Dienstag, 26. Juni 2018

Belästigungen 13/2012: Unendlich viel Geld für unendlich mal nichts (ein zweiter Teil)

Um zu erkennen, wie absurd die ganze Diskussion ist, die sich anläßlich des „Urheberrechts“ angeblich um den „Schutz“ der „Kultur“ dreht, braucht man nur mal zuzuhören, was da so alles geplappert wird. Eine Meinung dazu hat z. B. unser ehemaliger Ministerpräsident Edmund Streber, der heutigentags als Chef des Programmbeirats der Pro Sieben Sat 1 Media AG einen ganz besonders tüchtigen „Urheber“ vertritt: „Wenn jemand ein Auto, ein Portemonnaie oder ein Handy stiehlt, wird jeder einsehen, daß dies bestraft werden muß. Warum sollte das bei einem Musikstück oder einem Film anders sein?“
Das heißt: Wenn ich auf der Straße spazierengehe und zufällig ein Auto sehe oder es vorsätzlich betrachte, muß ich demnächst damit rechnen, als Dieb verhaftet zu werden?
„Ist es Zensur, daß Sie die Schuhe bezahlen müssen, die Sie im Internet gekauft haben?“ trötet der Filmregisseur Michael Verhoeven in das gleiche Horn, und ich frage wiederum zurück: Muß ich ab jetzt einen Euro beim Bäcker abgeben, wenn im Fernsehen Reklame für Semmeln gezeigt wird?
Der schwerreiche Bestsellerautor und -musiker Sven Regener wiederum labert, wenn es um Kunst geht, am liebsten von „Geschäftsmodellen“ und trifft damit unfreiwillig ins Schwarze. Möglicherweise können die Verfechter solcher „Geschäftsmodelle“ ein paar Fragen beantworten: Wenn ich mir 1978 eine LP gekauft habe, habe ich dann fürs Urheberrecht bezahlt? Wenn ich mir die gleiche Platte mit derselben Musik zehn Jahre später noch mal als CD gekauft habe, war da wieder ein Urheberrecht dabei? (Wie wollte die Musikindustrie sonst rechtfertigen, daß sie damals in den Milliarden nur so badete, die sie damit „verdiente“, ihren alten Müll in digital zusammenkastrierter Form noch mal zu veröffentlichen?) Wieder zehn Jahre später erschien die gleiche Platte erneut, diesmal „remastered“, zehn weitere Jahre später als „Deluxe Edition“ ein (mindestens) viertes Mal, und jetzt soll ich, weil ich keinen CD- und Plattenspieler mehr besitze und die „Deluxe Edition“ wegen „Kopierschutz“ auf dem Computer nicht läuft, das Album noch mal kaufen und noch mal ein Urheberrecht bezahlen für Musik, die ich bereits vierfach daheim stehen habe?
Und was kriege ich da überhaupt für eine Ware, wenn ich so einen Download „kaufe“? Ist danach ein Exemplar weniger im Lager des Verkäufers vorrätig? Muß er irgend etwas für mich herstellen, was einen finanziellen oder sonstigen Aufwand verursacht? Oder kriege ich bloß eine Magnetisierung auf meiner Festplatte, die der Lieferant theoretisch auf unendlich vielen Computern verursachen und damit ohne jegliche Leistung unendlich viel Geld verdienen könnte?
Wenn keinerlei materielles Argument dafür zu finden ist, gibt es dann ein moralisches? Muß ich zahlen, weil (z. B.) die Erben von Michael Jackson sonst Hunger leiden und man ihnen aus dynastischen Gründen als Nachfahren eines so bedeutenden Mannes nicht zumuten kann, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen?
Es gibt aber noch einen wesentlicheren Aspekt. Die Quintessenz des ganzen Geredes lautet nämlich: Wer sich was nicht leisten kann, der hat auch kein Recht darauf. Zurück in die Zeiten, als Leute meiner Klassenzugehörigkeit fünf LPs besaßen, weil das Taschengeld für mehr nun mal nicht reichte!
Wem das nicht gefällt, der wird sich an einen grundlegenden Gedanken gewöhnen müssen: Kunst ist kein Eigentum und kann es auch nicht sein. Wenn der Mensch eine Leberkässemmel braucht, muß er arbeiten gehen, dann kriegt er Geld und kann sich das Zeugs kaufen. Wem der Gott des Kapitalismus einen Berg Geld auf den Kopf oder in die Wiege scheißt, der kann so lange Leberkässemmeln mampfen, bis es ihn zerreißt.
