Mittwoch, 31. Oktober 2018

Frisch gepreßt #423: Milo & Elucid "Nostrum Grocers"


Daß der soeben vergangene Sommer ein Prachtexemplar eines solchen war, merkt man (auch) an gewissen Überdosierungen. Kein Seestrand, kein Flußufer, keine Freibadliegewiese, wo man nicht dauerbeschallt wurde mit Cloud Rap und seinen verästelten Ablegern: billige Tickerbeats, simples Synth-Geplömpel, mit Autotune auf Plastik gestyltes Geplapper über (pathetisch überhöht ausgedrückt) Identitäten und Gegenständlichkeiten. Eigentlich, sollte man meinen, ist damit der Hip-Hop-Bedarf für mindestens ein Jahr gedeckt und ein Interesse an noch mehr nicht mehr zu wecken.
Falsch. Was in dem unablässigen Gezicker und Genöle fehlt, fällt dann auf, wenn plötzlich Stille da ist und ein Loch, in dem sich unbemerkt ein ungeheurer Hunger nach SINN gebildet hat, nach Aufrichtigkeit, Reflexion, Stil, Wortmelodie und Tiefe, auch nach originellen Beats, Sounds, einem Klanguniversum, das nach oben, unten und seitwärts, nach vorne und hinten über das omnipräsente sonische Alublech hinausreicht und Bilderwelten öffnet, Gefühle weckt, Erinnerungen gebiert zum Beispiel (aber nicht nur) an die Momente, in denen man Tracks zum ersten Mal gehört hat.
Auftritt Rory Ferreira (aka Milo), Chefphilosoph und Assoziationshirn des US-Art-Rap, dem es bekanntermaßen (vgl. „Who Told You To Think??!!?!?!?!“ vom letzten Jahr) wie niemandem sonst gelingt, bratzig potente Selbst-Darstellung, intellektuellen Witz, sprachliche Klarschärfe und metaphysisch lichtes Grübeln zu einem Denk- und Erzählfluß zu vereinen, der einen unwillkürlich aufhebt, mitträgt und im anderen Sinne aufhebt, so daß man am Ende ein anderer Mensch ist als eingangs: irgendwie weiser, gelassener, glücklicher, gesalbt mit einer Art Magie, die nur (solche) Musik (be)wirken kann.
Auftritt Elucid, fast zehn Jahre älter als Milo und das ideale Gegenstück in dem Sinn, dass sein Blick und seine Erzählweise im besten Sinne handfest-gegenständlich ist. Sein Hirn und seine Stimme verwandeln zufällige Geschichten über Armut, alltäglichen Rassismus, Haß und sinnliche Leere in archetypische Fabeln, die jeder verstehen kann, ohne die verstrickten Einzelheiten nachvollziehen zu müssen. Die Schattierung von Verzweiflung, die sein Vortrag ausstrahlt, materialisiert die Aggression unseres wirren, verfahrenen Daseins in einer wirren, verfahrenen Welt zu einem komprimierten Strang, einem Block, der Luft und Raum macht für Milo, der darin flattern, schweben und fliegen und seine Blitzideen flattern, schweben und fliegen lassen kann, ohne sich selbst einen Anker setzen zu müssen, der ihn festigt, erdet und zugleich hindert.
Klanglich ist „Nostrum Grocers“ ein ideal ausgewogenes Gesamtgemälde, in dem sich laut/leise, spitz/rund, komprimiert/diffus, scharf/samten, bedrohlich/schwerelos so ungezwungen ergänzen, daß ein echter Kosmos ersteht, aus dem nichts unangemessen (!) hervorsticht, in dem die Stimmen selbst Teil der Musik werden. Der seltene Fall eines Hip-Hop-Albums, in das man einen Tag tauchen, in dem man auch baden kann, ohne auf die Worte zu achten.
Die stehen – vom Album- über sprechende Tracktitel wie „Peace Is The Opposite Of Security“ bis hin zu blinkenden Zeilenfetzen wie „specialization is tyrannical, most certainly in my egg carton palace“ – dennoch im Zentrum, bilden das Herz des Ganzen. „Greatness is to act with no security“ – dieser zentralen, den Großteil der sonstigen Hip-Hop-Produktionen unserer Zeit als minder entlarvenden Erkenntnis gemäß ist es am Ende nicht mehr erstaunlich, daß Milo sein bestes Album nicht alleine, sondern nur in dieser Doppelung und Verbindung schaffen konnte. „I’m no fatalist / Real black / Like save the bacon grease.“ (Elucid) „Would it be fitting to sing a requiem as the trap door closes? / Redundant like black Moses / Abomunist newscast / I’m watching wide-eyed eating a gallon on Moose Tracks.“ (Milo) Dialoge wie dieser (aus „Circumcision Is The First Betrayal“) schichten sich ineinander, bilden einen nährenden Blätterteig dessen, wonach man (nicht nur) nach einem Sommer wie diesem hungert: SINN.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 30. Oktober 2018

Frisch gepreßt #422: Featherwolf "In The Living Room"


