Donnerstag, 24. Mai 2018

Belästigungen 10/2018: Die unsichtbare Universität (ein Plädoyer für die Nutzlosigkeit)

Eine Freundin berichtete vor einiger Zeit, sie studiere jetzt an der Universität. Irgendwas mit Schaltkreisen, die man über spezielle Bluetoothfrequenzen steuern könne und die für die Autoindustrie enorm zukunftsträchtig seien. Es sei ziemlich schwer; sauviel zu lernen in viel zu kurzer Zeit, ständig Prüfungen. Sie komme überhaupt nicht mehr zu den Sachen, die sie interessieren. Aber man brauche eben eine Bildung, damit man mal einen anständigen Job finde.
Spontan und etwas leichtfertig korrigierte ich ihren Irrtum: Weder studiere sie, noch sei sie an einer Universität (abgesehen von dem Gebäude, das aus Traditionsgründen diese Aufschrift trage). Vielmehr mache sie eine hochspezialisierte berufliche Ausbildung, deren Ziel die Qualifikation für eine Arbeitsstelle sei. Mit Bildung habe das absolut nichts zu tun, weil Bildung im Zweifelsfall lediglich dazu führt, daß man die Notwendigkeit eines Jobs und der Lohnarbeit als solcher und des Kapitalismus insgesamt grundsätzlich anzweifelt.
Sie war geringfügig verstimmt. Selbstverständlich diene ihr Studium der beruflichen Qualifikation! Sie wolle ja was erreichen und bewegen! Wofür man denn bitte sonst einen Abschluß mache? Und ich hätte doch auch mal studiert?! Und was ich daraus eigentlich gemacht hätte?
Nun holte ich ein bißchen weiter aus. Studieren, sagte ich, bedeute, sich in eine Sache so hineinzuversenken, daß man darin aufgehe. Was für eine Sache das sei, spiele keine Rolle. Eine Universität wiederum sei eine Einrichtung, wo sich Menschen sammeln, um sich in ein (meistens äußerst exotisches) Interesse zu versenken. Eine Lehre, wie sie jetzt immer gefordert wird („Mehr Lehre! Weniger Forschung!“) sei dort kaum vorgesehen, abgesehen von ein paar Arbeitstechniken. Ansonsten tue man lesen, excerpieren, sinnieren, diskutieren, formulieren – eben studieren. Irgendwann zwischendurch entstünden Arbeiten, Aufsätze, Bücher, meistens in mikroskopischer Auflage, zu Themen und Problemen, für die sich im Idealfall nicht mehr als drei Menschen auf der Welt interessierten.
Arbeiten, sagte ich, könne man ja auch, danach oder daneben, zur Not sogar einen Beruf erlernen oder halt irgendwas Peripheres tun – nicht wenige Schriftsteller zum Beispiel hätten Jura studiert, manche sogar Literaturwissenschaft. Man könne auch Bäcker, Bauer, Beamter, Baumeister oder Bierbrauer werden. Aber der wesentliche Punkt an einem akademischen Leben sei eben dies: daß man etwas studiert, weil es einen interessiert. Aus keinem anderen Grund und vor allem: zu keinem Zweck. Oder wenn überhaupt zu einem Zweck, dann zu diesem: eine (idealerweise) sämtliche Klassengrenzen zwischen tumbem Geldadel, forscher Wachstumselite und ausgebeutetem Arbeitsvieh ignorierende und (irgendwann) aufhebende Gemeinde von verschrobenen Vergeistigten zu schaffen oder zu erhalten, die zwar keinerlei Nutzen hat, aber etwas in die Welt trägt, was dieser auch nicht schaden kann: Kultur.
Deswegen, sagte ich, gebe es an einer anständigen Universität nur Geisteswissenschaften und in diesen wiederum nur Spezialisten und Fachidioten, die ihr Mikrofachgebiet und ihr Interesse daran heutzutage ständig verteidigen müssen gegen Effizienzfanatiker, Menschenmaterialzüchter, Technokraten und Profitfaschisten, die sie abschaffen wollen, weil hinten kein Geld rauskommt und sie die Seminarräume für ihre Drillmodule brauchen. Was denn herauskomme, wenn jemand fünfzig Jahre lang Grabsteininschriften aus dem hinteren Bayerischen Wald studiere? Wozu jemand mit staatlicher Förderung Münzen deuten, Gedichte interpretieren und Handschriften katalogisieren müsse? Die Antwort sei eindeutig: nichts! und: weil er will!
Sie blickte etwas trüb und meinte, das ergebe doch keinerlei Sinn. Der Sinn, sagte ich, liege (immer übrigens) in der Sache selbst, und sie wandte ein, daß man das, was man erforsche, zu irgendeinem Nutzen der breiten Allgemeinheit einsetzen müsse, politisch oder sozial oder irgendwie. Nein, sagte ich. Aber (sie) es habe doch zu fast allen Zeiten (außer heute eben) Universalgelehrte gegeben, die Kaiser und Völker beraten und – eben - belehrt hätten. Leute wie Athanasius Kircher, den viele für den letzten Mann halten, der alles wußte. Das sei doch ein Nutzen!
Ja, sagte ich. Aber abgesehen davon, daß Wissen mit Bildung nur ganz am Rande zu tun hat und in diesem Rahmen lediglich bedeutet, daß man eine ungefähre Ahnung hat, wo in der Bibliothek man nachschauen muß oder könnte, war der Herr Kircher halt ein sehr typischer Universalgelehrter: Fast alles, was er in seine vielen Bücher hineinschrieb, besteht aus Irrtümern, falschen Annahmen, fehlerhaften Schlüssen, Gerüchten, neurotischen Verschwörungstheorien, Mißverständnissen, frei Erfundenem und blankem Bullshit. Und wenn solche „Universalgelehrten“ tatsächlich was bauten (meistens: innovative Waffen), flog es gerne mal unter Mitnahme ihres und anderer Leben in die Luft.
In dieser Hinsicht unterschied er sich also kaum von einem modernen „Wirtschaftswissenschaftler“. Während zum Beispiel einer, der sich für Kafka interessiert, irgendwann an einem Detail, einem Textchen, einer Zeile, einem Wort hängenbleiben kann und den Rest seines Lebens damit zubringen wird, das zu deuten und Aufsätze darüber zu verfassen, die niemand liest. Das, sagte ich, sei nicht verwerflich, sondern höchst sympathisch, und wenn schon sonst nichts, dann machen solche Leute immerhin nicht die Umwelt kaputt, beuten niemanden aus und führen keinen Krieg. Sowieso sei die alte Weisheit des Dschuang Dsi viel zu wenig bekannt, die da lautet: „Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein. und niemand weiß, wie nützlich es ist, nutzlos zu sein.“ Und sie solle mich bloß nicht fragen, um was es in meiner Magisterarbeit gehe.
Die Freundin „studierte“ noch ein paar Wochen zunehmend lustlos weiter, dann erzählte sie mir, sie habe bei Dschuang Dsi eine Sentenz entdeckt, die sie total fasziniere, ebenso wie der systemisch kongruente Niederschlag von dessen Weisheiten im erzählerischen Werk von Herbert Achternbusch. Deshalb habe sie ihr „Studium“ geschmissen und sich einen Kellnerjob gesucht, um diese Windungen und Verbindungen studieren zu können. Leider gebe es eine Universität oder gar eine geisteswissenschaftliche Fakultät, an der sie solches ohne Zeitdruck und ständige Belästigungen wegen mangelndem „Nutzen“ tun könne, nirgendwo mehr, drum tue sie es einfach so, zu Hause und allein und nutzlos, aber beglückt.
Ach, sagte ich, laß sie uns doch gründen, deine Universität. Könnte der Menschheit in ihrem derzeitigen Zustand gar nicht schaden. Es muß ja keiner wissen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN München.

