Freitag, 24. Februar 2017

Frisch gepreßt #384: Bonobo "Migration"


Die Welt riecht anders, wenn der Winter müde wird, wenn seine Wurzeln in der Welt locker werden, sich langsam auflösen in die schmutzige Mischung aus Schlamm, Kies, Restschnee, die dann unter beharrlicher Sonnenbestrahlung, umweht von milder Luft, zu Staub zerfällt, ein friedliches Schlachtfeld zurückläßt, auf dem – ist es wirklich erst Tage her – Frostkälte ihre grimmigen Waffen in Anschlag brachte, an die man sich nun kaum noch erinnert, nur in stillen Abendstunden, wenn der Winter mit der Dämmerung noch einmal die Muskeln spannt.
Dann riecht die Welt anders, frisch und alt zugleich, neu und ungewaschen, eine wilde, abenteuer- und phantasieträchtige Laborküche aus Altem und Neuem, in der man nichts so gut kann wie schweben. In der man schwebt und die Gedanken aus der Banalität verheißungsvollen Schimmer schöpfen. „Das Leben“, sagt ein solcherart inspirierter Semiphilosoph, „hat Höhen und Tiefen, laute und stille Momente, schöne und häßliche. Musik ist die Reflektion des Lebens.“ Und man lauscht ihm, nickt verständig.
Er heißt Simon Green, aber nennen wir ihn Bonobo, auch wenn man dabei im linden Duft der Frühlingsluft im freien Schweben der Phantasie kurz an einen schlimmen irischen Heulsänger denken mag. Die Assoziation ist vielleicht nicht ganz so schräg, denn gnädig erinnern wir uns, daß selbst und auch dessen Band in ferner Vorzeit ihre Augenblicke hatte, da es ihr gelang, Klänge zu Landschaften zu öffnen und Töne zu Bildern zu weiten.
Aber Bonobo kann das besser. Seine Musik, sein luftiges Konstrukt aus Klängen natürlicher und welträumlicher Herkunft, aus Uraltem und ganz neu elektronisch Erdachtem, bildet einen Bilderbogen, ein gesamtplanetarisches Panorama, das einem Flug mit einer hochauflösenden Kamera ähnelt, in stratosphärischer Höhe über dem Planeten, der aus dieser Entfernung divers, vielfältig, friedvoll und in schillernden Farben unter uns dahinzieht, befreit von den Teufeleien der Details und menschlicher Raserei. Es ist ein irgendwie entrückter, posthumaner Film, der sich da entfaltet: träumendes Nachtgrün in „Second Sun“, exotisch leuchtende Rätselformen in „Grains“, schwereloser Großstadtrhythmus (Sonntagnachmittag Mitte Februar) in „Outlier“, facettenweise.
Bonobos Musik zählen selbsternannte Fachleute ins Genre „Downtempo“, andere sagen „Ambient“ dazu und meinen, durchaus im klassischen Sinne von Brian Eno, weniger die Vertonung von Ambiente als dessen Schöpfung, die in so (noch einmal:) schwebender Makellosigkeit vor sich geht, daß schon eine simple Stimme wie die von Nicole Miglis (Hundred Waters) in dem sowieso etwas unentschlossen zappelnden „Surface“ störend, weil unangenehm weltlich-körperlich wirkt. Schweig, möchte man ihr zuflüstern, und schon tut sie es, und schon geht das Schweben in „Bambro Koyo Ganda“ weiter, in nordafrikanischen Schattierungen und Dialekt, der pulsenden Monotonie der Wüste, auf weichen, sanft geplusterten Wolken dann in „Kerala“. Und immer, immer, immer strahlt die Sonne in und durch diese wunderlich körperlosen Tongebilde.
Musik, könnte man Bonobo paraphrasieren, ist Bewegung und Stillstand zugleich, Ruhe und Entwicklung, geschlossener Kreis und zielloses Gleiten, ein Möbiusband der Eindrücke, frei von Botschaft und zugleich erfüllt von allen Botschaften aller Menschen aller Zeiten, die insgesamt lauten: Wir leben, und das gefällt uns.
Die Welt riecht anders, wenn der Winter endlich losläßt, die Seele vom Gewicht der Tiefe befreit, sie (ein letztes Mal:) ent-schweben läßt in nahe, unendlich nahe Fernen von Hoffnung, Erinnerung, reiner Gegenwart. In der alles, was es gibt, je gab, zerfließt zu neuer, noch kaum greifbarer Identität. Am Ende, das kein solches ist, erklingt nach dem Verklingen der letzten melancholischen Geigen der reinste Klang des Universums, zwanzig Sekunden lang: vollkommene, interstellare Stille, in der das Bewußtsein langsam erwacht und feststellt: Die Welt riecht nicht nur anders, sie ist eine andere geworden.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 23. Februar 2017