South of no north: Im tiefsten Süden, den menschliche Phantasie sich vorzustellen vermag, wo die Geckos gelähmt im Schatten kochen, die Giftluft glüht, die Geister nur nachts leise seufzen, wo Blut, Schweiß und Tränen die Erde tränken und der Mensch in diabolischer Sünde ein Traumleben träumt, in diesem tiefsten aller Süden, wo weit im höchsten Norden nichts zu finden ist als Süden – dort bin ich einst Maria begegnet, die mich hineinwarf in einen brennenden erotischen Alpwunschtraum, aus dem es ein Erwachen nur im tiefsten Rausch gab.
„I don’t wanna make up, I just wanna fight / All through the covers in your bed tonight“ ... Man darf davon träumen, Marie Krueger zu begegnen, sich von ihr hineinwerfen zu lassen in den ältesten Alpwunschtraum der Geschichte menschlichen Sehnens. Aber man sollte wissen, daß es kein weiches Bett ist, das einen dort erwartet, umflockt von Wattewolken, umspült von weichen Klängen. Nein, bei Marie klirren die Saiten, knallen die Trommelfelle und Drahtbespannungen, und wenn sie singt und sich mitreißen läßt von der schwellenden Dynamik der Männer an den Instrumenten, dann ist man rettungslos verloren.
Auf den Boden: Marie heißt richtig Shaun Marie Krueger, ist mit Sam Luna Featherwolf, auf ihrem zweiten Album verstärkt durch einen dritten Gitarristen (Aaron Zepplin) und Schlagzeuger Zach Harmon. Den Baß spielt Produzent Aaron Duesterhoft, und aufgenommen wurde die Platte im Wohnzimmer des Kruegerschen Seehauses am Ufer des Lake Winnebago. Der Süden ist also ein imaginärer: Nördlich ist man bald in Kanada; andererseits landet, wer stur nach Osten fährt, irgendwann in Sizilien.
Die Musik, die aus Marie und Sam herausquillt wie Zuckernektar aus reifen Feigen, wird der Schubladenarchivar als „Country“ bezeichnen, möglicherweise mit Zusätzen wie „Alternative“ und „Rock“, und damit liegt er richtig und zugleich total daneben. Diese Songs haben und brauchen kein Genre, sie künden von Schmerz, Ekstase, Verzweiflung, Verlangen, Sehnsucht und Hoffnung, von Sühne, Wut und Untergang, wie das die besten Songs schon immer tun, seit sich im tiefsten imaginären Süden die ersten Gefühle in Klängen Gehör verschafften.
Am Boden bleiben: „In The Living Room“ trifft ins Herz, weil die Aufnahme so unmittelbar ist (inklusive einleitender Gespräche übers Regiemikro), weil kein Effekt, kein Kompressor, kein Modifikationsgerät die Spitzen, die vulkanischen Ausbrüche und tiefen Leeren zusammenbürstet auf Radioformat. Vor allem aber weil den Hörer Maries Stimme spätestens bei dem umwerfenden „I’ve Done Wrong“ so packt, daß man ihr nie wieder entkommt. Wer an dieser Stelle weiterhört, ohne den Song wieder und wieder und wieder laufen zu lassen, der hat eiserne Nerven (und wird mit annähernder Erlösung belohnt).
South of no north: Es waren Maria McKee und ihre Band Lone Justice mit ihrer ersten LP, die mich damals in den Mahlstrom schmissen, und seitdem (es ist sehr lange her) hat mich kein Album, keine Band aus (wenn’s halt sein soll) diesem Genre mehr so erwischt wie dieses. Allerdings muß man rückblickend hinzufügen: Die Zeiten waren andere, der Weg ans Licht führte zwangsläufig über Leute wie Linda Ronstadt, Jimmy Iovine, Steve van Zandt, Tom Petty, über den Großkonzern Geffen Records und Support-Tourneen mit Bands wie U2, was in der Summe dafür sorgte, daß Maria nie so strahlen konnte, wie sie sollte, und den verfahrenen Haufen schließlich hinwarf. Als ich sie später in ihrer neuen Heimat Dublin (wo es oft so warm ist wie im tiefen Süden, aber immer regnet) besuchte, konnte sie gar nicht aufhören, über das verbogene, verkorkste Mädel zu schimpfen und zu spotten, zu dem die Mühlen des Geschäfts sie zugerichtet hatten.
Featherwolf wird das nicht passieren. Und wenn doch: Dann sei es, wie es sei. Dieses Album, dieser Alpwunschtraum aus böser Schönheit, brennender Liebe und verzweifelter Weisheit wird uns bleiben, für alle Zeiten, als strahlender Stern im Nichts einer leeren Welt.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 27. Oktober 2018

Frisch gepreßt #421: Stone The Crows & Maggie Bell "The Best Of"


Ich erinnere mich an goldene Zeiten. Goldene Zeiten, die es, wie alle goldenen Zeiten, nur einmal gab: weil das goldene Zeiten so an sich haben, daß man nicht merkt, wie sie sich langsam anschleichen, und dann merkt man nicht, wenn sie vorbei sind, weil … tja, das weiß man auch nicht genau. Der Glanz reibt sich ab, das Gold erweist sich als Vergoldung auf einem wackeligen Gerüst aus Weichholz, das gewiefte Konstrukteure sodann durch Stahl und Glas ersetzen. Das glänzt nicht mehr richtig, aber man kann es überdimensional ausbauen.
Ich erinnere mich an die goldenen Zeiten, als die Verstärker richtig laut wurden, die Mikrophone richtig gut. Da war Schluß mit den Links-Rechts-Spielchen im Kopfhörer – links klimpert was, rechts klappert was, links singt was, dazwischen hört man Schnitte und Plopps, dann kommt rechts ein dünnes Sololein und so weiter. Nun rockte das. Nun stand man, nachdem sich die Nadel aufs schimmernde Vinyl gesetzt und die Rille gefunden hatte, in einem Raum, keinem großen, in dem die Kisten röhrten, die Röhren glühten, die Kessel paukten, die Saiten klirrten und die Bleche zischten, als wollten sie nie mehr aufhören. Mag sein, daß da der Schweiß von der Decke tropfte; es war ja noch nichts digital, und das Tempo, die Dynamik, die Wucht kamen nicht aus Rechenmaschinen, sondern aus Händen, Beinen, Bäuchen und Ärschen, aus Stöcken, Steckdosen und unter Strom stehenden Spulen, von denen keiner wußte, wie sie funktionierten.
Vor allem: erinnere ich mich an die goldene Zeit der Stimmen, die kaum Anfang, höchstens Mitte zwanzig waren, aber die Welt gesehen hatten, die tiefsten Täler und die höchsten Gipfel, die Milliarden Zigaretten verdaut und mit fragwürdigen Spirituosen nachgespült hatten. Rod Stewart, Frankie Miller. Und die perfekte Synthese der beiden: Maggie Bell, die Königin, die von allem,was Tina Turner, Joe Cocker, Roger Daltrey, John Lennon, Robert Plant, was weiß ich wer noch hatte, jeweils ein bißchen weniger hatte, das entscheidende bißchen weniger, das ihr Hände, Beine, Bauch und Arsch und eine unverwechselbare Eigenheit gab, die all die One-trick Ponies überragte.
Ich erinnere mich an goldene Zeiten, als man gewaltige Haufen von verkabelten Kisten auf Wiesen stellte und losspielte. Als man Gras nicht rauchte, um sich in eine dunkle Kellerkammer wattiger Bewußtlosigkeit zu ballern, sondern um zu schweben und zu fliegen. Als Bands funktionierten wie das Herz eines Organismus, der zufällig aus ein paar hundert oder tausend Leuten sich bildete, während die Sonne unterging.
Maggie Bell war die Verkörperung jener wenigen Jahre, als ein paar Typen in Jeans und Lumpen zu Rockgöttern wurden, an märchenhafte Reichtümer gerieten, während der Rest unserer Welt weiterrockte, ein Universum entfernt von Industrie, Gesellschaft, Normaloleben. Dort in der Wiese, in der es dunkel wurde, wenn die letzte Lampe über der improvisierten Palettenbühne durchgebrannt war, und von wo kein Shuttle einen in die Zivilisation zurückbrachte. Es wäre sowieso eine Entführung auf einen fremden Planeten gewesen.
Goldene Zeiten. Maggie Bell und ihre Band Stone The Crows sind immer noch deren Verkörperung. Den Gitarristen Les Harvey lernte Maggie Bell durch seinen älteren Bruder Alex Harvey kennen, den Bandnamen erfand Led-Zeppelin-Manager Peter Grant, damals der mächtigste Mensch des (unseres!) Universums. Les starb 1972 auf einer verregneten Bühne, als er ein nicht geerdetes Mikro anfaßte. Sein Nachfolger Jimmy McCullough ging 1974 zu Paul McCartneys Wings und starb 1979 mit 26 an einer Überdosis Morphium und Alkohol. Da waren die goldenen Zeiten vorbei.
Maggie Bell hat übrigens auf Rod Stewarts bestem Album mitgesungen: 1971 auf „Every Picture Tells A Story“. Und zwar im Titelsong. Jeder Mensch, der diesen Song nicht kennt, muß tot sein. Viele, die ihn kannten, sind tot, haben aber gelebt. Es gibt auch nicht mehr viele Menschen, die sich an Stone The Crows erinnern. Ganz ehrlich: ich auch nicht. Ich habe damals Bilder von ihnen gesehen, sie aber erst Jahre später gehört, ihre vier Alben aus den Jahren 1969 bis 1972, und war ihr spontan verfallen: dieser Vision goldener Zeiten, als man sich dermaßen frei, wild, offen, grenzenlos wähnen durfte, auch noch nach dem Ende der Band. Deren unfaßbar psychedelische „Ode To John Law“, Bells Version von Leo Sayers „In My Life“ … ach, es schien und scheint noch heute, als hätten die goldenen Zeiten nie enden müssen.
Taten sie aber, auch hier: Maggie versank im elektronisch kalten Treibsand der 80er, der ihr so fremd war wie diesen Zeiten ihre einzigartig warme, verzweifelt romantische Musik, das Genre, das im Kettensägenmassaker von AC/DC und Konsorten für immer verschwand. Das brachte sie nicht um: Selbst ihre Version von Alice Coopers herzzerreißender Feministenballade „Only Women Bleed“ hat noch Größe. Aber das bekam niemand mehr mit.
Lebt ihr noch? Und ihr anderen: wollt ihr mal leben? Greift zu und tut es.