Samstag, 19. Mai 2018

Belästigungen 09/2018: Weg mit dem Kreuz, her mit der Eichel! (ein Aufruf zur Ehrlichkeit)

Von dem politischen Erdbeben, das Bayern derzeit erschüttert, werden wir unseren Nachfahren kaum in verständlichen Begriffen berichten können, weil es ihnen (hoffentlich) an Verständnis für ein derartiges Kasperltheater grundsätzlich fehlen wird.
Gestritten wird nicht etwa über den Klimawandel, der uns den dreiviertelten April lang einen brachialen Höchstsommer beschert und die Schleimhäute der armen Allergikern äglich mit fünf Pfund Blüten- und sonstigem Staub zementiert hat. Auch nicht darüber, daß es um die Trillionen Blüten, die allüberall leuchten, prangen, protzen und vor sich hin stauben, vielerorts merkwürdig still ist, weil die Bienen offenbar nicht mitbekommen haben, daß irgendeine Ministerin demnächst eventuell mal „anzudenken“ angedeutet hat, ob man vielleicht unter Umständen eines Tages darüber diskutieren könnte (sicherlich „zielführend“), den chemischen Massenmord an den summenden Zeitgenossen … nun ja, wahrscheinlich zu „überdenken“ oder so.
Angeprangert wird auch nicht die grassierende Armut, die auf den explodierenden Reichtum zurückgeht, Landschaftszerstörung durch wuchernde Neubausiedlungen, Gewerbegebiete und Autopisten, der philosophische Wahnsinn, daß viele bayerische „Mitbürger“ (die eigentlich Bürger sein sollten, die man aber durch die beschönigende Vorsilbe „mit ins Boot“ zu holen vortäuscht, was eine der Hauptaufgaben heutiger „Politik“ ist) – daß viele von denen sich mit ihrem Leben recht zufrieden wähnen, obwohl sie den größten Teil davon mit sinnfreier Arbeit verschwenden. Ganz zu schweigen von Wohnungsnot, Exportüberschuß, außenpolitischen Skandalen, Lügen, Vertuschungen, was weiß ich noch alles, von rassistischen Umtrieben der Nazis in der Ukraine bis hin zu allen möglichen Kriegen, über die man uns nichts oder höchstens Humbug berichtet.
Nein, womit die „sozialen Medien“ derzeit flächendeckend gepflastert werden (zwecks Simulation einer „Debatte“), ist der Befehl des neuen, nicht gewählten Ministerpräsidenten, künftig seien in sämtlichen freistaatlichen Behörden Kreuze an die Wand zu nageln. Und zwar weil das Ding „nicht ein religiöses Symbol“, sondern ein „Bekenntnis zur Identität“ und zur „kulturellen Prägung“ des Bayernlandes sei.
Daß das Kreuz in seiner Urform keineswegs „für elementare Werte wie Nächstenliebe, Menschenwürde und Toleranz“ stand, sondern als Hinrichtungswerkzeug ganz andere, recht grausige „Werte“ durchsetzen sollte und deswegen auch als „Galgen“ bezeichnet wurde, brauchen wir nicht groß betonen. Das weiß der Herr Söder sicherlich selber aus dem Schulunterricht, wenn er selbigen nicht ausdauernd geschwänzt hat, um unter dem Bildnis des totgemarterten Messias für seine politische Karriere zu beten.
Wir sparen uns auch den Hinweis, daß ein Christ, der öffentlich behauptet, das Kreuz sei „nicht ein religiöses Symbol“, angesichts der Tatsache, daß das Kreuz DAS zentrale Symbol der christlichen Religion sowie Ursprung und Zentrum des allerheiligsten Sakraments selbiger Religion und somit IMMER ein Bekenntnis ausschließlich zum Christentum ist, – daß so jemand kein Christ mehr, sondern ein ganz schlimmer Ketzer ist. Da kann er sich in seinem (ehemaligen) Heimatministerium so viele Gebetsräume einrichten lassen, wie er mag. Wenn das Kreuz abgesehen davon noch für einen „Wert“ steht, dann ist das zwar ein elementarer, aber keineswegs einer der von Söder vermuteten, sondern – siehe Friedhof – der Tod.
Reiten wir auch nicht auf den Sauereien herum, die die christliche Religion in den letzten zweitausend Jahren im Namen ihres Kreuzes weltweit angerichtet hat. Da genügt ein Blick in die Hekatomben einschlägiger Literatur, von Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ bis hin zu Kemmerichs immerhin streckenweise amüsanten „Kultur-Kuriosa“ (wo sich übrigens auch ein erquickliches Sammelsurium an historischen Beispielen für den Umgang mit Ketzern findet). Ist ja ebenfalls alles nicht neu.
Und wir verzichten darauf, die bayerische Verfassung zu zitieren, deren Artikel 142 eindeutig bestimmt: „Es besteht keine Staatskirche“, in der außerdem zwar ein „Bekenntnis“ von jedem Beamten gefordert wird, aber keineswegs zu einer Religion (oder Partei), sondern zum „demokratisch-konstitutionellen“ Staat, und in der weiterhin steht: „Die Zulassung zu den öffentlichen Ämtern ist von dem religiösen Bekenntnis unabhängig.“
Daß schon in der Konstitution von 1808 die Religionsfreiheit garantiert war, daß die erste demokratische Verfassung Bayerns von 1919 bestimmte, es dürfe niemand „zur Teilnahme an Kultushandlungen“ und „religiösen Übungen“ gezwungen werden, müssen wir nicht erwähnen. Schließlich hat an letzterer die Bayerische Volkspartei mitgeschrieben, die Vorgängerorganisation der CSU, man weiß das also (auch wenn das Desinteresse bayerischer Regierender an Verfassungen notorisch ist).
Vielleicht äußern wir statt all dem einen Vorschlag zur Güte: Man hänge, wenn Kreuz schon sein muß, nicht stilisierte Exemplare des Mordwerkzeugs in die bayerischen Dienststellen hinein, sondern die gleichnamige französische Spielkarte (die man vom Skat kennt, immerhin ein „immaterielles Kulturerbe“) bzw., wenn man dem Franzmann diverse Umtriebe in historischen Zeiten noch nicht verziehen hat, dann eben ihre deutsche, vom Schafkopf (der Urform des Skat) und Watten vertraute Entsprechung: die Eichel.
Damit wäre zweierlei erreicht: ein Bekenntnis zu Identität und kultureller Prägung des Bayernlandes, für die das Karteln traditionell entscheidender ist als das meist eh bloß (verbotenerweise) erzwungene Herumsitzen in Kirchen. Und ein sehr deutliches Zeichen für die ebenfalls traditionell überschießende Virilität bayerischer Machtprotze, die damit ihr Revier (durch sinnbildliche Brunzmarken) eindeutiger und ehrlicher markieren könnten als mit dem Mißbrauch religiöser Symbole als Feldzeichen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 17. Mai 2018

