Mittwoch, 20. Mai 2015

Belästigungen 09/2015: Vom Kirschbaum, den Liebenden und der Frage, was passiert, wenn alle das Richtige tun

Der Mensch ist so versessen auf Sensation und Neuklimbim, daß ihm bisweilen aus dem Hirn rutscht, wie wunderbar wundersam und glückbringend die und ausschließlich die Dinge sind, die immer (fast) gleich wiederkehren (und die einem im täglichen Geplümpel der Gesellschaftsdampfmaschine deswegen ebenfalls aus dem Hirn flutschen).
Oder so: Wenn der Kirschbaum blüht und man mit dem Lieblingsmenschen unter dem leuchtend weiß beschäumten und beflockten, vom Vogelvolk mit Tirili umwobenen Geäst im Gras liegt, tut, was Liebende seit Jahrmillionen tun, und den Tag in seiner unendlich farbigen Tiefe müßig wabern läßt, – dann ist es relativ … sagen wir mal: staubkörnig (von der Bedeutung her bemessen), wenn zum Beispiel ein unzufriedener Leser aus der Betriebsmaschine heraus schreit, es möge sich dieser weltfremde Wolkenkolumnenkritzler doch endlich mal von seinem elfenbeinernen Hochplateau herunter in den Wurstsuppenkessel der Krisen, Reformen und Skandale begeben, um zu berichten, was „wirklich“ los sei, und es möglichst prangernd zu kommentieren, damit „es“ besser oder irgendwas werde.
Ja nun, freilich: Es ist haarsträubend schrecklich, grauenvoll und zum Heulen, daß zum Beispiel tausende Menschen im Mittelmeer ersaufen müssen, weil sie verzweifelt versuchen, dem Elend, das der „Westen“ dort über Jahrzehnte gezielt herbeigeführt hat, um seine Oberstschicht von Fettmaden weiter mästen zu können, ohne die eigene Neunzigprozentunterschicht so sehr „reformieren“ zu müssen, daß der irgendwann doch mal der Kragen platzt und sie die angeblich allmächtige Clique von wahnsinnigen Mutanten samt ihren Haßpredigern und parlamentösen Zwecksklaven in selbiges Mittelmeer hineinschmeißt.
Aber die Frage, was dagegen zu tun sei, ist nur scheinbar zynisch. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die fürchterlichen Dinge, die sich da drunten zwischen Afrika und Europa „abspielen“, keine Naturkatastrophe sind, mit deren Bewältigung die zuständigen Exekutoren überfordert wären. Sondern dieses Massensterben (das man wahrscheinlich juristisch korrekt nicht unbedingt als Mord deklarieren kann, obwohl die „niederen Motive“ so deutlich zutageliegen wie die Absichten eines Fußballleistungsträgers, der zum Elfmeter antritt) ist von der (wir erinnern uns: mit einem sogenannten Friedensnobelpreis bekränzten) „Europäischen Union“ bewußt, systematisch und planvoll herbeigeführt. Es dient einem Zweck, und die Alternativlosigkeit des Gesamtvorgangs ist so zwingend, daß es vollkommen egal ist, welche sogenannte Regierung momentan mit der Verwaltung der Todesmaschine betraut ist – bislang sind noch in jeder noch so hoffnungsvollen Partei, sobald sie auch nur in die entfernteste Nähe einer „Regierungsverantwortung“ kam, sämtliche halbwegs vernünftigen Menschen umgehend durch die üblichen Pappkameraden der „transatlantischen“, „wirtschaftsnahen“ und sonstwie euphemistisch verbrämten Mafiabanden ersetzt worden.
Das heißt nichts anderes als: Durch Wählen, Protestieren, Gegenreden, Argumentieren ist daran nichts zu ändern, aus dem einfachen Grund, daß man einem Kriminellen, der weiß, daß er kriminell handelt, nicht zu erklären braucht, daß er kriminell handelt. Der weiß das, und wenn er sich auf Debatten einläßt, dann nur zu dem Zweck, daß die Sauereien, während sie beplappert werden, ungestört weiterlaufen können.