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Dienstag, 23. Oktober 2018

Frisch gepreßt #420: Years & Years "Palo Santo"


„Du darfst vieles tun, aber manches nicht: zum Beispiel dem Sailer mit gewissen Sachen kommen.“
„Aha, und was für Sachen sollen das sein? Und wieso darf ich das nicht?“
„Erstens: weil er eine Allergie gegen 90er-House, Autotune-Elektropop und Plastik-R&B hat. Zweitens: weil er dann notfalls alles zusammenschlägt, anschließend in ein Koma verfällt und danach drei Tage lang das ganze Viertel mit extrem krustigem Hardcore-Punk beschallt. Das kann niemand wollen!“
„O Gott, nein!“
Moment, was läuft hier?
„Nichts, wir … wollten nur … äh, eine Ratlosigkeit vermeiden, die aus Nichtzugang entsteht und böse Folgen hat. Also einfach nicht hinhören!“
Nichtzugang? Das wollen wir doch erst mal sehen.
„Aber: Autotune! (und mehr)“
Autotune? Läßt sich erklären. Autotune, bekannt als nervtötende, fast immer deplazierte Verfremdung, ist hier, zumal bedacht verwendet, am Platz. Autotune löst die Stimme quasi in elektronischem Alkohol auf und läßt sie als pures Destillat neu erstehen, befreit von allen Spurenelementen und Verunreinigungen, Kratzigkeit, Erdigkeit, emotionalen Ballaststoffen. Das macht sie körperlos und extrem gelenkig, sie wird zu einer Art kosmischem Zwitschern, dessen menschliche Anteile nicht mehr spürbar sind, wenn sie durchs Universum der hygienischen Beats und Reintöne flittert. Bei diesen verläuft der Prozeß im Grunde umgekehrt: Saiten, Felle (ohnehin längst traditionell aus Plastik), Bleche, vibrierende Blätter, Ventile und anderer mechanischer Plempel wird von vornherein nicht mehr berührt noch benötigt. Der Ton als solcher ist elektrischer Impuls, geformt und moduliert in der unendlichen Mikroskopizität digitaler Schaltkreise, somit absolut und gar nicht erst in Gefahr, von humanen Befindlichkeiten manipuliert oder beeinträchtigt zu werden. Abgesehen vielleicht von Störanfälligkeiten der leider immer noch notwendigen und zwangsläufig ben mechanischen Lautsprecher, die aber in naher Zukunft sicherlich verdrängt werden durch die Direktübertragung in robotisierte, auch nicht mehr für die Sperenzchen diverser Eiweißverbindungen anfällige Gehirn- und Bewußtseinsbereiche.
Aber das sind ja nur die – sozusagen, um in irdischen Termini zu sprechen – Rohstoffe. Das musikalische Strukturgerüst, das das Trio daraus erbaut, hat durchaus, horribile dictu, historische Bezugspunkte, was sich aber aus der mathematischen (Obacht!) Natur jeder Musik ergibt: Wenn man sich nicht in die hermetisch siedende Ursuppe von beispielsweise hartem Free Jazz begeben will, hat man ein überschaubares Sortiment von Kombinationen und Schattierungen zur Verfügung, die sich gegenseitig auseinander ergeben und bedingen.
Drum ist es gar nicht abwegig, wenn Years & Years als solche Bezugspunkte Radiohead, die Beatles, Joni Mitchell, Aalyiah, Sigur Ros, Scritti Politti, Marilyn Manson und Timbaland angeben (lassen). Wir fügen gerne, was sie vielleicht aus peinlicher Vorsicht unterlassen, eine beliebige Palette klassischer Progressive-Vorreiter aus dem weiten Galaxienhaufen zwischen Genesis und Yes hinzu. Und wir garantieren: Wer auch immer hörgewohnheitsmäßig-biographisch auf irgendeinen dieser Anhaltspunkte geeicht ist, wird diesen nirgendwo erkennen. Weil alles, was (eventuell) daher kommt oder (wahrscheinlicher) demselben Gedankenfunken entsprungen ist, in elektronischem Alkohol aufgelöst wurde und als reines Destillat neu erstanden ist.
Welche Art von tonalem Kosmos (wir erwähnen noch Olly Alexanders Stimme, die eher an eine astrale Nina Simone erinnert als an maskuline Vokalorgane) wäre besser geeignet (oder ein besserer Entstehungsurgrund, vermutlich beides in ursächlich-wirkender Verflochtenheit) zur Umsetzung und Illustration einer Science-Fiction-Geschichte über eine dystopische Gesellschaft (oder sagen wir: ein Konglomerat) geschlechtsloser Androiden, die zugleich in Auszügen für eine Reklamekampagne einer Massenmodemarke eingesetzt wurde („Hypnotised“)? Was wäre eine bessere musikalische Metapher für die Welt, in der wir nach intensivem Studium einschlägiger Innovationsmeldungen phasenweise zu existieren wähnen? Na?
„Oha. Wer hätte das gedacht?“
Brav. Und jetzt her mit der Hardcore-Playlist!

