Donnerstag, 29. Mai 2014

Frisch gepreßt #316: Oasis „Definitely Maybe (Deluxe Edition)“


Eine Seifenblase ist etwas sehr Schönes. Sie schimmert und leuchtet in schwimmenden, zerfließenden, silbrigen Farben, und je genauer man hinsieht, desto mehr glitzernde, bunte Details entdeckt man. Wenn die Sonne sich darin spiegelt, strahlt die Blase in zeitvergessenem Glanz, und der ganze Himmel leuchtet aus ihrer unendlichen Rundung. Der ganze Himmel. Vor beinahe zwanzig Jahren waren Oasis zwei Jahre lang eine Seifenblase; schon ihr Name ließ daran denken, zumal in einer Zeit, als Rockbands mit Vorliebe Gruntruck, Brainslaughter oder Scattergun hießen.
Ihre Singles hielten die Uhr der Welt an – time of our lives –; zwei Jahre lang waren Oasis mit einiger Sicherheit die größte Band des Universums. Dann, mit dem dritten Album, platzte die Blase. Übrig blieb ein kleiner Fleck Feuchtigkeit, weniger als von einer Träne bliebe. So geht das aber immer mit dem Rausch, den man nur wirklich genießen kann, wenn man nicht an die Folgen denkt und daran, dass er vorbeigehen wird.
Und daran dachte kein Mensch, als im April 1994 die erste Oasis-Single erschien. Sie hieß „Supersonic“ („mit Überschallgeschwindigkeit“), und der Titel war Programm. Dabei waren diese fünf Durchschnittstypen die denkbar unwahrscheinlichsten Popstars: Sie sahen aus wie ganz normale Heinis, die sich im Glasscherbenviertel am Zigarettenautomaten treffen, um ihre Mofas aufheulen zu lassen und sich gegenseitig zu erzählen, was sie alles machen täten, wenn. Ende der 80er als The Rain gegründet, rumpelten sie einige Zeit im Proberaum herum, ersetzten ihren aussichtslosen Sänger durch den großmäuligen Rabauken Liam Gallagher, benannten sich nach einer Konzerthalle in Swindon und holten schließlich, als gar nichts vorwärtsgehen wollte, Liams Bruder Noel dazu, der mit dem Anspruch kam, sie zu den neuen Beatles oder vielmehr den neuen Slade zu machen.
Dazu zimmerte er klassische Hitvorlagen zu vage vertrauten und doch irgendwie neuen Lärmbrettern zusammen, bedeckt mit einem Teppich von Dröhngitarren und überschallt von Liams unwiderstehlich desinteressierter Plärrstimme, einer Mischung aus Johnny Rotten und John Lennon, in die eine ganze Generation von biertrinkenden Sitzenbleibern, die sich für Fußball, Weiber und Prügeleien interessierten und keine Lust mehr hatten, sich von intellektuellen Pfeifenköpfen verarschen zu lassen, ihre sämtlichen Sehnsüchte projizieren konnte.
Dann war es, als hätte sich ein Vakuum geöffnet: Auf „Supersonic“ folgte „Shakermaker“ (so geschert geklaut, dass es auffiel und Noel 500.000 Dollar an die New Seekers überweisen musste), derselbe Krach in grün, und mit „Live Forever“ der erste Top-ten-Hit und die erste echte Hymne, bei der man am Horizont schon die Stadien sah. „Cigarettes And Alcohol“, „Whatever“ (für das diesmal sinnigerweise Neil Innes von der Beatles-Parodiegruppe The Rutles einen Haufen Geld und einen Autorencredit einklagte) … es wurde immer besser, größer, unverschämter. Oasis pfiffen auf alles, was an Anstandsregeln und sonstigem Kram im Weg stand, und sie hatten das Glück des Bankräubers, der nicht weiß, dass er seine Pistole vergessen hat, und deswegen so überzeugend wirkt, dass man ihm trotzdem den gesamten Geldbestand aushändigt und vor lauter Verblüffung nicht mal die Polizei holt.
