Dienstag, 30. Juli 2013

Aufgewärmte Gedanken zu zufälliger Lektüre (1): Christian Kracht "Imperium"


Ich höre zur Zeit gerne alte Platten von The Clash und frage mich, woher das kommt. Vielleicht wegen der nostalgischen Sehnsucht nach Zeiten, als Popmusiker noch die Frage diskutierten, ob im Fall der allfälligen Revolution das Faulobst der Bourgeoisie, mithin: Leute wie Christian Kracht, an Bäume oder Laternen zu knüpfen sei.
Mag auch sein, daß es mit dem „Clash of Critics“ zu tun hat, der seit Wochen durch die Feuilletons tobt und (angeblich) dieses Buch betrifft. Die Textmenge, die diesbezüglich gedruckt wurde, übertrifft längst das Buch selbst, täglich schwillt sie an, und immer ist darin vor allem vom Autor die Rede. Der sei wahlweise Rassist, Genie, Kampagnenopfer, Plagiator oder, meistzitiert, „der Türsteher der rechten Gedanken“, was ein derart mißratenes Bild ist, daß es einem die Nasenhaare krümmt – „die rechten Gedanken“ wären also eine Art Discothek, „nur für Stammgäste“ oder wie?
Egal. Wen solche „Diskurse“ interessieren, der kann sich seine Meinung aus einem reichhaltigen Menü wählen oder eben bestätigen lassen. Dazu später mehr.
Ein Buch hat indes das Recht, gelesen zu werden ohne daß es für die nebenberuflichen Kapriolen seines Autors geradestehen muß. Also was ist dies für ein Buch? Zunächst einmal ist es ein Imitat, und zwar ein erstaunlich freches. Man meint, da hätte ein Lektor seinem inspirationslosen Autor Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“ in die Hand gedrückt: „Such dir doch mal irgendeinen kuriosen historischen Sonderling und schreib mir so was!“ Das Thema war schnell gefunden: Der Zivilisationsflüchtling August Engelhardt, der 1902 auf der Südseeinsel Kabakon einen nudistischen „Sonnenorden“ gründete, um den Menschen durch ausschließlichen Verzehr von Kokosnüssen zu vergöttlichen, war in den letzten Jahren Thema mancherlei Bücher und Dokumentationen, und wie auf Kommando hat sich auch schon Marc Buhl, Autor des 2011 erschienenen Romans „Das Paradies des August Engelhardt“, gemeldet und Spalten für seinen Vorwurf freigeräumt bekommen, Kracht habe allzu guttenbergisch von seinen erzählerischen Ideen genascht, ohne sich im Nachspann zu bedanken. Zudem kommt die Figur des Autors notorischer Neigung zu exotischen Reisezielen in mancherlei Hinsicht entgegen; aber da wären wir schon wieder bei Sainte-Beuve, lassen wir’s also, vorläufig.
„Imperium“ ist auch eine Parodie auf die Reise- und Abenteuerliteratur der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende, auf Sealsfield/Postl, Karl May et al., zieht nebenbei immer wieder (notwendigerweise unbeholfen) den Hut vor Nabokov, zapft den Kitschbruder Hermann Hesse und sein Weltverbesserergebimse an (läßt ihn gar kurz anonym auftreten, in Florenz, ebenso wie andere Zeitgenossen), und die Parodie ist erstaunlich gut gelungen, vor allem sprachlich: Kracht schafft es, den Ton der trivialen Vorlagen, die vor dem Fernsehzeitalter Millionen Knabenzimmer in Sehnsuchtsorte verwandelten, bis in die typische Fallhöhe zwischen erhabenem Bildwerk, pathetischen Formeln und sprachlichen Unzulänglichkeiten zu treffen – droben wallt das Welttheater, drunten bricht sich die Grammatik die Zehen, so kennt man das von den Kolportageschinken, denen das Buch selbst äußerlich eine ironische Hommage erbietet, vom Halbleinen bis zum Titelbild. Preziös, blumig, fast lückenlos gefüllt mit Bildgewalt und eben auch den genretypischen, geschickt eingestreuten Sprachpatzern erzählt der Roman Engelhardts wunderliche Geschichte mit gnädig fiktivem Ende – statt 1919 kläglich zu krepieren, darf er weiterhin sich selbst verzehren (und solcherart wundersam seine Lepra kurieren), den Zweiten Weltkrieg überleben, sich endlich von US-Soldaten durch Cola, Hot Dogs und „stark rhythmische, doch überhaupt nicht unangenehm klingende“ Musik aus dem vermutlich als typisch deutsch zu verstehenden Wahn befreien lassen und friedlich sterben, um sodann verfilmt zu werden, womit sich der Roman zum Bogen schließt, hübsch und rund. Nett, denkt man am Ende; die Sache ist an sich skurril, tragikomisch und haarsträubend bizarr, und sie hat das wichtigste, was ein guter literarischer Witz braucht: ein grauenvolles Ende. Ein wunderbarer Stoff, den darf man ruhig noch einmal aufgreifen.
