Dienstag, 27. Februar 2018

Frisch gepreßt #405: Icarus The Owl „Rearm Circuit“


Schallplatten sind rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.
„Schallplatten? Wovon redet er denn jetzt wieder?“
Zudem ist diese nicht nur rund, sondern offiziell gesprochen: „coke bottle clear“, also minimal blaugrün schattiert, aber durchblickdurchsichtig. Man kann sie rotierend vor die Welt stellen, auf Dinge legen und den erstaunlichen Effekt erleben, durch die Welt hindurch und hinter die Dinge blicken zu können, die dabei in anderem Licht erscheinen. Veränderte Wahrnehmung induziert Einsicht in kosmische Relationen.
„O weh! Ich fürchte, er hat sich mal wieder einen Progressive-Rock-Virus eingefangen! Alle mit anpacken, wir müssen ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzerren!“
Uff. Na gut, der Begriff „progressiv“ ist genrehistorisch vielleicht nicht ganz falsch, aber er suggeriert eine eindimensionale, mindestens diffus zielgerichtete Bewegung, die hier nicht stattfindet und nicht stattfinden soll. Vielmehr hat die Band Icarus The Owl, die im wesentlichen aus Joey Rubenstein und wechselnden Begleitern besteht, vielgestaltige und mehrfältige Wurzeln. Etwa im harten Grund des Epitaph- und Fat-Wreck-Chords-Hardcore der 90er und diversen Emo-Gärtchen, andererseits aber reichen sie bis ganz jenseits, weit drüben in den dichten Wäldern der verkopften Spintisiererei, in denen emotional verstörte Spätjugendliche vor Äonen unter dem Einfluß von überdosiertem Konsum und überzogener Analyse der Werke von Yes, ELP und Genesis herumirrten. Dazu aber perlen aus dem Tornado der Komplexität Melodiefragmente heraus, die sich sehr wohl in Radioformate hineinschleichen könnten. Wenn sie wollten (sie wollen nicht).
Werden wir, wenn’s sein muß, prosaischer: „Ich wollte mit meinen besten Freunden Musik machen und über Fürze lachen“, sagt Joey Rubenstein über seine Motivation, eine Band zu gründen. „Das erschien mir wie die perfekte Lebensweise.“ Und selbstverständlich, auch wenn sie hin und wieder gewechselt haben, besteht seine Begleitung aus seinen drei besten Freunden, die mehr tun, als die meisten könnten, und doch exakt genug, um zur Einheit zu verschmelzen: Drummer Rob Bernkopf (bei dessen Nachnamen man sich an die erwähnte Durchblickdurchsichtigkeit des cokeflaschenklaren Vinyls erinnert, aber gut, lassen wir das) wirbelt, donnert und rummst, aber das Fundament, das er legt, soll in erster Linie tragen und tut das mit solcher Sicherheit, daß Tim Browns Leadgitarre und ihre kaum in Noten zu fassenden Eskapaden darauf tanzen wie ein schlafwandelnder Hochseilartist. Jake Thomas-Low und sein Baß fallen nur dem auf, der ein spezielles Interesse hegt, und das ist auch in seinem Fall eine unersetzliche Stärke.
Aber Vorsicht. Es sind Songs, die auf dem fünften ITO-Album erklingen, allesamt zwischen 3:16 und 4:48 Minuten lang, also kompakt und greifbar, ohne Auswüchse und delirierende Nichtaufhörenkönnerei. Fast bodenständig, könnte man meinen. Aber ihre Komplexität weist und wirkt nach innen; wähnt man eine Verschachtelung ergründet haben, öffnet sich eine neue, mit solcher Eleganz und Geschwindigkeit, daß von fern der Eindruck eines ununterbrochenen, ständig insgesamt changierenden Schillerns entsteht. Wer darin erst mal hängenbleibt, den wirbelt es in eine gefühlte Ewigkeit hinein, in der sich ein phantastischer Kosmos öffnet.