Die Frage der Sinnhaftigkeit eines gewalttätigen Vorgehens ist ebenfalls längst geklärt, seit die Projektgruppe Stadtguerilla in den sechziger und siebziger Jahren ansatzweise versuchte, solcherart Besserung herbeizuzwingen. Oder kann sich irgendwer erinnern, daß beispielsweise die Bundesanwaltschaft oder der Bundesverband der deutschen Arbeitgeber durch die Beseitigung ihrer damaligen Führungsgestalten in irgendeiner Weise auf lange Sicht menschenfreundlicher geworden wäre?
Freilich gelang es damals deutschen Gewerkschaften, den angesichts des dräuenden RAF-Terrors ausnahmsweise im eigenen Angstschweiß schlotternden Bonzen einigermaßen nennenswerte (und historisch einmalige) Lohnerhöhungen abzuschwätzen. Aber sind ein paar (um im Kontext zu bleiben) Mark mehr zum Verkonsumieren es wert, in den sowieso alles überschwemmenden Tsunami von Haß und Aggression noch eine zusätzliche Prise Waffengewalt hineinzuraspeln? (rhetorische Frage!)
Oder wäre es nicht vernünftiger – nein: einzig vernünftig, dem grausligen Lebensmodell, das aus derartigen Vorgängen ebenso hervorschimmert wie aus ihrem komplementären Antigerödel, etwas entgegenzusetzen, was eben nicht entgegen, sondern ganz (wo)anders und damit vollkommen frei von der verderblichen Logik ist, die zu all dem geführt hat und dafür sorgt, daß es ewig weitergeht und im Normalfall schlimmer wird?
Der Vorschlag mag, wie die Frage, zynisch erscheinen. Aber er ist der einzige, der in Jahrtausenden menschlicher Qual- und Leidensgeschichte noch nie einem praktischen Umsetzungsversuch unterzogen worden ist, und er ist der einzige, bei dem man weder Mehrheiten noch Verwaltungen, weder Propaganda noch Argumente noch Organisationen noch Parteien, weder Glauben noch Skepsis noch Überzeugungen, weder Gerede noch Gebrüll noch Lügen noch Erläuterungen, weder Geld noch Arbeit noch Massen noch überhaupt irgendwas braucht.
Fügen wir uns ins immer Wiederkehrende, legen wir uns mit dem Lieblingsmenschen unter dem Kirschbaum ins Gras und tun wir, was Liebende seit Jahrmillionen tun. Weiß jemand was besseres?
Und ja: „Wenn das alle machen?“ Ja, was dann?


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Dienstag, 5. Mai 2015

Belästigungen 08/2015: Als wir da da waren, war da kein da da (oder: Das Schwarze Phantom und die Pizzakartons)

Ich konsumiere sehr selten Stoffe, die nicht zwingend legal sind. Also sagen wir: nur wenn ich nüchtern und ungestört bin, also circa alle zwanzig Jahre. Dann aber schon. Neulich zum Beispiel, da dachte ich: Oh, ich bin ja nüchtern und ungestört! Und habe überhaupt keine Lust mehr, mich damit zu beschäftigen, welche deutsche Herrenrassenkarikatur heute wieder in die Welt bellt, irgendein Grieche müsse seine Hausaufgaben machen und Hitler sei der neue Putin pi pa po. Da werde ich jetzt doch am besten mal das XY rausholen, das mir XY vor drei Jahren geschenkt hat, und das … ähem, na ja. Was ich damit tun wollte, darf ich ja nicht sagen, weil das eine Selbstanzeige wäre.
Tat ich aber. Zehn Minuten später, während ich grade herauszufinden versuchte, ob ich was spüre, klingelt es an der Tür. Draußen steht das Schwarze Phantom. Ich habe das Schwarze Phantom seit ewigen Zeiten nicht gesehen, zuletzt in einem Micky-Maus-Heft, und da hat es mich ganz schön erschreckt.