Aber so ist das bei Parodien: Wenn man sie einmal begriffen hat und sie keine neuen Ebenen öffnen, laufen sie sich tot. Die funkelnden Passagen, die einen die ersten Seiten grinsend halblaut lesen lassen, werden sehr bald weniger, und wenn zur Hälfte des Romans immer noch nichts Aufregendes passiert ist, der Erzähler vielmehr ein Brimborium an Banalitäten und Nebensachen auffaltet, sie mit penetrant genießerischer Detailversessenheit zelebriert, tiefere Motive, Gründe, Konflikte völlig ausblendet, wird die Langeweile zwischendurch so nervtötend, daß man sich zwingen muß, das Buch nicht wegzulegen. Auch das kennt man von vielen der „Originale“ – wer hätte nicht irgendwann bei einem Indianerroman aufgegeben, weil sich der salbungsvolle Quark gar zu leer dahinzog? –, und man kennt es von „Bildungsromanen“, mit denen Leute wie Kolbenheyer einst ihre Leser lähmten und den paralysierten Gehirnen als Ersatzreiz das Deutschtum einträufelten. Vielleicht steckt dahinter eine kommentierende Absicht, die indes ohne Erkenntnisgewinn bleibt: Ist ja ein alter Hut. Im dritten Teil nimmt die Geschichte wieder Fahrt auf, die Erzählstränge rasseln rasant in ihre Löcher wie Flipperkugeln, dann ist es gut und genug.
Wie Kehlmanns Buch ist auch dieses eine Etüde in Eskapismus; angesichts des Furors, mit dem das Feuilleton seit Jahren fordert, die Literatur möge endlich die „Netzwelt“, das moderne Gesumms von Twitter, E-Mail, SMS und all dieser Kasperei angeblicher „Kommunikation“ realistisch abbilden, Sprache und Form dafür finden und solcherart „relevant“ werden, ist das nur zu verständlich. Geschichten funktionieren nun einmal anders.
Der eklatante Unterschied zu Kehlmanns Roman liegt in beider (fast) allwissendem Erzähler, der bei Kracht weitaus weniger neutral gezeichnet ist: Einerseits mokiert er sich über virulenten Antisemitismus (dem aus unerklärlichen Gründen schließlich „unversehens“ auch Engelhardt verfällt) und Modernitätswahn, die Borniertheit, Wirrnis und Lächerlichkeit von Engelhardts Zeitgenossen, andererseits ist er selbst in dieser Zeit so vollständig verfangen, daß man erstaunt und ungläubig registriert, er lebe im 21. Jahrhundert.
Und das macht die ansonsten recht belanglose Sache doch bedenkenswert: Wieso wählt ein Autor, der diese Geschichte aus heutiger Sicht erzählen läßt, als Erzähler einen mit Denken, Gestus und Duktus von dazumal geradezu überladenen, noch dazu bisweilen widerwärtig selbstverliebten Scharlatan? Wieso stellt er dessen offenbar überwältigendes Bedürfnis, zu verniedlichen (wenn etwa „ein, zwei Weltkriege durchmessen“ werden), zu idyllisieren und belustigen, durch einerseits grelle Übertreibung andererseits zu verharmlosen, mit dem Glanz einer Sprache zu blenden, die er nur als Pose beherrscht und dabei bereitwillig in die peinlichsten ABC-Schützen-Fettnäpfe tapst („... die Schanktheke einer Kantine, dessen Wirt ...“ – beileibe kein Einzelfall!), derart aus? Steckt dahinter eine weitere Ebene der Ironie, die Behauptung einer Kongruenz, soll hier das frühe 21. Jahrhundert als Wiedergänger, als eine Art spätwilhelmistisches Rokoko „entlarvt“ werden?
Freilich, Gründe dafür gäbe es, aber sind nicht Christian Kracht und seine elitär-blasierte informelle Clique haltloser Schnösel – elitegeschult, aber dumm wie Schiffszwieback und von der naiven Gutheit linker Punkhippies so gelangweilt, daß sie lieber mit dem Bösen kokettieren und imperiale Kriege herbeisehnen, – sind die und ihre ubiquitären Geistesgenossen von Baring bis Gauck und ihre Hegemonie über das deutsche „Kulturleben“ in Zeiten, wo Verleger nicht mehr lesen, sondern lieber auf Figuren setzen, die per Geburt und Erziehung eine Vermarktbarkeitsgarantie mitbringen, nicht einer der stärksten solchen Gründe? Will sich also der Kracht mit diesem Buch sozusagen selbst demaskieren, und meint er das dann am Ende gar ein drittes Mal ironisch?