„Obacht! Er schwebt wieder los!“
Das Abbild dieser Wirkung sind Rubensteins Texte: Da meint man klare Dinge zu erkennen, aber die Metaphern, Allegorien, Bilder verschwimmen und zerweichen ineinander hinein, machen neugierig und wachsen sich aus. Nehmen wir die erste Strophe von „The Renaissance Of Killing Art“: „My colossal waste of time outside of the concert halls / I have been a fraud / They look the same to me; it’s the renaissance of killing art / But no one gives a fuck. / Cold, oscillating brain; fingers in the ground / They lended me technology and now I’ve got to leave / Souls shattered on the bones of previous unknowns / Cauterize the bloody mess and churn one out for me.“
Na, wollen wir darüber mal sprechen? Hat jemand zwei Wochen Zeit? Dann drehe ich schon mal lauter und hole die Teebeutel.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 26. Februar 2018

Frisch gepreßt #404: Black Sabbath „The End – 4 February 2017 Birmingham“


Einem alten Freund war es mal vergönnt, Ozzy Osbourne gegenüberzusitzen. Das ist gut zwanzig Jahre her und hinterließ einen verheerenden Eindruck: Der Mann, erzählte der Freund, sei am Ende, der mache es nicht mehr lang. Den Tränen nahe beschrieb er eine fahle, gelähmte Halbtotenmaske, Hände, die zitterten wie Espenlaub im Herbststurm, eine kaum verständliche Grabesstimme, die mit minutenlanger Verzögerung Antworten auf nicht gestellte Fragen stammelte, eine körperliche Gesamtverfassung, die das Herbeirufen eines Sanitäters überflüssig scheinen ließ.
Untote leben bisweilen lange. John Michael Osbourne, vor seinem Berufsantritt als Pate des Heavy Metal u. a. als Hilfsarbeiter im Schlachthof, Hupenstimmer in einer Autofabrik, Baugehilfe, Klempner- und Mechanikerlehrling tätig, gab sich stets große Mühe, diese Regel zu widerlegen. Er saß sechs Wochen im Knast, weil er als Einbrecher nicht sonderlich begabt war (einen geklauten Fernseher ließ er auf der Flucht fallen, und die Klamotten, die er in einem Pub verscherbeln wollte, erwiesen sich als Babykleidung) und sein Vater sich aus pädagogischen Gründen weigerte, die Geldstrafe zu berappen. Zu diesen Mißerfolgen trug sicherlich ein schon damals notorischer Hang zu bewußtseinsschmälernden Substanzen bei.
Mit Black Sabbath und einer Serie von fünf Platinalben in Folge gerieten die Exzesse zwangsläufig vollkommen außer Kontrolle. Die Band pumpte sich derart mit Drogen voll, daß sich Studioaufnahmen wegen der kurzen Nüchternheitsfenster über Monate hinzogen und kaum mehr abwarfen als Plunder und üble Scherze – Schlagzeuger Bill Ward landete zweimal im Krankenhaus, weil ihn seine Kollegen angezündet und mit Goldfarbe lackiert hatten (was einen Schlaganfall auslöste). Bei Ozzy waren die Gründe für diverse Einlieferungen gewöhnlicherer Natur. 1979, nachdem ihn Gitarrist Tony Iommi mehrmals bewußtlos geschlagen hatte, um ihn zur Raison zu bringen, flog er raus. 1982 wurde er in Texas verhaftet, weil er in Frauenkleidern ein Kriegerdenkmal anpinkelte. Ein schlechter Mensch kann so jemand nicht sein. Nächsten Sonntag wird er übrigens 69.
