Dienstag, 29. Dezember 2015

Belästigungen 22/2015: Ein paar abschließende Bemerkungen zu FJS (und dann ist eine Ruh!)

Neulich wurde ich von einem Leser gerügt, weil ich mich abfällig über den „größten Staatsmann der bayerischen Geschichte“ geäußert hätte. Gemeint war selbstverständlich Franz Josef Strauß, und gehen tat es darum, daß ich dessen postume Ernennung zum „Rebell“ durch ein Münchner Blödblättchen beanstandet hatte. Über die Toten, schrieb der milde zürnende Leser, sage man doch nichts Schlimmes.
Ja nun, das wäre zu diskutieren, eventuell anhand der Fallgeschichten von, sagen wir mal: Julius Caesar, Stalin und Andreas Baader. Personen der Historie werden es sich wohl oder übel gefallen lassen müssen, daß über sie wenn schon nichts Schlimmes und Böses, dann doch aber auch nichts unangemessen Löbliches, Reinwaschendes, Überhöhendes berichtet und erzählt wird. Ein hundertster Geburtstag böte hierfür einen günstigen, aber eigentlich gar nicht nötigen Anlaß, denn die Geschichte wird permanent diskutiert, interpretiert und umgeschrieben, und wenn in hundert Jahren in den Schulbüchern steht, welches globale Gesamtverbrechen europäisch-atlantische Politiker im mafiösen Schulterschluß mit dem militärisch-industriellen Komplex derzeit im gesamten Nahen Osten anrichten, werden deren Fans sich auch nicht beschweren dürfen, man möge doch bitteschön nicht despektierliche Fakten über Merkel, Gabriel und Co. unterrichten.
Und so wird man auch was FJS betrifft immer wieder mal was richtigstellen und dem huldigenden Gewölk seiner fanatischen Jünger entgegenstellen müssen. Umgekehrt allerdings ebenfalls, das hat die Sache so an sich.
Zum Beispiel prangert man in gewissen Kreisen immer noch beharrlich an, der Strauß sei gar kein Demokrat gewesen, sondern wahrscheinlich sogar ein Faschist. Das heißt erst mal nicht viel, denn die Demokratie ist in Deutschland schon immer unpopulär, und wenn einer zu behaupten wagte, Helmut Kohl, Gerhard Schröder oder Angela Merkel hätten während ihrer Regierungstätigkeit jemals versucht, so etwas wie eine Demokratie einzuführen, müßte derjenige wohl mit einer Verleumdungsklage rechnen.
Aber freilich erinnern wir uns alle an den entfesselten, vor keiner Form der Gewalt zurückschreckenden Vernichtungswillen, mit dem der Strauß auf jeden eindrosch, der sich ihm auch nur versuchsweise in den Weg zu stellen wagte, an die Hetzkampagnen, mit denen er Gegner überzog und (via Stoiber et al.) überziehen ließ, an den blindwütigen Haß auf alles, was sich in die entfernteste Nähe von Kommunismus und Sozialismus rücken ließ – und das war wirklich alles, bis hinaus an den rechtesten Rand der CDU, bis hin zu echten Nazis, die für ihn notfalls bloß braunlackierte „rote Ratten“ waren. Tatsächlich hat wohl seit Joseph Goebbels kein deutscher Politiker so oft und vehement „Bolschewismus“ als Schimpfwort gebraucht wie der Strauß.
Von dem (bzw. seinem engen Mitarbeiter Eberhard Taubert, laut Spandauer Volksblatt der „gefährlichste und militanteste Antisemit des Dritten Reichs“, der später den Verteidigungsminister Strauß als Berater für „psychologische Kriegführung“ diente) hatte er es aber ja auch gelernt, das Hetzen und Propagandisieren, und aus der Stellenbeschreibung seines Jobs als „weltanschaulicher Referent“ beim Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps und Offizier für „wehrgeistige Führung“ bzw. Nationalsozialistischer Führungsoffizier (NSFO), der ausdrücklich nur für „fanatische Nationalsozialisten“ vorgesehen war, dürfen wir ruhig schließen, daß er es gut gelernt hat. Ein Faschist war er aber wahrscheinlich trotzdem nicht; die Kerle nämlich, deren frühe Umtriebe er schon als Bub in der Maxvorstadt rund um den Schellingsalon täglich erlebte, verachtete er ebenso wie alles andere, was die wesentliche Eigenschaft entbehrte, die ihm das einzige und wichtigste Grundmerkmal eines echten Mannes war: Stärke.