Eher nicht, vermutlich. Und deshalb lohnt sich die Frage, was er denn dann will, und da finden sich schon Argumente für die Antwort: uns ärgern, sonst nichts. Und wieso? Vermutlich: wegen seiner Anfälligkeit für den „Reiz des sinnlosen Risikos“ (wie Linus Schöpfer im „Tagesanzeiger“ schrieb). Das sollte uns nicht weiter interessieren, zurück zum Buch.
Wo Kehlmanns Erzählstimme also den Leser von der ersten Seite an mit famosem Witz emotional derart an seine skurrilen Darsteller bindet, daß man sie lieben einfach muß, stellt Kracht die seinen lediglich aus, mit viel aufgesetzter Empathie zwar vor allem für Nebenfiguren wie den Kapitän Slütter, der zum Auftragsmord an Engelhardt erpreßt wird, es aber nicht übers Herz bringt, den vollkommen heruntergekommenen, „von der canard einer jüdischen Weltverschwörung besessenen Irrsinnigen“ zu erschießen, und mit gebrochenem Herzen einem absurden Tod in den Wirren des Weltkriegs entgegenfährt (die Figur ist samt der kindlichen Geliebten Pandora Hugo Pratts Comicroman „Südseeballade“ entnommen, und daß sich Christian Kracht nicht nur als Kind in dessen Hauptperson Corto Maltese hineingeträumt hat, darf man gerne vermuten), – aber ohne innerliche Verbundenheit. Wir verfolgen die wahnwitzige Tragikomödie, ohne wirklich verstehen zu können, was all die Narren dazu treibt, zu tun, was sie tun; der mehrmals unternommene Versuch, Engelhardt zu einer Art Doppelgänger von Adolf Hitler (dem anderen „deutschen Romantiker und Vegetarier“; fruktivorisches Weltreich hier, militärisches dort) zu biegen, wirkt höchstens lachhaft (auch wenn sich hieran ein nicht geringer Teil des Feuilletontheaters entzündete).
Deshalb liegt auch der Witz hier eher in den Bildern als in der Groteske selbst; wenn der kurzzeitig ebenfalls dem Kokoswahn verfallende Musiker Max Lützow (eine historische Figur, der Kracht ein grell-bizarres Ende andichtet) mit der schillernden „Queen Emma“ Forsayth (auch sie gab es) den Geschlechtsverkehr vollzieht und „der Mond die beiden hüpfenden Kugeln von Lützows blond behaartem, emporgereckten Hinterteil“ bescheint, wissen wir, weshalb wir kichern. Deshalb auch erinnert das Buch nicht nur per Titelbild an „Tim & Struppi“; es bleibt auf dem geistigen Niveau dessen, was es parodiert, weil alle Anspielungen, Bezüge, Deutungsangebote nicht mehr sind als nicht existierende Bällchen, mit deren scheinbarem Wurf man einen Hund foppt: Zwei-, dreimal läuft er los, dann hat er’s kapiert. Daß „Imperium“, wie manch ein Kritiker meinte, den Sieg des anglo-amerikanischen Realitätszynismus über den schwärmerischen Wahn der deutschen „Rasse“ zeige (oder so ähnlich): geschenkt. Ebenso gut kann man den Roman für ein Lehrstück über die Sinnlosigkeit jedweden Strebens halten – anders als kreuzbanal fallen die Früchte solcher Interpretationen nicht aus. Das macht die Sache nicht schlecht, es macht sie nur zu dem, was sie ist: zu einer netten, streckenweise etwas faden, insgesamt amüsanten Belanglosigkeit, einer hübschen Stilübung, die man gerne liest und bald wieder vergißt.
Das heißt: vergäße; denn da ist ja noch der Affencircus; leider nämlich darf das Buch nicht für sich stehen, weil es in seiner Harmlosigkeit sonst verschwände im Schatten seines „Autors“. Drum wird zum Beleg für dessen angebliche Motivation anderes herbeigezogen, speziell der in der Tat dubiose Briefwechsel mit dem US-Neo-Rechts-Esoteriker Goodard, in dem sich (auch) Kracht höchst eigenartig und ziemlich verdächtig äußert. Aber ehrlich: einen solch abstrusen, offensichtlich unter dem Aspekt „Wie weit kann man gehen, bis man eine draufkriegt, aus ästhetischen, politischen oder psychopathologischen Gründen?“ zum Kunstwerk inszenierten Briefwechsel mit all dem „O je, das darf niemand erfahren!“-Getue erst als Buch zu veröffentlichen und es ein Jahr nach seinem unbemerkten Erscheinen plötzlich ins Blitzlichtgewitter zu rücken – wenn das nicht noch mehr nach plumper Inszenierung stinkt als der Spiegel-Skandal, will ich hinkünftig Michael Rummst heißen.
