Freitag, 29. November 2013

Frisch gepreßt #181: Bauhaus "Go Away White"



Es gab einmal eine Zeit, da war Dracula nicht die ausgelutschte Blutlutschgestalt, als die er durch tausende langweilige Viertelgruselfilme und Kitschromane stiefelt, angebliche Jungfrauen erbleichen und sich selbst endlich einen Holzscheit ins Brustgehäuse hämmern läßt, immer mit irgendwelchen angeblichen erotischen Symbolen und Metaphern als Hintergrundtapete. Nein, da war Dracula ein Lebensmodell für tausende Großstadt-Jungmenschen, die sich in Kellerclubs versammelten, mit weißgepuderten Gesichtern, schwarzen Vogelnestern auf der Birne und in lange Third-Hand-Mäntel gehüllt eigentümliche tanzähnliche Bewegungen durchführten und ansonsten in Denkmalpose am Tresen standen, Bier tranken und per Zehn-Minuten-nach-dem-Suizid-Gesichtsausdruck ausdrückten, was für ein Untergang alles war.
Es gab einmal eine Zeit, da war Bauhaus nicht das Wort, das beim typisch deutschen Kulturspießer so ungefähr alles zusammenrepräsentiert, was sich in seinem Synapsensieb an Small-Talk-Rückständen zur Themenschnittmenge Architektur/Design/Moderne angesuppt hat. Nein, da war Bauhaus der seltsam weltekle Krach, der in den Kellerläden der Draculas dröhnte und jugendkulturabgrenzungsmäßig den Vorteil hatte, daß ihn selbst die ärgsten Spätpunks für ödeblöde hielten und der Rest der Welt keinen Schimmer hatte, was daran Musik sein sollte.
Nein, im Ernst – die Band um den oberdraculösen Jammersänger Peter Murphy für Firlefanz zu halten, das war damals wirklich ziemlich leicht. Das kaum geprobte, in immerhin cooler Scheiß-drauf-Manier heruntergeklumperte Goten-Getöne, das sie auf Schallplatten pressen ließen, und das Gemenge aus Posen, Faschingsmaskerade, Zitaten, Großgesten und Wichtiggetue, das sie von 1979 bis 1983 veranstalteten, roch immer sehr künstlich und hohl, sah besser aus, als es klang, und war verglichen mit Konkurrenten wie (den frühen) Adam & The Antz, The Cure und Japan entschieden zweitklassig und derivativ – ihr größter Hit war nicht umsonst ein Bowie-Cover, „Ziggy Stardust“, noch dazu in einer eher einfallslosen Rumpelbumpel-Kupferversion. Irgendwann waren Bauhaus dann weg, und was als Erinnerung blieb, war äußerst überwiegend optischer Natur, höchstens.