Frisch gepreßt #383: Joan of Arc "He's Got The Whole This Land Is Your Land In His Hands“


Das Leben eines Rockmusikers stellte man sich früher unfaßbar sagenhaft vor: So ein Mensch erwachte nachmittags zwischen seidenen Laken und nackten Leibern in der 27. Etage eines Luxushotels, mild beschienen von der Sonne über den Hügeln von Hollywood, nahm ein Champagnerbad in der Kristallglaswanne, schnupfte Diamantkoks von Silberspiegeln, ließ sich im Rolls Royce Phantom zur ausverkauften Arena fahren, riß zwei Stunden lang die Welt der träumenden Teenager aus den Angeln, strahlend im Licht der Millionen-Dollar-Lasershow, sprang wieder in den Rolls und entschwand in die Partynacht der Filmstars und Traumbodies. Hin und wieder produzierte er für Millionen Dollar in futuristischen Millionen-Dollar-Traumstudios ein neues Album, das nach endlosen Nacharbeiten endlich erschien und sofort für Jahre an die Spitze der weltweiten Charts schoß. Und zwischendurch konferierte er mit Millionen-Dollar-Hollywood-Psychiatern über seine Zerrissenheit und verschwand auch mal für ein paar Monate in einer glamourösen Entzugsklinik.
Vielleicht hat Tim Kinsella auch mal von so was geträumt; andererseits ist er erst 1974 geboren, in Chicago; da wäre immerhin denkbar, daß er einer Nacht wie der oben beschriebenen entsprang. Zumal seine Eltern offenbar keine Stubenhocker mit Privatfernsehsucht waren: „I must have been born hanging out, I must have been conceived hanging out, and I know I'll die by hanging“, singt er in „This Must Be The Placenta“.
Jedenfalls trifft man Tim am ehesten an der Bar des Rainbo Club im Ukranian Village, wo er Getränke zapft und mischt und ab und zu auch mal Vinyl auf den Plattenspieler legt. Wozu die Details? Weil auch das Rainbo so ein Fall von Phantasie, Fantasy und Realowelt ist: kaum mehr als ein Schuppen, ein Loch in der Wand zwischen einigen recht schicken Bars und Restaurants, keine Fenster, ramponierte Holztür aus den Dreißigern, paar Bilder an den Wänden, billiges Bier. Andererseits tanzten hier schon 1936 Burlesque-Damen zu Live-Jazz, auf einer Bühne, die heute nur noch Ausstellungsfläche für bizarre Kunstobjekte ist. Hier dämmerte dazumal Nelson Algren mit Simone de Beauvior in den Rausch, hier hing die Indie-Elite der frühen 90er ab, posierte Liz Phair für ihr erstes Cover, und in der Hornby-Verfilmung „High Fidelity“ ist der Club auch zu sehen.
Sein und Schein mithin, und auch die zitierte Textzeile könnte was ganz anderes bedeuten, schließlich ist Tim für seine Liebe zu wirren Wortspielen und abseitigen Assoziationen bekannt. Wobei … bekannt? Etwas vielleicht. Vor knapp zwanzig Jahren wurde seine erste Band Cap'n Jazz mal als „Emo“-Pioniere gefeiert, drei Jahre nach ihrer Auflösung, was Tim fürchterlich ärgerte. Aber für einen Mann, der mit (ungefähr) zwanzig Bands und solo (ungefähr) fünfzig Platten gemacht hat, kennt man ihn doch nicht so recht.
Das ist ihm ganz recht. Joan of Arc gibt es jetzt seit zweiundzwanzig Jahren, und Tim meint: „Manchmal vergessen wir's, lassen's ein Jahr lang rumliegen, kümmern uns um unser Leben. Manchmal ziehen wir's ein Jahr lang durch, erwachen jeden Tag überrascht und erschöpft, werden durch antike italienische Städte geführt, durch trostlose britische Fußgängerzonen, treffen barfüßige organische Bauern an der Pazifikküste. Wir wissen, was für ein Glück wir haben.“ Und dann fahren sie wieder heim. „Je weniger wir uns als Band fühlen, desto besser können wir als Band weitermachen.“
Ihre Platten sind eigenartige Getüme, immer vollkommen anders, nie vollkommen, manchmal hundert Spuren fett, manchmal fast leer, immer wackelig und bröselig, unentschieden und liebevoll bestickt mit Geräuschen und Atmosphären. „Diesmal“, sagt Tim, „haben wir einander endlich genug vertraut, um alle Songs wegzuwerfen, sogar jede Vorstellung wegzuwerfen, wer welches Instrument spielt. Wir drückten auf 'Aufnahme', spielten los, und unsere gemeinsamen Geschmäcker traten zutage.“
Das Ergebnis kann man nicht beschreiben. Es ist entspannt, nervös, suchend und findend, hier und da melodisch, dort ins Gestrüpp entgleist, kaputt und warm, weich und kratzig, Keime für hundert Alben in einem. Oder, um „Grange Hex Stream“ zu zitieren: „There is no place safe, and everything is perfect.“

