen aber, dem das Deutsche, seine Fein- und selbst manche grammatischen Grobheiten (vom Konjunktiv bis zur Metapher und zurück) so wenig bekannt sind wie mir die Einzelheiten der finnischen Dichtkunst des 14. Jahrhunderts.
Christian Kracht, von dem Kritiker manchmal vermuten, er schreibe „präzise“, „klar“ und „deutlich“ (gemeint ist vielleicht seine Vorliebe für grunddeutsche Adjektive wie „herrlich“ und „wunderbar“, für Bäche, die „wild strömen“, Pappeln, die „hoch aufragen“, für dies und das und jenes, das jeweils mit „schwarz“, „weiß“, „rot“, „gelb“, „grün“ oder eben „ganz herrlich“ erschöpfend dargestellt ist; versucht er hingegen, etwas genauer zu beschreiben, endet das unweigerlich in geradezu absurder Unbeholfenheit: Da werden dann „Figuren mit großer Anmut aus dem Holz gehauen“, oder es wird behauptet, „Pfefferkörner auf Salzhügeln“ seien mit „achtlos verteilten Felsen besprenkelt“, und das Ganze sei Afghanistan); – dieser Herr Kracht hat in sein Archiv gegriffen (dessen Gegenpart im Marktwainschen Haushalt aus Weidenzweigen geflochten war) und einige liegengebliebene oder schon mal gedruckte Texte hervorbefördert, sie zu einem „Kompendium“ zusammenbrimborisiert, diesem (das ein solches selbstverständlich nicht ist) einen abwegigen, aber plakativen Titel verpaßt (der, ich gestehe es, auch mich neugierig gemacht hat) und dem Verlag eine unkonventionelle, coole Aufmachung aufgetragen. Und wir kriegen solcherart ein Buch mit ein paar Reisereportagen (die an jedem beliebigen Ort der Welt spielen könnten und so gierig ins Terrain des Kitsches hineinragen, daß einem anständigen Autor beim Schreiben schlecht geworden wäre, nicht erst wenn er deutsche Hippies der frühen Siebziger als „langhaarige Soldaten der Liebe und des Friedens“ bezeichnet), einem unerträglich langen, höhepunktfreien Boris-Vian-Abklatsch, dem zur Parodie jeglicher Anflug von Lustigkeit und Witz (nebst einem Anlaß) fehlt, einem „Gespräch“ mit dem Ex-Popautor und heutigem WamS-Schreiber Bessing, ein paar belanglosen Briefwechseln. Und noch ein paar Sachen. Man wird darüber reden, „Polylux“ wird sicherlich ebenso sich äußern wie „TTT“ und „Aspekte“, und kaufen wird man’s eh. Der eine oder andere wird mal wieder anmerken, daß Krachts Worthaufen nichts enthalten und ausstrahlen als belangloses Gelaber und völlige Leere; der eine oder andere wird dagegenhalten, das sei ja gerade „der Punkt“: Daß einer so was macht, sei doch „bezeichnend“ und mache es „relevant“. Man könnte feststellen, daß das Unfug ist und die „Relevanz“ nur daher rührt, daß er es öffentlich tut. Das aber ist ein Problem der Verlage und der Medien.
Lesen jedoch braucht das Zeug niemand; es macht (abgesehen von den vielen Stilblüten) weder Spaß noch Erkenntnisgewinn, sondern faden Einton und Überdruß, und so landet das Buch besser vorher als nachher dort, wo es hergekommen ist: im Weidengeflecht oder einem seiner modernen Verwandten.

geschrieben Anfang Januar 2007 für KONKRET