Frisch gepreßt #411: Superorganism "Superorganism"


Es gibt übrigens ein neues Album von David Byrne. Das ist keine Schleichwerbung, sondern sozusagen Nebenbei-Chronistenpflicht (wobei der Chronist anmerkt, daß ihm die neuen Alben von Tracey Thorn, Camp Cope, Frigs, In Tall Buildings, Moaning, Lucius, Ernst Molden, Sarah Blasko und ganz! besonders! Lucy Dacus auch und besser gefallen als das von David Byrne).
Aber an David Byrne muß man im ausklingenden Winter manchmal denken, weil er uns beigebracht hat, daß das letztliche Hoffnungsziel der Popmusik das: Nichts ist. Der Himmel ein Ort, an dem nie etwas geschieht, das Leben eine Straße nach Nirgendwo, und am Ende bläst der Wind sowieso alles weg. Da kann man schon mal nachdenklich werden (nachdenklich wie in „aus dem Fenster glotzend, ohne zu bemerken, was man sieht“).
Aber dann passiert wieder was, und weil es hin und wieder auch schön ist, wenn total viel passiert, zieht diese Woche das Debütalbum von Superorganism sogar an Lucy Dacus vorbei in den Strafraum des Aufmerksamkeitsspielfelds (aufmerksam wie in „Bitte was? Das auch noch?“).
Ein Superorganismus (der eigentlich Supraorganismus heißen müßte, aber das führt jetzt zu weit) ist der Definition nach ein Organismus, der von sich behaupten kann: „Ich bin viele!“, also: Organismen, die zwar theoretisch (jedoch nicht lange) allein überleben können, das aber nicht tun, sondern der Welt als ein Ding mit theoretisch autonomen Organen entgegentreten. Ameisen tun das, Bienen auch. Im Reich der Wirbeltiere (wenn man exotisch-esoterische Theorien über Gaia und solche Sachen mal ausblendet) tun es höchstens Nacktmulle, Zwergmangusten und die gleichnamige Kommune aus acht Musikern zwischen 17 und 32 Jahren (also sozusagen von halb bis doppelt), von denen sieben aus Lancashire, Australien, Japan und Neuseeland kommen und neuerdings in einem Londoner Haus zusammenleben (der achte stammt aus Korea und lebt in Sydney).
Na gut. Daß die Beatles alle aus Liverpool kamen, war Zufall, und zusammengespielt haben die auch, ohne daß man sich einen Teil für längere Zeit wegdenken hätte können. Aber nicht so: „Es fängt damit an, daß wir in der Küche zusammensitzen, Musik hören und dabei über Musik, Kunst und alles mögliche reden. Dann hat einer eine Grundidee für einen Song, wir schicken die Datei hin und her und rundherum, und jeder fügt dies und das hinzu.“ Das (fast) gemeinsame Domizil sei, inklusive Covermalerei, Mix, Videos etc., „eine Art verzerrte Version von Pop-Produktionshaus“.
Und da passiert einiges, extrem einiges: Es zischt, fitzelt, blubbert, plätschert, zwitschert, rauscht, schwillt, bricht ab, hallt, knallt, pumpt, tänzelt, heult; Spuren haben Lücken, Löcher und Überschneidungen, und manchmal scheinen tausend Instrumente gleichzeitig zu spielen, für Sekunden oder wabernde, pulsierende Ewigkeiten. Wie es funktionieren kann, daß dieses Tohuwabohu (eine kontradiktorische Bezeichnung, bedeutet sie doch „wüst und leer“, was David Byrne entgegenkommt, hier aber nur halb bis doppelt trifft) irgendwie köhärent und transparent zu bleiben zumindest scheint und die Stimme von Orono Noguchi einen irgendwie tragenden Part zu spielen zumindest scheint, – das bleibt ein Mysterium.
Macht nichts; es weiß bis heute auch niemand, wovon die Östliche Zwergmanguste lebt. Superorganismen haben ihre Geheimnisse. Die „Band“ Superorganism und ihre Musik leben von Aufmerksamkeit: Hat man den Faden mal verloren, findet man ihn nicht wieder und möchte oder sollte von vorn anfangen. Um am Ende verblüfft festzustellen: ein ganzes Universum an Klängen, Tönen, Geräuschen, Ideen und (auch) Witzen paßt in ziemlich exakt 33 1/3 Minuten. Ob diese Zahl, in der Popmusik und -geschichte die vielleicht wichtigste überhaupt, ein Zufall ist? Bei Superorganism: kaum.
Eine Empfehlung: Man sollte dieses Album mindestens tausendmal hören, weil man sonst nicht alles begreift. Aber nicht jeden Tag, vielleicht nicht mal jede Woche, weil sonst der Kopf zu rattern beginnt. Dazwischen darf man sich entspannen und mit vollkommen anderer Musik durch den ausklingenden Winter (und Frühling, Sommer, Herbst) tragen lassen. Gerne von Lucy Dacus, übrigens (und das war jetzt doch Schleichwerbung).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 15. Mai 2018

