Dienstag, 22. November 2016

Belästigungen 22/2016: Von Götterbäumen, grünen Enten, furzenden Nashörnern (und dem Satan tief im Osten)

In meiner späten Kindheit bestand eine unserer Hauptbeschäftigungen darin, auf den Rücksitzen von Autos zu lümmeln und uns gegenseitig in den Oberarm zu zwicken, sobald wir eine grüne Ente erblickten (für Spätgeborene: dabei handelt es sich nicht um einen Vogel, sondern um ein schon damals bezaubernd antiquiertes Automobil, das motortechnisch Kundige als „Schnauferl“ bezeichneten und das angeblich gelegentlich in Kurven umkippte). Dabei erfuhr ich ein seltsames Phänomen: Vor Einführung dieses Rituals wußte ich gar nicht, daß es überhaupt grüne Enten gab, und nun wimmelten sie plötzlich in ganz München herum, als hätte jemand in ein Nest gestochen.
Man hat mir erklärt, das habe mit Aufmerksamkeit zu tun: Man bemerkt manche Sachen erst, wenn man sie einmal bemerkt hat. Ähnlich ging es mir neulich, als mir ein Freund von dem Götterbaum in seinem Garten erzählte: Der sei zwar recht hübsch anzuschauen, aber giftig und äußerst allergen. Sein Holz tauge weder zum Bauen noch zum Heizen, allerhöchstens habe die Rinde chinesischen Wunderheilern zufolge eine „adstringierende“ Wirkung, was laut Lexikon „zusammenziehend“ bedeutet – nun ja, das ist was für hoffnungsfrohe Jungpärchen mit Kinderwunsch, die sich allerdings für gewöhnlich kaum mit Baumrinde einreiben müssen, um ihre illusionäre Verblendung zu intensivieren.
Vor allem aber zählt der garstige Baum zu den schlimmsten invasiven Neophyten, weil er aus Sicht des heimatpflegerischen Botanikers einfach nicht hierher gehört, dies aber partout nicht einsehen mag, sondern alles andere zuwuchert. Wenn man ihn umsägt und mit Hacke und Spaten die Wurzeln atomisiert, hilft das auch nichts, weil er ein paar Schritte weiter mit doppelten Elan und dreifacher Widerborstigkeit erneut aus der Grasnarbe schießt, und am Ende sitzt man in einer riesigen Baustelle, kratzt sich die Pusteln wund und darf sich noch verlachen lassen von dem Kerl.
Da ging es mir genauso wie mit den grünen Enten: Von einem Götterbaum hatte ich bis dahin nie gehört (selbst der Freund hatte erst nach eingehenden taxonomischen Studien ergründet, daß es sich um einen solchen handelt). Jetzt, wo ich es weiß, kann ich keine zehn Meter radeln, ohne mindestens drei Götterbäumen zu begegnen, die in ganz München aus praktisch sämtlichen Ecken, Nischen, Ritzen und Winkeln herausploppen wie der Sparrige Schüppling aus dem Fundament meiner altersschwachen Espe. Oder sagen wir für weniger Pilzkundige: wie die Immobilienbüros aus den Parterre-Etagen sämtlicher Münchner Bauwerke. Das ist nämlich eine durchaus ähnliche Erscheinung und ungefähr ebenso erfreulich.
Noch vor wenigen Jahren okkupierte die schrillbunte Armada der Telephondantler flächendeckend ehemalige Bäckereien, Metzgereien, Obst-, Milch- und Schreibwarenläden und hoffte offensichtlich darauf, daß im Jahr 2020 jeder Münchenbewohner vierzehn Händis mit sich rumschleppen und für seine diversen Null-Euro-Flatrates trotzdem irgendwie genug bezahlen würde, um ihnen in den ebenfalls neuen, nebenan kohabitierenden Thai-Dampfküchen eine ausreichende Kalorienzufuhr zu ermöglichen.
Eine Milchmädchenrechnung, freilich. Heute sind die Thaiküchen zu ultraveganen Trendfoodapotheken mutiert, wo sich die modische Mittelschicht zum zehnfachen Preis mit weitgehend denselben Zutaten plus drei Salatblättchen die Magenwände tapeziert, während nebenan in den ehemaligen Händiläden die Schaufenster zugeklebt sind mit amateurhaft-grieseligen Schnappschüssen von Betonsilos und Luxusbunkern, die zu Millionenpreisen als Traumwohnungen offeriert werden. Da stehen die gestylten Streßsklaven dann davor und träumen von einer anderen Welt, in der sie so was dank eifriger Arbeitsleistung irgendwann bezahlen können.