„Stark“ mußte beim Strauß alles sein, ein „starkes Bayern“, geführt „mit starker Hand“ und so weiter und so fort, und die Urnazis waren das bestimmt nicht, diese weichlichen Uniformprotze, von pseudosozialistischem Gedankengut angekränkelt, womöglich homosexuell und am Ende nicht mal in der Lage, einen windigen Krieg zu gewinnen. Den hat dann nachträglich er gewonnen, und dabei kam ihm zugute, daß er eben kein Faschist, kein Demokrat und auch ansonsten von keinerlei politischer Überzeugung auch nur im geringsten angehaucht war. Seine Triebfeder, nein: sein Raketenmotor – unter dessen Trieb er, wie wir vermuten wollen, nicht selten litt – war (neben dem wahnhaften Kult um die „Stärke“) nur eines: eine maßlose, in alle Richtungen ausufernde und durch nichts zu bremsende Gier nach Macht und Reichtum. Dafür ließ er alles andere liegen und stehen, hat gelogen, betrogen, geschoben, gedreht, geschmiert, sich schmieren lassen, und wenn ihm mal wieder einer draufkam und eine seiner zahllosen „Affären“ (seit ihm der Fachbegriff für Verbrechen, die von Politikern verübt werden) ans Licht brachte, war ihm das vollkommen egal, weil er moralische Integrität und Anstand für Gesinnungspopeleien hielt, mit denen sich Weicheier, Bedenkenträger und Sonntagsprediger herumschlagen mögen, aber keine starken Führer.
So ging die Sache ihren Gang, so wurde aus dem Metzgersburschen über die Einehelichung in die Unternehmerfamilie Zwicknagel (er habe „gut, aber nicht sehr gut“ geheiratet, berichtete er einem Bekannten), die Übernahme des Kommandos über eine regionale politische Organisation und ein stetig wachsendes Netz von Händen, die ungeheure Geldsummen und sich gegenseitig wuschen, in wenigen Jahren einer der reichsten Männer in ganz Europa, der zum Zweck der Vermögensanhäufung nicht davor zurückschreckte, neben diversen Diktatoren auch dem Oberkommunisten Mao die Pranke zu schütteln und ein paar Milliarden Steuergelder in die kaputte DDR hineinzupumpen, um sie unten wieder abzuzapfen. Ob der Strauß in seinem ganzen politischen Leben jemals irgendetwas getan hat, woran er nicht mindestens kräftig mitverdiente, ist vorläufig unbekannt. Daran mögen sich künftige Historiker Doktortitel verdienen – wenn die Unterlagen und Quellen nicht längst von seinem Heer gesichtsloser Schranzen und Höflinge vernichtet wurden und die entsprechenden Archive jemals zugänglich werden.
Das alles ist nicht böse gemeint und auch keine Schmähung; es dient lediglich der historischen Einordnung. Daß ein Großteil der älteren bayerischen Bevölkerung noch heute instinktiv zum Beißreflex ansetzt, wenn das K-Wort fällt oder irgendwo ein Plakat der Linkspartei hängt, verdanken wir ebenso dem Strauß wie die fortdauernde Existenz einer ganzen Staatspartei von unfähigen, überzeugungslosen Karrieristen, deren Treiben seit seinem Tod dem Versuch einer Horde Dackel gleicht, sich selbst an der Leine Gassi zu führen.
Aber so ist's nun mal. Sehen wir's ein, nehmen wir's hin und Schwamm drüber. Daß der Strauß nebenbei ein höchst intelligenter und beizeiten witziger Redner war, mag uns trösten, und die Berge von Geld, die er aus dem Land herausgesaugt hat und auf denen seine Familie bis heute herumsitzt, die wird sich irgendeine künftige Generation schon zurückholen. Derweil gilt: über die Toten nichts Schlimmes. Er ruhe in Frieden, der arme starke Mann.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 25. Dezember 2015

Belästigungen 21/2015: Warum der Mensch ein Eichkatz ist (und weitere wirre Herbstgedanken)

In unserem Hof wohnt Herr Eichkatz. Daß es sich um einen männlichen Vertreter der Spezies Sciurus vulgaris handelt, schließe ich aus einer gewissen Irrationalität seines Verhaltens. So feiert er etwa den Anblick der täglichen Nuß auf dem Fensterbrett mit einem Tanz, der wie eine hyperbeschleunigte Mischung aus Fußballerjubel und Hardrockfestivalgymnastik (Gitarrensolo!) wirkt – von weiblichen Gattungsvertretern zumindest des Menschen kennt man exzessive Bewegung eher in der militärisch-straffen Fitneßstudiovariante.