Wie es mit ihm weiterging, wissen wir aus Skandalpresse, Reality-TV und (Auto-)Biographien. Immer wieder ging es auch mit Black Sabbath weiter, die konstant nur aus Iommi bestanden, sich derweil mit erstaunlichem Talent bemühten, keinen Fettnapf auszulassen, und für ihre zweifelhaften bis lachhaften Eskapaden ein erstaunliches Sammelsurium an prominenten Gästen und Fehlbesetzungen gewinnen konnten: Ian Gillan und Glenn Hughes (Deep Purple), Rick Wakeman (Yes) und sein Sohn Adam, Cozy Powell und Ronnie James Dio (Rainbow), Dave Walker (Fleetwood Mac), Bev Bevan (ELO), Eric Singer (Lita Ford, später Kiss), Terry Chimes (The Clash), Bob Daisley (Mungo Jerry), Jo Burt (Tom Robinson, Freddie Mercury), Laurence Cottle (Alan Parsons Project), Mike Bordin (Faith No More), Tommy Clufetos (Alice Cooper), Jezz Woodroffe (Belle Stars), Brian May (Queen), Brad Wilk (Rage Against The Machine) und Rob Halford (Judas Priest) waren nur ein paar der vielen, die irgendwann mal Gehaltsschecks für eine Sabbath-Mitgliedschaft erhielten (oder auch nicht).
Ich bin Ozzy Osbourne übrigens auch mal begegnet – allerdings nur in gedruckter Form, auf Cover und Poster des Magazins, das mich als acht/neunjährigen T.Rex- und Alice-Cooper-Fan mit Informationen aus der geheimnisvollen Welt der Popmusik versorgte. Vor Black Sabbath hatte ich, zugegeben, ein bisserl Angst, auch wenn Tony Iommi im Interview sagte: „Wir haben schon immer Kreuze getragen, uns aber nie mit dieser schwarzen Zauberkunst beschäftigt.“
Damals verkündete Iommi außerdem einen „Stop mit Tourneen“ (gemeint war: die nächsten zwei Monate) und: „Natürlich werden wir weiterhin zusammenbleiben.“ Gemeint war: die nächsten paar Jahre vielleicht. Es wurden 49 Jahre, wirre, wilde, große und vergessene, in denen es niemandem gelang, das Original verzichtbar und „diese schwarze Zauberkunst“ nachzumachen.
Und deswegen – und auch wenn sich ein paar sympathische Patzer nicht vermeiden ließen – ist es schon rührend und schön, Black Sabbath bei ihrem allerletzten Auftritt zuzuhören, in der Heimat Birmingham, in einem Meer von Tränen, vergossen von tausenden Menschen, die „damals“ noch nicht geboren waren und bis von Honduras und Australien anreisten. Es ist rührend und schön zu hören, wie gut sich die atmosphärischen, winterlich düsteren, aber keineswegs im modernen Sinn heavy-metallischen Songs (von denen nur zwei nach 1973 entstanden) gehalten haben.
Und es ist schön, daß die Band ein Jahr „zu früh“ ohne großen Halbjahrhundert-Jubiläumszinnober abtritt, würdig und bescheiden zugleich. (Wenn sie das denn wirklich tut.)

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 24. Februar 2018

Belästigungen 26/2017: Gleich und Selb: von Schlössern, Suiten, Burgen und deutschen Sonder(irr)wegen

Wenn zwei das gleiche tun, ist es meistens nicht dasselbe. Und ob es das gleiche ist oder als das gleiche betrachtet wird, hängt sehr stark von etwas ab, das man die jeweilige gesellschaftliche Verfaßtheit nennen könnte.
Zum Beispiel gilt es im Rahmen der Regeln, auf die sich unsere Herrschenden geeinigt haben, als durchaus normal, daß einer einen tonnenschweren, giftausstoßenden Blech-Plastik-Kasten auf öffentlichem Grund abstellt. Daß das grundsätzlich ganz und gar nicht normal ist, bemerkt man (falls man überhaupt noch was bemerkt), wenn ein anderer eine verrostete Badewanne oder einen alten Kühlschrank danebenstellt, der höchstens einen Zentner wiegt, niemanden töten kann (außer er fiele aus mindestens drei Meter Höhe auf ihn drauf, was Kühlschränke selten tun) und nicht mal mit einem dröhnenden Verbrennungsmotor ausgestattet ist: Da stürmt sofort jemand daher und prangert in traditionell deutscher Hausmeistermanier die Verschandelung des Stadtbilds durch illegale Entsorgung von Sperrmüll an. Obwohl in den Kühlschrank notfalls ein Igel einziehen und es sich dort den Winter über gemütlich machen könnte, was bei einem hermetisch zugesperrten „sportverwendbaren Vehikel“ nicht geht. Das fährt meistens über den Igel drüber.