Wenn sich eine solche Band nach vielen sicherlich irgendwie ehrbaren, aber kommerziell nicht eben millionenträchtigen Solo- und anderen Projekten wieder vereint, liegt der Gedanke an den Klingelbeutel nicht fern; schließlich sind die damaligen Draculas inzwischen meistenteils sozialversicherungspflichtig tätig und kaufen am liebsten das, was sie irgendwie an die gute alte Zeit erinnert, als alles das passierte, wovon sie heute noch gerne renommieren und wunschträumen. Aber schon die Vorankündigung, das Album sei in 18 Tagen in der sonnigen Kleinstadt Ojai an der kalifornischen Küste entstanden, enthalte ausschließlich First Takes und sei der definitive Abschiedsgruß der Band (ohne Welttournee und all das), klang doch ziemlich wagemutig. Und dann bleibt einem beim Hören vor Staunen der Mund offen: Freilich, „echte“ Songs schreiben haben Bauhaus nicht gelernt (Gott sei Dank), ihre Riffs scheppern wie rostiger Schrott, und gespielt ist das alles immer noch mit einer brutalen Scheiß-drauf-Attitüde; aber die wirkt jetzt auf einmal saucool. Schon die ersten zwei Songs knallen dermaßen primitiv, zynisch und spaßig, als hätte David Bowie mit den Stooges ein hypermodernes Dance-Rock-Album aufnehmen wollen. Mit „Undone“ feiert das Pathos der 80er ein Comeback – hätten die damals wirklich so geklungen, wünschten wir sie uns sofort zurück, und bei „Endless Summer Of The Damned“ kann man nicht mehr anders als konstatieren, daß man da das beste Bowie-Album seit 27 Jahren hört (mit dem kleinen Nebengedanken, daß man sich so wie das hier wahrscheinlich Tin Machine vorgestellt hat, bevor man sie hörte). Da wird experimentiert, probiert und frei assoziiert, ohne Konzept und Grenzen, spannend, erfrischend, charmant, perfekt futurmodern und erfüllt von pulsierender Aufbruchsstimmung. Spätestens die trümmermelancholische, wild mäandernde, salzseeweite Ballade „Saved“ verlangt nach einer Entscheidung: Entweder man verweigert sich und hält das alles weiterhin für unnützen Blödsinn ohne „Tiefe“, „Wertigkeit“, instrumentale „Viruosität“ und moralische Aufbauwirkung (und was man Musik noch so alles zuschreiben mag), oder man öffnet die Ohren und das Herz und läßt sich hineinsinken in eine große, unwiderstehliche Leere, an deren triumphalem Ende die Erkenntnis dämmert, daß Bands manchmal 30 Jahre brauchen, um herauszufinden, was sie wollen und was sie sind. Und wenn sie’s dann wissen, schmeißen sie’s hin und sind wieder weg. Ist das cool oder was?

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Diese Folge erschien im Februar 2008.



Mittwoch, 20. November 2013

Frisch gepreßt: Das Weiße Pferd "Inland Empire"



„Wenn du heute gehst, nimm mit die Nacht“: Ein Mann ist aus der Wüste gekommen, geritten auf einem weißen Pferd, das man aus weiter Ferne zwischen den Kakteen und Agaven nahen sah, schwankend irgendwie, was aber vielleicht auch an der kochenden Luft liegen mag, die in Bodennähe die Sicht trübt, weshalb die Menschen hier dazu neigen, nach oben ins Weltall zu blicken, von dem sie sich seit Jahrhunderten, seit sie wissen, daß es da oben ein Weltall gibt, fragen, wieso es blau ist.
„Der Tag kommt von hinten“, sagt der Mann. Vielleicht.
Der Mann ist in der Wüste Joe Strummer begegnet; das ist lange her, und es gibt nichts davon zu erzählen, weil nichts passiert ist. Es passiert ja eigentlich nie etwas, wenn Menschen in der Wüste einander begegnen. Doch, manchmal: Musik oder etwas ähnliches, was verfliegt, wenn sich der Blick von der blauen Magie des Weltalls herab senkt und festzuhalten versucht, was in der kochenden Luft nicht festzuhalten ist.
Der Mann ist unterwegs ins Inland Empire, ein Land, das es nicht mehr gibt, weil dort jetzt Menschen wimmeln und Produkte und Smog erzeugen, damit sie Häuser bauen können, mit Fenstern, die man zumachen kann, damit der Smog nicht hineinkommt. Früher gab es hier Orangenbäume, von Horizont zu Horizont fast nichts als Orangenbäume, ohne Produkte, Smog und fast auch ohne Menschen, und damals gab es vielleicht auch Musik, die aber niemand je gehört hat. Bis heute.