Indes schnappt sich Herr Eichkatz die Nuß nicht etwa zum Zwecke des Verzehrs; vielmehr trägt er sie quer durch den Hof vors Fenster der Nachbarin, wo der Topf mit meiner Blumenerde steht, gräbt sie dort ein und vergißt sie augenblicklich. Weil die typische Nußzeit (der Herbst) auch die Zeit des Umtopfens ist, kommt es derart immer mal wieder zu einem lustigen Spiel: Herr Eichkatz gräbt die Nuß ein, ich grabe sie wieder aus, lege sie erneut aufs Fensterbrett, er gräbt sie wieder ein und so weiter und so fort, bis ihn irgendwann doch einmal ein plötzlicher Hunger (oder möglicherweise auch der Trotz) befällt.
Wenn Herrn Eichkatz bei diesem Spiel niemand assistiert, hat die Sache Folgen, die sich zum Beispiel im Münchner Norden anschaulich zeigen: Weil dort die Immobilienmafia besonders tüchtig ihrem Geschäft nachgeht, leerstehende Häuser und Grundstücke verfallen und verwahrlosen zu lassen, um sie eines Tages ruhigen Gewissens und mit Duldung der Behörden abreißen und darauf neue Betonkäfige für mobiles Ausbeutungsmaterial erstellen zu dürfen, hat der Eichkatz absolut freie Bahn, muß aber ohne Spielgefährten auskommen. Da rast er dann herum, sammelt tonnenweise Nüsse, vergräbt sie beliebig in Gärten und Brachen und vergißt sie sofort – für die Auffindung und das erneute Servieren wäre ja der Mensch zuständig, aber der fehlt, weil er in solchen Gegenden mangels trendig-urbaner Konsumgelegenheiten nichts verloren hat.
So kommt es, wie es kommen muß, und nach wenigen Jahren hat sich, vom Klimawandel begünstigt, ein einstmals gepflegtes Kraut-und-Rüben-Gärtchen in einen undurchdringlichen Wald von Nußbäumen samt Haselgestrüpp verwandelt, in dem ein wildes Volk von Eichkätzchen herumschwirrt, -hüpft und -wirbelt und unablässig Nüsse vergräbt, bis … ja, bis was? Bis eines Tages ein weiser Artgenosse daherkommt und Aufkleber verteilt mit der Aufschrift: „Erst wenn der letzte Grashalm verkümmert, der letzte Sonnenstrahl verschattet und der letzte Pilz im Wurzelgewirr vertrocknet ist, werdet ihr feststellen, daß man Bäume nicht essen kann“?
Ich ahne, wie sich da ein kapitalismuskritischer Hintergedanke einschleicht und den süßen Herrn Eichkatz zur Allegorie umfunktionieren möchte, um vor dem Untergang der Welt zu warnen und zu Ein- und Umkehr zu mahnen. Aber nein, umkehren ist auf Einbahnstraßen nicht erlaubt, die Welt geht sowieso unter (zumindest für den Menschen), und im übrigen ist der Herbst die Zeit der großen Heimkehr, in der sich unter anderem erweist, daß auch der Mensch nicht mehr ist als ein Eichkatz mit Schulabschluß und Monatskarte (für was auch immer).
Nämlich kehrt im Herbst nicht nur der Mensch von Badestrand und Biergarten in die Wohnung zurück, sondern auch die Pflanzen, die den Sommer über auf Freigang im Hof waren, und wie immer steht man dann fassungslos in Zimmertüren und fragt sich, wie es sein kann, daß dieses wuchernde Volk dermaßen gewuchert ist, daß man kaum noch an Kleiderschränke und Bücherregale heran, ja eigentlich gar nicht mehr ins Zimmer hineinkommt.
Dabei ist das recht leicht zu erklären: Wie der Eichkatz schätzt auch der Mensch das Spiel mit den Kernen, von denen im Verlauf eines Jahres ziemliche Mengen anfallen: Mango, Traube, Avocado, Paprika, Mirabelle, Passionsfrucht, Melone, Marone, Dattel, Pfirsich, Papaya, Quitte, Orange, Mandarine, Granatapfel, Kaki, Birne, Zitrone, Holler, Beere, selbst die naturgemäß dem Eichkatz zustehende Restnuß oder -marone und notfalls auch mal ein vertrocknetes Stück Ingwer oder Kurkuma – alles vergräbt er in hübschen Töpfchen, stellt es in den Hof, vergißt es sofort wieder und wundert sich hinterher, was da so alles gesproßt, geschossen, getrieben und gefruchtet hat beziehungsweise ist. Und schon ist der Herbst da, und die Wohnung steht voll mit Bäumen, Sträuchern, Palmen, Büschen, die munter ihr Laub in alle Ecken streuen und zur winterlichen Zerstreuung ein Massenheer von Trauermücken, Blattläusen, Käfern und anderem Gekreuch und Gefleuch mit sich führen.
