Montag, 23. Januar 2017

Frisch gepreßt #382: The Sweet "Desolation Boulevard"


Professor Mattenschlepp, inhäusiger Experte für die populäre Musik des letzten Jahrhunderts, wagt zu Jahresbeginn eine Prognose: „2017 wird ein Jahr, in dem kaum ein bedeutender Popstar sterben wird. Weil fast alle schon tot sind.“
Hm, mucken wir vorsichtig auf, und was ist mit Sweet bzw. The Sweet, wie sie bis Ende 1974 hießen? Die sind doch immer noch auf Abschiedstour, seit Ende 1974 genau genommen, oder 1978 oder 1988 oder seit wann auch immer, jedenfalls: sind sie noch, nicht wahr? „Ja“, säuselt Prof. Mattenschlepp mit glänzendem Auge, „die sind übrigens auch das vielleicht typischste Beispiel überhaupt: Zwei von vier sind tot, die anderen zwei haben sich Ende der 80er in bekanntermaßen unverwüstliche Öltanks verwandelt und lassen sich seither als stetig zerbröselnde Denkmäler ihrer selbst durch die Lande karren, jeder mit seinen eigenen Sweet, also ein paar kompetenten Muckern, die zu spät geboren und zu biederdröge sind, als daß man aus ihnen mehr machen hätte können als Füllmaterial für den Kleinanzeigenteil von Instrumentalistenfanzines.“
Und wieder wenden wir ein: Waren Sweet denn nicht von Anfang an Humbug, minderer Glitzerkram für minderjährige Schwesterherzen, die beim „Bravo“-Blättern vor dem Plattenspieler des reifen Hardrockbruders davon träumten, andere, großweltlich-glamourösere Lippen zu küssen als die des Jeansträgers aus der 8a mit den fettigen Spaghettihaaren?
„Ach“, sagt der Prof, „da weiß ich eine nette Anekdote: 1971 saßen The Sweet mal mit Deep Purple gemeinsam in einer Autobahnraststätte beim Frittenmampfen – man kannte sich seit vielen Jahren aus gemeinsamen Bands wie Wainwright's Gentlemen, von allen möglichen Sessions in Studios und auf Bühnen, vom Saufen und Feiern sowieso. Da rückte ein Trupp progressiver Rockisten an, rümpfte die Nasen und begehrte zu wissen, wieso ihre Helden mit dieser 'beschissenen Müllpopband' an einem Tisch säßen. Als niemand antwortete, wurden die Lederrecken konzilianter, priesen die aktuelle Single 'Strange Kind Of Woman' und fragten, wann denn eine neue erscheine. Den Blick indigniert auf seinen Kartoffelteller gerichtet, antwortete Orgler Jon Lord: 'Oh, ich denke, wir werden keine Singles mehr veröffentlichen. Wir möchten auf keinen Fall, daß ihr uns für eine beschissene Müllpopband haltet.'“
Es hilft ja manchmal das sogenannte „Hineinhören“, zum Beispiel in das möglicherweise größte Sweet-Album (das zweite des Jahres 1974), das soeben zum ungefähr vierzigsten Mal neu veröffentlicht wird, mit den gleichen Bonustracks wie beim zwölften und einunddreißigsten Mal, und neben dem in Sachen instrumentaler Brillanz, Dringlichkeit, Präzision, Kompetenz, Vielfalt und Wagemut so ziemlich alles verblaßt, was Deep Purple (von anderen zu schweigen) zu jener Zeit auf Vinylscheiben pressen ließen: Hardrock (klar), Jazz-Experimente, Bläser, ein höchst gewagtes und unterhaltsames (!) Schlagzeugsolo, etwas Balladerie und am Ende die vielleicht definitive Version von „My Generation“, von der Roger Daltrey was lernen konnte, die mit dem psychedelisch-verschwurbelten Ende die späten 60er neu erstrahlen läßt und Pink Floyd beschämt und bei der sowieso jedem Bassisten dieser Welt zuverlässig sein Instrument aus der Hand fällt.