Vielleicht ist Inland Empire aber ein anderer Ort, zum Beispiel die ehemalige Insel San Fernando an der spanischen Südküste, die keine Insel mehr ist und die in die Geschichte einging, weil sie sich 1810, als Napoleon ganz Spanien und Europa erobert hatte, dennoch zu kapitulieren weigerte – der Anfang vom Ende der napoleonischen Herrschaft. Vielleicht wurde San Fernando, nach dessen Observatorium man heute noch in ganz Spanien die Uhren stellt, damit zum Vorbild für ein gallisches Dorf, das jeder kennt und keiner je gefunden hat, weil es nicht zu finden ist, nur in der Phantasie, die sich gegen die Besatzung durch Produkte, Smog und wimmelnde Menschen wehrt.
Auch das Inland Empire, von dem hier die Rede ist, ist nicht zu finden, weil es nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat. Es ist (immer) ein anderer Ort oder kein Ort. John Lennon sang davon: „It’s my mind, and there’s no time when I’m alone.“ Stephen Sondheim ließ davon singen in der „West Side Story“: „Peace and quiet and open air wait for us somewhere.
We'll find a new way of living. We'll find a way of forgiving. Somewhere.“ David Lynch erzählt davon in seinem Film „Inland Empire“, den niemand je verstanden hat: von dem „Universum, das wir alle im Hirn haben“.
Davon erzählt auch der Mann, der auf seinem weißen Pferd aus der Wüste kam und von wir vielleicht kurz erwähnen könnten, daß er mal Sänger bei einer Band war, die „berühmt“ wurde, weil eines ihrer Mitglieder später bei Franz Ferdinand spielte und einen so etwas gerne mal unabsichtlich „berühmt“ macht, weil Musikjournalisten was zu schreiben brauchen, um nicht über Musik schreiben zu müssen.
Oder nein, wir erwähnen es einfach mal nicht. Wir lassen den Mann lieber selbst erzählen, lassen es aus ihm erzählen, das Universum, das wir alle im Hirn haben, während um ihn herum die Gitarren, Ukulelen, Geigen, Trommeln und Saxophone ein Land bilden, das Inland Empire heißen könnte. Dort lassen wir uns nieder im Sand und in der kochenden Luft, richten den Blick ins blaue Universum und vermeinen, da sei vielleicht doch etwas passiert mit Joe Strummer, ein Teil von ihm vielleicht hineingeschlüpft in den Mann auf dem weißen Pferd, damals, als Joe so lange ins blaue Universum gestarrt hat, bis es ihn eingesaugt hat.
„Mein Name ist große Freiheit, und ich war schon immer hier“, sagt der Mann. Vielleicht.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 10. November 2013

Belästigungen #422: Raketen für Forellen, Olympia zum Wohnen (auf dem Mars)


Indien, habe ich heute erfahren, hat gestern eine „Sonde“ zum Mars geschossen (oder das zumindest versucht). Das ist an Sinnhaftigkeit kaum zu überbieten – schließlich soll das Ding von dort aus ab September 2014 „Daten senden“. Davon, das weiß inzwischen jedes Kind, kann man nie genug haben. Und nachdem die Geheimdienste von uns Homo-sapiens-Würsteln schon sämtliche Daten eingesammelt haben, sind nun eben die Marsmöpse dran, von denen man seit der legendären Dokumentation von Orson Welles vor 75 Jahren nicht mehr allzu viel gehört hat. „Unsere Daten“, verkündet Udipi Ramachandra Rao, der (wegen allzu vieler beim Start geplatzter Raketen) ehemalige Chef der indischen Raumfahrtbehörde, „waren und sind von großer Bedeutung für Land- und Fischereiwirtschaft.“
Das ist freilich Blödsinn. Herrn Welles’ Radiobeitrag war so echt und glaubwürdig wie ein beliebiges Fernsehfilmchen zu Politik und Wirtschaft, und den Indern geht es ebensowenig wie allen anderen Raketenballerern darum, die Forellenzucht und das Kompostwesen auf fremden Planeten zu studieren. Die paar Wassermoleküle, die eine indische Sonde vor fünf Jahren angeblich auf dem Mond entdeckt hat (und die wahrscheinlich der zerstäubten Notdurft amerikanischer Astronauten entstammten), sind sicherlich auch kein hinreichender Anlaß für ein Land, in dem etwa 660 Millionen Menschen an kapitalismusbedingter Unterernährung leiden (und alljährlich 2,1 Millionen Kinder vor dem fünften Lebensjahr sterben), 660 Millionen Euro pro Jahr für Sonden auszugeben.