Und wir stellen fest, daß es in München offenbar dermaßen viele freie Wohnungen gibt, daß sich selbst im hintersten Giesing das Betreiben einer Vermittlungsstelle für grotesk überteuerten Leerstand lohnt. Kauft so was wirklich jemand, fragen wir uns, und: Wieso fällt uns das jetzt erst auf? Weil aus den Ritzen im Pflaster vor solchen Läden besonders gerne Götterbäume sprießen und drei Meter weiter die letzte grüne Ente des Voralpenraums parkt?
Der Grund ist wahrscheinlich, daß wir auf derartige Phänomene normalerweise kaum achten können, weil wir nur eine Aufmerksamkeit haben und die ständig abgelenkt wird. Von Sachen, auf die man gar nicht extra achten muß, weil sie sich selbsttätig ins Hirn hineinhämmern. Nämlich ist es Wissenschaftlern zufolge so, daß der Mensch, wenn er erst mal lesen gelernt hat, an schriftlichen Botschaften absolut nicht mehr vorbeikommt, ohne sie aufzusaugen. Weil München wie die meisten deutschen Städte lückenlos vollgestellt ist mit den Verlautbarungskästen der offiziellen Propaganda, werden deren Botschaften zwangsläufig in unser Hirn förmlich hineingestempelt, und wir müssen uns notgedrungen mit den aktuell „wichtigen“ Parolen auseinandersetzen: Tief im Osten lauert der finstere Satan Putin, der die Welt ins Chaos reißen will, und wer im Alter nicht darben möchte, muß dringend „privat vorsorgen“, weil die staatliche Rente nicht reicht. Dazu die üblichen Beilagen von zerstückelten Jungfrauen, heldenhaften Fußballprofis und Einkaufstips.
Weil sich ein einigermaßen funktionstüchtiges Hirn die Dauerpenetration mit derartigem Bullshit nicht bieten läßt, fängt es automatisch an, dem Terror mit vernünftigen Argumenten entgegenzudenken, wird dabei aber unterbrochen von den Nachfahren der grünen Enten, den Protzautos der Machtelite, die beim ameisenartig ungeduldigen Dahinbrettern röcheln wie ein kaputter Starfighter und an jeder Ampel furzen wie ein darmkrankes Rhinozeros, das gerade fünf Zentner rohe Feuerbohnen verzehrt hat (womit übrigens nichts gegen die Tiere gesagt sein soll: Daß hinter deren Nasenhörnern mehr Intelligenz und Empathie zu finden ist als im Schädel eines durchschnittlichen Porschefahrers, weiß ich sehr wohl).
Und so wuseln und irren wir durch die von Götterbäumen zugewucherten Schluchten der Stadt, im Kopf ein einziges Wischiwaschi aus Rente, Putin und Autofürzen, und stellen alle paar Monate fest, daß irgendwas vollkommen anders geworden ist, was gerade noch vollkommen anders war. Vielleicht sollten wir uns öfter in den Oberarm zwicken.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 5. November 2016

Belästigungen 21/2016: Wer holt den Donald da raus, bevor es zu spät ist?

Ich kann mich an keine Sekunde in meinem ganzen Leben erinnern, in der ich Lust gehabt hätte, mich mit Donald Trump zu beschäftigen.
Was ich in meinen Jahren als Fernseh- und Zeitungskonsument ungefragt über den Kerl vorgesetzt bekam, genügte bei weitem: rassistische Tiraden, frauenfeindliches Gewäsch, zwielichtiges bis kriminelles Milliardengescheffel, kapitalistischer Größenwahn, offensiv zur Schau getragene Vollidiotie und impertinente Großmaulerei, Misswahlengeschwiemel, Verblödungs-TV, allgemein und insgesamt mangelnder Anstand, absichtlich herbeigeführte Unansehnlichkeit bei gleichzeitiger maximaler Medienpräsenz, und dann ist er auch noch Nichtraucher und trinkt keinen Alkohol.
Nein, für so was ist die fadeste Zeit zu schade; da versucht man lieber, Semmelbrösel an die Wand zu nageln. Aber es hilft ja nichts – wenn die Medien erst mal entschieden haben, daß uns etwas zu interessieren hat, kommen wir dem nicht aus. Und seit der Enkelsohn der deutschen Familie Drumpf nach 2000 zum zweiten Mal beschlossen hat, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, die man auch hierzulande so stur als „Amerika“ bezeichnet, als hätte es Argentinien, Brasilien, Kuba, Ecuador, Kolumbien, Kanada, Kuba, Paraguay, Panama, Guatemala und ein paar andere Länder nie gegeben, entkommt man ihm buchstäblich keine Sekunde mehr. Kein zufällig aufgeschnapptes Straßengespräch, in dem es nicht um ihn geht, keine zehn Zentimeter Facebook ohne ihn.