Zudem wird man beim Durchblättern dieser Korrespondenz das Gefühl nicht los, daß mit dem esoterischen Geraune und Getue um Verschwörungen, angebliche Geheimbünde,  Totalitarismus-Sammelbildchen, verstiegene Theorien und ähnlichen Kram, bei dem eigentlich nur noch Jan „van Helsing“ Holey, Illuminaten, Hohlwelt-Spekulationen und Nazi-UFOs aus Neuschwabenland fehlen, alle verarscht werden: Leser, Kritiker, Verlag und David Woodard selbst, dem Kracht immer mal wieder ein paar einschlägige Phrasen von „leftists“ und „post-feminists“ hinwirft, um ihm krude bis widerwärtige Statements zu entlocken, ihn dann wieder staucht (indem er sich als „Zionist“ bezeichnet, der in seiner „zionistischen“ Zeitschrift keine antisemitischen Beiträge druckt) und kriechen läßt. Mit diesem Lehrstück zur Frage „Wo kommen wir hin, wenn wir Liebe und Vernunft aus unserem Leben suspendieren und durch kaltes Interesse ersetzen?“ wird, so ahnt man, ein „Christian Kracht“ erfunden, den es gar nicht geben kann. Man stelle sich versuchsweise die freiwillig idiotischen Portraits daneben, die sein öffentliches Bild prägen: Der „Reiz des sinnlosen Risikos“, klar, kindischer Unfug oder provozierender Scherz (oder alles davon) – man weiß es nicht und will es nicht wissen; zum Großteil ist die Sache unangenehm privatisch-verstiegen und noch unangenehmer langweilig. Daß die Kritiker, die sich darauf beziehen, den ganzen Wust studiert haben, mag ich nicht glauben; daß er ansonsten viele Leser findet, die dann auch noch bereit wären, sich von dem Schmarrn „infizieren“ oder manipulieren zu lassen, erst recht nicht.
Aber da sind wir wieder beim „Türsteher der rechten Gedanken“ und der Frage, worum es eigentlich geht bei dem hirnrissigen Geplärr.
Ja, wer mag, kann aus Krachts multivalentem Erzähler und seinen Beschreibungen von „malayischen Boys“ und „Kanakenkindern, barfuß, nackend“ (aber auch „an Erdferkel erinnernden Deutschen“) eine rassistische Weltsicht herauslesen, auch ein antimodernistisches Ressentiment gegen eine Zeit, in der „die Dichter plötzlich atomisierte Zeilen“ schreiben, „grelle, für ungeschulte Ohren lediglich atonal klingende Musik vor kopfschüttelndem Publikum uraufgeführt, auf Tonträger gepreßt und reproduziert“ wird, selbst die wohltuende alte Rechtschreibung ließe sich als Indiz hierfür heranziehen (in Krachts letztem Roman gab es, ganz schweizerisch, kein einziges „ß“); was sich eventuell sogar – anläßlich der Frage, weshalb Kracht ausgerechnet diese Geschichte so erzählt – gegen den Autor richten läßt, der meinetwegen die gescheiterte Idylle deutschkolonialer Naturseligkeit wehmütig in Stellung zu bringen versuche gegen die Banalitäten der technokratischen, kulturlosen (aber nun einmal siegreichen) Fast-Food-Moderne.