Und dann die Hits. Die unverwüstlichste Halbstarkenhymne aller Zeiten: „Teenage Rampage“! Der zu Tränen rührende, bombastische Abgesang auf die Hippiegeneration:„The Six Teens“! „Fox On The Run“! Selbst das damals banal wirkende „Turn It Down“ klingt heute wie ein neonfarbener Strahlkracher. Und die B-Seiten und Demos: Da passiert so viel, daß die Ohren regelrecht schlackern, und es ist derart meisterhaft und druckvoll gespielt, daß man sich mit einem arroganten Lächeln nachträglich in diese Generation hineinwünscht. Wie übrigens neunzig Prozent aller heutigen Musiker, die sich für „Rock“ halten.
„Tja“, doziert Prof. Mattenschlepp milde, „das ist das Schlimme an Popmusik: So gut wie damals, als sie neu, sensationell, spannend und blendend geil war, wird man sie nie mehr machen können. Und das ist das Schöne: Das muß man auch nicht. Sie ist ja schon da.“

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 17. Januar 2017

Belästigungen 1/2017: Vom Plastikmeer zur Plastikstadt (Plädoyer für ein Jahr ohne Ideen)

Wenn ein beliebiges Lebewesen – sagen wir: eine Katze, ein Fink oder eine Weinrebe – zwischendurch mal nichts zu tun hat, tut es das, was ihm als Wesen naturgemäß zukommt: Es west. Das heißt: Es sitzt oder liegt oder steht oder hängt müßig herum, kontempliert mit einem wohligen inneren Brummen das Gewese außenrum, als dessen Teil es sich weiß, und genießt den meditativen Zustand des Aufgelöstseins in einer Welt, in der sich alles irgendwie fügt, bis sie eines Tages zu Ende geht.
Anders der Mensch: Der kriegt dann Ideen, weil ihm das selbsttätige Fügen nicht so recht behagt und er ständig meint, irgendwas verbessern zu müssen, was hinterher im Normalfall schlimmer ist als zuvor. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser seltsame Instinkt von der Konstruktion einer strahlenden Science-fiction-Zukunft zunehmend auf ein Gebiet verlagert, auf dem es nicht ganz so utopisch zugeht wie bei Perry Rhodan: Es geht dem Menschen nun bloß noch darum, möglichst viel von dem zu retten, was er mit seinen Zukunftskonstruktionen früherer Jahrhunderte (und insbesondere der letzten zwei) weitestgehend kaputtgemacht hat.
Ein ganz zufälliges Beispiel ist die Plastikindustrie. Die nehmen wir Unbeteiligten für gewöhnlich als grau-monströsen Moloch wahr, dessen Ziel und selbstgewählte Aufgabe es ist, Megatonnen von ihrem giftigen, häßlichen, unverdaulichen Zeug in die Welt hineinzupumpen, damit diese daran zugrundegehe. Früher sah man das anders: Da empfand man den Dauerhagel von Plastik, mit dem Holz, Metall, Stoff und andere Werkstoffe ersetzt und zugleich tausend neue Verwendungszwecke erfunden wurden, als epochalen Segen und Fanfare zum Aufbruch in ein neues, glückliches Zeitalter.
Es ist ja auch ein schöner Gedanke, daß man keine Bäume mehr fällen, Minen ausbeuten, Felder bestellen und sonst was muß, weil man deren Erzeugnisse wesentlich billiger aus Plastik herstellen kann, was auch noch den Vorteil hatte, daß Plastik nicht so schnell kaputtgeht. Keine bröseligen Einkaufskörbe aus Weidengeflecht mehr, die im ungünstigsten Moment zu einem Haufen nutzloser Spreißeln zerfallen! jubelte man und versprach, als plötzlich der Naturschutzgedanke aufblühte, glühenden Herzens, die innovative Plastiktüte mindestens zwanzigmal zu verwenden und anschließend einer geregelten Entsorgung zuzuführen.
Dummerweise kam irgendwann jemand auf die Idee, mal ein bisserl über dem Meer herumzufliegen, und entdeckte dabei das possierliche Schauspiel eines bunt schillernden Konfettistrudels von Plastikmüllteilchen, doppelt so groß wie die Landfläche der USA. Da machte es puff!, und die Idee einer „geregelten Entsorgung“ löste sich so ruckzuck und effektiv in ein Rauchwölkchen auf wie die Phantasiewelt am Ende der Enterprise-Folge „Das Spukschloß im Weltall“.