Schon die Covers ihrer ersten Platten waren zufällige Meisterwerke: scheinbar rätselhafte, hyperrealistische Stillleben, in die jeder alles hineindeuten konnte, was er wollte, und in denen doch auch irgendwie die ganze Geschichte der Rockmusik enthalten und zugleich ausgelöscht war. Es mochte scheinen, als wären Oasis nicht nur die größte, sondern auch die erste, die einzige Rockband der Welt.
Die echten (musikalischen) Geniestreiche („Some Might Say“, „Wonderwall“, „Don’t Look Back In Anger“ usw.) folgten im Jahr darauf. Da war „Definitely Maybe“ längst ein Klassiker, das am schnellsten verkaufte Debütalbum aller Zeiten und die Nummer eins des größten Sommers, den britische „lads“ je erlebt hatten. Die Stadien tobten, die Zeit flog dahin, und zugleich schien sie stehenzubleiben, und die Seifenblase wuchs auf Globusgröße, was, wie jeder im Grunde weiß, nicht gutgehen kann. Aber wen kümmert das in einem solchen Moment, wenn der Himmel leuchtet, die Gitarren dröhnen und der Rausch reinhaut, als wäre man tatsächlich unsterblich?

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 28. Mai 2014

Frisch gepreßt #315: Damon Albarn "Everyday Robots"


Neulich haben wir beraten, wieso das neue Album von Jan Delay so schlecht und das von Damon Albarn so gut ist. Die Begegnung war reiner Zufall; ebenso gut hätte es Lily Allen und Matthias Reim treffen können (na gut, den eher nicht, aber lediglich aus ideellen Gründen). Punkt eins, die Wahl der Feinde: Delay promotet sein 80er-Rockgeschmonze mit einer Heino-Nazi-Affäre, die bei aller Lächerlichkeit angesichts der unvermeidlichen Doppelporträts und Montagen vor allem darauf verweist, wie ähnlich sich die beiden sind. Albarn verlor, lang ist’s her, die „Schlacht“ um Platz eins gegen Oasis, verwandelte die momentane Niederlage in eine Serie von Triumphen auf den unerwartetsten Schauplätzen und hat seitdem schlichtweg keine Gegner mehr, weil er sich ohne Besitzansprüche alles einverleibte, was hip und cool war, von Afrofunk (mit Lilys Papa Tony Allen) über generationenumspannende Virtualität (Gorillaz) bis zum Inbegriff des Rock ’n’ Roll (mit Paul Simonon von The Clash). Halbgare Blur-Reunionen konnten ihm ebenso wenig anhaben wie paparazziträchtige Sufftorkeleien am hellichten Tag.
Punkt zwei, der Kontext: Beide Künstler sind aus Szenen erwachsene Identifikationsfiguren, im Laufe der Jahre irgendwie „klassisch“, zumindest unverkennbar und konsensfähig geworden. Delay aber reagiert darauf mit ziemlich hilflosen Griffen ins „amtliche“ Deutschpoprepertoire zwischen Grönemeyer und Scorpions, läßt beim Zitieren alles aus, was kantig, cool oder wenigstens „kultig“ sein könnte, verzichtet auf Ironie und endet in einem Berg von käsigem Zeug, das nicht mal Autofahrer wachhält. Albarn hingegen hat zwölf Songs geschrieben, denen man anhört, daß sie möglicherweise spätnachts bei Kerzenschein auf einer Akustikgitarre entstanden sind, sie äußerst behutsam instrumentiert (E-Piano, Baß, etwas Beat, ein paar Geräuschschleifen, wenig mehr), und obwohl jeder einzelne davon auf eines seiner letzten vier oder sieben Alben gepaßt hätte, obwohl jeder davon so vertraut klingt, als hätte man ihn seit zwanzig Jahren immer wieder gehört, sind alle vollkommen neu (mit Ausnahme von „Heavy Seas Of Love“, dessen Strophe sich – möglicherweise unabsichtlich – an „Daydream Believer“ von den Monkees anlehnt, einen Song und eine Band, die für Damon Albarns musikalisches Leben eventuell eine wesentlich fundamentalere Rolle gespielt haben und spielen, als man glaubt).