Schließlich haben wir genug Berichte über die Raumfahrt gesehen, um zu wissen, worum es dabei geht und worauf nun auch die Inder scharf sind: Auf so ziemlich jedem Himmelskörper in Reichweite menschlicher Raketen fahren beziehungsweise rosten inzwischen Autos herum, vom „Lunar Roving Vehicle“ (einer Art moderner Großstadtpanzerkarre ohne Blech) bis hin zu diversen Roboterschnauferln, die sich zur Schadenfreude ihrer per Kamera verbundenen Hersteller quietschend und ruckelnd über planetare Sanddünen quälen.
Der Mensch, lernen wir daraus, muß das, was ihm am wichtigsten ist, überall tun, sogar da, wo er selber gar nicht hinkommt, sondern nur Raketen hinschießen kann. Schließlich geht es hier um die Zukunft: Weil die müde alte Erde infolge des Autofahrens (und ein paar anderer menschlicher Aktivitäten) in absehbarer Zeit zwar nicht für Autos, aber für Menschen unbewohnbar sein wird, muß dann eben auf dem Mars, der Venus, dem Pluto und in allen möglichen fernen Galaxien herumgegurkt und im Stau gestanden werden, bis auch dort alles vergast, verlärmt, vergiftet und zugeschrottet ist. Dann wird’s schwierig, aber das geht uns nichts mehr an – bis dahin werden die Autos sicherlich einen Weg gefunden haben, ganz ohne dieses überempfindliche organische Kroppzeug auszukommen, das bei jeder windigen Umweltvernichtung gleich ausstirbt.
Ein paar andere Sachen sind dem Menschen auch noch wichtig, zum Beispiel eine Wohnung, damit er sich hin und wieder vom Autofahren ein bisserl ausruhen und Fernsehmeldungen über das unerläßliche Wachstum der Autoindustrie entgegennehmen kann. Wohnen hat, soweit ich informiert bin, auf fremden Planeten noch niemand ausprobiert. Das ist erstaunlich, selbst wenn man berücksichtigt, daß der Mensch oft und gerne in Gegenden Auto fährt, wo er nicht wohnt und teilweise nicht mal wohnen kann.
Aber es läßt sich erklären, wenn man die selbstverständlich absolut unparteiischen Informationen berücksichtigt, mit denen uns unser Oberbürgermeister im Namen des Stadtrats dankenswerterweise anläßlich des bevorstehenden „Bürgerentscheid“ brieflich versorgt hat: „Das neue Olympische Dorf (inkl. Mediendorf) in München“, steht da zu lesen, „würde z. B. dazu führen, daß nach den Spielen den Bürgerinnen und Bürgern dauerhaft circa 1.300 dringend benötigte und bezahlbare Wohnungen zur Verfügung stehen.“
Nun haben wir endlich verstanden, woher diese merkwürdige „Wohnungsnot“ kommt, die in München (und anderswo) seit Jahrzehnten ihr übles Unwesen treibt: Es ist schlichtweg verboten, „dringend benötigte“ Wohnungen „zur Verfügung zu stellen“, wenn man nicht vorher einem autokratischen, mutmaßlich mafiösen, korrupten, halbkriminellen und gemeingefährlichen Verein ein paar Milliarden in den Hintern schiebt, damit der ein paar Tage lang ein lächerliches Wettbewerbspropagandatheater abzieht und hinterher mit den Profiten abhaut, ohne auch nur einen Pfennig Steuern zu zahlen. Nun wissen wir auch, weshalb Zaragoza, Barcelona, St. Moritz und Davos auf den teuren Irrsinn lieber verzichtet haben: Dort gibt es bereits genug Wohnungen!