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 17. Februar 2017

Belästigungen 03/2017: „Tschilp!“ (oder: Von Leid und Erlösung der wandelnden Virenpartyzone)

Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man eines Morgens aufwacht und feststellt, daß man Mitbewohner in der Wohnung hat, von denen man bis dahin gar nichts wußte und die man auch nie eingeladen hat. Dann sitzen sie plötzlich am Küchentisch, trinken den Tee leer und tun so, als wären sie schon immer dagewesen.
So geht es dem Menschen im Januar mit dem ganzen Planeten, den er grundsätzlich in verblendetem Selbstwahn für den seinen hält und sich gewohnheitsmäßig untertan macht, indem er ihn mit Windrädern und Fabriken vollstellt, mit Teerbändern überzieht und mit einer Giftwolkenatmosphäre aus Abgas, Fake-News, Streß und Fernsehmüll bepumpt: Plötzlich ist er da nicht mehr allein und auch nicht mehr bloß von possierlichen Pflänzchen und Tierchen umgeben, die sich im Zweifelsfall flugs ausrotten oder einhegen lassen, wenn sie dem Wachstumsprozeß im Weg stehen. Sondern plötzlich gibt es da Mitbewohner, die sich absolut nichts bieten und auch nicht mit sich reden lassen, die vielmehr machen, was sie wollen, egal wie es dem Menschen dabei geht.
Die Rede ist von: Viren! Bakterien! Bazillen! Strepto- und allen möglichen anderen -kokken, die sich im Dauerfrost suhlen und unter den günstigen Bedingungen einer sonnenlosen Welt gedeihen wie der Schimmelpilz im Plastikbiotop. Wenn sie erst mal da sind und die Herrschaft ergriffen haben, ist jeder Widerstand zwecklos, weil sie den Menschen wirksamer manipulieren als Internet-Pornoreklame, Putins Meinungsbots, transatlantische Bullshit-Leitmedien und sämtliche Wahlkampfmanager der westlichen Welt: Zunächst läßt er sich von allen Seiten mit röchelnden, schniefenden, maladen Botschaften behusten, die vom allgemeinen Leid in seiner Peer-group künden, und stellt selbstzufrieden fest, daß ihn so etwas überhaupt nicht betrifft, weil er sich mittels vitaminhaltiger Ernährung und täglichem Kaltbrausen wirksam abgehärtet hat, dann wickelt er sich einen Schal um den Hals und stürmt hinaus in die gefrostete Stadt, um sich die ihm persönlich zugedachte Dosis an Erregern abzuholen. Kratzt dann der Hals und beginnt die Nase ihre Metamorphose zum undichten Schleimwasserhahn, pumpt er sich mit nutzlosen, aber teuren Antiobiotika voll, gurgelt sich mit literweise Zitronensaft zur Tonsillenverätzung, rotzt zentnerweise Zellstoff voll und unterzieht sich diversen weiteren Foltermaßnahmen, denen allen die altbekannte Regel zugrundeliegt: Ohne Behandlung dauert die Malaise eine Woche, mit Behandlung sieben Tage.