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Frisch gepreßt #419: Guns N' Roses "Appetite For Destruction (Deluxe Edition)"


Hey, weißt du noch, Sommer 1990? Was waren wir für snobistische, vom Leben und der Welt genervte Gammler! Hingen Tag und Nacht in denselben zerrissenen T-Shirts und Jeans und Turnschuhen in denselben Bars und Kneipen rum, streckten Koks mit Abführmittel und verschenkten es an Modetrottel am Tresen, fragten in jedem Club den DJ nach der neuen Stone-Roses-Single, kifften zwischendurch in Dachgeschoßen auf versifften Teppichen, hörten auf einem aschebestäubten, eiernden Dual-Plattenspieler knisternde und knackende obskure Import-EPs in Rauhfaserhüllen von grunzenden, jammernden, über ihre Gitarren stolpernden Indiebands aus Texas, Helsinki und Alaska, grunzten und jammerten selber rum und stolperten über unsere Gitarren, wenn mal wieder ein Mädel böse oder das Bier warm oder umgeschüttet war. Fanden Rock ‘n‘ Roll komplett over, außer ein paar Soloalben von Ronnie Wood, weil die noch kompletter over waren, wußten aber auch nicht, was sonst.
Und dann kam plötzlich die Sonne wieder raus, und da ist uns der Kragen geplatzt: Das Leben muß sich ändern, hast du am Telefon gesagt; nein, ich: Wir müssen das Leben ändern! Aber wie? Mit Hardrock, hast du gesagt, und ich: Hardrock? Uff! Deep Purple ist 15 oder 16 oder 17 Jahre her, Led Zeppelin sowieso gestorben, den Rest gab es noch nie, puh, da bin ich raus. Aber Fugazi und NoMeansNo halfen halt auch nicht mehr. Also wieder ins Bett?
Nix. Dann nämlich du draußen auf der Straße mit dem Cabrio, geliehen von einer Schnepfe, oder geklaut, das weiß man ja immer erst hinterher. Zwei Gitarren auf dem Notsitz, ein Fuchsschwanz aus pinkem Plastik an der mindestens zwei Meter langen Antenne. Fahren wir zur Ruderregatta, schreiben Songs und werden Rockstars! Und klick: der Kassettenrekorder! Komisches Zeug, schnippelige Stadiongitarren, rummsbumms, und beim ersten Ton, beim ersten, zweiten, dritten aufgesetzt brünftigen Japsen des Sängers, der sich anhörte wie Alice Cooper in einer Tubenpresse, wollte ich sofort wieder aussteigen und lieber eine Pizza im Keller. Aber die Karre war schon zu schnell.
Die Mucke, damals eh schon nicht mehr neu, sondern der Hut vom vorvorletzten Jahr, als wir mit Spandexhosen und Catweazle-Frisuren so viel zu tun haben wollten wie mit der ZDF-Hitparade, dann ja streckenweise auch, und wir waren uns ja einig: Diese Songs sind der reine Witz, aber was für ein geiler! Dieser Schlagzeuger drischt auf seine Kiste ein wie ein manischer Sumoringer mit gelähmten Armen, aber es knallt! Diese Gitarrensoli hören sich an wie Aerosmith mit zwei Pfund Abflußfrei in den Nebenhöhlen (also wie Aerosmith), aber sie hauen dir den Kopf weg! Diese Maskerade, diese Klamotten, dieses Getue – der peinlichste Faschingszug seit Giesing 1979, aber das brauchen wir auch, sofort, noch greller!
Die Gitarren blieben dann auf dem Notsitz, und das Kassettenteil lief weiter, drüben auf dem Parkplatz, bis ein Kerl daherkam und uns was von laichenden Fischen und Mißgeburten erzählte (womit er entweder die Fische oder doch uns meinte). Aber der Gin Tonic in dieser Spiegelglitzerbar schmeckte besser als das lauwarme Bier beim Heinz; das Kiffen ließen wir sein, weil die Ladies das wegen ihrer Seidenbettbezüge nicht so toll fanden, und bei Sonnenaufgang auf dem Königsplatz waren wir uns wieder einig: Sleaze-Rock ist die Zukunft! Na ja, nicht die Zukunft, eher die Gegenwart, nein: das große Ding, oder sagen wir: ein Riesenspaß für eine Nacht, für die sich nur schämt, wer noch nie mit Kippe im Ohr und Turnschuh im Mund aufgewacht ist.
Wow, ist das lange her! Jetzt sitzen wir im Museum und haben die Wahl zwischen (mindestens) drei Jubiläumsausgaben: fünf CDs und sieben LPs mit Buch für knapp tausend Dollar, ohne LPs für 150 Euro, beide Male 73 Tracks (EPs, B-Seiten, Liveaufnahmen, Demos, Videos, „moderne“ Mischungen). Oder halt zwei CDs, auf denen eigentlich auch alles drauf ist, was man zum gänsehäutigen Erinnern braucht, eher zu viel für auf einmal. Oder wollen wir es wagen, nach all der langen Zeit doch mal lange genug nüchtern zu bleiben, um sechs Minuten und 13 Sekunden „Rocket Queen“ durchzustehen?
So oder so: sind wir vielleicht noch Gammler und snobistisch, aber vom Leben und der Welt genervt? No, Sir, und beides könnten wir zumindest zum Teil Guns N‘ Roses verdanken. Dafür: Merci!

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Samstag, 20. Oktober 2018

Frisch gepreßt #418: Melody's Echo Chamber "Bon Voyage"


„Melody!?“
„--“
„Melody! Wo steckt denn das Kind schon wieder?“
„Wo wird sie stecken? Vermutlich in ihrer Echokammer, wo sie mal wieder diese … Dinge tut.“
„Oh.“
„Na, wer hat ihr die Kammer denn eingerichtet und wohlwollend genickt, als sie all diese … Dinge hineingeschleppt hat, Trommeln, Instrumente und … na ja, Geräte?“
„Hach, sie wird noch verhungern da drinnen. Man sieht sie ja oft tagelang nicht!“
„Wenn ihr was fehlt, wird sie sich schon melden. Immerhin kann ihr da vermutlich nichts passieren, so wie letztes Jahr dieser Unfall.“
„Herrje, daran mag ich gar nicht denken!“
„Eben, drum laß sie lieber. Was willst du überhaupt von ihr?“
„Ach, ich wollte ihr nur die Plattenkritik vorlesen, die heute in der Zeitung steht. Über ihr neues Album.“
„Oh. Was steht denn da?“
„Das wird sie freuen. Erst einmal heißt es da, daß ‚Projekte‘ grundsätzlich ja immer verdächtig seien, vor allem von hochbegabten Multiinstrumentalistinnen, die ganz allein in ihrem Kämmerchen sitzen und alles selber spielen. Daß da meistens oder oft nur Käse herauskommt oder höchstens sterile Plastikmucke wie damals bei Prince.“
„Na, das klingt ja nicht gerade erfreulich.“
„Aber bei ihr, heißt es, sei das eben anders. Schon wegen ihrer seltsamen Vorliebe für Psychedelic und Krautrock, so abseitige … Dinge.“
„Was heißt hier abseitig? Das hat sie aus meiner Plattensammlung. Wollen die mich beleidigen?“
„Eben nicht. Es komme nur selten vor, heißt es, daß dabei richtige, erinnernswerte Songs herauskommen. Und das täten sie bei Melody eben schon. Daß das richtig Spaß macht und ins Ohr geht, heißt es. Zum Beispiel in ‚Cross My Heart‘, wenn der Refrain kommt mit diesem tollen Riff. Ähm, was ist denn ein Riff?“
„Etwas mit Gitarre. Und weiter?“
„Ja, und ‚Breathe In, Breathe Out‘, heißt es, könnte ein richtig langweiliger Ohrwurm sein, wenn Melody nicht so viele hübsche Ideen und Gespür für Atmosphäre hätte. Und daß ‚Desert Horse‘ wie eine sanfte Droge wirke, die den Hörer mit Sommer erfülle wie eine Kanne mit Tee.“
„Was nehmen denn diese Leute, wenn sie ihre Kritiken schreiben?“
„Ist doch schön! es heißt weiter, daß ‚Quand Les Larmes D‘un Ange Font Danser La Neige‘ an eine frühmorgendliche Super-Session bei einem Hippiefestival im erträumten Jahr 1967 erinnere, bei der Keith Moon und Ginger Baker dreihändig trommeln und fünf bis sieben Bands sich in ein anderes Universum hineinjammen, in dem Woodstock und Altamont nie stattgefunden haben und stattfinden werden und der Epochentraum vom klingenden Weltfrieden ewige Gegenwart wird. Gut, das ist jetzt schon ein wenig kurios.“
„In der Tat, das kannst du laut sagen.“
„Vielleicht lese ich ihr das besser gar nicht vor? Nicht daß sie wieder so … seltsam wird?“
„Du meinst so wie letztes Mal, als jemand meinte, sie tänzle auf einem Seil zwischen ihrer klassischen Ausbildung und dem davon anerzogenen Drang, die Explosion ihrer Ideen in strukturierte Formen zu gießen? Das habe ich bis heute nicht recht verstanden.“
„Ja, und wo sie sich doch immer noch von dem gebrochenen Wirbel und dem Aneurysma erholt, ist es vielleicht gar nicht gut, sie so zu verwirren.“
„Richtig. Zumal zu viel Lob auch eher schadet. Was steht denn da noch? Nichts Negatives?“
„Eigentlich nicht. Außer vielleicht, daß ihre Stimme sehr an Margo Guryan erinnert. Dann das mit den brasilianischen und türkischen Einflüssen und ihrer hörbaren Liebe zu Shuggie Otis. Und daß die Platte nach ‚Shirim‘ genau an der richtigen Stelle endet, bevor sie ausartet.“
„Das ist doch nicht negativ.“
„Nicht wirklich. Die schreiben auch noch, daß man dazu richtig schön tanzen könne und Lust bekomme, gleich noch mal von vorn anzufangen.“
„Weißt du, ich glaube, es ist besser, wir lassen sie in Ruhe tüfteln. Sonst kommt sie doch wieder auf dumme Ideen, und wir wissen ja, wie das ausgehen kann.“