Nehmen wir einen anderen Fall. Da hängt an einer Wand das Bild eines Hauses, das in einer Truhe mit Goldstücken steht. Dazu gibt es als Erläuterung den Spruch: „Ihre Immobilie ist Gold wert.“ An einer anderen Wand hängt kein Bild (weil das Haus, zu dem die Wand gehört, bildhaft deutlich genug ist), da steht nur ein Spruch: „Gentrifizierung angreifen!“
Der Unterschied ist geringer als man spontan meint. Beide Botschaften sind öffentlich sichtbar. Beide Urheber haben Geld für die Veröffentlichung ihrer Botschaft ausgegeben – der eine für den Druck des Plakats und dessen Anbringung, der andere für eine Farbsprühdose plus (indirekt) seine eigene Arbeitszeit. Beide nehmen, wenn auch unterschiedlich, zu dem gleichen Vorgang Stellung. Und beide erregen damit bewußt und ziemlich unverschämt öffentlichen Ärger.
Allerdings, und hier fängt der Unterschied an, ärgern sich über die „Gold“-Provokation lediglich die Hunderttausenden von „normalen“ Münchnern, die den größten Teil ihrer Lebenszeit mit blöder Arbeit verschwenden, damit sie nicht irgendwann in eine verrostete Badewanne oder einen alten Kühlschrank am Straßenrand ziehen müssen, und die tagein, tagaus mit der deprimierenden, nervlich und körperlich zerrüttenden Angst leben, daß ihnen das sehr bald und plötzlich doch passiert. Hingegen kratzt die „Angriff“-Provokation diejenigen, die (oder deren Eltern und Großeltern) durch die Arbeit der anderen reich geworden sind und sich mit einem Fingerschnipsen eine 500-Quadratmeter-„Suite“ kaufen können, von deren Panoramafenstern aus sie eine herrliche Aussicht auf die wuchernde, von hier aus unsichtbar bibbernde Münchner Stadtlandschaft und ihr kostenlos auf öffentlichem Grund abgestelltes „sportverwendbares Vehikel“ haben.
Und wenn die etwas kratzt, lassen sie ein Gesetz machen. In diesem Fall: eines, das das Bemalen eines Hauses als „Sachbeschädigung“ definiert, obwohl dabei nicht der geringste Schaden entsteht. Die anderen hingegen können sich nicht wehren, die müssen die demütigende Beleidigung einfach hinnehmen, an der sie jeden Tag auf dem Weg zur Blödarbeit vorbeihasten, ohne sie ausblenden zu können: Deine Immobilie wäre Gold wert, wenn du eine hättest! Hast du aber nicht, ätsch! Und deswegen gehört dein Leben uns, und weil das Loch, in dem du haust, ebenfalls Gold wert ist und auch uns gehört, schmeißen wir dich da hinaus, wann immer es uns paßt und sobald jemand daherkommt, der noch mehr dafür bezahlt!
So geht das in der Welt, wenn Menschen das gleiche tun und es aber nicht dasselbe sein darf. Ganz gelegentlich mal, wenn Gleich und Selb in gar zu argen Widerspruch gerieten und der Ärger der vielen Benachteiligten den Grummel der wenigen Bevorzugten allzu grell überstrahlte, passierte es früher, daß man handgreiflich wurde. Indes schmeißt der Deutsche dann nur im äußersten Extremfall das nichtsnutzige (Geld-)Adelspack hinaus und quartiert sich in dessen Schlössern und Suiten ein. Normalerweise geht er einen seiner üblichen Sonderwege, die gerne mal in einem Weltkrieg enden.