„Oh!“ sage ich. „Das Schwarze Phantom!“
„Harr!“ sagt das Schwarze Phantom, und da erschrecke ich so, daß ich die Tür zuschlage und eine Minute lange denke, ich spiele in einem Micky-Maus-Heft mit. Micky-Maus-Mitspielphantasien kriegt man am besten mit Buffy weg. Ich lege eine Buffy-Folge ein und wundere mich über den Käse, an den jemand gedacht hat und der immer wieder auftaucht. Käse! Ich gehe in die Küche, hole den wundervollen Heublumenkäse aus der Glocke, schneide ihn klein und esse ihn in circa zwanzig Sekunden komplett auf.
Es läutet. Draußen steht das Schwarze Phantom. Gestärkt vom Käse, werde ich mutig: „Buh!“ buhe ich es an und schlage die Tür zu. Da bemerke ich, daß neben der Tür zwei Pizzakartons stehen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Pizza bestellt, also: Was soll das? Ich mag den Käse auf euren Pizzas nicht, denke ich und denke an den Heublumenkäse, den ich so mag, gehe in die Küche, schneide den Heublumenkäse in der Glocke klein und esse ihn in circa zwanzig Sekunden auf, lese dazu einen Roman von meinem zweitliebsten Autor Frederick Barthelme, der nie auf deutsch erschienen ist, und wundere mich, wie man in zwanzig Sekunden einen Roman lesen kann. Habe ich aber getan, und ich könnte ihn jederzeit problemlos nacherzählen, allerdings in zwanzig Stunden.
„Läuft, was?“ sagt das Schwarze Phantom, und ich knalle die Tür zu. Drei Pizzakartons. Auch egal jetzt, ich will ja noch den Heublumenkäse essen und einen Leserbrief an eine Literaturzeitschrift verfassen, um mich zu beschweren, daß in den letzten zwanzig Jahren kein Buch von Frederick Barthelme auf deutsch erschienen ist. Allerdings kenne ich keine Literaturzeitschrift. Gibt es so was überhaupt noch?
„Painted Desert“ heißt der nächste Roman. Er ist großartig, und ich lese ihn, während ich den Käse aufschneide, esse und mich frage, wieso es nicht dunkel wird.
„Selber schuld“, sagt das Schwarze Phantom, „du bist zu schnell!“ Ich knalle die Tür zu, registriere den vierten Pizzakarton, schneide den Käse auf und durchsuche den Stapel vor dem Regal nach mehr Büchern von Frederick Barthelme. Eines habe ich noch, irgendwo, und ein bißchen dunkel wird es jetzt doch.
Das Schwarze Phantom klingelt danach noch dreimal, dann klingelt meine Nachbarin, die mir ihren neuen Bikini vorführen will, weil sie meint, sie habe in dem Teil da hinten eine Falte. Da hinten, sage ich, hat jeder eine Falte, mit oder ohne Bikini, und sie schaut mich zwar ein bißchen seltsam an, ist aber offenbar beruhigt. Ich erzähle ihr noch dies und das von Barthelme, Micky Maus und Buffy, was sie viel weniger lustig findet als ich, weshalb ich ihr zu erklären versuche, was genau daran lustig ist, aber das versteht sie noch weniger, und so frage ich sie zur Aufheiterung, ob sie Lust auf ein Stück Heublumenkäse hat, aber sie sagt, sie müsse morgen nach Paris.
Als ich wieder in meiner Küche stehe, den Käse aufschneide und nebenbei Barthelme lese, fällt mir der großartige Satz auf: „When we got there, there wasn’t any there there.“ Der Satz ist so großartig, daß ich ihn wieder und wieder lese, bis ich irgendwann bemerke, daß es draußen wieder hell wird und ich Lust auf Schokolade habe.