Da es kein feinfühliger Mensch übers Herz bringt, wehrlose Pflanzen zu meucheln (abgesehen vielleicht von den unseligen Kreaturen aus dem Bau- und Möbelmarktsortiment vom Buchsbaum bis zum Ficus), die zudem ja möglicherweise eines Tages reiche Ernten liefern werden (ein ewiger Phantasietraum, wie einem alljährlich bewußt wird, wenn man nach Monaten fürsorglicher Hege seine fünf krumpeligen Tomaten einsammelt), akkumuliert sich die Biomasse immer weiter, bis der Mensch endlich in eine größere Behausung umziehen muß, um seinem Wald ausreichend Auslauf zu bieten.
So transformiert sich der Planet: Wälder, einst eine Art kontinentaler Pelz unter freiem Himmel, bewohnen Gebäude, während Mensch und Eichkatz draußen herumturnen. Und der Sinn des ganzen Irrsinns? Und die Moral? Wer weiß. Vielleicht dient all das nur dazu, zu begreifen, daß die so oft beklagte Vergeblichkeit aller Mühen doch keine ist, zumindest aus bäumisch-evolutionärer Sicht.


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Belästigungen 20/2015: Schöne Sachen kaputt: na und! Schlimme Sachen weg: au weia! (eine anthropologische Studie)

Wenn der Herbst kommt und Menschen wie ich in Züge steigen, um kreuz und quer durch Deutschland zu fahren, Texte vorzulesen und mit lustigen Menschen Bier zu trinken, geraten diese Menschen irgendwann in einen leicht surrealen Gemütszustand. Nämlich reist man weitenteils mit dem Zug heutzutage nicht mehr durch Deutschland, sondern durch Tunnels, dunkle unterirdische und graugeblechte oberirdische aus Lärmschutzwällen.
Die eigentümlich melancholische Monotonie dieses Anblicks wird nur ganz hin und wieder unterbrochen von Vorführungen zeitgenössischer Architektur, mit der man jene Landschaften vollmüllt, wo die Menschen abgelagert werden, die sich noch keine Tunnels und/oder Lärmschutzwälle leisten können. Das ist dann fast noch melancholischer: daß es Menschen gibt, die sich tagsüber damit beschäftigen, Landschaften und andere schöne Dinge kaputtzumachen, und sich abends darauf freuen müssen, in diese dicht gepackten Haufen von in Reih und Glied stehenden Schreckenskisten einzubiegen, sich dort vor den Fernseh zu setzen und zur Erfrischung und geistigen Ertüchtigung drei Stunden lang Börsenkurse, Wirtschaftsdaten und andere Propaganda anzuglotzen. Wenn sie Glück haben, zeigt man ihnen dann noch (mit einem fast hörbar deutlichen „Ätsch!“) eine warenförmige Beziehungsanbahnung in irgendwelchen Geldadelsfamilien samt spaßiger Verwechslung und Hundegekläff am Frühstücksbuffet, von der sie den Schluß verschlafen.
Das sind so Gedanken, auf die man da kommt. Dann kommen wieder Tunnels und Lärmschutzwälle, und weil das auf irgendeine ironische Weise digitale Hell-Dunkel-Spiel das Lesen von Büchern äußerst strapaziös macht und man die lächerlichen Geschäftsmails des krawattierten Sitznachbarn längst auswendig kennt, klappt man halt das Realitätssurrogatgerät auf und schaut sich mal wieder „Fight Club“ an (wobei der Nachbar plötzlich doch die Armlehne freigibt, wenn man an den richtigen Stellen leise dissidentisch kichert).
Apropos. Ich mag „Fight Club“ irgendwie (zumindest gefällt mir, daß ich alle drei Jahre den Schluß vergessen habe und den Film drum ganz ohne Spoiler noch mal anschauen kann). Was mich aber immer wieder verwirrt, ist die seltsame Moral, die da offenbar (oder scheinbar, bis zum Schluß eben) transportiert werden soll.