Klar, möchte man meinen, schließlich ist Wahlkampf, oder nicht? Schon, aber ein solcher fand dieses Jahr auch in Portugal, Uganda, Siribati, der Slowakei, Benin, Kongo, Südkorea, Sambia, Gabun, Estland, Peru, Island, Australien, Japan usw. usf. statt, und wer von sich behaupten kann, auch nur die wichtigsten Kandidaten aufsagen zu können, der sollte sich beruflich in Richtung Kreuzworträtsel orientieren. Und auch wenn man konzedieren muß, daß die USA für uns von größerer Bedeutung sind als die Zentralafrikanische Republik – schon weil letztere weder McDonald's noch Pepsi erfunden und nie vorhatte, in Europa einen Atomkrieg zu führen –, erscheint der Rummel doch ein bißchen übertrieben.
Wenn man genauer hinschaut, kriegt die sturmflutartige Vehemenz, mit der gewisse Medien insbesondere in den letzten Wochen gegen den Kandidaten Trump kämpfen und agitieren, einen unguten Schimmer, und wenn man auch nur peripher verfolgt, wie der Mann mit geradezu heroischem Eifer in jedes noch so unwahrscheinliche Fettnäpfchen hinein trumpt, fragt man sich unwillkürlich, was der eigentlich vorhat.
Es wäre nicht das erste Mal, daß die USA von Narren und Trotteln regiert werden. Andererseits sind, sagen wir mal: mächtige Kreise schon seit vielen Jahren emsig bemüht, endlich Hillary Clinton zur Präsidentin zu machen, um die ihrer Ansicht nach unter Barack Obama geringfügig ins Stocken geratene Expansions- und Kriegsmaschinerie wieder so richtig losrasseln zu lassen. Schließlich hat Clinton als Außenministerin am Exempel Libyen schon mal gezeigt, wie man einen ganzen Erdteil ins lukrative Chaos stürzt, und deutlich gemacht, daß sie einer „Auslöschung“ des Irans und einem Krieg gegen Rußland und China nicht im Weg stehen wird.
Pech für die mächtigen Kreise, daß Hillary Clinton aufgrund von Gründen noch vor Gundel Gaukeley so ziemlich die unbeliebteste Frau der ganzen Welt und speziell der USA ist. So was, lautet der Konsens, kann man höchstens zähneknirschend als „kleineres Übel“ wählen, um ein schlimmeres Übel zu verhindern (was absolut widersinnig, völliger Quatsch und trotzdem nicht nur in den USA üblich ist: Wer kann sich noch erinnern, wann oder ob er irgendwann mal etwas gewählt hat, was nicht nur das „kleinere Übel“ war?). Also mußte ein Gegenkandidat her, der Clinton als „kleineres Übel“ erscheinen ließ. Ideal wäre ein kaputter Regenschirm, ein zwanzig Jahre alter Cheeseburger oder Adolf Hitler gewesen, aber die standen leider nicht zur Verfügung, und beim Hitler wäre die Kiste nicht mal richtig sicher gewesen.
Und hier kommt Donald Trump ins Spiel, alter Freund und ehemaliger Parteigenosse der Familie Clinton, den sein Kumpel und Golfpartner Bill kurz nach Bekanntgabe von Hillarys Kandidatur anrief und ermunterte, sich doch ein bißchen mehr bei den Republikanern zu engagieren. Der Tip kam Donald gerade recht, schließlich war er sowieso der Meinung, daß man ihm für seine windigen TV-Shows viel zu wenig Millionen in den Hintern butterte, und brauchte, um den Produzenten gegenüber effektiver auftrumpfen zu können, ordentlich Medienpräsenz. Zimperlich war er nie, und so schien es ihm die pfundigste Idee, mal so nebenbei zu verkünden, er werde der nächste oberste Führer der mächtigsten Nation des Universums.