Danach öffnete der Mensch erst mal seine Augen und stellte fest: Es gibt kein Gewässer und schon gar kein Ufer, keine Küste, keine Insel auf Erden, das oder die nicht komplett vollgemüllt wäre mit Plastikstücken und -teilchen, ganz zu schweigen vom Grund von Ozeanen und Seen. Man schätzte den marinen Erfolg der jahrzehntelangen Plastikproduktion unterschiedlich ein: fünf Tüten voller Müll pro 30 cm Küste, acht Millionen Tonnen mehr pro Jahr, fünf Billionen Teilchen – wie auch immer, jedenfalls mußte jedem denkenden Lebewesen schlagartig klar sein: Da ist nichts mehr zu machen. Milliarden Tonnen Plastikmüll einzusammeln und in Container zu stopfen, ist ausgeschlossen. Da können wir nur noch augenblicklich aufhören, dieses Zeug herzustellen, und hoffen, daß der Dreck im Meer wirklich – wie die Wissenschaft verspricht – in tausend Jahren zerfallen ist. Zu was er zerfällt? Nun ja, reden wir von was anderem.
Allerdings ist die Plastikindustrie nun mal eine Industrie, und das heißt: Wenn die erst mal läuft, kann sie niemand mehr stoppen, schon gar nicht der Mensch, zumal der einen Arbeitsplatz braucht, damit er … hm, nicht zur Katze oder Weinrebe degeneriert? Egal, er braucht ihn jedenfalls, und wenn die Plastikindustrie die Ozeane nicht mehr vollmüllen darf, sind Ideen gefragt!
So kam ein findiger Ideenhaber auf einen Gedanken: Schaut euch mal die Städte an! Da liegt überall tonnenweise häßliche Hundescheiße herum! Die könnten wir doch in hübsche Plastiksäckchen packen, dann sieht sie gleich viel hübscher aus!
Gesagt, getan: Seit ein paar Jahren hüllen Hundebesitzer die circa vier Millionen Tonnen Scheiße, die ihre Ersatzlebensgefährten jährlich in Deutschlands Städte wursten, zunehmend in Plastikbeutel, die es mittlerweile in allen Farben und mit Herzchenaufdruck gibt, und werfen diese ins Gebüsch, auf den Bürgersteig oder in Abfallkübel. Dann kommen die Krähen, reißen die vermeintlichen Geschenkpackungen auf, stellen fest, daß die enthaltenen Viktualien bereits verdaut sind, rufen „Bäh!“ und fliegen empört davon. Zurück bleibt: Scheiße, günstig verteilt zum besseren Hineinstapfen und Weiterverschmieren, und: zerfetzte Plastikbeutel, eine halbe Milliarde pro Jahr, nach zehn Jahren also etwa 15.000 Stück pro Quadratkilometer, die – das läßt sich leicht berechnen – in wenigen Jahren ganz Deutschland komplett bedecken werden.
Da wünscht man sich doch, wo gerade ein neues beginnt, mal ein Jahr ganz ohne Ideen. Ein Jahr, in dem vielleicht sogar die alten Ideen verschwinden. In dem die Menschen verwundert vor den Plastikfabriken stehen und sich fragen, wozu diese übelriechenden Anlagen gut gewesen sein mögen. In dem sie dann aber drauf pfeifen, sich zu Katze, Fink und Weinrebe gesellen und das tun, was ihnen als Wesen natürlicherweise zukommt: wesen. Und damit ganz nebenbei den Rest von dem retten, was die Zukunftsherbeiführungsideen der letzten zwei Jahrhunderte weitestgehend kaputtgemacht haben.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 13. Januar 2017

Frisch gepreßt #381: Enemies "Valuables"


Manchmal muß man sich ein Stück entfernen, nicht da sein, damit man die Dinge genau(er) sieht. Das gilt auch, gerade und besonders in dieser seltsamen Zeit, wo alles immer schneller wird, als wäre die ganze Welt in ein Zyklotron gestürzt, bis dann auf einmal alles stillsteht und man tagelang aus Fenstern in den stummen Schein hinausblickt. Da glitzert die Luft im pulsierenden Sonnenglanz vor winzigen Kristallen, denen man sich nähert und feststellt, daß es Erinnerungen sind.