Nämlich: Da haben wir erst mal einen (auf diffuse Weise) schlechten Menschen, eine Art Berufsverbrecher, der sein Geld damit verdient, daß er einer Autofirma hilft, Profit zu machen, indem Mängel an ihren Produkten vertuscht werden, die unzählige Menschen ihr Leben kosten. So was wie Beihilfe zum Massenmord also. Oder mindestens Totschlag, ich will mich da nicht festlegen.
Dieser schlechte Mensch (Obacht, jetzt kommt der Spoiler für Leute, die den Film noch gar nicht kennen:) verwandelt sich mittels einer ausgeklügelten Schizophrenie in einen (auf sehr diffuse Weise) guten Menschen, der reichen Säcken in die Muschelsuppe pinkelt, aufs Dessert furzt, ihnen ihr abgesaugtes Arschfett als Luxusseife verkauft, mit Billigramsch vollgestellte Betonkisten sprengt, diesen und jenen weiteren konsumkritischen Schabernack treibt und schließlich den wahrhaft messianischen Plan faßt, die Kreditkartenschulden sämtlicher Amerikaner durch Nitroglyzerin zu löschen.
So weit, so gut. Dann aber wird sich der Mensch plötzlich seiner Schizophrenie bewußt, und nun bildet er sich auf einmal ein, es sei gar nicht so gut, den Gesamtschuldenstand einer Gesellschaft auf Null zu stellen (woran man übrigens merkt, daß der Film älter ist als David Graebers Buch „Schulden“). Nein, das sei sogar äußerst verwerflich und müsse um jeden Preis verhindert werden, notfalls indem man sich selbst in den Kopf schießt.
Zum Glück schlägt der Film seinem Hauptdarsteller ein Schnippchen (dem darob erfreuten Zuschauer allerdings auch, so daß man am Ende gar nicht mehr recht weiß, wer hier eigentlich verarscht wird, und sich lebhaft vorstellen kann, wie über den Schnitt des Finales diskutiert wurde). Aber die Frage schwebt weiter im Vakuum zwischen Tunnelwänden und Lärmschutzwällen: Warum entsetzt es den Menschen stets, wenn etwas Häßliches, Verderbliches, Tödliches kaputtgemacht wird, während er ungerührt zuschaut, wie Jahr für Jahr, Tag für Tag, Sekunde für Sekunde alles Schöne an der Welt, in der er zu leben träumt, systematisch zerstört und nach und nach vernichtet wird?
Weshalb – nur als Beispiel – darf die bayerische Staatsregierung einfach so beschließen, das weltweit unvergleichliche Isental durch eine Autobahn für alle Zeiten zu beseitigen? Wieso darf irgendein Immobilienkonzern die ebenfalls unwiederbringliche Eggartensiedlung abzureißen und mit Beton vollzustellen? Und warum ist es andererseits so absolut undenkbar, in Eigenregie und Selbsthilfe derartiges zu verhindern oder die derart verbrecherisch erstellten Verschandelungen ihrerseits wieder wegzumachen?
Liegt das wirklich nur daran, daß ein Auto, eine Fabrik, ein Betonklotz, daß all dieses Zeug einen Geldwert und somit im Kapitalismus selbstverständlich auch einen Eigentümer beziehungsweise Besitzer hat, den man durch das Kaputtmachen „schädigen“ würde (obwohl ja auch er vermutlich unter der Verwandlung der Welt in eine Müllhölle leidet), während Schönheit einfach da ist (oder mal war) und sich weder kaufen noch verkaufen läßt, also auch niemandem gehört und frohgemut verwüstet werden darf?
Möglicherweise. Wenn dem so ist, ist es aber vermutlich Teil der menschlichen und damit insgesamt: der Natur. „Diese Spezies“, werden findige Forscher dereinst feststellen, „fand größten Gefallen daran, ihr Habitat in Klump und Asche zu hauen und sich damit selbst auszurotten. Ob diese gesamtsuizidale Neigung genetisch bedingt war oder durch die Beschallung mit Scorpions-Musik ausgelöst wurde, läßt sich leider nicht mehr feststellen.“
Und daß man bei derlei Gedanken zwischen den Wänden, Wällen und Würfelhaufen Lust kriegt, doch mal wieder ein bißchen harmlos scheppernde Sabotage zu veranstalten – das schreibt man lieber nicht hin. Man will den Nachbarn ja nicht erschrecken; der ist auch bloß ein Mensch, der seiner Bestimmung folgt.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.