Zum Beispiel: trafen sich vor dreihundert Jahren (und ein paar Wochen) ungefähr 450 Studenten auf einer Burg, weil sie die Nase voll hatten von Unterdrückung, Ausbeutung und den Vorläufern der Gentrifizierung. Zumindest möchte man das meinen, wenn man liest, was sie im Tagesverlauf ihrer Zusammenrottung so an Forderungen aufstellten: „Freiheit und Gleichheit“ seien „das Höchste, wonach wir zu streben haben“, hieß es da, „die Geburt“ sei „ein Zufall“ und „Vorrechte sind mit der Gerechtigkeit unvereinbar“.
Hoppla! denkt man, vielleicht sogar: Wow! Aber es ist der Deutsche halt ein Deutscher, und so stand gleich im ersten Paragraphen der Forderungen das, was damals und fürderhin als einzige zulässige, wichtige und durchsetzungsfähige Forderung aus solchen Beratschlagungen hervorging: „Ein Deutschland ist, und ein Deutschland soll sein und bleiben.“ Abends, als alles formuliert war, soff man sich besinnungslos, grölte „Ehre! Freiheit! Vaterland“ und verbrannte Bücher. Der Weltkrieg ließ noch auf sich warten, folgte aber unausweichlich.
So geht das beim Deutschen. Hundertzwanzig Jahre später bejubelte er das Sinken der Arbeitslosenzahl unter die Millionengrenze, pfiff auf Ausbeutung, Unterdrückung und den versprochenen „Sozialismus“ und betete einen nagelneuen Adel von Führern und Bonzen an, der zwar ein Haufen krimineller Schweinsköpfe war, aber immerhin dafür gesorgt hatte, daß ein Deutschland war. Wieder verheizte man Bücher. Der Weltkrieg kam diesmal schneller.
Daß dreißig Jahre später schon wieder die Studenten aufbegehrten und schon wieder Freiheit, Gleichheit und so Zeug forderten, lassen wir heute mal unter den Tisch fallen. Was dabei herauskam, ist ja ebenfalls bekannt: die Freiheit, zu konsumieren, eine „grüne“ Partei, deren Führer das Unternehmen Barbarossa wiederholen möchten, und ein paar versprengte Irre, die immer mal wieder den Holocaust leugnen.
Heute wiederum, wo der Deutsche in seiner überwältigenden Mehrheit gründlicher und effektiver ausgebeutet, unterdrückt und überwacht wird als mindestens seit dem mythischen Mittelalter und die Früchte dieser „Entwicklung“ in Form von Gentrifizierungsburgen, gleichgeschalteten Propagandamedien und Millionen von Kameras jeden Tag vor der Nase hat, was tut er da? Er wählt FDP und AfD, grölt moderne Versionen von „Ehre! Freiheit! Vaterland!“, möchte alles, was noch elender daherkommt als er selbst, aus dem Land schmeißen und huldigt dem nicht mehr ganz so neuen Adel von kriminellen Schweinskopfbonzen, weil er insgeheim davon träumt, eines Tages selber in so einen Suitenpalast einzuziehen. Dazu muß man schließlich nur „Leistung bringen“! Und der Weltkrieg? Der dämmert am östlichen Horizont heran.
Auf die Frage, wieso es nicht dasselbe ist, wenn zwei das gleiche tun, und warum er sich diesen Irrsinn seit Jahrhunderten gefallen läßt und weshalb es ihn mehr empört, wenn jemand einen Suitenpalast anschmiert als wenn der Schmierer eingebuchtet wird, und so weiter … kommt er immer noch nicht.