Zudem ist „Everyday Robots“ keine Spielzeugkiste, kein Sammelsurium von Klimbim, sondern als ganzes Album ein Werk von staunenswerter, hypnotischer Schönheit, Demut, Gelassenheit, Abgeklärtheit, melancholischer Ruhe und Weisheit, dessen Qualität sich auf zweierlei Weise zeigt: Den Fachmann verblüfft, wie das Komplizierteste kinderleicht und das Simpelste höchst elaboriert wirkt; noch das kleinste Detail steht ohne jede Not der Rechtfertigung, ohne auch nur augenzwinkerndes „Wow!“ genau an der Stelle, wo es stehen muß. Das nennt man Genie.
Den Laien (wenn es einen solchen bei Popmusik geben kann) wiederum fasziniert, fesselt, macht süchtig: die Fülle der Eindrücke, die diese Platte vermittelt, und die Art, wie sie wach und aufmerksam macht für den Moment ihres Erlebens – wer das Glück hat, sie in einer Situation zufälliger (oder von der Musik induzierter) Zärtlichkeit das erste Mal zu hören, ist mit einer Erinnerung gesegnet, die ihn durchs Leben tragen kann. Das nennt man Kunst. Hinzu kommen Texte, die dies und das erzählen mögen; es gerinnt dem reifen Albarn (den ich einst als jugendliche Koksnase in einem Amsterdamer Hotelzimmer herumhüpfen sah und das dennoch damals schon ahnte oder hoffte) zu purer Poesie.
Und damit endet jeder Vergleich, weil er beiderseits unfair wäre: Diese Verschmelzung von Genie, Poesie und Kunst, von Makellosigkeit und Bescheidenheit nennt man Vollendung, und alles, was dazu darüber hinaus zu sagen sein könnte, taugt höchstens für romantisch beseelte Tagebucheinträge und Liebesbriefe.

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Frisch gepreßt #314: Leon Russell "Life Journey"


Als der Gott des Bluesrock einen Felsen suchte, auf dem er seine Kirche errichten konnte, fand er Claude „Leon“ Russell Bridges und suchte nicht mehr weiter. Die Kirche steht bis heute an der 3rd Street in Tulsa, Oklahoma, trägt den Namen Church Recording Studios, und dass die konfessionelle Zuordnung zur Sekte der Heiligen, Apostel und Jünger des Bluesrock Leon Russells irdisches Schaffen bei weitem nicht vollständig er- oder gar umfasst, zeigt die Liste der Musiker, die dort mit Russell ihre eigenen und immer wieder dessen Songs aufnahmen, mit ihm tourten und ihn von anderswo herbeiriefen, auf dass er sie segne, heile oder rette.
Mit einer vollständigen Aufzählung ließe sich das vorliegende Heft füllen, drum greifen wir halbzufällig hinein in die Masse, nennen mehrere Ex-Beatles, die Rolling Stones, Bob Dylan, Willie Nelson, Joe Cocker, die Carpenters, J. J. Cale, Doris Day, Gram Parsons, Ray Charles, Eric Clapton, Jan & Dean, Byrds, Beach Boys, Jerry Lee Lewis, Phil Spector, Frank Sinatra, B. B. King. Fügen wir hinzu, dass all dies Jahrzehnte her ist, es Leon Russell jedoch gelang, noch 2010 gemeinsam mit der ewigen Ulknudel Elton „Es kann nie genug schlechte Songs geben, drum schreibe ich jedes Jahr zehn neue“ John eines der zertifiziert besten Alben des Jahres aufzunehmen.
Fragen wir uns, wie all das sein kann, wie es geschehen konnte, dass manche von Russells Song in bis zu vierzig Versionen die Hitlisten der USA und anderer Länder bevölkerten, dass viele weltberühmte Superstars ihn als Heiligen oder gar gleich selbst als Gott verehren, und nennen wir ihn zur Antwort schlicht den Urquell der längst multikulturell internationalisierten amerikanischen Musik.
Fügen wir hinzu, dass viele auch in dem Menschen Leon Russell eine Ikone, ein Ideal und Idol sehen, den klassischen freewheelin’ Hobo, libertären Freigeist, prototypischen Hippie, das einzig unverbrüchliche Leitbild einer längst verwehten Gegenkultur, und stellen wir all das nicht in Frage, weil zwar nichts je ist, was es scheint, aber Leon Russell vielleicht noch am ehesten. Wer behauptet, nie einen Song von ihm gehört zu haben, lügt. Wer nicht zumindest seine frühen Platten kennt, schätzt, liebt, versteht wenig von Musik. Wer meint, die USA wären ohne ihn heute nicht ein (noch) viel schlimmerer Ort, verkennt die Historie.