Erinnerungen an lang verwehte Winter, die man genau so verbrachte, als die Zeit noch nicht verging, sondern ein Kontinuum bildete, einen Ozean. Hin und wieder wölbte sich eine Welle und lief gemächlich entspannt zum Horizont, und die Welt entfaltete sich in Details, die, wenn der zimtduftende Nebel des Tagtraums das Gehirn in luftig weiche Polster bettete und man sich kein Stück, sondern langsam ins Unendliche entfernte, zu einem immer stilleren, erhabenen Bild zusammenflossen: dem Bild einer Welt, deren Teil man nicht mehr war, weil sie vollständig in einem aufging.
Und immer schwebten Klänge durch diese Welt. Klänge, an die man sich am besten erinnert, wenn man sie nicht mehr hört. Die man hören muß, damit man sich an sie erinnern kann, irgendwann in fernen Nebenzeiten.
Da geht die Tür auf, jemand kommt herein und legt ein Best-of-Album auf den Tisch, eines dieser vielen, die in den Wochen vor Weihnachten erscheinen, weil Menschen nun mal so sind, daß sie die Dinge, die sie kennen, am liebsten haben möchten. Weil sie nicht verstehen, daß man Dinge nicht haben kann. Weil sie sich erinnern an einsame Spaziergänge in Kindheitsstraßen, erfüllt von dem unwiderstehlichen Puddinggefühl aus Glück, Einsamkeit und Trauer, das der Winter trägt und das die Dichter seit Jahrhunderten zu greifen versuchen, erinnern an den leeren Blick aus einem Fenster, ein Gesicht, von dem man wünschte, es wäre einem nah, könnte einen sehen und berühren, von dem man aber ahnte, daß es nur in einen stummen Schein hinaus- und zugleich in einen blinden Spiegel blickt.
Da hörte man zum Beispiel „Fade To Grey“ von Visage und fühlte das Gefühl rückkoppelnd schwellen, und wenn man vor Weihnachten 2016 eine Visage-Best-of auf den Tisch gelegt bekommt, dann möchte man sie haben, um dieses Gefühl wiederzubeleben. Und dann stellt man sie ins Regal, weil das nicht funktionieren kann und aber weiterhin versprechen soll, daß es irgendwann irgendwie doch funktioniert.
Aber dann läßt man plötzlich los und kann sich nicht mehr an den Moment erinnern, in dem man losgelassen hat. Man schwebt, umträumt von spiralig schwirrenden Gitarrenschleifen, die den Himmel durchkreisen wie Vögel, gestreichelt von gelassenen Berührungen von Holz, Blech und Haut, die man Trommelschläge gar nicht nennen kann, weil sie von selbst zu entstehen scheinen, wie die ganze flockige Lawine von Klang, die einen durchströmt, mit Menschen ganz und gar nichts zu tun zu haben scheint, selbst die Stimmen von Lewis Jackson, Mark O'Brien, Eoin Whitfield, Micheál Quinn (die im irischen Kilcoole leben sollen) und Louise Gaffney (zu Gast von Come On Live Long, aber das vergessen wir gleich wieder; ohne Körper sind Provenienzen ohne Bedeutung), sondern aus dem Vakuumpotential des Universums ersteht, im Augenblick und schon vergangen.
Was ist denn das für eine Musik? „Postrock“ sagt das Netz hier, „Experimental Indie“ sagt es dort und schweigt verschämt, weil die Frage auch lauten könnte: Was ist denn das für eine Welt? Und wie soll man die beantworten ohne Vergleich?
Irgendwo in der Ferne lächelt Brian Eno, und schon ist er wieder weg, und während die Gitarren, das Schlagzeug und ein Schwarm von Harmonien, Echos und Klängen durch die Himmel stürzen, kriegt man als letzten Fetzen Information noch mit, daß Enemies nach diesem Album verstummen werden. Was völlig logisch ist, denn mit „Valuables“ ist alles gesagt und getan, und diese Musik wird nicht vergehen, sondern in fernsten Nebenzeiten schwingen, schwellen, wehen, kreisen, schneien, schwimmen, treiben, flattern und die Welt erfüllen.
Und dann, dann schwebt man wieder in den einsamen Kindheitsstraßen, selbst körperlos und nicht mehr da. Sondern überall und ewig.