Ich weiß: nicht nur der Deutsche (und schon gar nicht nur der Münchner). Der aber schon auch. Und im Zweifelsfall immer am vehementesten.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 23. Februar 2018

Frisch gepreßt #403: REM „Automatic For The People (25th Anniversary Edition)“


Himmel, wie die Zeit vergeht, wenn sie auf einem Nebengleis mit wenig Bahnhöfen dahinbummelt und wir nicht drinsitzen und ab und zu auf „Halt“ drücken. Fragen Sie mal den Pharao Khufu, der sich bei seinen Zeitgenossen so unbeliebt machte, daß sie seine Pyramide nach einem ortsansässigen Schäfer benannten, um seinen Namen nicht in den Mund nehmen zu müssen. Oder fragen Sie die Pyramide selbst, von der die Geschichtsschreiber, denen Khufu seinen schlechten Ruf verdankt, auch schon nur wußten, daß sie seit ein paar Jahrtausenden in der Gegend herumstand und möglicherweise gar nichts mit Khufu zu tun hatte, sondern noch mal ein paar tausend Jahre älter war und von Göttern oder wem auch immer da hingepflanzt wurde. Da stand sie dann, mindestens 3.800, vielleicht aber auch 100.000 Jahre lang als höchstes (vermutlich) von Menschenhand erbautes Gebäude des Universums, sah Städte und Reiche erblühen und versinken, wurde geplündert und vergessen, bis letzte Woche ein paar Teilchenphysiker mit Hilfe von Myonen feststellten, daß sie einen bislang unbekannten Hohlraum enthält, der nicht zugänglich ist.
Oder fragen Sie Michael Stipe, einen Pharao des 80er-Indie-Rock, der seine Pyramide schlauerweise nicht an einem Ort, sondern in sämtlichen zeitgeisthörigen Plattenregalen der Welt errichten ließ. Danach indes machte er sich bei seinen Zeitgenossen so peinlich und unbeliebt, daß nur noch die geschlossene Kleingemeinde der Alt-Indie-Jünger klandestin alljährlich auf ein neues Monument hoffte. Heute kennt man kaum noch seinen Namen, und wer zufällig den Klang seiner Pyramide erlauscht, wähnt ihn längst im Reich der Toten.
Oder fragen Sie mich nach meiner Geschichte mit Michael Stipe, und ich sehe ein langes Gleis mit ein paar Bahnhöfen. Zwei (oder vier?) goldene Sommerwochen in einer Mansarde am Gärtnerplatz mit TL, die „Murmur“ auf Kassette aus Texas mitgebracht hatte (Rückseite: ein Demo von 3 On A Hill, nie gehört); „Radio Free Europe“ und „Catapult“ im Morgenlicht über den Dächern der Reichenbachstraße, während sie fröhlich mitsummend ihre Socken suchte und der Kaffeekocher augenzwinkernd hüstelte. Eine katastrophisch verregnete Dezembernacht mit K in einer Hütte am Wendelstein, wo der krächzende Kleinfernseher uns einzige Gäste im gelbdunklen Nachtschimmer mit „It’s The End Of The World (As We Know It)“ zu ekstatischen Vereinigungen trieb, deren symbolischer Gehalt morgens im grauen Dauernaß der Autobahn wie eine Bierdeckelpyramide (sorry) zu Pappmaché zerfloß. Ein benebelter Frühherbstnachmittag mit M in einer anderen Mansarde am Nordbad oder nicht weit davon (kein Fenster diesmal), wo die ungeahnt homogene Kraft von „Life's Rich Pageant“ zwischen Giant Sand, Stone Roses und Robyn Hitchcock die klaustrophobische Enge des (ungefähren) Pyramidendachs zu stratosphärischer Ewigkeitsahnung weitete (Doppelsorry!). Und der wild berauschte Winterfrühlingsommerherbst mit C, G, V und I und anderen zwischen vergessenen Festen, Straßen und Clubs, ohne Tageszeit und Wochentag, dauerbeschallt mit „Automatic For The People“, so intensiv, als hätte es damals kein anderes Album gegeben. Gab es vielleicht auch nicht, oder fällt jemandem eines ein?
Danach: Blitzlichter, Peinlichkeiten. Michael Stipe als quäkender lächerlicher Clown mit schlechter Musik. Ein Freundkollege wünschte auf öffentlicher Bühne, er möge bald den Weg des Freddie Mercury gehen. Gemeint war nicht der auf den vielbequatschten Rock-Olymp, böse gemeint war's aber auch nicht; er war nur sauer über die zu Pappmaché zerflossene Erinnerung.