Wozu nimmt ein solcher Mann in nicht unbedingt mehr popmusikkompatibelstem Alter 2014 ein neues Album auf? Diese Frage ist leicht zu beantworten: weil er es kann und muss. Weil es in ihm immer noch glüht, raucht und brennt, weil seine unfassbar anrührende, packende, wundervolle Schmirgelstimme mit jedem Jahr ein Stück reifer und besser wird, weil die Songs einfach drin sind in seiner Seele, seine Seele sind, diese unsterblichen Lieder von Paul Anka, Hoagy Carmichael, Eddie Cooley, Duke Ellington, Robert Johnson und vielen anderen, die ihn auf der Reise seines Lebens bis heute geleitet und begleitet haben.
Deshalb setzte er sich mit dem ebenfalls reichlich legendären Produzenten Tommy LiPuma zusammen und spielte sie ihm vor, und der empfahl ihm ein paar weitere, ließ die Bänder laufen, holte den Bassisten von Count Basie, ein paar Bluesrock-, Dixieland- und Jazz-Urfelsen sowie eine ganze Big Band dazu, die den bescheidenen Mann erzittern ließen und die Flamme in ihm derart schürten, dass man streckenweise fassungslos lauscht und sich bei Balladen wie „Think Of Me“ und „I’m Afraid The Masquerade Is Over“ in Gänsehäuten geradezu wälzt. Durch diese Aufnahmen fließen Milch und Honig, in ihnen schlägt ein altes, weises Herz, das dennoch, wenn es lauter wird, noch immer überströmt vor Sehnsucht, Leidenschaft, Sex.
„Ich nähere mich dem endgültigen Ziel meiner Reise“, schreibt Leon Russell in seinen Anmerkungen zu diesem Album, mit dem er trotzdem unverdrossen auf Tour gehen möchte, und zwar in Riesenbesetzung samt Orchester. Vor zwei Wochen hatte er Geburtstag. Wir sollten ihm noch mal 72 gesunde Jahre voller Musik wünschen, wenn das nicht gar so vermessen wäre. Aber vielleicht hat der Gott des Bluesrock ja ausnahmsweise ein Einsehen.

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Frisch gepreßt #313: Lucius "Wildewoman"


Wohin er auch sich entwickelt, der Mensch, stets und stetig bleibt er der Vergangenheit verhaftet, verklebt und verwoben, weshalb sein tiefsitzender Drang nach Neuem, nach Weiterbildung, Ausformung und Ablegerablegung wohl nur ein Ausgleichsbemühen ist, weil tief in ihm die Sehnsucht nach ersten Malen und Augenblicken brennt.
Wir rollen die esoterische Tischdecke wieder ein, weil darunter das alte Holz seine Maserung darbietet, die Scharten und Schnitte und Kratzer und die Mitgenommenheit der Jahre seit … Hach! brüllt Doktor Weißichschon: die Blonde vom Autoscooter, ja ja! Ich weiß noch!
Nur weiß es außer ihm keiner, weil in jedem Kopf ein eigener Autoscooter seine Spirographmuster dreht (weshalb dem Autor dieser Zeilen das Wort „Spirograph“ aus derartiger Entfernung und Tiefe plötzlich wieder in den Sprechschreibapparat gerutscht ist, weiß hingegen kein Mensch außer Frau Warschonimmerda-Binsnoch, deren Lächeln als zuverlässiger Wegweiser durch die tiefsten Dunkelheiten wirkt). Da leuchten Farben, dräuen Gewitter, winken Erstverliebtheiten, schaumduften Marshmallows, prangen Brüste, strahlen südkalifornische Täler, brüllen rasende Kellerclubs, lächeln Augenwinkel, duften zarte Berührungen, brausen und pludern Klassenparties, kreiseln Rauchfähnchen, dämmern güldene Sommerabende, deren Güldenheit zu 99 Prozent daher rührt, daß sie die jeweils ersten und zugleich letzten waren und niemals wiederkehren. Außer in jenem Bereich knapp unter dem Kopf, wo das Gemüt und die Sehnsucht wohnen.