Aber Kunst ist kein Leberkäs. Kunst kann man nicht konsumieren (zu deutsch: „genießen“) und in verdauter Form wieder herauskoten wie Leberkäs. Sie geht nicht davon weg, daß man sie konsumiert. Kunst ist ein Menschenrecht; sie gehört allen, und jeder einzelne Mensch hat dadurch, daß er ein Mensch ist, das Recht, Kunst in jeder beliebigen Menge in seinen Kopf, seine Ohren, Augen und sein Herz hineinzufüllen.
Freilich: Der Künstler muß leben können; das war noch nie leicht und wird es nie sein. Wer sich dafür entscheidet, sein Leben der Kunst zu widmen, der muß wissen, was er tut. Daß heutzutage gewisse Künste (zum Beispiel die Popmusik) ein Nebenfach der Abteilung BWL sind, ist ein historischer Irrtum. Wer darauf hereinfällt, ist genauso selber schuld wie einer, der meint, er könne von anderen Geld dafür kassieren, daß sie Luft einatmen, die er und seine Erbvorfahren schließlich vorher ausgeatmet haben.
Wie man Künstler am Leben erhält, ist eine politische Frage, die über die Jahrtausende auf vielerlei Weise beantwortet worden ist, neuerdings eben (angeblich) mit dem „Urheberrecht“, das in dieser Hinsicht eine der dümmsten, aber die typisch kapitalistische Lösung ist: Wer Glück hat, kriegt alles, die anderen haben eben Pech gehabt, und damit sie nicht rebellieren (wie es bisweilen geschieht, wenn man Menschen ihr Menschenrecht verweigert), schärft man ihnen von früher Kindheit an die Grundregel ein: Es geht nicht darum, denen, die zu viel haben, was wegzunehmen und es denen zu geben, die zu wenig haben. Sondern es geht darum, Glück zu haben und einer zu werden, der zu viel hat!
Das könnte man ändern. Geld ist nämlich genug da, um sämtliche Künstler dieser Welt zu ernähren. Man muß es nur wollen.

(**Einige Tage nach Erscheinen der Folge am 27. Juni 2012 wurde in den Medien diskutiert, daß die GEMA beschlossen hatte, ihren Anteil an den Brutto(!)eintrittseinnahmen von Clubs, Parties, Konzerten etc. von 5 auf 10 % zu erhöhen. Als Begründung wurde u. a. genannt, es gehe nicht an, daß an einer Veranstaltung der Türsteher mehr verdiene als der Urheber irgendeines möglicherweise (!) dort gespielten Songs.)

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Belästigungen 12/2012: Von Nazis, Goldeseln und dem gehobenen Ur (Teil eins)

Die GEMA, ansonsten neben TÜV, ADAC, FDP, IHK, BDI und diversen Nazibanden einer der schlimmsten Großbuchstabenvereine unseres Landes, hatte neulich eine nette Idee: Der bekannte Nazi Norman Bordin soll Geld zahlen, weil er die beliebte Rosaroter-Panther-Melodie zur Beschallung eines seiner Aufmärsche benutzte. Wie gesagt: eine nette Idee und – so dachte man bei der Weitergabe der Meldung an die Presse wohl – geeignet, das seit Jahrzehnten annähernd GEZ-mäßig ramponierte Ansehen der GEMA ein bißchen aufzupolieren.
Aber so sehr es uns freut, daß Nazis auch mal was bezahlen müssen: Worin bitte schön bestand bei diesem ganzen Vorgang der Beitrag oder die Leistung der Erben von Henri Mancini (an die die GEMA einen Teil des Betrages abführen wird, wg. Urheberrecht)?
Ein-, zweimal im Jahr kriege ich selber lustige Post von der GEMA. Das liegt daran, daß ich „Urheber“ bin, das heißt: Ich habe im Lauf der Jahre immer mal wieder ein paar Lieder geschrieben, die auf Platten erschienen sind, von Bühnen ertönen, im Radio, Kino und Fernsehen laufen usw. – ich habe also ein „Recht“, das unbedingt geschützt werden muß. Deshalb kriege ich Geld, wenn jemand anderer meine „Werke“ für irgendwas verwendet.