Ich denke jedoch, der Kern des Problems ist ein anderer. Daß das Buch bei aller oberflächlichen Schönheit und Kunstfertigkeit ein schales Gefühl von Leere hinterläßt, daß man sich tatsächlich (mit Georg Diez) fragt, was Kracht eigentlich erzählen will, liegt an einer zentralen Leerstelle, die es von Kehlmanns Vorlage unterscheidet: Bei Kracht entspringt der Ironie kein Witz, sondern Humor, comichafte Komik, und was ihm (seinem Erzähler) fehlt, faßt dieser selbst in einem Satz zusammen, der vollkommen für sich und als offensichtliche Botschaft an den Leser außerhalb jedes erzählerischen Zusammenhangs steht, auf Seite 90: „Ich glaube nicht, daß er jemals einen Menschen wirklich geliebt hat.“
Wir hätten es demnach bei dem Erzähler und bei „Christian Kracht“ mit einem zu tun, der die, von denen er erzählt, ebensowenig empathisch erreichen kann wie die, für die er erzählt, einer tragikomischen Figur, die als selbststilisierter „Held“ den Roman zu einer Art „Gesamtkunstwerk“ runden möchte oder soll. Aber darauf hereinzufallen und das gar für „gefährlich“ zu halten, ist, milde gesagt, Schwachköpfigkeit. In Zeiten, in denen das mittlere Management zu zwei Dritteln aus Skinheads in Panzerautos besteht, die im Chor mit der Politik wirtschaftsfaschistische Parolen blöken, die zentrale Botschaft der Popmusik nicht mehr Emanzipation, sondern Unterwerfung ist, die Meinung, man müsse den gesellschaftlichen Reichtum gerecht(er) verteilen, direkt ins regierungsamtliche Aussteigerprogramm für Linksextremisten führt und der Krieg aller gegen alle das ideologische Fundament der Vorschulpädagogik liefert, ist solche Poserei einfach nur lächerlich. Christian Krachts letzte Bücher waren unerfreuliche Beispiele dafür, was herauskommt, wenn jemand esoterisch-totalitaristische Obsessionen aus purem Ennui, ohne die Mühe der Reflexion, ohne großes Talent in „Literatur“ umsetzt. „Imperium“ aber gibt schlichtweg nichts her, was solche Diskussionen lohnte, im Gegenteil, und wenn die, die damals schwiegen, nun aus allen Wolken fallen, muß man sie entweder für steindumme Ignoranten halten oder andere Motive hinter dem vielkehligen wechselseitigen Bocksgesang vermuten. Dieses Theater hätte es durchaus verdient, selbst einen Roman zu füllen. Nur soll den bitte keiner der Beteiligten schreiben.
Nein, „rechte Gedanken“ (die ja nicht solche, sondern deren Ersatz durch schwammiges „Empfinden“ sind) kommen nicht in die Welt, weil oder indem hier einer den Wiedergänger des deutschen Kolonialreichsbürgers schwätzen läßt, wie ihm Schnabel und Hirn gewachsen sind. Das besorgen vielmehr, wie Kay Sokolowsky im März-Konkret umfassend und gründlich dargelegt hat, die „Megatonnen“ düsterlicher, reaktionärer Kriminal- und insbesondere Fantasy-Mythologien, die die Bestsellerhalden füllen und fast täglich aus dem Fernseh quellen, um die Volksgemeinschaft der Ausgebeuteten zusammenzuschweißen in Treue fest gegen den un(be)greifbaren Feind dort im Dunkel. Mag sogar sein, daß die Erregung der Kritiker daher rührt, daß sich da manch einer an der Nase durch den Ring geführt und allzu frech als nackter Depp verspottet fühlt.
Das ganze Getue erinnert an die Debatten, die in England (wo kein junger Mann volljährig wird, ohne irgendwann einmal eine Naziuniform getragen zu haben) regelmäßig um den Dichter und Sänger Morrissey (noch so ein Vegetarier und Romantiker, übrigens, der Christian Kracht bei der Konstruktion von „Christian Kracht“ durchaus als Vorlage gedient haben könnte) entfacht werden, wenn er sich in eine Flagge einwickelt (Nationalismus!), von Mördern, Boxern, Hooligans (Gewaltverherrlichung!) oder Immigranten (Rassismus!) singt. Mit einem entscheidenden Unterschied: Morrissey ist ein Genie, dessen poetische Werke sich vielfältig deuten und auslegen lassen, weil sie aus künstlerischer Notwendigkeit/Getriebenheit und Logik empfindliche Bereiche aufsuchen, Kracht hingegen ein übermäßig publiker Schriftsteller, dessen künstlerische Botschaft lediglich lautet, daß alles, auch er selbst, lächerlich ist.
Es bleibt, wenn sich Roman und Briefwechsel eine zeitlang gesetzt haben, das Motiv der Lieblosigkeit, des kalten Interesses und wohin es führt, das ein kurzes Echo von Ödon von Horváths Romanen aufklingen läßt. Aus dem eisblauen Kaltlicht der wirtschaftsfaschistischen Hölle gibt es für den Dissidenten anscheinend nur zwei Auswege: Er kann sich die Mühe aufladen, an der (Re-)Zivilisierung zu arbeiten, in dem sicheren Wissen, daß diese Arbeit weitgehend vergeblich ist. Oder er sucht sein Heil noch weiter „rechts“, in Mythos, Verschwörung, romantischem Urgetümel und nihilistischem Pathos.
Und vielleicht ist es deswegen so schön und so verlockend, wenn man dieses Buch gelesen hat, alte Clash-Platten zu hören, Zeilen wie „If Adolf Hitler flew in today, they’d send a limousine anyway“ fröhlich mitzuträllern, ein Bier aufzumachen und sich einer anderen, naiven Romantik hinzugeben: weil das Leben ohne Liebe dunkel und öde ist. Wenn es das war (und wenn auch nur unter anderem), was vermittelt werden sollte, dann war’s das wert.