Belästigungen 08/2018: Falls Sie diese Kolumne noch lesen können, haben wir (vorläufig) Glück gehabt

Daß ein Kampfhund von seinem eigenen Herrchen totgebissen wird, kommt nicht so oft vor, nicht mal in Deutschland und nicht mal in der Zeit der sauren Gurken, wo ansonsten zwischen sich selbst überfahrenden SUV-Deppen, vom Hund erschossenen Jägern und in Dorftümpeln marodierenden Krokodilen so ziemlich jede Kuriosität recht ist, um das Elend des Kapitalismus aus den Medien herauszuhalten.
Im übertragenen Sinne also kein Wunder, daß sich der „westliche“ Teil des Planeten Erde immer noch eine NATO leistet, die für den größten Teil seiner Kalamitäten, Ärgernisse und Schrecken zum größten Teil ganz allein verantwortlich ist, vom fehlenden Geld für alles mögliche (weil man damit Waffen kaufen muß) bis hin zum Russen, der angeblich ständig darauf lauert, irgendwas Böses anzurichten, und den man deshalb fürchten und tüchtig abschrecken muß, damit er nicht eines Morgens plötzlich vor der Tür steht und unsere Börsenkonzerne klaut oder mißbraucht oder vergast oder irgend so was.
Wie böse der Russe ist, teilt uns die NATO über die angeschlossenen Funkhäuser (um einen alten Samstagnachmittags-Lieblingsspruch zu zitieren) täglich mit. Zum Beispiel putscht er einfach so per Facebook einen Trottel zum Amipräsidenten, ohne dafür einen Majdan anzetteln und wahllos Leute erschießen zu müssen. Zum Beispiel nimmt er sich heraus, eine gewählte Regierung, die nach Ansicht der NATO aus Ölgründen dringend weg muß, militärisch zu unterstützen, und zwar gegen vom „Westen“ finanzierte und bewaffnete Terrorbanden, deren Köpfungsvideos der „Westen“ über seine Funkhäuser ausstrahlen und behaupten läßt, das seien irgendwelche anderen Terroristen, an denen irgendwie auch der Russe schuld sei.
Und dann geht der Russe auch noch her und senkt sein Militärbudget um sieben Prozent. Was man als Westler erst mal nachvollziehen kann: Russische Waffen sind halt ein billiges, korruptes Gelumpe, das logischerweise immer weniger kostet, so wie der Putin-, sorry: Putenfleischdreck beim Discounter. Andererseits ist das Fiese daran, daß erst durch diese Senkung der russischen Ausgaben für Bomben und Schießapparate überhaupt auffällt, daß der Ami dafür das Dreizehnfache und immer mehr aus dem Fenster (und in fremde Länder hinein) wirft, von der gesamten NATO gar nicht zu reden. Und schon haben die Leute ein schlechtes (weil „verzerrtes“) Bild von „ihrem“ Militärbündnis im Kopf und fangen womöglich an, den Putin zu „verstehen“.
In diese Gefahr gerät hin und wieder sogar (oder, je nach Hörigkeit für Verschwörungstheorien: selbstverständlich) der Amipräsi, der unlängst andeutete, er wolle seine Truppen aus Syrien abziehen. Weil der Zinnober schließlich einen Haufen Geld kostet und das mit dem gewünschten „Regime Change“ doch nicht so recht was wird. Wie günstig, daß in solchen Fällen nachlassender Kriegslust und unmittelbar bevorstehender Besiegung der Terrorbanden immer sofort irgendwer eine Giftgasgranate zündet und irgendwelche obskuren Figuren mit weißen Helmen und Menschenrechtsbüro in London sofort und unwiderlegbar „wissen“, daß als Täter einzig die syrische Regierung in Frage kommt, die davon zwar überhaupt keinen Nutzen hat und sich ausschließlich selbst schadet – aber so sind böse Regierungen nun mal: Die pfeifen drauf, daß sie sich selbst ins Bein schießen. Und letztlich schuld ist sowieso der Russe, weil der behauptet hat, die syrische Regierung habe gar keine Giftgasgranaten mehr.
Der jüngste Grund, die Panzer an der NATO-Ostgrenze (die nur noch so lange nicht zugleich die russische Westgrenze ist, bis die Ukraine endgültig befreit ist – und zwar nicht von den Faschisten, die dort herrschen und das Land terrorisieren) tüchtig rasseln zu lassen und aus allen möglichen Ländern Horden von russischen Diplomaten hinauszukomplimentieren (obwohl die ja eigentlich, wenn ich das recht verstanden habe, genau für solche Situationen da sind), ist ein anderes, aber im Grunde recht ähnliches Vorkommnis: die Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seiner Tochter (sowie ihrer Meerschweinchen) mit – wer hätte das gedacht? – Giftgas. Dafür kommt als Täter ausschließlich der Russe in Frage, der sich damit zwar ebenfalls selbst ins Bein geschossen hätte, aber so ist der Russe nun mal. Daß er schuld ist, beweist schon, daß das Giftzeug einen russischen Namen trägt, und wer soll es denn sonst gewesen sein? Eine Figur aus Skripals MI6-Litwinenko-Pablo-Miller-Christopher-Steele-Connection? Aus dem Umfeld der zwielichtigen Firma Orbis Business Intelligence, die seit zehn Jahren erfolgreich westliche Medien mit Anti-Putin-Propaganda füttert? Come on! Stand davon irgendwas in den deutschen Leitmedien? Na also.
Also heult der „Westen“ los wie ein Chor tollwütiger Kampfhunde, ölt die Panzer und manövriert eifrig an der russischen Grenze herum beziehungsweise hat, wenn dieses Heft erscheint, möglicherweise mal wieder kräftig Syrien bombardiert und hofft, daß sich dieser Putin jetzt endlich doch mal provozieren läßt und mit seinem billigen Waffengelumpe zurückhaut und endlich, endlich das ersehnte Armageddon losgehen kann, von dem hinterher wieder keiner wissen wird, wie es dazu kommen konnte. Wenn dann noch jemand da ist, der sich so was fragen könnte.
Warum Menschen so etwas tun, warum sie so unfaßbar scharf darauf sind, sich selbst von der Oberfläche des Planeten zu radieren – man weiß es nicht, und es spielt keine große Rolle. Es weiß ja auch niemand so ganz genau, was im Kopf eines tollwütigen Kampfhundes vorgeht. Den beißt, wie gesagt, selten jemand tot, schon gar nicht sein Herrchen. Aber man kann ihn einschläfern. Im Falle der tollwütigen NATO ist das schwieriger, denn dafür bräuchte es Regierungen, die das wollen, und die darf man leider nirgendwo wählen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 8. Mai 2018

Belästigungen 07/2018: Der Mensch braucht eine Heimat (weil man ihn sonst regieren kann)!