Die gibt es in München allerdings auch, nur stehen in einem Großteil davon (und zwar vor allem in den schönen) nachts, wenn der Mensch am liebsten wohnt, nur Schreibtische, Computer, Drucker und ausgeschaltete Kaffeemaschinen herum, mit denen tagsüber menschliche Besucher Dienstleistungen leisten und das Wachstum ankurbeln. In einem kleineren Teil davon wiederum steht überhaupt nichts, die stehen selber – und zwar leer, aus diversen seltsamen Gründen, die kein Mensch versteht, die aber auch irgendwas mit Wettbewerb, Leistung und Wachstum zu tun haben.
Beides müßte nicht sein und wäre leicht zu ändern, und dann müßte München auch keine „Olympischen Winterspiele“ über sich ergehen lassen. Sondern diesen Schmarrn könnte man dann dorthin verlegen, wo es tatsächlich keine Wohnungen gibt, wo diese aber eines Tages dringend gebraucht werden, damit sich jemand um die Autos kümmern kann: auf den Mars, die Venus, den Pluto und in alle möglichen fernen Galaxien.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Belästigungen #421: NSA, „DSI“ und die Freuden der inneren Selbstumarmung


Wenn man infolge eines zwangsweise ein paar Wochen lang ohne mobile Verbindung zu NSA und sonstigen Datensammeldienstleistern durch die Weltgeschichte läuft, macht man eine merkwürdige innere Veränderung durch: Irgendwas fehlt, und man fragt sich, was das ist. Geht es einem da so ähnlich wie der modernen Turbokuh, die ohne tägliche Abzapfung mittels Melkmaschine dazu verurteilt ist, einen Fluchtversuch in Freiheit und Selbstbestimmung mit einem geplatzten Euter zu bezahlen? Geht der unbewußt und unbemerkt anerzogene Mitteilungsdrang wirklich so weit, daß der Mensch ohne Handy irgendwann vor den Pforten der Schlapphutfirma in Pullach oder sonst wo landet und flehentlich fleht, seine Daten (Telephonnummern, Schuhgröße, Kalorienverzehr etc.) offenlegen zu dürfen?
Immerhin so weit bin ich noch nicht, und bisweilen empfinde ich es als angenehm, nicht dreißig Prozent der wachen Zeit ein „Display“ anschauen zu müssen, das sich selbst für die Welt hält. Durch den Entzug geraten andere, sonst schmählich vernachlässigte Geräte in den Blick. Den Fernseher anzuschalten kann man sich zwar erst nach Monaten überwinden – zu schlimm ist die Erinnerung an das letzte Mal, als man drei Minuten lang fassungslos in einen „Talk“ hineingeriet, dessen sprachlich-grammatisch-inhaltliche Substanz Grund genug für einen sofortigen Antrag auf Auswanderung in ein fernes Sonnensystem wäre.
Aber zum Beispiel bemerkt man plötzlich, daß da noch ein kunststoffernes Teil im Flur herumsteht, das ansonsten ab und zu bimmelt, ohne daß das irgendwer bemerkt. Jetzt überkommen einen bei seinem Anblick nostalgische Schwingungen; wehmütig entsinnt man sich der funkfreien Nachmittage des frühen Oberschülerlebens, als man kübelweise Nullinformationen aufsaugte wie eine verspätete Wespe im Oktoberbiergarten den letzten verschütteten Tropfen, nur weil sie dem drei Häuserblocks entfernten, aber per Phantasie unmittelbar am eigenen Ohr materialisierten Mund einer Angebeteten entdrangen.