(geschrieben im Februar 2012 zum Erscheinen der gebundenen Ausgabe des Romans, gedruckt in KONKRET 4/12)

Freitag, 26. Juli 2013

Belästigungen #414: „Terror“! „Terror“! (und Nasenhaare für die NSA)


Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden einst zu ehrenwerten Zwecken gegründet – „pursuit of happiness“ bla; zudem postuliert die Unabhängigkeitserklärung ein „Recht auf Revolution“, womit was ganz anderes gemeint ist als das Geplärr, mit dem zerzauste Punkhippies heutzutage ihre Biertischbewunderer beeindrucken möchten.
Lange her. Heute sind die USA eine gigantische Maschinerie zur Verhinderung von „Terror“, worunter sämtliche Versuche zu verstehen sind, dem Anschwellen der gesellschaftlichen Aknepickel, in denen sich Blut, Schweiß und Tränen von Milliarden Ausgebeuteten als geldiger Talg sammeln, Hemmnisse in den Weg zu räumen. Zu diesem Zweck ist der Riesenapparat Tag und Nacht damit beschäftigt, „Daten“ zu sammeln und alles zu überwachen, was auf Erden an Menschlichem kreucht, fleucht, schnauft, kauft, rauft, rudert, pudert, ömmelt und bömmelt. Keine E-Mail, die nicht archiviert, kein Brief, der nicht durchleuchtet, kein Telefongesäusel, das nicht auf relevante „Informationen“ geprüft würde – es steht zu vermuten, daß sich unter dem Hauptsitz der NSA in Crypto City (!) gigantische Bunker bis zum Erdmittelpunkt erstrecken, in denen Fantastilliarden von elektronifizierten Buchstaben und Ziffern herumschwirren und darauf warten, eines schönen Sankt-Nimmerleins-Tages „ausgewertet“ zu werden.
In Deutschland, wo „Terror“ seit dem Zweiten Weltkrieg praktisch nur von staatlich gesteuerten Naziorganisationen sowie der Springerpresse ausgeübt wird, geht man mit so was gelassen um. Zwar gibt es auch hier eine Reihe von „Geheimdiensten“, aber die sind so geheim, daß sie meistens selber nicht wissen, was sie gerade tun und je getan haben. Und während jeder popelige Grasbröseldealer relativ bald mitkriegt, wenn er polizeilich beäugt oder beohrt wird, könnten sich deutsche „Geheimdienste“ notfalls selbst abhören, ohne was zu merken. Die Ergebnisse ihrer munteren Kapriolen werden sowieso nach Dienstschluß geschreddert, und was soll’s auch – wenn ein geheimdienstlich initiierter Bombenanschlag hinhaut, merkt man das am „Bumm!“ und daran, daß hinterher die Springerpresse so lange geifert, bis mal wieder ein paar Gesetze verschärft und Repressalien gegen linksradikales Lumpenpack eingeleitet werden.
Vielleicht liegt die Wurstigkeit daran, daß die Deutschen mit dem Versuch, die Weltherrschaft zu erlangen, schon mal dermaßen grandios gescheitert sind, weil sie sich nicht auf das konzentriert haben, was zählt (Geld! Reformen!), sondern alle möglichen völkischen, folkloristischen und idiotischen Hampeleien hineingerührt haben: Was der Hitler mit seinen antisemitischen Spinnereien verbockt hat, können Deutsche Bank und Merkel halt nur notdürftig kompensieren.
Zumal damals auch versucht wurde, mittels allumfassender Ausspitzelung jegliches Aufkommen von „Terror“ zu unterbinden – mit höchst kläglichem Erfolg. Wer alles weiß, so ist das halt, der weiß überhaupt nichts mehr und wird sich in seiner Wirrnis und Überforderung am Ende selber wegen Subversion wegsperren müssen. Übrig bleibt ein leeres, leise vor sich hin surrendes System.
So weit sind die Amis noch nicht. Die sind fleißig weiter am Überwachen, Abhören, Anzapfen, Spitzeln, Ausforschen, Entschlüsseln und vor allem: Sammeln, Sammeln, Sammeln. Um zu prognostizieren, wie das endet, genügt ein Blick in den Fischteich, in dem ein Hecht herumsteht: Der hat einen Schnappreflex und muß daher alles verschlingen, was sich ihm auf Maulschnappreichweite nähert. In dieser Hinsicht ähnelt der schmollige Fisch der im ökonomischen Biotop herumrumpelnden Geldsau: Egal wie prall die Wampe ist, es wird gespachelt, bis nichts mehr da ist – was selten vorkommt, weshalb es den Hecht, der das Pech hat, ins teichige Äquivalent einer im „Reformprozeß“ befindlichen „sozialen Marktwirtschaft“ hineinzugeraten, unweigerlich irgendwann zerreißt.