In Deutschland, und ganz besonders in Bayern, wird so viel über „Heimat“ gefaselt, daß einem ganz heimelig werden könnte, wenn da nicht dieser seltsame Unterton wäre. Der hat einen Grund. Wenn in Deutschland von „Heimat“ gefaselt wird, ist meistens dies gemeint: eine kriegerisch aggressive Industriehölle von viertelkontinentalem Ausmaß, hier und da gesprenkelt mit Restgrün, durchzogen von röhrenden Autobahnen. Und die, die in diesem Schlamassel am lautesten von „Heimat“ faseln, sind (abgesehen von diversen Politfaslern, die ihnen das Heimatzeug vorfaseln) meistens die armen Würstchen, die ihr Leben lang in dieser Hölle herumgeschickt werden, um sich ausbeuten zu lassen, damit ein Profit entsteht, der Jahrzehnte nach ihrem Dahinscheiden milliardenweise vererbt wird.
Wer sich als williges Opfer solcher Zustände in einer „Heimat“ wähnt, dem ist nicht zu helfen. Vor allem dann nicht, wenn er das karge Scherflein Geld, das ihm die Milliardenanhäufer zugestehen, dafür ausgibt, in seiner wenigen „freien“ Zeit in vollkommen andere Weltgegenden zu fliegen, die logistisch (Nahrung, Klamotten, Fernsehprogramm) weitgehend identisch ausgestattet sind, abgesehen von ein paar Temperaturgraden, und dort in der „Heimat“ wildfremder Menschen, denen es nicht viel anders geht als ihm, herumzustolzieren, als wäre er der Weltkönig, beziehungsweise genau das gleiche zu tun wie in der „heimischen“ Freizeit (auf einem Display herumwischen, kreuzworträtseln, mampfen, saufen und blöd daherreden), nur in diesem Fall mit dem Grundrecht auf Beschwerde, wenn was nicht genehm gerät.
Sagen wir‘s, wie‘s ist: Heimat ist ein Schmarrn; daß es dafür in Deutschland mittlerweile nicht nur ein, sondern gleich drei Ministerien gibt, sollte Beweis genug sein. Daß dort ehrenwerte, aber kaum für geistig-philosophische Höhenflüge bekannte Figuren wie Herr Seehofer, ein (immerhin!) Landwirt und eine nordrheinwestfälische BWL-Absolventin drinsitzen, sagt den Rest. Und daß man das Wort in sämtlichen Sprachen außer der deutschen vergeblich sucht … ja mei, wen wundert‘s?
Es sei eingeräumt: Wenn der Amerikaner sein „Sweet Home Alabama“ plärrt, könnte man darin eine gewisse Nähe zum deutschen „Heimat“-Getue vermuten. Da sollte man aber bedenken, daß Alabama eines der beliebtesten Ziele deutscher (!) Immigranten (!, doch, liebe Nazis, so was gibt es) war, „sweet“ erst wurde, nachdem die dort Beheimateten vertrieben waren, und sich eines der schlimmsten Antieinwanderungsgesetze überhaupt rühmt: Wer sich dort eine halbe Stunde in die Sonne setzt, läuft Gefahr, als illegaler Angehöriger der Tex-Mex-„Rasse“ entlarvt und entsprechend behandelt zu werden.
Andererseits ist das Konzept „Heimat“ an sich vielleicht gar nicht so dumm. Schließlich kennt man das von anderen Tieren: Amsel, Eichkatz, Hund und Katze, Karpfen, Ente, Fuchs und Has, selbst Spinne und Ameise haben ihren Lebensradius, den der schlaue Biologe „Revier“ nennt. Für ortstreuere Zeitgenossen wie Baum, Pilz und Blattlaus gilt das sowieso: Schleppt man sie aus diesem Revier hinaus und setzt sie irgendwo anders hin, werden sie meist recht schnell recht elend, wirr und unglücklich, zumindest vorübergehend.