Dorthin und dort stechen und stochern Frau Wolfe und Frau Laessig – nennen wir sie Jess und Holly, um weitere Quellen verwehter, nie zu stillender Sehnsüchte zu öffnen –, deren Einzigheit und Fähigkeit darauf beruht, daß ihre Seelen weiße Blätter sind, flatternd im Sturm der tobenden Reminiszenzen, die ihre weichen Hände immer dann kokett zurückziehen ins Nirgendwo, wenn man meint, sie greifen zu können. Lucius heißt ihre Band, über die (Schrecken aller Musikjournalisten, die stets vergleichen, deuten und herleiten müssen) nichts zu sagen ist als: Berklee School of Music besucht, kennengelernt, ab und zu als Lucius aufgetreten, nach Brooklyn gezogen, dort die anderen drei getroffen. Na gut, wirft Herr Kannschonsein ein, das kann schon sein, ist ja auch erst eineinhalb Jahre her, nicht wahr.
Da lächelt Frau Warschonimmerda-Binsnoch mit der ganzen Weisheit ihrer unergründlich ewigen Jugend: Alles wohnt in allem, weiß sie; und daß das Debütalbum von Lucius den einen an die Sechziger, den nächsten an die Siebziger, den dritten an die Achtziger und tausend andere an tausend Klassenparties, Gewitter, Erstverliebtheiten, Täler, Kellerclubs, Rauchfähnchen, Augenwinkel, Marshmallows, Brüste, zarte Berührungen und güldene Sommerabende erinnert, liegt einfach, schlicht und nur daran, daß Lucius nichts von alldem wissen, alles neu erfunden haben, wie es tausende und abertausende Generationen vor ihnen getan haben. Stets in dem unverwüstlichen gewissen Wissen: Niemand vor uns hat das je erlebt!
So entwickelt er sich, der Mensch: stets zurück, stets nach vorne, stets im Kreis und immer weiter. Was gestern gut war, ist heute besser. Was morgen schön ist, wird an gestern erinnern, und was gestern schön war, erblüht im Morgen.
Liebe Leute, sagt Frau Liebeleutehörtaufmich, hört auf mich: Wenn ihr euch nächste Woche verliebt (es ist die Woche, die statistisch betrachtet am besten dafür geeignet ist), legt dazu „Wildewoman“ auf. Und wenn ihr schon verliebt seid, seit letzter Woche, dann tut das erst recht. Ihr werdet es ein Leben lang nicht bereuen, sondern euch danken.
Und dort, ganz hinten in der Ecke, wo sich die Welt öffnet und die Luft rosaviolett und weit wird, dort lächelt Frau Kommdoch und sieht aus, als sagte sie: Komm doch. Aber das sieht man nicht genau, weil es so strahlt, das rosaviolette Licht. So entwickelt er sich, der Mensch, so bleibt er verhaftet, verklebt und verwoben und kann doch nur so: schweben, fliegen, ewig und immer, getragen von weichen Händen und Stimmen und einem Stück Sonne. Ein erstes Mal.

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Dienstag, 27. Mai 2014

Belästigungen #434: Nahost und Fernwest (und Nahsüd) in der gefühlten Vorkriegszeit

„Ist dir schon mal aufgefallen“, fragt N mit dem inquistorisch-kritischen Blick, der zu ihrer morgendlichen Zeitungslektüre dazugehört wie Kaffee und zwei Zigaretten, „daß der abscheuliche falsche nachgestellte Genitiv in kriegerischen Zeiten besonders stark grassiert?“
„Äh, nein“, sage ich. Seit Wochen schweigen Radio und Fernseh, weil mir von der blökenden Kriegspropaganda übel wird und das zwischendurch versendete Geplauder, das den Anschein erwecken soll, dies sei alles ganz normal, Kopfweh und Gänsehaut macht. Inzwischen lese ich auch keine gedruckten Instruktionen zum Denken und Meinen mehr.
„Es heißt dann nicht mehr ‚Rußlands Regierung‘, sondern ‚die Regierung Rußlands‘. Das soll angemessen wichtig wirken und die kolossale Bedeutung der Zeitenwende unterstreichen, die wir durchleben. Total verboten ist das harmlos-friedlich-entspannte ‚die Regierung von Rußland‘.“
„Hm“, sage ich.