Hier öffnen sich lustige Perspektiven, wenn man das automatisierte „Datenklau!“-Gegreine mal einstellt. Wozu sich aufregen, daß die Ami-Agentur so viel über uns weiß – soll sie doch noch viel mehr erfahren! Scheißen wir sie zu mit „Daten“, pfropfen wir unsere Kommunikation voll mit Hinweisen, Andeutungen, „Informationen“: keine Mail mehr ohne das Schlüsselwort „Terror!“, kein Telephonat ohne eingestreute pseudoarabische Schimpfwörter, kein Spaziergang ohne eine zweckfreie „verdächtige“ Handlung vor einer Überwachungskamera, und vor allem darf kein Tag mehr vergehen, ohne daß jeder von uns der NSA (zu erreichen über www.nsa.gov) eine Mitteilung mit Daten schickt – von der Schuhgröße der 1965 verstorbenen Urgroßtante über die Höchsttemperaturen des Lerchenauer Sees an jedem Tag der vergangenen dreißig Jahre, den Kaloriengehalt des täglich verbrauchten Katzenfutters, die Seitenzahl aller je gelesenen Romane (mit Angabe der Vornamen der handelnden Figuren) und die Nummernschilder sämtlicher in Schwabing geparkter Autos bis hin zu einer umfassenden Aufzählung der natürlichen Zahlen und einer täglichen Folge von Photos unserer Nasenhaare, die im Begleittext mit Kosenamen belegt und einzeln identifiziert werden.
Die NSA wird nicht anders können als zuschnappen, so ist sie nun mal. Und wenn es sie dann nicht gleich zerreißt, dann wird sie jedenfalls die nächsten hundert Jahre dermaßen am „Auswerten“ sein, daß außer einem gelegentlichen Stöhnen aus den Tiefen der Datenbunker zumindest unsere Generation nie wieder etwas von ihr hören wird.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN, diese Folge am 11. Juli.

Mittwoch, 24. Juli 2013

Periphere Notate (6): Auswege


Wenn A eine Liaison unerträglich zu werden begann, überließ er es seiner jeweiligen Partnerin, aus der Empfindung wachsender Unerträglichkeit der Liaison heraus die Suche nach einem neuen Partner einzuleiten, heimlich zunächst, bis ein gewisses Maß an Kompatibilität festgestellt war, und ihm dann – manchmal bedauernd, oft in Vorfreude schwingend – mitzuteilen, daß die Liaison beendet sei. Das ersparte es A, selbst entsprechende Ränke zu schmieden, die er grundsätzlich als schmutzig und unaufrichtig und in den seltenen Fällen, da sie sich auf eine kurze elektronische Mitteilung beschränkten, als gerade obszön widerwärtig empfand, aber in Anbetracht der Unerträglichkeit der Liaison pragmatisch begrüßte. Es erstaunte ihn indes immer wieder, mit welch glühender Rachsucht ihm seine jeweiligen ehemaligen Partnerinnen hinterher (wenn ihre neue Beziehung auf ähnliche Weise gescheitert, er jedoch aufgrund einer angeborenen Neigung zur Gleichgültigkeit und wegen des Wegfalls der mit der Liaison einhergehenden Verpflichtungen, Verantwortungen und Auseinandersetzungen überaus glücklich war) nachstellten, mit bösen Gerüchten, eifersüchtigen Blicken bei „zufälligen“ Begegnungen und wütenden Briefen. Was habe ich dir getan, wo du doch mich verlassen hast? fragte er sie dann im stillen und wußte es doch: Er hatte seiner jeweiligen ehemaligen Partnerin bewiesen, daß er ohne sie glücklich sein konnte, sie jedoch nicht ohne ihn. Dieser etwas schale Triumph konnte den viel tiefer in ihm brennenden Schmerz allerdings nur augenblickweise lindern.


Montag, 22. Juli 2013

Frisch gepreßt: Ellen Foley "Night Out/Spirit Of St. Louis"


Lustige Koinzidenz: Gestern nacht versuchte ich einer spät nachgewachsenen Zeitgenossin zu erklären, dass und weshalb The Clash die größte, wenn nicht die einzige (okay, es war spät) Rock-’n’-Roll-Band aller Zeiten waren (und, phänomenologisch betrachtet: sind). Keine paar Stunden später erinnert mich eine Veröffentlichungsanzeige daran, dass sie auch ihre Schwächen hatten, wie sich das gehört, was ihren Kampf gegen die ganze dumme, böse Welt vielleicht noch heroischer macht, aber egal.