Und siehe, nein: höre da, schon schellt es, das – wie man heute diskriminierend sagt – „Festnetz“, und begierig eilt man herbei. Aber die Frage, wer so altmodisch ist, sich noch auf derartige Kommunikationswege zu begeben, ist schnell beantwortet: „Herzlichen Glückwunsch!“ schnarrt eine Blechstimme und teilt mit, man müsse nur eine Taste drücken, um einen „Hybrid-BMW“ zu gewinnen, von dem man sich fragen könnte, wer ihn zu diesem offenbar vollkommen sinnlosen Ziel gekauft oder überhaupt erst „erstellt“ hat, denn der vermeintliche Reklameanruf ist gar keiner: Vergeblich wartet man auf nähere Informationen zu dem Produkt, für das geworben werden soll. „Goodbye“, schnarrt die Blechstimme, und das war’s.
Derartige Verbindungen zur Außenwelt wirken ernüchternd. Man schaut aus dem Fenster, sieht einen Herbst und richtet den Geist nach innen, in die Wände, in denen man die nächsten paar Monate damit verbringen wird, zu harren, bis endlich ein Frühling heranbraust und das tolle Leben wieder weitergeht.
Was, fragt man sich, tun normale Menschen ohne Funkverbindung den ganzen Herbst und Winter lang in ihrer Wohnung, wenn sie nicht dem Schnarren der Blechstimmen lauschen oder sich vom bewußtlosen Geplärr der FernsehhampelmännerInnen das Hirn in einen Kippschalter verwandeln lassen, der die gesamte Vielheit der Lebensmöglichkeiten auf die Alternativen „Rotgrün“ und „Schwarzgelb“ zusammenkastriert?
Ich weiß es: Sie kochen Suppe. Das ist ein uralter, wesentlich deutscher Brauch, der zwar möglicherweise auf ein Mißverständnis zurückgeht (das althochdeutsche „sûfan“, dem wir das Wort verdanken, heißt „saufen“, wofür sich Bier entschieden besser eignet als heißes Salzwasser), aber für enorme Auswüchse kultureller Betätigung gesorgt hat. Hundert Teller Suppe, so teilt eine sicherlich eigens zu diesem Zweck (oder zu welchem sonst?) gegründete Behörde namens „Deutsches Suppen-Institut“ mit, verzehre der Deutsche pro Jahr.
Und zwar besonders gerne im Winter, was das „Deutsche Suppen-Institut“ damit erklärt, daß der Verzehr einer Suppe als „liebevolle Umarmung von innen“ empfunden werde. Besonders „wertgeschätzt“, erfahren wir staunend, wird selbst zubereitete Suppe. Nun ja, denken wir, Deutschland ist eben nicht nur „Suppenland“, sondern auch eine Hochburg der Masturbation, wo man sich eben gerne mal liebevoll selbst von innen umarmt, während draußen Sturm und Weltgetöse toben. Aber nein: So sehr er die Selbstzubereitung wertschätzt, der Deutsche, so wenig setzt er das Wertschätzen „aktiv“ um, greift statt dessen zu Tüte und Büchse und wärmt bloß auf, was irgendwo aus Schlachtereispreißeln und Gemüseresten industriell zusammengemanscht wird.
Und während man noch philosophelnd zu ergründen versucht, wieso der Deutsche sich seine innere Selbstumarmung ausgerechnet im Winter besonders gerne anhand eines Produkts mit der Bezeichnung „Frühlingssuppe“ aus dem Supermarktregal zupft; während man sich weiterhin vorstellt, mit welchen technischen Mitteln sich das „Deutsche Suppen-Institut“ das für derartige Verkündungen nötige Datenmaterial verschafft hat … fühlt man sich unversehens hineingezerrt in einen gigantischen Kessel voll blubberndem Seim, in dem ein monströses Suppenhuhn herumrührt und sich dabei in einem anatomischen Irrsinnsakt innerlich selbst umarmt. Und da zieht man die Notbremse, läßt Suppe Suppe und Herbst Herbst sein und eilt hinaus, um sich mit einem neuen Mobiltelephon wieder mit der wirklichen Welt zu verbinden. Herzlichen Glückwunsch, NSA, Goodbye, „Deutsches Suppen-Institut“.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.