Es klingelt, ich öffne die Tür und sage „Buh!“, aber es ist diesmal nicht das Schwarze Phantom, sondern die Nachbarin, die einen Moment lang erschrocken schweigt und dann fragt, ob ich vielleicht ein Paket für sie angenommen habe. „Nur Pizzas“, sage ich und deute auf die Kartons, die sich jedoch auf wunderliche Weise in Pakete von Amazon, Zalando und anderen Versandhändlern verwandelt haben. „Oh“, sage ich und überreiche ihr ihr Paket, ebenso wie den drei anderen Nachbarn, die danach noch klingeln.
Den folgenden Tag habe ich damit verbracht, „Painted Desert“ von Frederick Barthelme zu lesen, Schokolade zu essen und mich mit leise surrendem Kopf zu fragen, was wohl der Paketbote von mir denkt. Und mir zu sagen, daß ich eigentlich ganz froh bin, daß ich nur ganz selten Stoffe konsumiere, die nicht zwingend legal sind. Und diesen Text zu schreiben.
Und hinzuzufügen, daß all dies selbstverständlich vollkommen frei erfunden ist, wie alle Geschichten, in denen das Schwarze Phantom, Heublumenkäse, Micky Maus, Buffy, Pizzaschachteln und ein Bikini vorkommen und in denen es erst gar nicht und dann viel zu schnell dunkel und wieder hell wird.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in momentan vier Bänden als Buch vor.


Freitag, 1. Mai 2015

Frisch gepreßt #338: Roland Hefter "I dad's macha"


Es gibt so Menschen, an denen kommt man nicht vorbei, ohne ihnen wenigstens ein Lächeln entgegenzubringen und sich ein bisserl klein und unangemessen zu fühlen, weil sie so dermaßen sonnige Gemüter, patente Kerle und unwiderstehlich fröhliche Naturen sind, dabei aber marmoriert von der sanften Melancholie des Wissens um die Übel der Welt und einer grundanständigen Bescheidenheit, die sich auswächst zum Verständnis für die Geplagten und Verängstigten, denen sie ohne Protz und Trara zum Vorbild oder zumindest Mutanreger werden.
Zum Beispiel der Roland und zum Beispiel das Titellied auf seinem neuen Album: Da zählt er mit seiner unnachahmlichen Mischung aus frohsinniger Direktheit und angetraurigter Nüchternheit auf, wer alles was gerne täte oder hätte, vom schwulen Fußballprofi über den bierdurstigen Islamisten bis zum Opa, der vom schweren Motorrad (ohne Helm), einem Piercing („da, wo’s koaner siehgt“) und tätowierten Wadeln träumt, und faßt die aus solchen Wunschnotlagen erwachsende Erkenntnis in einem Satz zusammen, dem nicht zu widersprechen ist: „I dad’s macha, später kannst g’wiß drüber lacha.“
Das mag manchem simplizistisch erscheinen, und das ist es irgendwie auch, schließlich zieht der Held in Grimmelshausens Klassiker ähnlich staunend durch die Welt, die ihm in ihrer Wirrnis, Verdrehtheit und überkandidelten Eingenähtheit undurchschaubar rätselhaft erscheint, wo doch in Wahrheit alles so einfach und wahrscheinlich sogar schön wäre, wenn man sich mal hinsetzen und „Ganz normal“ denken und sein täte. Deshalb hält ihn jedermann für deppert, und deswegen hält sicher auch der eine oder andere vergrübelte Weltendeuter den Roland für ein bisserl deppert, weil so einfach und leicht ist das alles schließlich nicht, gelt?
Oder halt doch, wenn man’s mal von der anderen Seite betrachtet, von unten, ohne interpretatorische Auslegungsfußnoten und ideologisiertes Zwangsregelaxiomsystem. Auch aber ohne blödsinnige Wurschtigkeit und unanständige Häme, einfach weil’s so sein könnte: wahrscheinlich sogar schön. Und drum stellt sich der Roland mit Gitarre und Trompete auf Bühnen und singt’s den Leuten vor, und obwohl er beide Instrumente richtig gut spielen kann und ihm die Ohrwurmmelodien und witzigen Reimzeilen nur so herausschneien aus Herz, Hirn und Mund, tut er nicht so, als ob er was besseres wär: „Du bist ned die Nr. 1“ ist auch so ein Leitsatz. Und drum sitzen und stehen die Leute dann da und schauen ihn an und dann die Welt und müssen grinsen, lächeln, lachen und nicken: Ja, stimmt. Und vielleicht probieren sie’s dann tatsächlich mal aus, weil: „Es gibt ein Leben vor dem Tod“, aber eben nur eins, das vom Warten nicht länger und schon gar nicht schöner wird. Das man sich mit Geld nicht kaufen kann, für das man aber vielleicht auch gar kein Geld braucht.