Das hat simple Gründe, die man mit dem Konzept „Heimat“ in Verbindung bringen könnte, allerdings ziemlich andere als jene, die auf Zusammenrottungen von CSU, AfD, NPD und inzwischen auch allen möglichen anderen Wahlvereinen herumgeplärrt werden. Um fröhlich und zufrieden im eigenen Revier wesen und nachts friedlich schlafen zu können, muß ein beliebiges Tierchen in diesem Revier buchstäblich jeden Stein und Ast, jede Ecke und Nische, jedes Loch und sämtliche Winzigkeiten kennen, mit Klima, Wetter, jahreszeitlichen Spezialitäten und Mitbewohnern vertraut sein, sich im Tages-, Monats-, Jahresverlauf so gründlich auskennen, daß es höchstens mal zwischendurch einen Gedanken wie „Oh! Es wird warm! Der Frühling kommt!“ daran verschwenden muß. Andere Gedanken – etwa „Huch! Wo kommt denn diese dröhnende Autobahn plötzlich her?“ – sorgen automatisch für so gründliche Verwirrung und Entfremdung, daß es mit dem zufriedenen Dasein schlagartig vorbei ist.
Welchen räumlichen Umfang so eine „Heimat“ hat, hängt von einigen Faktoren ab: Lebensspanne, durchschnittliche Kreuch- und Fleuchgeschwindigkeit sowie das Gedächtnis spielen zum Beispiel eine entscheidende Rolle. Vor allem die Zeit ist ein unüberwindlicher Limitator: Einer Eintagsfliege wird es kaum gelingen, ihr Revier auf mehr als ein paar Kubikmeter auszudehnen, und selbst in diesem bescheidenen Raum kann ganz plötzlich ein Phänomen daherkommen, von dem sie noch nie gehört hat und das ihr Leben schlagartig beendet, eine Schwalbe oder ein Frosch zum Beispiel. Gerät ein Löwe ein paar Kilometer über seine letzte Duftmarke und die letzte vertraute Astgabel oder Steinformation hinaus, irrt er hilflos durch die Gegend. Einem Eichkätzchen, das sowieso unter angeborener Gedächtnislosigkeit leidet und tausend Nüsse im Revier herumpfeffern muß, um mit viel Glück drei davon wiederzufinden, fällt es unter Umständen leichter, sich in einem neu erbauten Betonindustrieareal zurechtzufinden als einem Igel, aber wenn am gewohnten Kletterbaum plötzlich drei Hauptäste fehlen oder statt dessen ein Windrad dort steht, geht es ihm so ähnlich wie der Amsel, der man das Nest verräumt oder die man in eine Gegend versetzt, wo überall unsichtbare Glasscheiben in der Luft herumhängen.
Die Voraussetzung, um eine „Heimat“ wirklich so nennen zu können, ist also: sich darin gründlich auszukennen – am besten so gründlich, daß man „regiert“ werden nicht mehr kann (weil die, die gerne regieren täten, sich im Gestrüpp der nun anführungszeichenlosen Heimat eben nicht auskennen).
Darin könnte ein subversives Potential schlummern, und wenn man dies bedenkt, wundert es einen nicht mehr, daß die Großsprecher und Möchtegernführer sich solche Mühe geben, die Industriehölle noch höllischer zu machen und die Menschen wahllos darin herumzuschieben. Und daß sie den Begriff „Heimat“ so gern für sich reklamieren, umdefinieren und dafür ganze Ministerien gründen: Die haben Angst oder zumindest Sorge, es könnte ihnen mit den notorischen deutschen Heimatlern so gehen, wie es den alten Römern ging.
Die nämlich zogen sich, nachdem sie im Jahre 9 von Arminius mehr oder weniger zufällig besiegt worden waren, aus selbigem Deutschland zurück. Aber nicht weil sie dachten, man könne diese Germanen auf dem Schlachtfeld nicht besiegen. Das hätte bei einem zweiten Versuch locker hingehauen. Besiegbar waren diese Typen zweifellos.
Aber regierbar: niemals. Guter Ansatz, finde ich.