Über kein Recht wird zur Zeit so gestritten wie über dieses „Urheberrecht“. Amerikanische Polizisten fliegen in den fernsten Südosten, um deutschen Leberkäse zu verhaften. Deutsche Anwälte kaufen sich Frankiermaschinen, um jedes noch so kleine Dorf in der mecklenburgischen Provinz mit Drohungen und Geldforderungen zu bombardieren. Millionenreiche Künstler füllen ganze Zeitungsseiten mit Jammertiraden, weil ihnen ihr Lebensunterhalt weggeklaut wird. Bösartige Großkonzerne stilisieren sich zu einer Art von ideellen Negerjudenkrüppeln stilisiert, die zu schützen die heiligste Aufgabe aller Staatsgewalten ist. Deutschlands bösartigster Massenverlag, der meint, er dürfe gegen eine einmalige Zahlung von 25 Euro mit einem Text tun und lassen und verdienen, was ihm paßt, ohne dem Autor auch nur Bescheid zu sagen, ernennt sich zum Robin Hood der ausgebeuteten Künstler.
Und das alles zum Schutz des „Urhebers“. Mich als solchen sollte das eigentlich freuen, tut es aber nicht. Wenn ich nämlich in ein Lokal gehe, um eines meiner Lieder zu spielen, muß der Wirt dafür einen zwei- bis dreistelligen Betrag an die GEMA zahlen. Die gibt mir davon circa 0,5 Cent ab, teilt mir ab und zu in lustigen Briefen mit, ich hätte für irgendwas namens „MOD D“ oder „PHO VR“ einen Geldbetrag erhalten, den es als Münzen gar nicht gibt, und bezahlt dafür auch noch Porto. Mit „Schutz“ hat das offensichtlich wenig zu tun. Aber womit dann? Und was ist überhaupt ein „Urheber“?
Da gibt es mehrere Gruppen: einmal die wenigen Leute (oder ihre Erben), die erfolgreiche „Werke“ geschaffen haben. Die sind fein raus, weil sie tatsächlich jedesmal kassieren, wenn ihr Lied im Radio oder Fernsehen läuft, wenn jemand ihren Roman fürs Theater oder Kino inszeniert usw. Für diese Leute ist das Urheberrecht eine Art Perpetuum-mobile-Goldesel, der ihnen für die Idee oder Arbeit einiger Sekunden bis Tage ewigen Wohlstand garantiert, bis 70 Jahre nach ihrem Tod. (Klar, daß auch andere von so was träumen; daher wird immer wieder vor Gericht über ein paar Takte A-Dur/D-Dur/E-Dur gestritten, daher reklamieren inzwischen Leute ernsthaft ein Urheberrecht an Vogelzwitschern und Meeresrauschen.)
Dann die Leute, die nichts geschaffen, sich aber durch Tricks und Markt „Urheberrechte“ verschafft haben: die Verlage und sonstigen „Verwerter“. Die sind auch fein raus, weil ihnen noch nicht einmal jemand eine Obergrenze für ihren Anteil am Profit aus den fremden Werken setzt: Ein Immobilienmakler darf per Gesetz höchstens 6 Prozent des Erlöses selbst einstecken, der Musikmakler notfalls auch mal 90 Prozent. Kein Wunder, daß diese Leute am lautesten schreien: Wenn jemand sich ein Lied aus dem Internet runterlädt, verlieren sie zwar keinen Cent, könnten aber andernfalls noch viel mehr einschieben, ohne was dafür zu tun.
Dann gibt es noch den allergrößten Teil der Urheber, die von ihrem „Recht“ so gut wie oder gar nichts haben. Die schreiben mal ein Lied oder Buch, das wenig Leute kaufen, und leben von anderen Jobs oder bestenfalls Konzerten, Lesungen und den vielen Stipendien, Preisen und Almosen, von denen Künstler nun mal leben, weil ihrem Schaffen kein betriebswirtschaftlich faßbarer „Wert“ innewohnt. Und wenn ihr Lied mal im Radio läuft oder sie es auf der Bühne vortragen, dann kassiert dafür die GEMA und gibt das Geld zum Großteil an Bohlen und Siegel weiter, weil von denen mehr im Radio läuft und es viel zu kompliziert wäre, das genau auszurechnen.