Beim Spaziergang durch den strahlend sonnigen Apriltag fasziniert uns, wie brüchig die scheinbare Gelassenheit der Menschen ist. Am Biergartennebentisch kommt das müßige Gespräch über Hunde und Automotoren naturgemäß zum Erliegen, ohne mit einem der üblichen Folgethemen (etwa der erstaunlichen Qualität von Discounterfleischwaren) wieder aufzuleben. Statt dessen wird die These vertreten, am derzeitigen Zustand der Welt sei der Hitler schuld, weil er sich in seiner Blödheit am Juden aufgearbeitet habe, anstatt den Russen ein für allemal im Pazifik zu ersäufen. Gegenredend wird geäußert, der Russe sei „teilweise“ auch nur Opfer der jüdisch-amerikanischen Finanzverschwörung, was in wildes und wirres Thesengeklopfe mündet. Der Deutsche, so weit ist man sich immerhin einig, dürfe diesmal nicht mehr beiseite stehen und den Schwanz einziehen. Ich fühle Gänsehaut und Kopfschmerz nahen, und wir fliehen.
„Es gibt Nahost und Fernost“, sagt N versonnen. „Nahwest und Fernwest gibt es nicht. Dabei ist uns China viel näher als Amerika und Sibirien näher als Spanien.“
„Okay“, sage ich.
„Woher kommt die pathologische Furcht der Deutschen vor dem Osten?“ fragt N, rhetorisch.
„Ich weiß nicht“, antworte ich unvorsichtigerweise. „Hunnensturm? Völkerwanderung? Dschinghis Khan?“
„Damals“, sagt N, „war der Osten aber immer zugleich das Ziel aller Hoffnungen und Sehnsüchte. Auch Amerika wurde nur entdeckt, weil man schneller in den Osten wollte.“
„Aber nicht von den Deutschen.“
„Schuld“, sagt N mit leicht belehrendem Tonfall, „ist die Atlantikbrücke. Eine ultraradikale Sekte, gegründet von Leuten, deren Vorfahren aus Angst vor dem Osten nach Westen geflohen sind und jetzt danach streben, den Osten zu unterwerfen und ihn dazu notfalls zu vernichten.“
„Oho“, sage ich.
„Zu diesem Zweck haben sie sogenannte Meinungsführer verpflichtet, in sogenannten Leitmedien unablässig die Segnungen des Kapitalismus und der sogenannten westlichen Werte zu preisen und für deren Ausweitung auf die ganze Welt zu trommeln.“
„Und wozu?“
„Stell dich nicht dumm. Kapitalismus bedeutet die immer weitergehende Anhäufung von Reichtum durch die Verwertung von Arbeitskraft und Ressourcen. Dafür braucht man Wachstum, und das heißt: immer neue Märkte, die man ausbeuten kann. Und weil das manchmal nur mit Bedrohung und militärischer Gewalt geht, braucht der sogenannte westliche Kapitalismus eine NATO, die zum Beispiel Rußland und China deutlich macht, daß es sich zu fügen hat.“
„Aber Rußland“, wage ich einzuwenden, „ist doch längst selbst kapitalistisch. Der Kalte Krieg ist vorbei.“
„Blödsinn. Das ganze Gerede von Kapitalismus gegen Kommunismus war nur blöde Propaganda. Kommunismus hat es außerhalb von gewissen christlichen Klöstern nie gegeben. Der ideologische Quatsch war immer ein Hirngespinst, das nur dazu diente, die dumme Masse aufzuwiegeln, was übrigens besonders idiotische Idioten zum Beispiel beim ‚Focus‘ heute noch versuchen, indem sie von einem ‚Bolschewismus ohne Sozialismus‘ quasseln. In Wirklichkeit geht und ging es immer darum, welche Oligarchen die Profite einschieben.“
„Jetzt fängst du also auch mit der internationalen Finanzkapitalverschwörung an“, sage ich.