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Donnerstag, 3. Mai 2018

Frisch gepreßt #410: Belle & Sebastian "How To Solve Our Human Problems"



Die „Indie“-Szene, also die Bands der mittleren 80er bis 90er, die Helden der Eltern heutiger Uniabsolventen, die sich ungefähr so ausbreiteten wie Grünlilien (denen sie frisurtechnisch auch überwiegend ähnelten), bis die ganze Welt bis ins hinterste Niederostwestfalen ein Riesenfeld identischer Grünlilienbands war …, – diese Szene war ein seltsames Phänomen. Seltsam vor allem: Sie geht nicht wirklich ganz weg, obwohl sich außer ein paar bald rentenreifen Scenesters keine Sau mehr für sie interessiert und sie sich in 30 Jahren praktisch nicht verändert hat.
„Na ja, die Rolling Stones gab es auch ziemlich lange. Wenn man sehr großzügig ist, gibt es sie sogar immer noch.“
Stimmt, aber die Rolling Stones haben in ihren ersten 15 Jahren nicht nur sich selbst, sondern die populäre Musik und die gesamte Welt so permanent und gründlich und mit einer solchen Geschwindigkeit verändert, daß manch einem Zeitzeugen heute noch der Kopf brummt und Nachgewachsenen das Blech wegfliegt, wenn man ihnen das auch nur in winzigen Ausschnitten vorführt. Gilt übrigens auch für die Beatles, Kinks, The Who, sogar die Monkees, gilt auch für die Glam- und Progressive-Rocker danach und erst recht für die ersten Punk- und New-Wave-Bands, bei denen alles noch viel schneller und gründlicher ging.
„Gilt aber auch für Primal Scream.“
Grr. Regelbestätigungsausnahmen ändern die Regel nicht. Die durchschnittliche Indieband spielt seit 25 Jahren Abfolgen von vier Akkorden, singt dazu verhuschte Sachen und sieht aus wie ein Blumenkasten voller Grünlilien (dunkle Variante). Wenn sie einen großen Moment hatte, dann nur einen, ganz am Anfang. Außer …
„Aha?“
Außer Belle & Sebastian. Bei denen war das irgendwie anders: Sie kamen spät (1994), waren streng genommen gar keine richtige Band (sondern ein pädagogisches College-Projekt namens „Beatbox“ für arbeitslose Jungmusiker), hatten keinen wirklich großen (kommerziellen) Moment, sondern viele kleine, wurden im wesentlichen nur von vereinzelten verhaltensgestörten Stubenhockern so richtig geliebt sowie von ein paar renegaten Musikkritikern, Fanzine-Nerds und alternativen Filmemachern (was im Grunde das gleiche ist). Sie ließen sich, of all people, von Trevor Horn produzieren, von Thin Lizzy inspirieren, erzählten meistens schon in ihren Albumtiteln ganze Kurzromane, machten ein richtig süßes Glamrock-Album (The Life Pursuit, 2006), wurden zur größten schottischen Band aller Zeiten gewählt (vor den Bay City Rollers und, ähem, Simple Minds!), pflegten alle möglichen Neben- und Kooperationsprojekte (Looper, The Vaselines, God Help The Girl, The Reindeer Section usw.), verschwanden zwischendurch immer wieder, auch mal für länger, und blieben irgendwie über ein Vierteljahrhundert immer diese imaginäre Clique blasser Spätjugendlicher, mit denen man gerne mal eine Tasse Tee tränke, die man aber nie nach einem Autogramm fragen täte, während um sie herum neue Generationen von Strokes und Franz Ferdinands die Indie-übliche Eintagsfliegen-Halligallishow abzogen. Und ...
„Noch was?“
Das wichtigste: Niemandem ist es je gelungen, niemand hat auch nur ernsthaft versucht, sie zu imitieren oder – wie man so sagt – „ihren Ansatz aufzugreifen“, weil dieser „Ansatz“ zwar scheinbar zum Greifen deutlich ist, weil man ihn aber einfach nicht greifen kann, niemand und nie, möglicherweise nicht mal sie selbst. Weshalb sie einfach immer weitermachen können oder müssen, immer absolut sie selbst bleiben (auch wenn vermeintlich wesentliche Mitglieder kommen und gehen und lediglich Stuart Murdoch immer bleibt) und trotzdem immer anders sind. Als wären sie ein Paralleluniversum voller Bands, in dem eine komplett andere, klischeefreie Popgeschichte abläuft als die, die wir kennen und die uns, seien wir ehrlich, immer nach kurzer Zeit (und manchmal seit sehr langer) zum Hals raushängt.
„Das gilt auch für … hm, nein.“
Eben. Bringen wir es auf den Punkt: Dies – diese Sammlung von drei EPs, die genau rechtzeitig zum Vorfrühling erscheint – ist nichts weiter als schöne Musik, an der man sich erfreuen kann, ohne je einen Ton von Belle & Sebastian gehört zu haben. Dann aber eben auch.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 1. Mai 2018

Belästigungen 6/2018: Hurra, jetzt flattern die blauen Bänder (bis zum Pluto und zurück)!