Und schließlich kommen wir zum weitaus größten Teil der tätigen Künstler, die keinerlei verwertbare Rechte haben, weil sie keine „Urheber“ sind und niemals werden: Interpreten (vom Dirigenten über den Orchester- und Studiomusiker bis hin zum Klampfenheini in der Fußgängerzone und dem Weltstar, der anderer Leute Lieder singt), Film- und Bühnenschauspieler, Discjockeys, Rezitatoren, Übersetzer, Jongleure, Pantomimen, Synchron- und sonstige Sprecher, Bearbeiter, Performancekünstler, Vorleser, Toningenieure usw. usf. Ganz zu schweigen von all denen, die auch keine Künstler sind: den Ingenieuren etwa, die die Konstruktion oder das Design erfinden und entwerfen, mit denen der Konzern dann Milliarden scheffelt, während sie ein Gehalt bekommen und bei der nächsten Umstrukturierung gefeuert werden.
All diesen Leuten, die kein solches „Recht“ oder zumindest nichts davon haben, sondern dafür bezahlen, könnte der ganze Schmarrn mit dem „Schutz“ der „Urheber“ bei genauerer Betrachtung ziemlich piepegal sein – wenn es eben nicht sie wären, die dafür bezahlen und damit rechnen müssen, überwacht und bei versehentlichen oder absichtlichen „Verstößen“ drakonisch bestraft zu werden. Für den „Verbraucher“ (der, und das macht das alles unter kapitalistischen Aspekten so kompliziert, Kunst jedoch nie und nimmer „verbrauchen“ kann) ist der ganze Stiefel ein vollkommen anderer, aber dazu bei Bedarf gerne mehr in zwei Wochen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 18. Juni 2018

Belästigungen 11/2018: Liebe Einzelsocken, singt das Loblied der Langeweile!

Schlimm an der Welt ist zum Beispiel, daß immer das, was man braucht, gerade nicht da ist. Damit meine ich nicht Geld. Das ist ja immer da, in ungeheuren Mengen sogar. Man kann bloß nichts damit anfangen, weil es angeblich irgend jemandem gehört (was es theoretisch gar nicht kann, aber das wollen wir heute mal vergessen).
Eher, aber nicht unbedingt konkret, meine ich die sprichwörtliche Spezies Socke, die man als Geschwisterpaar in die Waschmaschine hineinstopft und im sprichwörtlichen Regelfall einzeln wieder herauszieht – und zwar nur eine davon. Die andere bleibt verschwunden, bis sie Wochen später nach einem anderen Waschgang wieder auftaucht. Dann ist aber entweder die erste mittlerweile abgetaucht oder entsorgt, oder die beiden sehen sich aufgrund unergründlicher Vorgänge so wenig ähnlich, daß sie nicht mehr gemeinsam zum Einsatz kommen können.
So werden – ich kann das beweisen! – aus fünfzig Paar Socken hundert Einzelsocken, bei deren Anblick in der überfüllten Schublade ich immer ein bißchen melancholisch werde, weil sie da so nutzlos vor sich hinwesen und man sie weder wegschmeißen (sind ja noch gut) noch für etwas Sinnvolles gebrauchen kann (außer indem man sie zu fensterbrettbreiten Wollschlangen zusammenkniedelt, die im Winter vor Bodenfrost im Zimmer schützen – aber die Zahl der Fenster hat halt auch ihre Grenzen).
Die Melancholie ist eine übertragene, weil sie sich in Wahrheit auf Menschen bezieht. Menschen, die vor allem jetzt im späten Frühling und frühen Sommer so ähnlich wie Einzelsocken ohne Schublade in der Welt herumflattern. Dabei haben sie, erinnert man sich, doch gerade noch als Paare sozusagen ihren Stiefel durchgezogen durch den Winter, man wähnte sie zufrieden. Jetzt erzählen die solitären Menschensocken, wenn man sie fragt, die üblichen Standardgeschichten: „auseinandergelebt“, „Selbstverwirklichung“, „andere Pläne“, „unterschiedliche Interessen“, „neue Ziele“.
Lustig – auf eine traurige Weise – ist daran, daß es erfahrungsgemäß nicht lange dauert, bis ein scheinbar ähnlich gemustertes Exemplar gefunden ist und der Durchlauf durch das moderne Kaufhaus der Begehrlichkeiten von neuem beginnt: Man hat wahnsinnig tollen Sex, strahlt im Einklang und entdeckt eine schier unüberschaubare Palette an gemeinsamen Konsuminteressen, die das Leben spannend, aufregend, zu einem einzigen Abenteuerurlaub machen.