„Ach“, seufzt N, „die Mühsal des Differenzierens.“
„Ich weiß“, sage ich. „Laß uns was essen gehen. Bei dir um die Ecke gibt es jetzt ein ukrainisches Lokal.“
„‚Ukraine‘ bedeutet übrigens ‚militärisches Grenzgebiet‘. Gorbatschow hätte im Sprachunterricht besser aufmerken sollen.“
„Gorbatschow?“
„Dem“ (N doziert nun ungeniert) „hat die NATO, nachdem er ihr die DDR geschenkt hat, hoch und heilig garantiert, sich keinen einzigen Meter mehr nach Osten auszudehnen. Danach kamen zu den sechzehn Mitgliedsstaaten zwölf neue hinzu: Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Albanien und Kroatien. Die Ukraine ist der letzte Puffer, dann ist Rußland umzingelt.“
„Na gut“, sage ich, „wenn die Leute in diesen Ländern das wollen?“
„Um etwas zu wollen, muß man wissen, was es bedeutet. Weißt du, was es bedeutet, daß Deutschland in der NATO ist?“
„Äh, nein. Ich bin aber auch nie gefragt worden, ob ich das will.“
Während wir durch den Münchner Norden radeln und hin und wieder Rast machen, um Schlagzeilendiskussionen mitzuhören, schwirren Begriffe durch den imaginären Raum: Autokrat, Despot, Oligarch, Demokratisierung, Diktator, Terrorist, Freiheitskämpfer, Separatist. Und tausend falsche nachgestellte Genitive.
„1914“, sagt N. „Kein Zufall: Es ist niemand mehr übrig, der sich erinnern könnte.“
Endlich frage ich verzweifelt: „Was bedeutet das alles?“
„Nichts“, sagt N, und ihr Akzent verschiebt sich merklich, als sie einen großen Liederdichter zitiert: „Du gibst mir Liebe, ich geb dir Österreich.“ Und hinzufügt: „Wir waren nie in der NATO und haben das auch nicht vor. Und daran ist diesmal doch der Hitler schuld.“
Sie lächelt wie der blaue Himmel über der Wirrnis, dann gehen wir Fahrkarten kaufen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Dienstag, 13. Mai 2014

Belästigungen #433: Über rinks und lechz und manches, was man (nicht mehr) velwechsert

Nazis haben es nicht leicht. Das liegt (sorry, banal) daran, daß sie Rechte sind. Linke nämlich, das hat meine gesegnete Generation von ihren Schullehrern gelernt, sind verwahrloste, moralisch zerlumpte Gestalten, die grundsätzlich gegen alles sind, was Deutschland voranbringt, keinerlei Autorität achten und nichts im Sinn haben als zweifelhaft-zwielichtige Vergnügungen, qualmige Bewußtseinserweiterung, zügellose Triebbefriedigung, kindlich-kindische Ignoranz gegenüber sämtlichen Autoritäten und randalierende Mißachtung gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse – auf deutsch: Linke knallen sich die Birne zu, pimpern auch tagsüber, reden schlau daher und machen alles kaputt, was nicht ihnen gehört. Also: alles. Weil Linken sowieso nie was gehört, weil sie vor lauter Faulenzen, Pimpern, Aufmucken und Qualmen nicht zum Arbeiten kommen und deswegen als besitzlose Vagabunden durch die Welt strolchen.
Vor allem: lachen sie, kichern, gackern, grinsen, höhnen und spotten über alles, was dem aufrechten Deutschbürger mit Besenstiel im Hintern heilig ist. Hierin liegt das entscheidende Symptom, das nicht nur das Entstehen eines „rechten“ Kabaretts ausschließt und linke von rechter Musik unterscheidet (man höre zur Verdeutlichung The Clash und die Böhsen Onkelz nacheinander und versuche in beiden Fällen positiv-euphorischen Frohsinn zu empfinden), sondern z. B. auch die derzeit auf dem Medienmarkt hegemonial herumrüpelnden Wird-man-wohl-noch-sagen-dürfen-Giftzwerge und ihre maulschaumigen Tiraden gegen alles, was weibisch, schwul, „politisch korrekt“, muselmanisch oder sonstwie nicht stählern deutsch und gehorsam-strebsam ist, von linken Kapitalismusbeschimpfungen.