Ist schon mal jemandem aufgefallen, wie groß die Welt im Frühling plötzlich wird? Kaum sind die Schneepolster von den Hecken, Bäumen und Zäunen weggeschmolzen, weitet sich der Blick plötzlich in unheimliche … na ja, Weiten eben und man sieht, was der Winter fürsorglich dem romantisch träumenden Auge entzogen hatte: Zeug vor allem.
Kein Krüppelgebüsch am Straßenrand mehr, das nicht durchwoben und lamettiert wäre von zerfetzten Chipstüten, Softdrinkflaschen und -dosen, Pizzakartons, Schokoriegelhüllen, Reklameprospekten, Hundescheißebeuteln, Elektrogeräteteilen, Autoreifen, halbvollen Papiertaschentuchpäckchen, Möbelfossilien, Styroporklötzen, Einweggeschirr und -besteck sowie kunstvoll demolierten ostasiatischen Klumpfahrrädern. Ganz offensichtlich ist der Mensch – von dem Soziologen und Kulturpessimisten behaupten, er sei im einzelnen wie en gros angepaßt, fügsam und unterwürfig – das halt doch nicht, sondern ein zumindest heimlicher Rebell, der sich in unbeobachteten Momenten denkt: Ha! Wenn ihr mich schindet und ausbeutet und streßt und überhaupt und ich mich nicht wehren kann, dann werde ich‘s euch jetzt zeigen, indem ich meine leere Chipstüte einfach aus dem Autofenster schmeiße, har har!
Vielleicht hat er auch nur das mit Klima und Umwelt gründlich mißverstanden. Früher nämlich wollten die Besorgten vor allem die Umwelt schützen, und zwar indem sie Kaugummis vom Straßenpflaster kratzten und Kleingerümpel aus Wälder und Wiesen klaubten. Heute gibt es keine Umwelt mehr, die geschützt werden muß, dafür aber ein Klima. Und was bitte schön geht es das Klima an, wenn irgendwo eine leere Chipstüte herumliegt? Wird es dadurch vielleicht an Weihnachten wärmer? Na also!
Aber Moment, wir waren bei der Größe. Man sieht ja ohne Schnee in/an Zaun und Baum nicht nur schlagartig den Müll wieder, der sich durch hilfreiches Wirken von Krähe und Sturmwind in bevorzugte Winkel gesellt, sondern überhaupt alles, zumindest solange Baum und Busch sich weigern, ihr gemütliches Laub in die Gegend zu hängen. Ein Blick zur Gartenhütte: Da stehen plötzlich deren drei, asymmetrisch angeordnet; und man weiß ja, daß die anderen zwei samt den üblichen Beilagen von Schrott und Schund gar nicht im eigenen Garten stehen. Aber irgendwie tun sie das halt doch.
Seltsam, denkt man. Da wird plötzlich alles größer und zugleich in unergründlicher Weise enger. Die telephonischen Quäkdiskussionen der Nachbarin, im Sommer im Flaum der Vogelzwitscherei kaum hörbar und im Winter kältetechnisch erschwert, plärren plötzlich kilometerweit unschuldige Ohren voll, der Mittlere Ring röhrt wie ein Millionenrudel laktoseintoleranter Nilpferde nach Zwangszufuhr von tausend Tonnen Schlagrahm, und wenn dann noch der erste Sonnenstrahl ans Motorgerät ruft und sämtliche Nachbarsmänner sich ans Sägen, Fräsen und Schreddern machen, während drinnen die Frau Staubsauger, Rührgerät und Wäscheschleuder anwirft – dann gleicht auf einmal die ganze große Welt einem Kanarienvogelkäfig, den jemand in eine Düsenjägerturbine (von der ich gar nicht weiß, ob es sie gibt) hineingestellt hat.
So geht der Frühling: Alles wird größer, zugleich wird alles enger, und mittendrin steht das gepeinigte, aus dem Winterschlaf nur von den Zehen bis zum Nabel halbwegs erwachte Einzelmenschlein und fragt sich, wieso der Wal das einzige Säugetier ist, das nachweislich das Festland verlassen und ins Meer zurückgeflüchtet ist.
So weit sind solche Gedanken keinesfalls originell. Der Mensch als solcher hat nur einen Planeten, den er verwüsten kann. Als einzelner wiederum hat er lediglich ein paar Quadratmeter, und wenn da plötzlich die Außenwelt herandrängt, wehrt er sich wie Tohu und Bohu mit der bewährten Strategie des Verteidigungserstschlags. Und fühlt sich unendlich klein.
Dabei ist er – und das könnte ein kleiner Trost sein – größer als er denkt. Nämlich umfaßt er einen Bestandteil, der sich Desoxyribonukleinsäure nennt und so was ähnliches ist wie eine Bibliothek mit sämtlichen Büchern, die jemals auf Erden geschrieben wurden (oder sagen wir: bevor der moderne Literaturbetrieb ins Leben trat und sich zu bemühen begann, die Stelle der Klopapierindustrie zu übernehmen). Ohne diese Substanz (die neuerdings stur DNA abgekürzt wird, obwohl sie eine Säure und keine Äure ist) wäre jeder einzelne Mensch ab Geburt ein Experiment mit ungewissem Ausgang: Er könnte sich zum grüngrauen Schwabbel entwickeln oder zu gar nichts, aber ein erwachsener Mensch käme höchstens alle 25 Milliarden Jahre durch Zufall heraus. Und so alt ist das Universum noch lange nicht; es gäbe also höchstwahrscheinlich nicht einen davon.
Nähme man nun die DNS eines einzigen Menschen, entfaltete sie luftschlangenmäßig und knüpfte sie zum Band zusammen, das dem Dichter Mörike zufolge der Frühling in blau durch die Lüfte flattern läßt, – dann könnte dieses Band bis zum Kleinplaneten Pluto flattern. Und wieder zurück. Und zwar achtzehnmal.
Die Einsicht in die eigene, bis anhin unbemerkte und unverschuldete Größe, Weite und Würde ist geeignet, dem Menschen Demut einzuflößen (habe ich mal irgendwo gehört). Somit wäre diese Erkenntnis ein hübscher Anlaß, zu begreifen: Mag die Welt auch groß erscheinen – ich bin größer und habe es drum nicht nötig, mich durch ungeordnetes Verteilen von Müll bemerkbar zu machen, der selbst als Gesamtmenge kaum bis zum Saturn reichte. Und mag sie auch bisweilen eng wirken – pah! Da spare ich mir das Dröhnen, Rasen und Ramponieren und lasse lieber still mein Bändchen flattern, bis zum Pluto und zurück, achtzehnmal zur Not.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.