Frische Menschensockenpaare fliegen mit Stoffdrachen durch Bergtäler, strampeln sich synchron an Science-Fiction-Gymnastikgeräten ab, kochen in hypermodernen Geräteküchen die „Highlights“ sämtlicher Weltkochkulturen durch (wofür man im Normalfall erstaunlicherweise nur Weizenmehl, Industriefleisch, Rapsöl, Sahne und ein paar exotische Gemüsestreusel braucht, die gerne mal am Tellerrand liegenbleiben), vereinen ihren Energiefluß durch vermeintlich fernöstliche Betätigungen und entdecken immer neue gemeinsame Lieblingsfilme, -bücher, -spiele. Dabei entwickeln sie sich ununterbrochen weiter und verwirklichen sich in einem schwindelerregenden Dauerakkord selbst: „Erst durch ihn habe ich meine Potentiale entdeckt!“ – „Sie gibt mir den Rückhalt für bla bla!“.
Das kann logischerweise nicht lange gutgehen, und wenn es nicht mehr ganz so gut geht, kommt notfalls noch ein Kind ins Spiel. Allerspätestens dann hat der Spaß ein Loch. Der Sex wird fad, auch wenn man ihn in gewohnter Intensivierungsmanier fünfmal täglich betreibt, alle möglichen Stellungsratgeber und sonstige Verbesserungsliteratur studiert und endlich den verflogenen Reiz mit Gruppensex und Swingerclubs neu anzufachen versucht. Spannung und Aufregung verpuffen in der Wiederholung nicht mehr zu steigernder Eskapaden; danach hängt man erschöpft vor der Glotze, mampft Fertigpizza, stellt lustlos Pläne für die nächsten Wochenenden zusammen, wischt (falls der Notfall schon eingetreten ist) Babykotze auf.
Positiv betrachtet: kann man ja auch mal kuscheln statt zwanghaft olympisch zu rammeln (oder das halt in Gottes Namen mit jemand anderem tun); man kann ein Buch lesen, Brot und Käse essen, müßig in der Sonne gammeln, träumen, sich erinnern, schweigend die Welt kontemplieren. Das geht alleine, aber viel besser geht es zu zweit. Es ist weitaus erfüllender und beglückender als der hundertste Extremsportkurztrip und Wellness-Resorturlaub. Es erspart jegliches Streben nach vermeintlichen „Zielen“, jegliches Mühen um Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung, weil das, was an deren Ende angeblich herauskommen soll, bereits da ist. Und es kostet nichts.
Aber es geht nicht: Der moderne Mensch wird von Geburt an so intensiv darauf gedrillt, daß das Leben aus Spannung, Aufregung, Event, Begeisterung und Konsum bestehen MUSS, daß er Ruhe und Zufriedenheit nur noch als deren Ergebnis für denkbar hält. Nicht zu reden von Demut, Bescheidenheit, Hingabe, Liebe – die gibt es überhaupt nicht mehr, weil sie dem eigenen Weiterkommen und dem Wirtschaftswachstum im Weg stehen.
Daß Langeweile schöner sein kann als manisches Herumhetzen mit einem Stachel im Arsch, der ständig nach einer Fortsetzung der Reizüberflutung schreit, ist heutzutage leider unvorstellbar. Vielleicht sollten wir es einfach mal wieder ausprobieren. Vielleicht sparen wir uns dadurch sogar die existenzielle Vollwäsche, die uns zu ausgelaugten Einzelsocken macht. Vielleicht stellen wir fest, daß das, was wir brauchen, gar nicht weg ist, sondern unter dem Müllhaufen von Konsum und Selbstverwirklichung still und geduldig darauf wartet, wiedergefunden und in den Arm genommen zu werden.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 12. Juni 2018

Frisch gepreßt #412: Murs "A Strange Journey Into The Unimaginable


Am Küchentisch heißt es: „Hä? Wir haben doch schon ein Hip-Hop-Album im Haus! Wozu noch eins, es ist Frühling! Da hört man sich doch nichts an, was heuer so klingt wie letztes Jahr und letztes Jahr wie 1996!“
