In unserem Hof wohnt Herr Eichkatz. Daß es sich um einen
männlichen Vertreter der Spezies Sciurus vulgaris handelt, schließe ich aus
einer gewissen Irrationalität seines Verhaltens. So feiert er etwa den Anblick
der täglichen Nuß auf dem Fensterbrett mit einem Tanz, der wie eine
hyperbeschleunigte Mischung aus Fußballerjubel und Hardrockfestivalgymnastik
(Gitarrensolo!) wirkt – von weiblichen Gattungsvertretern zumindest des
Menschen kennt man exzessive Bewegung eher in der militärisch-straffen
Fitneßstudiovariante.
Indes schnappt sich Herr Eichkatz die Nuß nicht etwa zum
Zwecke des Verzehrs; vielmehr trägt er sie quer durch den Hof vors Fenster der
Nachbarin, wo der Topf mit meiner Blumenerde steht, gräbt sie dort ein und
vergißt sie augenblicklich. Weil die typische Nußzeit (der Herbst) auch die
Zeit des Umtopfens ist, kommt es derart immer mal wieder zu einem lustigen
Spiel: Herr Eichkatz gräbt die Nuß ein, ich grabe sie wieder aus, lege sie
erneut aufs Fensterbrett, er gräbt sie wieder ein und so weiter und so fort,
bis ihn irgendwann doch einmal ein plötzlicher Hunger (oder möglicherweise auch
der Trotz) befällt.
Wenn Herrn Eichkatz bei diesem Spiel niemand assistiert, hat
die Sache Folgen, die sich zum Beispiel im Münchner Norden anschaulich zeigen:
Weil dort die Immobilienmafia besonders tüchtig ihrem Geschäft nachgeht,
leerstehende Häuser und Grundstücke verfallen und verwahrlosen zu lassen, um
sie eines Tages ruhigen Gewissens und mit Duldung der Behörden abreißen und
darauf neue Betonkäfige für mobiles Ausbeutungsmaterial erstellen zu dürfen,
hat der Eichkatz absolut freie Bahn, muß aber ohne Spielgefährten auskommen. Da
rast er dann herum, sammelt tonnenweise Nüsse, vergräbt sie beliebig in Gärten
und Brachen und vergißt sie sofort – für die Auffindung und das erneute
Servieren wäre ja der Mensch zuständig, aber der fehlt, weil er in solchen
Gegenden mangels trendig-urbaner Konsumgelegenheiten nichts verloren hat.
So kommt es, wie es kommen muß, und nach wenigen Jahren hat
sich, vom Klimawandel begünstigt, ein einstmals gepflegtes
Kraut-und-Rüben-Gärtchen in einen undurchdringlichen Wald von Nußbäumen samt
Haselgestrüpp verwandelt, in dem ein wildes Volk von Eichkätzchen
herumschwirrt, -hüpft und -wirbelt und unablässig Nüsse vergräbt, bis … ja, bis
was? Bis eines Tages ein weiser Artgenosse daherkommt und Aufkleber verteilt
mit der Aufschrift: „Erst wenn der letzte Grashalm verkümmert, der letzte
Sonnenstrahl verschattet und der letzte Pilz im Wurzelgewirr vertrocknet ist,
werdet ihr feststellen, daß man Bäume nicht essen kann“?
Ich ahne, wie sich da ein kapitalismuskritischer
Hintergedanke einschleicht und den süßen Herrn Eichkatz zur Allegorie
umfunktionieren möchte, um vor dem Untergang der Welt zu warnen und zu Ein- und
Umkehr zu mahnen. Aber nein, umkehren ist auf Einbahnstraßen nicht erlaubt, die
Welt geht sowieso unter (zumindest für den Menschen), und im übrigen ist der
Herbst die Zeit der großen Heimkehr, in der sich unter anderem erweist, daß
auch der Mensch nicht mehr ist als ein Eichkatz mit Schulabschluß und
Monatskarte (für was auch immer).
Nämlich kehrt im Herbst nicht nur der Mensch von Badestrand
und Biergarten in die Wohnung zurück, sondern auch die Pflanzen, die den Sommer
über auf Freigang im Hof waren, und wie immer steht man dann fassungslos in
Zimmertüren und fragt sich, wie es sein kann, daß dieses wuchernde Volk
dermaßen gewuchert ist, daß man kaum noch an Kleiderschränke und Bücherregale
heran, ja eigentlich gar nicht mehr ins Zimmer hineinkommt.
Dabei ist das recht leicht zu erklären: Wie der Eichkatz
schätzt auch der Mensch das Spiel mit den Kernen, von denen im Verlauf eines
Jahres ziemliche Mengen anfallen: Mango, Traube, Avocado, Paprika, Mirabelle,
Passionsfrucht, Melone, Marone, Dattel, Pfirsich, Papaya, Quitte, Orange,
Mandarine, Granatapfel, Kaki, Birne, Zitrone, Holler, Beere, selbst die
naturgemäß dem Eichkatz zustehende Restnuß oder -marone und notfalls auch mal
ein vertrocknetes Stück Ingwer oder Kurkuma – alles vergräbt er in hübschen
Töpfchen, stellt es in den Hof, vergißt es sofort wieder und wundert sich
hinterher, was da so alles gesproßt, geschossen, getrieben und gefruchtet hat
beziehungsweise ist. Und schon ist der Herbst da, und die Wohnung steht voll
mit Bäumen, Sträuchern, Palmen, Büschen, die munter ihr Laub in alle Ecken
streuen und zur winterlichen Zerstreuung ein Massenheer von Trauermücken,
Blattläusen, Käfern und anderem Gekreuch und Gefleuch mit sich führen.
Da es kein feinfühliger Mensch übers Herz bringt, wehrlose
Pflanzen zu meucheln (abgesehen vielleicht von den unseligen Kreaturen aus dem
Bau- und Möbelmarktsortiment vom Buchsbaum bis zum Ficus), die zudem ja
möglicherweise eines Tages reiche Ernten liefern werden (ein ewiger
Phantasietraum, wie einem alljährlich bewußt wird, wenn man nach Monaten
fürsorglicher Hege seine fünf krumpeligen Tomaten einsammelt), akkumuliert sich
die Biomasse immer weiter, bis der Mensch endlich in eine größere Behausung
umziehen muß, um seinem Wald ausreichend Auslauf zu bieten.
So transformiert sich der Planet: Wälder, einst eine Art
kontinentaler Pelz unter freiem Himmel, bewohnen Gebäude, während Mensch und
Eichkatz draußen herumturnen. Und der Sinn des ganzen Irrsinns? Und die Moral?
Wer weiß. Vielleicht dient all das nur dazu, zu begreifen, daß die so oft
beklagte Vergeblichkeit aller Mühen doch keine ist, zumindest aus
bäumisch-evolutionärer Sicht.
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