Ein Vierteljahrhundert später lebt das alles plötzlich neu auf beim Wiederhören eines Albums, das tatsächlich seitdem geschwiegen hat, in dem man tatsächlich (ohne Myonen) noch unentdeckte Räume finden kann. Vor allem aber klingen alle zwölf Songs von „Drive“ über die vermeintlich auf ewig totgenudelten „Everybody Hurts“ und „Man On The Moon“ bis „Find The River“ (trotz „Dolby Atmos“, was immer das sein mag) gespenstisch vertraut und zugleich völlig fremd, neu und lockend, da alles, was danach, nach dem Bruch, kam, im Staub der Epochen versunken ist.
Es hilft wenig, in den alternativen Neubearbeitungen und Beigaben (eine Liveaufnahme aus dem November 1992 mit Coverversionen von Troggs und Iggy/Bowie, viele Demos und Videos, 60 Seiten Bildbooklet) nach Aufschlüssen oder Indizien zu suchen – das Monument wahrt sein Geheimnis. Uns bleibt die Magie des Originals.

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Belästigungen 25/2017: Adieu November! (vermischte Nachrichten aus dem Urgrund der Depression)

Wer einen November wie den soeben dahingeschiedenen überstanden hat, ohne wenigstens eine milde Depression in den hierfür zuständigen gräulichen Hinterkopfnebeln zu hegen, dem ist wahrscheinlich nicht zu helfen. Da kam wie immer alles zusammen, was zusammengehört: Kaum hat man herbstordnungsgemäß beschlossen, die Jahreszeit des täglichen Heißbadens sei nun auch mit Hinweisen auf einen angeblich anstehenden Dezembersommer nicht mehr aufzuschieben, haucht der Boiler mit einem diskreten „klick“ sein Leben aus. Der zuständige Handwerker, dessen Aufkleber samt Telephonnummer und der Ermahnung zum alldreijährlichen Entkalken seit elf Jahren ungenutzt am Rand des verblichenen Großgeräts klebt, zeigt sich hiervon ungerührt: „In nächster Zeit“, teilt er mit, habe er keinen Termin frei, „und auch auf längere Sicht nicht.“
Längere Sicht? Der Blick in den Novembernebel findet kein Ziel, das diesen Ausdruck rechtfertigen könnte. Aber irgend etwas schwärt da draußen, notdürftig, halbherzig und, ähem, durchschaubar übertüncht vom Geschnatter und Gemurre der Meisen, Amseln und Eichkätzchen, die sich beschweren, weil bei „Sonnenaufgang“ (i. e. der minimalen Erhellung des horizontüberspannenden Graus kurz vor Mittag, die knapp zehn Atemzüge später im Duster verglimmt) die Nuß- und Sonnenblumenkernarsenale vor dem Fenster nicht ordnungsgemäß aufgefüllt sind, da der hierfür zuständige Mensch sich nicht überwinden kann, unter dem Blätterteig von circa sieben bis zehn Wolldecken herauszukriechen, unter den er vermutlich irgendwann vor langer Zeit, als tatsächlich noch Sonnen aufgingen, gekrochen ist.
Es ist die Jahreszeit der Zusammenbrüche. Der ehemalige Boiler und sein flüssiger Inhalt sind noch nicht ganz kalt, als die Tasse ihren noch nicht ganz kalten Inhalt über die Tastatur erbricht und der notfällig hervorgezogene Ersatzcomputer mit einem zierlichen „bipp“ solidarisch den ewigen Winterschlaf antritt. Als nächstes ächzt die Kaffeekanne ein letztes Mal und zerspringt in einem suizidalen Aufwallen von Fröhlichkeit zu Porzellanblechschrott. Viel kriegt man davon nicht mit, weil derweil der Staubsauger so gotterbärmlich röhrt, daß man fast froh ist, als er nach zwei Minuten gotterbärmlichem Röhren seinen sowieso vernachlässigbaren Geist endgültig aufgibt.