Die Perfidie der viralen Fremdbestimmung ist damit aber noch lange nicht erschöpft, sondern nimmt erst ihren Anfang: Kaum hat der Mensch festgestellt, daß er krank ist, beschließt er, er sei gesund genug, um seine Pflicht zu tun, bolzt sich in öffentliche Verkehrsmittel und Arbeitsplätze, um dort die Erreger zu verteilen, die ihm aus sämtlichen Poren und Körperöffnungen nur so herausströmen und zu diesem Zweck Niesreiz, Husten und Schneuzdrang einsetzen, damit die Epidemie sich noch effektiver verteilen kann, bis endlich halb, nein: ganz Europa eine einzige wimmelnde Partyzone ist, in der der Homo sapiens nicht mehr seine gewohnte Hauptrolle spielt, sondern lediglich als wandelnder Rummelplatz und Shuttle-Service der mikroskopischen Kreuch- und Fleuchbevölkerung dient.
Weil er aber nun mal nur ein Mensch ist, dessen hochtrabend als „Gehirn“ bezeichnetes Welterkenntnisgerät zumal in verrotztem Zustand den wahren Zusammenhängen und den hinterlistigen Fremdbestimmungsstrategien der Billiardenarmee von Infizierern nicht gewachsen ist, kriegt er davon nichts mit. Im Gegenteil läßt er sich von seinen langsam übermütig werdenden Planetenmitbewohnern gleich noch mit Sehnsüchten impfen, die der pandemischen Gesamtwelteroberung dienen: steigt in Flugzeuge und Züge und läßt sich hordenweise in warme Gefilde bomben, wo die Viren noch viel besser gedeihen und er zudem ein ganz neues Sortiment multiresistenter Keime einsammeln und nach absolvierter „Erholung“ zurück in die Heimat zu transportieren, wo sie sich umgehend entfalten, vermehren und eine breite Palette an neuen spaßigen Entzündungsvorgängen zum Partyspaß beitragen.
Ab hier wird die Geschichte unüberblickbar, und überströmt vom Fieberschweiß wickelt sich der Chronist noch fester und enger in die Schichten und Lagen von Decken, in denen er seit Tagen als halb lebende Roulade vor sich hindämmert und der Welt und dem auf ihr tobenden Treiben sinnierend einen Sinn zu entlocken versucht, der sich durch die zwischenzeitlich immer mal wieder wiederholte Betrachtung des Stillebens aus Grau, Weiß und Grau vor dem Fenster nicht erschließen läßt.
Aber unversehens begegnet man dem Blick der neugierigen Amsel, die draußen auf dem Sims fröhlich im Eichkätzchenfutter wühlt und sich fragt, was das da drinnen in der wohlig beheizten Menschenbude mal wieder für ein Gestöhne, Gejammere und Gewälze sein soll. Und weil man seit Tagen menschlicher Gesellschaft nicht zuträglich noch zugänglich ist, singt man ihr das gesamte vielstrophige Klagelied und hofft auf Mitgefühl.
Die Amsel indes weiß eine andere Geschichte: Die handelt von Geduld, von Vergehen und Wiederkehr und davon, daß der Mensch mit seinem Schmarrn einfach falsch denkt. Es ist eine lange, weise Geschichte, aber weil die Amsel nun mal schneller lebt, läßt sie sich zusammenfassen in einem knappen Achselzucken (doch, die kann das!) und einem lakonischen „Tschilp“.
Und da begreift man, wickelt sich wieder ein und fällt gelassen in den letzten Schwitzschlaf des Winters in der Gewißheit, daß ihm ein goldenes Erwachen folgen wird: in den Frühling, dessen würzig frische Luft schon in der Sonne badet, irgendwo hinter dem Horizont. Adios, ungebetene Mitbewohner!