Freilich sind das alles Binsenweisheiten, aber die Weisheit der Binse liegt nun einmal darin, daß sie stimmt und daß sie in aller Toberei und Turbulenz des irdischen Durcheinanders nicht weggeht aus dem Hinterkopf, wenn sie mal drin ist, und deshalb muß man sie sich ab und zu vorsagen, damit sie ihren Platz findet. Oder noch besser: vorsingen, simpel und simplizistisch, fröhlich, aber marmoriert von sanfter Melancholie und Bescheidenheit, musikalisch wirtshaus- und bierzeltkompatibel und gern auch mal an der Grenze zum Schlager, damit die Erkenntnis gerade an denen nicht vorbeigeht, die sie am nötigsten brauchen. Und weil, akademisch gesagt, man gerade das Terrain des lustigen Volkslieds auf keinen Fall den anderen überlassen sollte, die es als Vehikel der Unterdrückung und Verblödung einsetzen.
Genau, sagt man dann. So ist’s. Und vielleicht schmeißt dann sogar der eine oder andere den Bettel hin und duad’s einfach amal macha.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Belästigungen 07/2015: Schab an der Tapete und rette die Welt (und hör nicht auf den Teebeutel)!

Mein Teebeutel hat heute früh zu mir gesagt: „Du musst für etwas leben, dass (sic!) größer ist als du.“ Normalerweise ist es mir herzlich egal, was mein Teebeutel so plappert, schließlich plärren heutzutage die meisten Gegenstände, die einem im Laufe eines Tages über den Weg laufen, irgendwelche Botschaften in die Welt. So was blende ich automatisch aus.
In diesem Fall bin ich hängengeblieben. Vielleicht war ich zu früh aufgestanden und im frühvormittäglichen Dunzelzustand der entsprechende Mechanismus in meinem Gehirn noch nicht aktiviert, vielleicht war es auch der heutzutage ameisenmäßig über den gesamten landesweiten Textausstoß verbreitete Neusprechblödsinnsfehler, der sich wie ein fieser Spreißel in meine Aufmerksamkeit gebohrt hat.
Egal. Jedenfalls begann ich zu überlegen. Zwar ist die Einbildung, es gebe etwas, was größer ist als man selbst und wofür man zu leben (und notfalls zu sterben) habe, die zentrale Stützkonserve sämtlicher Faschismen, aber vielleicht läßt sich, wenn das halt nun mal sein muß, irgendwas finden, was das Dafürleben tatsächlich wert wäre? Ein Gott? eine Firma? die Gaucksche Supermarkt-„Freiheit“? Nö, eher nicht.
Wie wär’s mit der Grammatik? fragt mein Teebeutel mit einem fröhlichen Grinsen. Ein plausibler Vorschlag, aber wenn ich nun minimalerweise loszöge, um mit flammendem Tipp-Ex-Schwert sämtliche falschen Doppel-s-„dass“e aus der Welt zu merzen, käme ich höchstens bis zur Ecke Herzog-/Belgradstraße, ehe ich erschöpft zusammenbräche und zugeben müßte, daß die Grammatik größer als ich, die Blödschwätzerei jedoch unendlich viel größer als die Grammatik ist. Sowieso bin ich für exzessive Rechthabereikampagnen viel zu faul, und außerdem: Es sind zumindest für den Rest meines Einzellebens genug schöne Texte mit intakter Grammatik verfügbar, und wenn doofe Texte von der Karies der Reformschreiberei bis zur Unverständlichkeit zerfressen werden, sollte einen das eher freuen als grämen.