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Donnerstag, 18. Oktober 2018

Belästigungen 18/2018: Neues (und Altes) von der „Mutter“ (und dem Vater) „aller Probleme“

Migration, ließ der Bundesminister des Inneren und ehemalige bayerische Ministerpräsident neulich verlauten, sei „die Mutter aller politischen Probleme“. Bei all dem garstigen bis vollkommen hirnrissigen Sprechschaum, der aus amtierenden und ehemaligen Ministerpräsidenten für gewöhnlich so herausfurzt, ist es durchaus erfreulich, mal eine Aussage kolportiert zu bekommen, die ohne Abstriche durch und durch wahr ist.
Tatsächlich gäbe es ohne Migration keinerlei politische Probleme. Es gäbe noch nicht mal eine Politik, wenn man nicht das alltägliche Gesummsel, Gebrummsel, Gezeter und Gerausche der Flora und Fauna als solche interpretieren möchte. Bayern (zum Beispiel) wäre eine wunderschöne, herrlich florierende und faunierende Landschaft, vollkommen frei von Neophyten wie dem Homo sapiens, weil es eine nennenswerte Bevölkerung an Affen, die sich durch fortlaufende Hirnschrumpfung zu Ministerpräsidenten und potentiellen CSU-Wählern evolvieren hätten können, hier nie gab.
Aber selbst wenn wir die ersten paar Äonen menschlicher Migration und Wirtschaftsflüchterei außer acht lassen und uns nur den letzten drei Jahrtausenden zuwenden, bleibt die Aussage im Grunde richtig: So gut wie jedes politische Problem ging und geht letztlich darauf zurück, daß buchstäblich unendlich viele Wellen von Zuwanderung über den Erdball hinweggeschwappt sind. Ich habe an dieser Stelle vor längerer Zeit schon mal darauf hingewiesen, daß mit ziemlicher Sicherheit nicht ein einziger heutiger Bewohner der bayerischen Gefilde von sich behaupten kann, vor dreitausend Jahren habe ein Urvater seiner Sippe ziemlich genau da gelebt, wo er heute in sein Smartphone starrt.
Andererseits könnte man einwenden, daß möglicherweise auch die Ureinwohner unserer Lande (von denen wir nicht viel wissen … ??) irgendwann auf die Idee gekommen wären, eine CSU zu gründen. Und daß so gut wie jedes politische Problem – Überbevölkerung, Krieg, Autowahn, Naturzerstörung, Armut, Hunger, Reichtum, Ausbeutung usw. usf. – auf eine einzige Ursache zurückgeht: auf die menschliche Fähigkeit zu Neid, Gier, Haß und ihre infernalische moderne Ausgeburt, den Kapitalismus.
Ist der etwa auch eine Folge der Migration? Eher nicht. Eher ist es umgekehrt so, daß praktisch jede Zu- und Auswanderung auf dem gesamten Planeten (und darüber hinaus) der letzten vier- bis fünfhundert Jahre eine ziemlich direkte Folge dessen war und ist, was dieser ungeheure Prozeß von Wachstum auf der einen und Vernichtung auf der anderen Seite mit sich gebracht und „gefordert“ hat.
Werfen wir als zufällig herausgepicktes Beispiel einen Blick zurück in anscheinend annähernd paradiesische Zeiten: das Jahr 1970. Damals lebten auf der Erde nicht ganz 3,7 Milliarden Menschen, davon 2,1 Prozent in den beiden Ländern, die das Wort „deutsch“ im Namen führten, und 0,3 Prozent in Bayern. Unter den 77 Millionen Menschen waren etwa 2,5 Millionen „echte“ Ausländer, also 3,25 Prozent. Es gab zwar im Bundesrat einen „Ausschuß für Flüchtlingsfragen“, der sich mit denen jedoch so gut wie nicht befaßte. In den meisten von Unionsparteien regierten Bundesländern saßen Abgeordnete der NPD (die meisten übrigens in Bayern), dennoch galt Migration nicht mal unter Nazis als wesentliches politisches Problem – die wollten in erster Linie ihr Großdeutschland samt Ostgebieten zurück und waren sich darin mit einem Großteil von CDU, CSU und anderen Parteien einig.
Selbst in den einschlägigen Lexika aus jener Zeit fehlt der Begriff „Migration“. Flüchtlinge hingegen waren gut bekannt: Rund zwanzig Millionen davon waren in den 25 Jahren zuvor nach Deutschland eingewandert; mithin war ein gutes Drittel der Bevölkerung „fremd“. Ein politisches Problem wollte darin aber kaum jemand sehen. Politische Diskussionen und Auseinandersetzungen drehten sich vielmehr fast durchweg um den weiten Themenbereich Emanzipation und Befreiung, individuell wie kollektiv. Man feierte Revolutionäre in fernen Ländern, gründete alle möglichen Bündnisse, Gruppen und Ausschüsse, stritt über den besten Weg zur Abschaffung von Ausbeutung, Unterdrückung, Manipulation, Konformität und Verblödung, stellte die Privilegien alter und neuer Eliten in Frage, streikte an Schulen, Universitäten und in Betrieben für Mitbestimmung und Teilhabe und schrieb in politische Lehrbücher (nicht nur) für Jugendliche Sätze wie diesen hinein: „Unsere Gesellschaft ist noch nicht vollkommen demokratisiert. In weiten Bereichen haben sich noch die alten autoritären Strukturen erhalten. Der gleiche Bürger, der bei der Wahl (…) seine Stimme abgibt und auch selbst Kandidaturen anstreben kann, ist in seinem Berufsbereich noch häufig ein Untertan, abhängig von den Entscheidungen ihm fremder und nicht durchschaubarer Führungsorgane, die er nicht gewählt hat und die ihm keine Rechenschaft schuldig sind. Die Demokratie kann nicht voll funktionieren, solange in der Wirtschaft praktisch eine Diktatur (…) herrscht.“
Freilich gab es („noch“), besonders in Bayern, Dumpfbürger, die am Stammtisch herumdimpfelten und statt individueller Freiheit (womöglich sexueller! pfui!) lieber ihren Kini oder wahlweise Führer wiederhaben wollten. Die galten aber als rückständig, ewiggestrig und hoffnungslos. Ihr stures Beharren auf Befehlsstrukturen und einer hierarchischen Zwangsgesellschaft führten Soziologen darauf zurück, daß sie Angst um ihr Geld und anderes hatten, von dem sie selber wußten, daß es ihnen eigentlich nicht zustand.
Heute: leben in Deutschland nicht mehr 2,1, sondern 1,1 Prozent der Weltbevölkerung, in Bayern nicht mehr 0,3, sondern 0,2 Prozent. Die Gesamtzahl der Ausländer und Flüchtlinge beträgt nicht mehr 22,5, sondern 10,6 Millionen. In den Länderparlamenten sitzt eine neue Nazipartei, vor allem aber hat sich alles andere so gründlich verändert, daß das Land nicht wiederzuerkennen ist: Vom Vorschüler bis zum Pflegerentner ist jeder einzelne komplett in ein psychosoziales Zwangssystem eingeordnet, das auf absolutem Wettbewerb beruht. Schulen und Universitäten sind von Laboren kritischen Denkens zu Drillanstalten für marktkonformes Humankapital verkommen. Die Privilegien der alten und neuen Eliten, deren Macht und Reichtum explosionsartig wachsen, stellt niemand mehr in Frage. An die Stelle der selbstbewußten Arbeiterklasse ist eine entwurzelte, mobilisierte, total unterworfene Ameisenklasse getreten, die das, was ihr mit Zwang nie jemand zufügen konnte, freiwillig und eifrig sich selbst zufügt. Man schuftet für den Markt, notfalls ohne Bezahlung, leidet Depressionen, wenn man das nicht darf, und verbringt den Rest seiner wachen Lebenszeit damit, durch Autofenster und in Smartphones zu starren und sich mit sinnlosem Klimbim zu zerstreuen. Man zelebriert die Spießigkeit des Biedermeier, deformiert den eigenen Körper zur stahlfitten Kampfmaschine, stirbt millionenfach an Streß und den Bgleiterscheinungen des Autoterrors. Befreiung ist nicht mehr gefragt – wovon auch, wo doch der gesamte Begriff „Freiheit“ komplett umdefiniert wurde und heute nur noch stumpfes Konsumieren bedeutet?
Und was ist die „Mutter aller Probleme“? Eine Migration, die dieses System selbst erzwungen hat und weiterhin erzwingt, die aber im Vergleich zu damals kaum mehr stattfindet. Selbst die, die so gut wie gar nichts mehr haben, können und dürfen, fürchten nichts so sehr wie den Verlust ihrer „Privilegien“ durch das Eindringen von Fantastilliarden terrorgieriger Fanatiker einer schrecklichen Mordreligion.
Vielleicht wäre es die beste Lösung, das Bundesministerium des Inneren einfach abzuschaffen und Leuten wie Horst Seehofer kein Mikrophon mehr hinzuhalten, in das sie ihren Schmarrn hineinplärren können. Dann könnten wir uns endlich dem wahren Problem widmen und es vielleicht sogar lösen, bevor es dafür endgültig zu spät ist.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 12. Oktober 2018