Der Rechte kennt keinen Witz, sondern höchstens in Ausnahmefällen einen „Humor“, der sich in den freien Minuten zwischen Drill, Aufmarsch und Fahnenweihe beim Zwangsschnapsgelage mit den „Kameraden“ in hämischem Har-Har-Har (zur Verdeutlichung gerne mit Doppel-r schreiben) über Mißgeschick und Mißhandlung von Schwächeren und Andersartigen entlädt.
In den letzten Jahr(zehnt)en hat sich hier einiges verwischt und verschoben. Spätestens seit Nazis in Che-Guevara-T-Shirts herumlaufen und autonomen Aktionismus üben, seit ehemalige Anarchisten flammende Reden für die Erweiterung der NATO bis an die russische Grenze schwingen und vermeintliche Freidenker Freundschaften kündigen, weil jemand aus Versehen „Neger“ sagt, kann man sich einer gewissen Verunsicherung nicht erwehren und möchte meinen, die hierzuländische Gesamtgesellschaft sei infolge von Verschwörung, Viruserkrankung oder historisch-genetisch bedingter Hirnerweichung so weit nach rechts marschiert, daß plötzlich Franz Josef Strauß in seiner ganzen Rüpelmonströsität und (traditionell ebenfalls rechten) Raffgier links wieder herausflutscht, weil er wenigstens das ab und zu konnte: herzhaft lachen über die bornierte Blödigkeit der Spießer, die ihn trotzdem unverdrossen wählten.
Mag sein, daß wir zum Beispiel auf das Theater der „Grünen“ nie hereingefallen sind und hinter der rauschebärtigen Stricklieslfassade von Anfang an den gelackten protestantischen Mittelschichtkarrierismus vermutet haben, der heute als energiegewendeter Wachstumsfanatismus die FDP ersetzt. Mag auch sein, daß in Sachen politisch-mentaler Verortung in Deutschland sowieso schon lange vieles durcheinander purzelt, weil es da schließlich bis vor einem Vierteljahrhundert einen ganzen Staat gab, den manch Vollverwirrter „links“ wähnte (was ein Staat von Haus aus nie sein kann, aber diese Debatte wollen wir uns heute ersparen).
Um so schöner, wenn die Fronten mal wieder geradegerückt werden, und das verdanken wir ausgerechnet der NPD, die neuerdings bemüht ist, sich durch Distanzierung von allzu offensichtlich „nationalsozialistisch“ ausgerichteten Mitgliedern als „nationaldemokratisch“ zu inszenieren, weil ersteres verboten und zweiteres bloß ein Schmarrn ist (dem zudem große Teile von CDU/CSU, FDP und anderen Parteien ebenfalls anhängen).
Ausgerechnet einem Mann mit dem Nachnamen Marx verdanken wir, daß zumindest in anderer Hinsicht einiges wieder klarer wird: Der heißt vornamentlich Peter, war viele Jahre (wegen Wahlbetrug verurteilter) NPD-Generalsekretär und ließ sich unlängst auf einer Party photographieren – in Gesellschaft einer Torte in Penisform und einer ehemaligen Pornodarstellerin (die nach ihrer, ähem, „schlüpfrigen“ Berufslaufbahn unter dem Motto „Ich prostituiere mich wieder! Der Escortservice heißt Deutschland!“ für die NPD tätig wurde). Und mußte daraufhin zurücktreten. Nazis haben es, wie gesagt, halt nicht leicht, das kann der ebenfalls ehemalige Bundesvorsitzende der NPD bestätigen, der wegen seines „Sprachfehlers“ für untauglich erklärt und nach einem homosexuellen „Übergriff“ gegen einen „jungen Kameraden“ (an den er „alkoholbedingt keine Erinnerung“ hatte) aus der Partei geschmuddelt wurde.
Es mag müßig sein, über die Zusammenhänge von Prallsuff, Witzlosigkeit, sexueller Biederverklemmung (mit entsprechenden Ventilationen, notfalls in Har-Har-Har-Kuchenform) und rechter „Gesinnung“ zu diskutieren. Deutlich ist aber nun endlich wieder, daß der Unterschied zwischen links und rechts ein ziemlich grundlegender ist, der damit zu tun hat, ob es einem gelingt, über alles und notfalls auch sich selbst zu lachen. Und ob man es (deswegen) insgesamt doch verhältnismäßig leicht hat.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.