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 7. Februar 2017

Belästigungen 02/2017: Ich will dieses Gespräch nicht mehr führen müssen! (und hören auch nicht)

Ein guter Freund hat mal einen schlauen Satz gesagt, den ich seither bei Anlaß und Gelegenheit gerne zitiere. Wir standen in einem vom Zufall der Nikotinvorliebe zusammengewürfelten Pulk vor der Kneipe, zogen am Stengel und lauschten notgedrungen irgendeinem Small-talk-Geplänkel, gespickt mit den üblichen Vokabeln des zeitgenössischen Diskurses von „im Grunde“ bis „tolerant“, von „ambivalent“ bis „zu Gemüte führen“, von „zeitgleich“ bis „nichtsdestotrotz“ und „zweifelsohne“, bis dem Freund der Kragen platzte und er zu niemand bestimmtem sagte: „Könnt ihr mal aufhören mit eurem Scheißgespräch?“
Seitdem werde ich diesen Satz nicht mehr los. Immer wenn jemand in sein öffentliches Telephon einen Satz hineinplärrt, der in Fernsehserien längst verboten sein sollte, und in Wirklichkeit bloß „Leck mich doch am Arsch“ sagen möchte. Wenn Journalisten mit gespitzten Mündern von „Stücken“ labern und lediglich Artikel meinen. Wenn eine „Radlhauptstadt München“ daherkommt und behauptet, „Winterradfahrer“ seien „auf dem Vormarsch“ (wie heutzutage überhaupt alles „auf dem Vormarsch“ oder in ähnliche militärische Tätigkeiten verwickelt sein muß, ohne daß jemand fragt, warum und ob ein Radlfahrer beim Marschieren überhaupt noch ein Radlfahrer sein kann). Wenn Verfasser derartiger Verlautbarungen auch noch ihre „dichterische Ader“ anstechen und ohne Maß, Stil, Komma und sonstige Bedenken derartiges ins Internet wuchten: „Aus aktuellem Anlass wenn draußen alles ganz sanft gedämpft zugedeckt wird, die frostigen Kristalle unter den Reifen knirschen und die Schuhe von stiebenden Flocken bedeckt werden, ist besondere Vorsicht wichtig für den frischen Genuss auf dem Radl.“ Wenn überhaupt das gesamte Internet nur so rasselt und flirrt vor falschen, dummen, falsch und dumm nachgeplapperten, leeren, hohlen Imitationen von Sätzen, die nur eines sagen: „Ich habe nichts zu sagen, keine Idee und keinen Gedanken, möchte aber auch etwas zur Debatte beitragen, egal zu welcher und ob es überhaupt eine gibt oder geben sollte!“
Immer dann: möchte ich, um meinen geschätzten Deutschlehrer zu zitieren, „hineinhauen in den Sauhaufen“ mit der ehrlichen Frage, ob man bitte endlich aufhören könne mit dem Scheißgespräch.
Freilich könnte ich dem ja auskommen. Ich könnte (und tue das tatsächlich sehr weitgehend) sämtliche Apparate abschalten und in den Ofen schüren, aus denen zum Beispiel das genormte Dauergefasel von Terror, Europa, Freiheit und Menschenrechten herausquillt. Dann säße ich aber in einem stillen Zimmer und fragte mich, ob diese Apparate nicht mal einen anderen Zweck hatten als uns das Hirn mit Leersprech zu verkitten. Und wer diesen anderen Zweck – und sei es nur die Mitteilung wichtiger Meldungen, Ideen und Gedanken – denn nun erfüllt und wieso das niemand mehr tut und ob die evolutionäre Verblödung des Homo sapiens vielleicht darauf zurückgeht, daß das niemand mehr tut.