Frisch gepreßt #417: Remember Sports "Slow Buzz"


In der Popmusik gibt es Trends, Szenen, ganze Genres, die nie stattfinden. Zum Beispiel „Riot Grrl“ – war als Begriff vor einem breiten Vierteljahrhundert in aller Munde; wenn man sich heute zu erinnern versucht, fallen einem ein paar Namen ein, ein paar Gesichter von Pressefotos, aber hören tut man: nichts. Weil es keine Songs gibt.
Wie kommt so was zustande? Ganz einfach: In Wahrheit sind solche Sachen gar nicht in aller Munde (oder zumindest nicht in aller Ohr), sondern nur im Munde einschlägiger Trendjournalisten, die ihre Seiten und Formate füllen müssen. Dafür ist ein „Buzz“ ganz dienlich. Der entsteht, wenn fünf Promoter an einem Vormittag anrufen und zum Beispiel eine tolle neue Mädelsband unterbringen möchten – noch besser, wenn sie den Begriff gleich mitliefern. Da Trendjournalisten von Musik zuallermeist keine Ahnung haben, ist sie ihnen für gewöhnlich weitestgehend schnurz. Kann man beim Tippen mal nebenbei laufen lassen, solange sie nicht zu wild wird.
Bei Remember Sports (ehemals Sports, wegen Verwechselungsgefahr umbenannt) ist die Sache anders: Da gibt es keine Szene, keinen Trend (sieht man davon ab, daß vor zwei Wochen das neue Album von Colour Me Wednesday erschienen ist, das zu diesem paßt wie Schneeweißchen zu Rosenrot), folglich keinen Buzz oder höchstens einen sehr leisen, sehr langsamen. Aber dafür gibt es Songs, die explodieren wie Feuerwerke, sich ins Hirn drehen wie Korkenzieher, und an die man sich sofort wieder erinnert, wenn man zum Beispiel das Cover ihres letzten Albums „All Of Something“ (2015) wiedersieht oder einfach ihren Namen hört.
Ein Genre gibt es aber auch nicht. Carmen Perry, Catharine Dwyer, Jack Washburn und Benji Dossetter – bei der Gründung der Band vor sechs Jahren allesamt noch Schüler – wären auf einer Bühne mit den (leider aufgelösten, aber unsterblichen) Howler nicht gänzlich fehl, könnten sich aber auch mit einer Zeitmaschine ins Jahr 1978 zurückbeamen und bei einem beliebigen Second-Wave-Punkrock-Festival alle anderen an die Wand spielen. Oder zu den Riot Grrls von 1993. Oder ins Jahr 1979 in die Westcoast-Power-Pop-Szene (die übrigens auch nie stattgefunden hat, mit ihnen aber ohne Zweifel hätte).
Andererseits könnte eine beliebige aktuelle Stadion-Indierockband einen beliebigen ihrer Songs mit einer Portion Produktionsschmalz problemlos zur US-Top-10-Hymne aufblasen und eine Million, na ja, wir leben im Jahr 2018: eine Million Cents damit verdienen. Daß sie das selbst nicht tun, sondern auf Platte klingen, als stünde man mit ihnen im Raum (in dem auch mal ein Tamburin auf den Boden fällt), ist wunderbar, aber noch lange nicht das Beste an dieser Band, die sich (vielleicht) als einziges Zugeständnis an den Massengeschmack ein paar von den modischen Kieksern leistet, ohne die heutzutage keine Indie-Songwriterin mehr auszukommen glaubt. Das Beste nämlich sind: die Songs. Von den zwölfen hier sind mindestens zehn von der Sorte, für die andere Bands Frauen, Kinder, Kegel und notfalls ihren Schlagzeuger verkaufen würden.
Die täuschen mal an (wie der Opener „Otherwise“, der als Kinderorgelballade beginnt), gehen mal sofort los wie eine Kettensäge, sprudeln über vor umwerfenden Melodien (zum Beispiel „You Can Have Alonetime When You‘re Dead“, zum Beispiel „Temporary Tattoo“, zum Beispiel fast alle). Vor allem haben Remember Sports etwas begriffen, was heutzutage kaum noch eine Band kapiert: Um nicht etwa groß, amtlich und chartstauglich, sondern brillant, revolutionär und unfaßbar begeisternd zu sein, muß man immer ein Drittel über seinen Möglichkeiten spielen – schneller! wilder! mehr! (aber auch verletzlicher, empfindsamer, nachdenklicher, poetischer und klüger).
Das ist die Methode, die wir von den Rolling Stones (1968-72) und The Clash (1976-79) und wenig anderen kennen: Alles über den Haufen werden und zu Klump schlagen, dann beim Spielen einen Sog entwickeln, der die Scherben und Trümmer (und das Publikum und die Musiker selbst) mitreißt, zum tobenden Strom wird, der alle paar Meter über die Ufer schwappt und keinen Stein auf dem anderen läßt.
So was läßt sich nicht nachahmen, nur leben. Nennen wir es: Rock ‘n‘ Roll.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 11. Oktober 2018