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Donnerstag, 12. Januar 2017

Belästigungen 25/2016: Warum der Mensch an Fakten glauben muß (und was das mit der Post zu tun hat)

Kürzlich hat man mir hochöffiziös mitgeteilt, daß wir in postfaktischen Zeiten leben. Seit dieser ersten Mitteilung vergeht kaum noch ein Tag, an dem mir das nicht hochöffiziös und mit gespreiztem Zeigefinger mitgeteilt wird. Selbst Bundessalbentube J. Gauck, der ansonsten außer einem militärisch umflorten „Freiheit!“ kaum etwas aus seinem Sinnmachungsorgan herausquetschen kann, ohne sich im ärgsten Gestrüpp von Bullshit, Nonsens und Antigrammatik zu verheddern, trompete neulich in die Nachrichtensender hinein, es gehe nicht an, daß „Fakten eine immer geringere Rolle spielen“.
Freilich sind „postfaktische Zeiten“ an und in sich ein Schmarrn, schließlich können Zeiten auch nicht „faktisch“ sein. Ob überhaupt irgendwas „faktisch“ sein kann, ob es das Wort „faktisch“ sinnvollerweise überhaupt geben kann, darüber ließe sich diskutieren, aber mei. Wir wissen ja, was ungefähr gemeint ist: Die Leute, heißt es, glauben nicht mehr an Fakten, sondern nur noch an wirre Propaganda und gemütliche Meinungen, die ihnen aus „Echoräumen“ entgegenschallen, wo sie sie zuvor selbst hineingeplärrt haben.
Wir könnten uns fragen, wieso die hochoffiziösen Mahner „Fakten“ sagen und nicht „Tatsachen“, wo die doch wahrscheinlich eigentlich gemeint sind. Aber das ist klar: An Tatsachen muß man nicht glauben, die sind einfach da und tatsächeln unberührt von religiösen Belangen vor sich hin. An „Fakten“ hingegen muß man glauben, weil sie sonst – schwupps! – weg sind. So wie das Christkind, der Weihnachtsmann und der alternativlose Kapitalismus, an die ja auch viele Leute glauben. Jetzt aber halt dummerweise nicht mehr so viele, weil wir jetzt postfaktisch geworden sind und gar nichts mehr so richtig glauben wollen (höchstens Postfakten, aber von denen gibt es vermutlich noch zu wenige).
Apropos Post: Fakt ist zum Beispiel, daß die Privatisierung der deutschen Bundespost vor gut zwanzig Jahren eine „unglaubliche Erfolgsgeschichte“ war. Weil uns das von Anfang an so erzählt wurde und wird und weil es damit eben Fakt ist. Den wir – unglaublich oder nicht – nicht mehr so recht glauben, wenn wir uns (am besten in der Vorweihnachtszeit) die Schlangen vor den wenigen verbliebenen Filialen anschauen oder die Entwicklung der Preise für schriftliche und telephonische Kommunikation über die letzten Jahrzehnte mit dem Einkommen der Leute vergleichen, die Briefe verteilen, Leitungen einbuddeln und sich in Callcentern Infarkte und Depressionen anarbeiten (und mit dem Aufwand an gelb-roter Reklamepest, der uns auf Schritt und Tritt brüllend verfolgt). Wenn wir ganz frech sind, fragen wir sogar nach, was für ein sprachlicher Trick dahintersteckt, eine Enteignung, bei der etwas, das zuvor allen gehört hat, hinterher zu 92,5 Prozent internationalen Banken, Konzernen und Fondsgesellschaften gehört, als „Privatisierung“ zu bezeichnen. Aber dann wird man uns erklären, Banken, Konzerne und Fondsgesellschaften seien ja eben privat und wir sollten gefälligst aus unserem Echoraum herauskommen.
Ach, wie waren sie gemütlich, die faktischen Zeiten! Da war der Deutsche übrigens jahrhundertelang ein leuchtendes Vorbild: Der glaubte schon im Mittelalter an den Fakt, daß der jüdische Semit Brunnen vergiftet und die Pest verbreitet, und daran glaubte er im mittleren 20. Jahrhundert noch viel fester und tut es im Grunde bis heute. Der faktische Deutsche glaubte aber auch an die gelbe Gefahr und an den Unhold östlich der Memel, an den tapferen Ami, der zu unserem Wohle kommunistische Untermenschen in Vietnam niedermacht, an den wohltätigen Fürsten, der liebevoll sein Volk umsorgt – oder halt, wenn der Fürst nicht mehr da (oder nicht mehr sichtbar) ist, an die Segnungen der Parlamentsdemokratie, in der er allein als Souverän regiert und den neuen (Geld-)Adel jederzeit mit einem Kreuzchen überstimmen und mit gütigen Gesetzen an der Ausübung seiner Vernichtungslust hindern kann.