Freilich hatte Trump weder ein Wahlkampfteam noch die nötige Infrastruktur, geschweige denn Redenschreiber oder überhaupt ein Manuskript und eine Ahnung von irgendwas. Aber das war ihm offenkundig wurst, schließlich wollte er ja nur mal wieder von Millionen bewundert und mit Milliarden beworfen werden und so richtig geil die Klappe aufreißen. Also plärrte er los, und Kameras und Schlagzeilengeneratoren konnten gar nicht genug kriegen von dem Veitstanz, den er seit letztem Sommer aufführte. Man kringelte sich vor Verblüffung und Lachen, kicherte über seine außerirdische Explosionsfrisur und den blühenden Bullshit, den der unbeherrschbare Polterer in die Welt setzte, ohne sich darum zu scheren, daß er sich mit jedem zweiten Satz selber widersprach.
Die mächtigen Kreise konnten sich derweil beruhigt zurücklehnen. Den innerparteilichen Widersacher Bernie Sanders würde man mit den üblichen Methoden aus dem Weg räumen, und da sie ebenso gut wie Trump selbst wußten, daß ein dermaßen wirrer Wüstling niemals gewählt werden konnte, schien der Weg frei für die Wunschkandidatin des militärisch-industriellen Komplexes zwischen Wall Street und Pentagon.
Allerdings wurden aus der blasierten Siegesgewißheit sehr bald kalte Füße und noch kälteres Entsetzen, als die vermeintliche Schießbudenfigur in den Vorwahlen einen Triumphzug hinlegte und zum meistgesendeten Promidummi der Fernsehgeschichte wurde, weil sich mit einem Schuß Trump noch der fadeste Vormittagsmüll zum Blockbuster aufblasen ließ. Der frisch gekürte Kandidat badete im Narzißmus und pfiff auf seine ursprüngliche Absicht, aus den Sendern ein bißchen mehr Geld für seine Shows herauszuleiern – schließlich war er jetzt Sonnenkönig Donald I. und der umjubelte Superstar jeder Fernsehshow des gesamten Planeten!
Bis ihm eines Tages (genauer gesagt: am 7. Juni) klarwurde, daß die Sache einen Haken hat: Es schien nun nämlich durchaus möglich, daß er die Wahl tatsächlich gewinnen würde. Dann wären erstens Hillary und ihre mächtigen Kreise mächtig sauer, und außerdem müßte er dann zumindest nach außen hin so tun, als beschäftigte er sich mit einer Art Politik, – und für vier Jahre in diese windige alte Bruchbude im Ghetto von Washington ziehen!
Und seitdem macht Donald Trump alles falsch, was man falschmachen kann, legt sich mit jedem an, der ihm einfällt – zuletzt besonders intensiv mit der eigenen Partei. Ein nicht zu überhörender Hilferuf: „Holt mich hier raus! Stoppt diesen Wahnsinn! Und tut es vor der Wahl, damit ich nicht am Ende als Verlierer in die Geschichte eingehe, sondern mich mit gestrecktem Mittelfinger und einem kernigen 'Fuck you!' verzupfen kann!“
Warten wir mal ab, ob das Establishment dieser durch und durch verfaulten Partei genügend transatlantische „Qualitätsmedien“ liest, um rechtzeitig ein Einsehen zu haben und die Notbremse zu ziehen. Andererseits ist äußerst zweifelhaft, daß Hillary Clinton wirklich das „kleinere Übel“ darstellt, und wenn ich mich recht erinnere, habe ich noch in keiner Sekunde meines ganzen Lebens Lust gehabt, mich mit ihr zu beschäftigen. Aber wenn sie endlich erfolgreich ins Weiße Haus hineingepreßt ist, muß man das ja auch nicht mehr – zumindest bis der Krieg losgeht.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 4. November 2016

Frisch gepreßt #377: Leonard Cohen "You Want It Darker"


Auf manche Dinge kann man sich blind verlassen. Wenn zum Beispiel die Jury des Literaturnobelpreises beschließt, mal wieder so richtig mit ihrer Offenheit und Vielseitigkeit aufzutrumpfen und endlich dem größten Songpoeten (mindestens) des 20. Jahrhunderts die Sprengstoffmedaille um den Hals zu hängen, dann erwischt es selbstverständlich mal wieder den falschen.
Was nichts gegen Bob Dylan heißen soll, der hat sicherlich seine Meriten (und wenn der Buchmarktschreier Denis Scheck dagegen ist, kann ich nur dafür sein). Es ist, was mich betrifft, eher eine Frage spätjugendlicher Prägung und in diesem Sinne sogar großes Glück: Unter den Trägern dieses seltsamen Preises waren in den letzten 116 Jahren ziemlich genau zehn, von denen ich schon mal mit Freude oder wenigstens Geduld was gelesen habe, und dafür aber Luschen und Krampfsteller galore, was vor allem im neuen Jahrtausend dazu geführt hat, daß ich Nobelpreisbücher grundsätzlich meide und hoffe, daß keiner meiner Lieblingsautoren das Ding kriegt.