Aber der nettmenschliche Einwandsfluß versiegt sehr bald und weicht einem mindestens milden Staunen. Zwar ist der thematische Rahmen, in dem sich Nicolas Carter alias Murs (was alles mögliche heißen kann oder soll, fragen wir nicht näher nach) auf seinem ungefähr elften Solo- und mindestens 22. Album insgesamt bewegt, so streng gezimmert, wie er das im klassischen Hip Hop (das heißt: jen- oder vielmehr diesseits vom Karnevalstralala) halt mal ist: Es geht um Weiber (böse und scharfe), Bullen, Knarren, das Ghetto, ums Rappen und wer darin der beste ist (immer der, der spricht, die anderen wollen nur Kohle), am Ende freilich um den lieben Gott; und es geht darum, daß man stark sein muß und sich nicht unterkriegen lassen darf und das auch keinesfalls tun wird, sondern jeden wegballern wird, der sich einem in den Weg stellt, und daß man sich ansonsten spirituell versöhnen und gemeinsam stark sein und die Macht bekämpfen muß und so Sachen halt …
„Hey, hast du gewußt, daß der Typ mal 24 Stunden am Stück gerappt hat und deswegen im Guinness-Buch der Rekorde steht? Putzig!“
Bitte was? Ach so, ja. Wenn und während man einem wie Murs zuhört, kann man schon mal selbst in einen Redestrom hineingeraten, der sich Gott sei Dank aber nicht reimt und sowieso nur ungefähre Paraphrase ist, weil: Murs schon ziemlich viel Phantasie und (im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Kollegen) eine enorme Rhythmus- und Reimsicherheit aufzubieten hat, wenn er den altbekannten Teig knetet, der deshalb durchaus frisch und originell und trotzdem rundum klassisch daherkommt, vielleicht so wie die sagenumwobene Pizza, von der kulinarische Flachnasen stets aufs Neue mit voller Überzeugung behaupten, sie sei mit Sicherheit „die beste der Stadt“ oder „Welt“, obwohl sie immer aus dem gleichen Zeug besteht und man sich schon gewaltig anstrengen muß, damit sie wirklich mal anders schmeckt als die davor und danach.
„Jetzt sei nicht so gemein! Zum Beispiel sind Hip-Hopper und Dreadlockträger ziemlich gerne mal ziemlich homophob, und der hier setzt sich für Schwulenrechte ein!“
Stimmt, ist aber egal. Auch nicht so suuuperwichtig, daß Murs (auch) auf diesem Album mindestens zweimal einen gewaltigen Luftsprung aus dem Themeneintopf macht: mit dem anrührend wundervoll nüchtern-traurigen „Melancholy“, in dem er ganz ohne Pose und Metapher von seiner jahrelangen, mittlerweile überwundenen Depression erzählt („Just paid for a shrink but she made me think / That the problem's all in my head / So with that said, I went solo / On my own tryna face my fears / I stopped, popped a pill, and it all got real / So I started writing this right here / And it took me years to get to this point / Where I don't wanna die every day / You can't put it in your mind to be down all the time / 'cause the sun go shine anyway“). Und mit der ebenso, aber ganz anders anrührenden „Superhero Pool Party“, einer Gutenachtgeschichte für Murs‘ Adoptivsohn (mit anschließender Kurzdiskussion über Spiderman).
„Huch, ist das alles persönlich! Da geht‘s ja auch um seine Scheidung und um sein tot geborenes Kind! Weia, jetzt werd‘ ich traurig!“
Aber wichtig ist gerade das: daß Murs alles, was er erzählt (von der Depression über die Marvel-Helden bis hin zur Slapstick-Anekdote „A Lean Story“), aus seinem eigenen Leben schöpft und eben nicht einfach nur irgendwas hinblafft. Und daß er den musikalischen Bogen so weit spannt, wie es nur geht (klassische Hip-Hop-Zutaten wie Beats, Schnitte, Samples, Störgeräusche, Gäste, dazu Schlagzeug, Akustikgitarren, Klavier, Bläser …), aber nichts davon bloß Schnickschnack und Hey-nicht-einschlafen-Bombastik-Buff-Gembömbel ist, sondern – und das ist selbst im Underground-Hip-Hop selten – alles im Dienste des Songs (!) steht.
„Okay, ich geb‘s zu: Ich mag Hip Hop nicht. Aber diese Platte mag ich. Sehr!“
Gut, dann holen wir mal wieder den Uraltsatz aus dem Staubschrank. Werte Hip-Hop-Nichtmöger: es kann nicht schaden, sich doch eine einzige Hip-Hop-Platte ins Haus zu stellen. Und es dürfte gerne diese sein.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.