Rückblende: Mit sechzehn kannte ich ein Mädchen, war rauschhaft und vermeintlich unsterblich verliebt, stellte indes nach zwei abendlichen Begegnungen (ein Tanz, ein Kuss) fest (wie man heute postet): „Es ist kompliziert.“ Nämlich stand jemand dazwischen, der wegzugehen sich weigerte, da mochte sie Sehnsuchtsblicke wie Photonentorpedos nach mir schleudern, während er ihre Hand klammerte. Die versengten mich nur und machten meine Ratlosigkeit zum Sumpf, in den ich schließlich sank, während sie an ferne Sommerferienorte entschwand oder sich entführen ließ; ich weiß es nicht.
Ein Vierteljahr später, noch mit nachglühenden Narben, sah ich zufällig ein Musikvideo, und Flash! – das war doch sie! Wie kommt die plötzlich ins Fernsehen? Wieso heißt sie plötzlich Ellen Foley? Gelähmt schwebend starrte und lauschte ich dem tosenden Pathoslärm, dessen Slogan sich mir auf ewig einbrannte: „Baby, we – we belong to the night!“ (Man stelle sich diese Worte von einer Feuerwehrsirene gesungen vor.)
Wiederum ein Jahr später hatten diverse Verstrickungen (ihr Album produzierten Ian Hunter von Mott The Hoople und Ex-Bowie-Gitarrenzwilling Mick Ronson, derweil produzierte der genial-wahnsinnige Mott-The-Hoople-Produzent Guy Stevens das Jahrhundertalbum „London Calling“ von The Clash, deren Gitarrist Mick Jones unsterblicher Mott-The-Hoople-Fanatiker war, usw.) dazu geführt, dass Ellen Foley das vielköpfige Kifferensemble erweiterte, aus dessen monatelangem Studio-Zeltlager irgendwie das Clash-Dreifachalbum „Sandinista!“ entstand. Und weil fünf LPs in zwölf Monaten noch nicht genug waren, nahm die größte Rock-’n’-Roll-Band aller Zeiten samt ihrer wüsten Kommune inkognito noch ein sechstes auf, besungen von Ellen Foley und produziert von (Covernotiz) „my boyfriend“.
Die Beziehung zwischen Foley und Mick Jones war „kompliziert“, stürmisch und turbulent; wir wissen nicht viel darüber, und das wenige weiß die ganze Welt, weil Jones in dem Song „Should I Stay Or Should I Go“ sein Herz ausschüttete und hinterher mit The Clash eine erst viel später veröffentlichte tränendurchweichte Version von „Every Little Bit Hurts“ aufnahm. Die Musikpresse, die schon von „Sandinista!“ überfordert war, trat „Spirit Of St. Louis“ unter üblen Beschimpfungen in die Mülltonne, und Ellen Foley wechselte nach einer weiteren Flop-LP von der pararevolutionären Gegenkultur in eine annähernd bürgerliche Broadway-Film-TV-Karriere, während The Clash nach einer Reihe von Pyrrhus-Triumphen und historisch katastrophalen Fehlern explodierten und zur unwiederbringlichen Legende wurden.
Apropos Musikpresse: Die deutsche Oberschüler-Hipster-Gazette „Sounds“ setzte Ellen Foleys „Kitsch-Machwerk“ damals auf ihre monatliche „Ätzliste“. Lustigerweise ist das meiste, was sich dort findet, zumindest im nachhinein interessanter, spannender, kurioser und wiederentdeckenswerter als ein Großteil von dem Käse, den die Redaktion lauthals propagierte. Das gilt auch für Ellen Foley: Freilich quellen und fluten diese Alben nur so über vor pompösem Kitsch, donnerndem Pathos und tornadoartig über den Hörer hereinbrechender Schulhofromantik. Man kann das aber auch epochal glamourös, überschäumend naiv und superheroisch finden – von da bis zur Grenze von Pein- und Lächerlichkeit war es schon bei Mott The Hoople nur ein kleiner, diverse Male passierter Stolperer.
Und abgesehen davon: Wenn eine amerikanische Schnulzensängerin (mit Meat-Loaf-Vergangenheit) Songtitel wie „The Shuttered Palace“, „Theatre Of Cruelty“, „In The Killing Hour“ und „The Death Of The Psychoanalyst Of Salvador Dali“ (alles Strummer/Jones-Kompositionen!) auf ein Album schreibt und sich weder totlacht noch vor Scham im Boden versinkt, sondern es schafft, nach zwei Glamrock-Superhelden die größte Rock-’n’-Roll-Band aller Zeiten ins Studio zu locken und das schon ein Jahr zuvor mit klassischen Worten der Rolling Stones („Look at that stupid girl“) kommentiert, dann muss man sie mindestens bewundern, wenn nicht lieben. Ganz gleich, ob man mal in ihre Doppelgängerin verknallt war (und phänomenologisch betrachtet immer noch ist).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN, diese Folge am 11. Juli.