Belästigungen 17/2018: Dumm und frech, das passt zusammen! (ein paar sommerliche Randbemerkungen)

Unbeholfenheit ist bisweilen nervig. Wenn man zum Beispiel an einem unerwarteten Feiertag während der Touristen-Hochsaison (zwischen März und November) am Münchner Hauptbahnhof bloß schnell Tabak kaufen möchte und, nachdem man dem vierundzwanzigsten Ratlosen am Fahrkartenautomaten vergeblich zu erläutern versucht hat, was Streifen, Ringe, Zonen, Räume usw. sind, nicht mehr weiß, daß man das wollte, und deswegen nicht mal rauchen kann, um einen Tobsuchts- oder Ohnmachtsanfall abzuwenden: Da fällt es einem nicht mehr so leicht, die Unfähigkeit, mit der Welt einigermaßen souverän umzugehen, putzig oder rührend zu finden. Selbst das lustige Kleinkind, das zum fünften Mal in dieselbe Pfütze fällt und zum fünften Mal einen Schreikrampf kriegt, weswegen die Mama zum fünften Mal infantiles Zeug brabbeln und so tun muß, als wäre die Pfütze superböse und das Kind total unschuldig, ist nicht mehr ganz so nett.
Noch schlimmer ist die Mischung aus Unbeholfenheit, Dummheit und absoluter Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit, die sich zum Beispiel darin äußert, daß der gewohnheitsmäßig auftrumpfende Mittelschichtfamilienchef der aus Italien zugereisten und deshalb des Deutschen nur mäßig mächtigen Aushilfskellnerin mit der Frage „Can we become a Pizza?“ eine möglicherweise anstehende Verwandlung ankündigt, die man nicht mal solchen Exemplaren zutraut (oder wünscht).
Auch jene durchreisenden Urlauber, die sich notorischerweise und fließbandartig an der Biergartenschenke einen Krug hinknallen lassen, der seit zwei Stunden in der Sonne steht und zu zwei Dritteln mit Bier befüllt ist, um im Brustton der Überzeugung zu verkünden, dabei handle es sich um „ein Mahs“ und somit um einen integralen Bestandteil der bayerischen Traditionsfolklore, zerstören über kurz oder lang nicht nur die sowieso klägliche Schankmoral, sondern auch das Nervenkostüm des dahinter anstehenden Einheimischen, der sich im Zuge solchen Handelns wegen seiner Bitte um Nachschank anschnauzen lassen muß, als hätte er despektierliche Bemerkungen über das Geschlechtsteil des Gorillas am Zapfhahn vorgebracht.
Noch schlimmer sind die Zeitgenossen, die wie unser vor einiger Zeit installierter (und demnächst wahrscheinlich auch noch gewählter) Ministerpräsident ihre Dummheit zumindest zum Teil nur vortäuschen, um sich dem Stammtischvieh anzubiedern, und im Gegenzug Unverschämtheit und Überheblichkeit dermaßen ins Unermeßliche aufpumpen, daß sie nur zu ertragen sind, wenn man sich ganz fest einredet, daß es sie sowieso bald zerreißt und dann endlich Vernunft, Bescheidenheit, Demut, Höflichkeit und eine Ruhe einkehren. Was in Bayern allerdings unwahrscheinlich und mindestens seit Hitler und Strauß auch in keinerlei historischen Aufzeichnungen nachzuweisen ist (obwohl es zumindest diese beiden zumindest teilweise tatsächlich zerrissen hat, allerdings aus anderen Gründen).
Es ist, als läge ein Fluch auf diesem Land, das eigentlich mal so schön und revolutionär und sympathisch arm war und den unermüdlichen Bemühungen seiner diversen Führer und Entscheidungsträger zum Trotz stellenweise immer noch ist: Sobald sich einer (oder eine, auch das kommt vor) als so dumm, frech und aufgeblasen erweist, daß er für wirklich gar nichts zu gebrauchen ist, rollt man ihm sofort eine Fernsehkamera vor die Sprechöffnung und läßt ihn lostrompeten. Was er sagt, ist egal. Hauptsache, es ist derart dumm, frech und aufgeblasen, daß in Berlin oder sonst wo jemand lachend den Kopf schüttelt und damit sofort einen massiven „Hoppala! Mia san mia!“-Mechanismus in Gang setzt, der wie gewohnt weiterläuft: Je lauter die Welt über die blaffende Dummheit und kriminelle Unverschämtheit der bayerischen Großblöker lacht und sich ereifert, desto mehr Prozent über fünfzig kriegt die CSU „jetzt erst recht“ bei der nächsten Landtagswahl. Daß ein großer Teil dieser Wähler selber das dumme Vieh ist, dem die Regierung und ihr Bandengeflecht hinterher das Fell über die Ohren ziehen, spielt dabei nicht die geringste Rolle. Im Gegenteil.
Interessant ist daran eigentlich nur eines: wie es der Partei der Superstreber und Megadimpfel immer wieder gelingt, kurz vor so einer sogenannten Wahl in sogenannten Umfragen plötzlich auf 45 oder 32 oder noch weniger Prozent „abzustürzen“ und damit noch den letzten Ochsen links hinten im letzten Stall links hinten neben Hintertupfing zu mobilisieren, weil der sonst am Ende doch keine Autobahnanbindung kriegt. Und schon hat die sogenannte CSU doch wieder ihre „komfortable“ Mehrheit, auf der sie sich ein paar Jahre ausruhen und in deren Schatten sie weitere Jahrzehnte ihre Machenschaften betreiben kann. Notfalls mit dem gelben Häuflein der unverdrossenen Wirtschaftsfaschisten, höchstenotfalls mit dem grünen Häuflein der Hirnlosen, die vor langer Zeit Stricknadeln und Weizenkeime gegen E-Bikes und Windräder und Vernunftansätze gegen „grünes Wachstum“ eingetauscht haben. Endnotfalls sogar mit dem rötlichen Häuflein der vollkommen Undefinierbaren, die neuerdings behaupten, Kinder seien eine „Investition“, und zwar „in die Zukunft“ und gleichzeitig mit Wortschlabber wie „Anstand“ um sich werfen. Oder halt dann doch mit den blauen Grußaugusten des Großkapitals, die sie ja vom Stammtisch sowieso kennen.
Es ist, wie gesagt, wie ein Fluch. Wie passend, daß mich grad ein Internet-Peer fragt, wieso Deutschland nicht Englisch als „Verkehrssprache“ einführt.
Ja, wieso eigentlich nicht? Dann fragt der Mittelschichtvati eben kurz, ähem, davor: „Can I become an orgasm? It would be an investment in the future of Bavaria!“