Es ist aber auch eine Frage der frühkindlichen Prägung: In unserem Haushalt gab es eine spektakulär bunte Langspielplatte mit einem Hippie auf dem kopfstehenden Coverbild, die vor der Emanzipation durch Glam, Prog und Punk ein wesentlicher Bestandteil meiner musikalischen Grundnahrung war. Das Album hieß „That's Underground“, und da waren außer manch obskurer Band, an die sich außer mir wahrscheinlich kaum noch jemand erinnert (wie wär's mit The United States of America?), auch zwei Songpoeten drauf: Dylan und Leonard Cohen.
Während mich Dylans „Highway 61 Revisited“ damals schmerzlich an eine Zahnarztbehandlung erinnerte, war „Suzanne“ die erste und wichtigste Ballade meines Lebens. Es war das erste Lied, das ich auf der Gitarre spielen konnte, und es hat mich über die Jahrzehnte begleitet, ohne je einen Hauch seiner Wirksamkeit einzubüßen. Diese eigentümliche Mischung aus Demut und Hoffnung, Gelassenheit und glühender Trauer, Melancholie und Bescheidenheit, diesen Kranz von schlichten Worten, aus dem tausend Geschichten entspringen, die doch immer nur eine sind, eine uralte, die vielleicht älteste von allen – das bekam kein anderer Künstler der Welt und aller Zeiten je auch nur annähernd hin.
Im Gegensatz zu Dylan ist Cohen tatsächlich Dichter – er war es schon, bevor er Musiker wurde, mit 33, um nicht zu verhungern. Und eigentlich ist er nie ein richtiger Musiker geworden: Klangliche Fehltritte wie das fürchterliche Phil-Spector-Album „Death Of A Ladies' Man“ (1977) und das Synthesizergezicke der späten 80er und frühen 90er lenkten aber höchstens ab vom Kern dessen, was seine Kunst ausmacht: der Poesie, die in späteren Jahren zusehends düster und schwermütig wurde und nun ein Ende in fast schwarzer Dunkelheit erreicht hat.
Es ist die Dunkelheit einer verlorenen Welt und eines vergeblichen Lebens, in der „Millionen Kerzen brennen für die Liebe, die nie kam“. Cohen ist 82 Jahre alt, im Juli ist seine Lebensliebe Marianne, die zwei seiner schönsten Lieder inspirierte, gestorben, und Cohen hat ihr in einem Brief ohne Empfänger versprochen, bald zu folgen. Diese Erde, das spürt man vom ersten Atemzug des Titelsongs über die unmißverständliche Zeile „I'm ready, my Lord“ bis zum letzten Ton von „String Reprise/Treaty“, trägt ihn nicht mehr, und die Welt, der er nachtrauert, hat es vielleicht nie gegeben: „If you are the healer/I'm broken and lame/If thine is the glory/Mine must be the shame.“
„You Want It Darker“ wird Leonard Cohens letztes Album bleiben, und es ist ein würdiger Schlußstein, sparsam, aber höchst geschmackvoll und stilsicher instrumentiert und orchestriert, mit choralen Gastbeiträgen, die Gänsehäute verursachen, weil die ganze Zeremonie in neun Songs nie daran zweifeln läßt, auf was sie unausweichlich zugeht: auf das Ende. Diese Gewißheit ist furchterregend, stellenweise spürt man den Zorn des Mannes mit der ultraabgründigen Grabesstimme, der alles, wovon er erzählt, in die Vergangenheitsform stellt. Vor allem aber ist anrührend, wie abgeklärt, friedlich und ruhig er all das beschwört, was nicht mehr ist und nie mehr sein wird. Und das, was ist: Angst, Vulgarität und Wahn, die eine Welt am Laufen halten, in der Mitgefühl keinen Platz mehr hat. Das Motiv des Abschiednehmens kehrt immer wieder, es ist das Herz dessen, was einen bewegt, der nicht mehr kann und nicht mehr will. Dieses Album ist denn auch der würdigste, bewegendste Abschied, den man sich nur vorstellen kann. Hoffen wir, daß nicht doch noch jemand auf die Idee kommt, Leonard Cohen einen Nobelpreis anzukleben, und danken wir ihm: für sein Leben.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.