Er glaubt an seine Pflicht (vor allem wenn sie eine „verdammte“ ist), an einen Arbeitsmarkt und Börsen, an denen zum Wohle aller hübsche Waren zu gerechten Preisen gehandelt werden und deren „Höhenflüge“ so segensreich sind wie der erste Föhn im Frühling. Er glaubt an eine unsichtbare Hand, die jedem sein Scherflein und seinen gerechten Lohn zukommen läßt. Er glaubt an einen Wettbewerb, der vom Naturschutz bis zur Erschwinglichkeit und Ungiftigkeit von Essen und Trinken alles sehr viel besser regelt, als das eine strenge Behörde jemals könnte. Er glaubt daran, daß der einzige Weg, die grauenhaften Folgen des Wachstums zu mildern, noch mehr Wachstum und die einzige Möglichkeit, bewaffnete „Konflikte“ zu beenden, die Lieferung von noch mehr Waffen und zur Not auch deren Trägern ist.
Gerade wo es um Krieg geht, haben für den Deutschen immer schon Fakten eine herausragende Rolle gespielt: Er glaubte, daß an dreißig Jahren Kontinentverwüstung der Sturz von ein paar Männlein aus einem Prager Fenster schuld war; er glaubte, daß es keine Parteien mehr gab, sondern nur noch Deutsche, die aus allen Richtungen bedroht wurden, weshalb er den Finsterlingen mit Hurra und „Jeder Stoß ein Franzos! Jeder Schuß ein Ruß!“ entgegenstürmte. (Er glaubte übrigens bis vor kurzem auch noch, daß er damals tatsächlich gesamtbegeistert in die Schützengräben sprang, und neuerdings glaubt er wieder besonders gerne, daß er daran gar nicht schuld war.)
Er glaubte an die Fakten um den Dolchstoß, den Sender Gleiwitz, die kriegsentscheidende Geheimwaffe, den Golf von Tonkin, diverse „friedliche Revolutionen“ in Osteuropa, den serbischen Hufeisenplan und die ethnischen Säuberungen im Kosovo, die irakischen Massenvernichtungswaffen, die russischen Panzer in der Ostukraine, die tapferen Rebellen in Libyen und Syrien (und zwischendurch, lang ist's her, auch mal Afghanistan), und er glaubt jederzeit und gerne, daß sich „humanitäre“ (wörtlich: menschenfreundliche) Katastrophen am besten mit Bomben lösen lassen.
Das alles glaubt er wahrscheinlich vor allem deshalb, weil ihm ohne diesen Glauben die Schuppen von den Augen fallen und er eine Welt erblicken könnte, in der wenige viele ausbeuten (und zwar immer unverschämter und radikaler) und er einer der vielen ist, die sich dagegen wehren könnten, ja müßten. Das mag er aber nicht, weil das ungemütlich werden könnte, und deshalb sehnt er sich neuerdings mal wieder wohltätige Fürsten und heroische Präsidenten herbei und glaubt notfalls auch wieder daran, daß der Semit die Brunnen vergiftet und die Krätze verbreitet.
Ach, der Mensch und sein Glaube! Sollen wir ihm noch kurz erklären, daß der Begriff „postfaktisch“ (als „post-truth“) 2004 von einem Schriftsteller zur Bezeichnung der Lügen, Verdrehungen und propagandistischen Hirngespinste (Verzeihung: Fakten) geprägt wurde, mit denen damals eine „Koalition der Willigen“ und ein Massenchor von Medien den Irakkrieg herbeibeteten? Daß diesen Begriff also heute genau die, auf die er damals gemünzt war, jenen entgegenschmeißen, die ihnen nicht mehr so recht hinterhermarschieren mögen?
Er wird es uns nicht glauben, denn das wäre ausnahmsweise kein Fakt, sondern: eine Tatsache.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.