Das ist erst der Anfang, dessen lebensverneinende Energieauspuffung eine Armada elektrischer und elektronischer Geräte begierig aufsaugt und binnen kürzester Zeit den Dienst einstellt, bis man endlich, umwallt von novemberiger Samtstille, in einem komplett dysfunktionalen Haushalt kauert und sich wünscht, als Wimpertierchen wiedergeboren zu werden. Diese eigentümliche Lebensform nämlich kommt gänzlich ohne technisches Brimborium aus, hat sich seit Devon oder Silur nicht weiterentwickelt, tut tagein, tagaus nichts anderes als essen, kopulieren (und zwar erstaunlicherweise nicht zum Zweck der Fortpflanzung, die durch eine „Quer- oder Längsteilung erfolgt“, sondern nur aus Lust und Laune!) und (so sagt’s das Lexikon) „auf Reize einen langen Proteinfaden nach außen zu schleudern, dessen Funktion allerdings noch nicht ganz klar ist“. So wie beim sinnlosen Geblödel fröhlicher Menschen, dessen Funktion mutmaßlich niemals klar werden wird, weil es sie nicht gibt.
Indes hat das Leben als Wimpertierchen einen großen Nachteil: Es endet nicht. Die Vorstellung, bis zum Sanktnimmerleinstag in einer Pfütze herumzuwimmeln und hie und da einen Proteinfaden nach außen zu schleudern, versöhnt einen nicht mit der Existenz als sterblicher Mensch, sondern verdeutlicht nur noch mehr die Sinnlosigkeit und Traurigkeit des Universums. Aus Verzweiflung, damit sich irgendwas rührt, schaltet man den Radio an, der aus unerfindlichen Gründen noch geht und, zwar aufgrund technischer Innovationen digital brümmelnd und lispelnd, aber kaum mißverständlich, zunächst den üblichen Schlamm von „Groko“-Geplapper, Glyphosat-Verharmlosung und „Merkel will Lohnnebenkosten begrenzen“-Schmarrn ausspuckt.
Dann aber besinnt sich das Gerät und sendet ein Gespräch mit einem Psycho- oder Soziologen oder wie man diese Leute gerade nennt, der verkündet, die gesamte Moderne (hieß die nicht vor ein paar Jahren noch Postmoderne? Egal) sei durch und durch und insgesamt das Zeitalter der Depression, die unweigerlich jeden einzelnen heute (noch!) lebenden Menschen befalle. Und zwar weil: sich etwas ändert! Veränderung, sagt der kluge Mann, ist Urgrund und Auslöser der Depression, weshalb sich in Städten, insbesondere Großstädten, wie München zweifellos eine ist, Schwer-, Mies- und Dunkelmut ganz besonders wild austoben. Er wisse andererseits von Patienten, die ihre große Liebe geehelicht beziehungsweise Millionengeldberge im Lotto gewonnen beziehungsweise nach Jahren im miesen WG-Kämmerchen (sicherlich nicht in München) eine bezahlbare und geräumige Traumwohnung gefunden haben und durch diese vermeintlich freudeträchtige Veränderung in den Abgrund der Depression geschubst worden seien.
Da eröffnet sich ein teuflisches Dilemma: Weil sich alles ständig ändert, sind alle ständig depressiv, aber ändern kann und darf man daran nichts, weil das nur das Gegenteil des Bezweckten bewirkt. Es bleibt mangels Aus- und Umweg nur eines: sitzenbleiben im Schrotthaufen verblichener Technik, den Radio (dessen Schallgewelle die Atmosphäre mutwillig verändert) ausschalten, den trüben Blick durchs Fenster in die depressiven Gesichter von Meise, Amsel, Eichkatz wehen lassen (oder hat jemand jemals einen dieser Erdmitbewohner oder irgendeinen anderen lächeln gesehen?) und im kontemplativen Grau versinken, um festzustellen: Wenn sich erst mal überhaupt gar nichts mehr verändern kann, ist so eine Depression ja irgendwie ganz schön. Oder zumindest gemütlich.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.