Außerdem bin ich mit dem Ausschalten immer zu langsam. Irgendeinen Fetzen kriege ich mit, und der setzt sofort meinen eigenen Apparat in Gang, der dann einen halben Tag lang rotiert, bis er den Bullshit bis ins kleinste Nano-Unsinnsteilchen seziert und zerfasert und (meinetwegen) hinterfragt und (logischerweise) hinterantwortet hat. Dann sehe ich ein, daß der halbe Tag verschwendet war, weil ich das vorher schon wußte und nun den Kopf voller Müll habe, stapfe hinaus in die verschneite Stadt, um ihn vom Wintersturm durchlüften zu lassen, und stelle verblüfft fest, daß ganz Schwabing mittlerweile zumindest tagsüber von menschlichen Radios und wandelnden Zeitungen bewohnt ist, aus denen exakt der gleiche Schmarrn herausquillt, vor dem ich grad geflüchtet bin.
Das kann ich nicht abschalten. Da muß ich dann fragen: Wieso sollte (zum Beispiel) Angela Merkel, wenn sie als Grußaugustine einer „Wirtschaftsdelegation“ in irgendein Land reist, damit die dort ihr neokoloniales Programm durchziehen kann, „schon auch die Menschenrechte ansprechen“? Wem gegenüber? Ihren eigenen Wirtschaftsbossen? Und welche Menschenrechte?
Die, mit denen der „Westen“ seine sämtlichen Angriffskriege der letzten 25 Jahre begründete? Die, von denen niemand weiß, wie sie eigentlich lauten? Bei denen niemand darüber nachdenkt, was sie bedeuten? Das Recht auf Arbeit etwa, das bei uns gerne zur Arbeitspflicht mutiert und von dem der 1-Euro-Jobber besser nicht erfährt, daß es mit einem „Recht auf angemessene Entlohnung“ verknüpft ist? Oder die Versammlungsfreiheit, das Recht auf Bildung, auf Teilnahme am kulturellen Leben und einen angemessenen Lebensstandard? Diese Rechte, die weltweit nirgendwo gelten, weil sie aufgrund ihrer Unteilbarkeit nur insgesamt oder gar nicht gültig sein können?
Wäre es nicht besser, frage ich dann, irgendwelche diffusen individuellen Rechte, die ihr Inhaber im vereisten Schlamm eines Flüchtlingscamps mit drei Durchschlägen beantragen und gegen einen übermächtigen Gegner durchsetzen muß (aber nicht kann), – wäre es nicht besser, solche „Rechte“ einfach abzuschaffen? Wäre dem solcherart zwangsindividualisierten Opfer von Krieg, Gewalt, Ausbeutung, Vertreibung nicht mehr geholfen, wenn es nicht erst um die halbe Welt ziehen müßte, um (wenn es nicht zuvor umgebracht wird oder im Meer ersäuft) vor einer kafkaesken EU-Molochbehörde irgendwelche angeblichen Menschenrechte einzuklagen, sondern wenn man generell verbieten würde, daß Völker und Staaten von Wirtschaft und Militär anderer Staaten angegriffen, bombardiert, verwüstet, ausgebeutet und mittels „Entwicklung“ unbewohnbar gemacht werden?
Spätestens wenn ich dann frage, ob nicht mit der plakativen Zusicherung von Individualrechten der ganze Schlamassel überhaupt erst angefangen hat, ob das nicht schon Hannah Arendt irgendwie so gesagt hat, ob es nicht eigentlich nur ein einziges Menschenrecht gibt, das nicht individuell, sondern für alle gemeinsam gilt und das, wenn die Verdammten dieser Erde aufwachen und die Völker die Signale hören, im letzten Gefecht erkämpft wird, wenn ich mich anschließend in meinen eigenen Schachtel- und Schlangensätzen verheddere und hilflos herumzucke, um mich daraus wieder zu befreien, – dann bleibt mir nur noch, mir selbst zuzurufen: „Kannst du mal aufhören mit deinem Scheißgespräch?“

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.