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

Mittwoch, 3. Oktober 2018

Frisch gepreßt #416: Ry Cooder "Prodigal Son"


Regieanweisung: Straßenstaubwolken, Horizont (leuchtend, verschummert), diffuses Sonnenlicht, am rechten Bildrand ein einsamer Kaktus; von links Auftritt eines freundlichen älteren Mannes, der irgendwie nicht recht in die Szenerie paßt. Sprecherstimme aus dem Off.
Wir leben im Zeitalter der Jubiläen. Fast alles, was kulturell gegenwärtig von „Bedeutung“ ist, hat dreißig, fünfzig, manchmal hundert Jahre auf dem Buckel und führt eine Doppelexistenz in Museen und (weil wir hier bei Musik sind) Charts. Da kann schon mal was untergehen, vor allem wenn das Datum der gewinnträchtigen Anniversierung nicht so ganz klar ist.
Zum Beispiel das musikalische Schaffen und Wirken von Ryland Peter Cooder, gut 71 Jahre alt: Das fing offizieller Datierung zufolge damit an, daß er vor 51 Jahren auf Captain Beefhearts Debütalbum „Safe As Milk“ Gitarre, Baß und einiges Schepperlzeug spielte. Damals gab es noch Neues, etwa Cooders Idee, seine Gitarre wie ein Banjo zu stimmen und zu spielen – dafür gibt es heute Youtube-Tutorials. Daß Beefheart und mit ihm Cooder damals seiner Zeit ein gutes Stück voraus war, mag man daraus schließen, daß das Album wie ein Steinklotz in den Ladenregalen lag, aber auf die Dauer nicht etwa unterging, sondern die seltsamsten Bewunderer fand, von den Beatles über Sonic Youth und The Kills (die Songs davon coverten) bis hin zur Verfilmung von Nick Hornbys generationsbildendem Roman „High Fidelity“, in der sich Barry hartnäckig weigert, die Platte an unwürdige Kunden zu verkaufen.
1970 spielte Cooder auf Randy Newmans „12 Songs“, irgendwann nicht lang davor auf „Love In Vain“ und „Sister Morphine“ mit den Rolling Stones und zwischendurch mit allen möglichen Leuten. Er sammelte uralte, vergessene Platten und Bänder, eignete sich Spielweisen und Stilschattierungen an, die jahrzehntelang vergessen waren, und wurde so selber zu einer Art Museum, dessen bewahrende und vitalisierende Tätigkeit ihm vor 46 Jahren mit „Into The Purple Valley“ selbst eine Art Klassiker bescherte.
Nun wird der Platz schon knapp. Cooders Museum eröffnete neue Flügel, nahm Blues, hawaiianische Folklore, Tex Mex auf, hängte weitere Portraits in die Ehrengalerie (Van Morrison, Gabby Pahinui, Judy Collins, Gordon Lightfoot, Beach Boys u. v. a.) und hatte die semipopuläre Musik (nicht nur) der USA bald so infiltriert, daß man Cooder-Alben aufs erste Hören erkannte, auch wenn sein Name nicht mal kleingedruckt auf der Rückseite stand.
Hinzu kamen wahre Massen an Filmsoundtracks: „Paris, Texas“ (Wim Wenders) mag der bekannteste sein (wobei Cooder u. a. entdeckte, daß die Wüste singt, und zwar in Es-moll), „Last Man Standing“ der größte (kommerzielle) Reinfall, „Crossroads“ der persönlichste (wg. Robert Johnson). Mit V. M. Bhatt („A Meeting By The River“, 1993) und vor allem Ali Farka Toure („Talking Timbuktu“, 1995) lieferte er gültig bleibende Eckpfeiler unpeinlicher und nichtexploitativer Weltmusik und erntete zwei Grammys, produzierte 1997 den kubanischen Veteranenverein Buena Vista Social Club, was ihm 25.000 Dollar Strafe wegen Embargobruch wert war. Und, freilich, einen weiteren Klassiker lieferte. Und so: (eben) weiter.
Harter Schnitt, Gegenwart. Kann sich jemand an termingerechte Jubiläumsfeiern zu einem der erwähnten Meilensteine erinnern? Weltweite Feierlichkeiten zu Ry Cooders 70. Geburtstag? An irgendwas (außer dem etwas kläglichen „Lifetime Achievement Award“ bei den BBC-Radio-2-Folk-Preisen 2017)?
Gut so, möchte man sagen. Menschen sterben irgendwie, wenn es ihnen zu viel von dem Zeug draufhagelt. Ry Cooder hingegen spielt einfach weiter, verzichtet auf seinem ersten eigenen Album seit sechs Jahren auf Novitäten und gräbt vielmehr nach tiefen Pfahlwurzeln im spröden Grund des Wilderen US-Südens: Blind Willie Johnson (1897-1945) und Blind Roosevelt Graves (1909-1962) sind Werkzeug und Frucht zugleich (daß Cooder selbst ein Glasauge trägt, seit er vier ist, weil er sich, wie es hieß, „versehentlich“ ein Messer ins Auge rammte, sei nur anekdotisch erwähnt). Die Songs sind derart traditionell, daß man sie „schon immer“ zu kennen glaubt, die Arrangements reichen von supereingängigem 70er-Stones-Rock im Titelsong über ein Kaleidoskop von Anwehungen aus allen Himmelsrichtungen bis hin zum ganz knorrigen Urblues in „Nobody‘s Fault But Mine“ (einst von Led Zeppelin geklaut, vielleicht daher die an „Kashmir“ erinnernden Streicherfragmente). Wichtig: Cooders Stimme, absolut unmanieriert; ein gelassener, onkelhafter Geschichtenerzähler, der nichts zu verkörpern versuchen muß, weil er alles ist.
Abspann: alter Mann geht nach links davon, langsam sinkt die Sonne, Horizont bleibt.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.