Aber, mahnt der Teebeutel, man kann doch nicht den lieben langen Tag sonnenbaden, schrulliges Zeug zusammendenken, flanieren, linksradikale Rockmusik hören und nebenbei in milder Muße am Ewigkeitswerk Wohnungsrenovierung herumbasteln, indem man quadratzentimeterweise alte Rauhfasertapeten von der Wand schabt! Während draußen in der Welt zum Beispiel das Klima zerpludert und die NATO den Krieg gegen Rußland vorbereitet!
Ja nun, auch das mag sein, und ohne Zweifel ist sowohl das Klima als auch der mythische Weltfriede (der meines Wissens zuletzt einige Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung gesichtet wurde, was aber auch am Mangel an Aufzeichnungen oder Menschen liegen kann) größer als ich. Aber wie „lebt“ man „für“ das eine oder den anderen? Soll ich etwa in diese seltsame Partei eintreten, die einst behauptete, die Umwelt schützen zu wollen, und heute mit diversen „Energiewenden“ und Grünen Wachstümern dafür sorgen möchte, noch schneller und effektiver ein menschenfeindliches klimatisches Katastrophentheater zusammenzudröseln, und in der sich dazu noch die derzeit schlimmsten Kriegshetzer außerhalb des US-amerikanischen Konglomerats von Waffenherstellern und Neocon-Fanatikern tummeln (weil sie als alte Maoisten schließlich schon seit einem halben Jahrhundert überzeugt sind, daß Rußland das Reich des Bösen ist)? Soll ich mich bei Twitter anmelden und dem rund um die Uhr tobenden Sturm von Stuß auch noch ein paar aufrufende Zeilen hinzufügen, die ebensowenig jemand liest wie die Trilliarden anderen, die nicht von Boris Becker oder Kai Diekmann stammen?
Oder soll ich mich als Sandwichmann an den Autobahnrand stellen und mit einem einprägsamen Slogan (etwa „Spart mehr Sprit!“) dazu beizutragen versuchen, daß dieser Irrsinn noch ein paar Jahre länger so weitergehen kann? Auch keine gute Idee, schließlich bin ich entschieden dafür, die gesamten Erdölvorräte des Planeten so schnell wie möglich abzufackeln, damit endlich Ruhe ist, und zwar möglichst noch bevor den Anführern der Mobilitätsterroristen was einfällt, womit sie auch ohne Benzin weiterrasen können. Dafür zu werben, zu prangern und Ein-Mann-Menschenketten zu bilden wäre aber ebenfalls zwecklos, weil es mit Sicherheit falsch verstanden würde und ich dann in endlosen „Talkrunden“ vergeblich versuchen müßte, das Phrasengeschwafel von Hans-Werner Sinn, Arnulf Baring und Karl Lauterbach zu unterbrechen, um „meinen Standpunkt darzulegen“, wofür ich am Ende wahrscheinlich auch noch Unterstützung von Menschen bekäme, mit denen ich nicht das geringste zu tun haben möchte.
Und nicht zuletzt ist meine Wohnung zwar kleiner als die angebliche Welt, aber zweifellos größer als ich. Und wer Tapeten abschabt, kann derweil nicht in ein Auto steigen, einem sogenannten Ziel entgegenröhren und dabei Giftgas ausstoßen. Und eine schönere Wohnung macht die Welt schöner; zwar nur für die, die drinnen sind, aber immerhin. Und wer das Tapetenabschaben nur unterbricht, um in der Sonne zu baden und durch die Gegend zu flanieren, hat keine Zeit, zu einem Krieg hinzugehen. Und wer sich dabei mit linksradikaler Rockmusik volldröhnt, hört zumindest die Befehle, Parolen und Kommandos nicht, die ihm die akustischen „Medien“ entgegenbrettern.
Da schweigt er, der Teebeutel. Und die Welt tut es ihm nach, zumindest vorübergehend. Wie schön.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.