Samstag, 27. Juni 2015

Belästigungen 12/2015: Eine Marginalie, freilich, aber so fängt es doch immer an (oder auch nicht)

In den letzten Jahren ist viel von Demokratie, Bürgerrechten und Zivilcourage die Rede – vor allem in der Auslandsberichterstattung, wo es darum geht, dem deutschen Bürger schmackhaft zu machen, daß zwecks Erlangung dieser „Werte“ in anderen Ländern Umstürze, Staatsstreiche und Militäreinsätze unabdingbar sind. Wie gut, salbadern dann stets die Kommentatoren, daß es bei uns eine Verfassung gibt, die die Grundrechte schützt.
Jawohl, gut so, und daß die bayerische Verfassung kaum noch einer kennt, ist ja wurst, solange wohlmeinende Behörden und Beamte dafür sorgen, daß sie weiterhin getreu umgesetzt wird. Verfassungen allerdings gibt es anderswo auch; da steht indes möglicherweise nicht überall etwas von der Zugänglichkeit und Allgemeinverfügbarkeit des öffentlichen Raums drin. Bei uns schon. Da darf man hinein und sich aufhalten, und wenn in letzter Zeit immer öfter Konzerne und internationale Kriegsvereine den öffentlichen Raum für sich beanspruchen, dann ist das halt ein Ärgernis, aber bei weitem nicht so schlimm wie zum Beispiel damals in der DDR oder so.
Circa zweimal täglich trägt mich mein Fahrrad durch den Olympiapark, der zwar von Haus aus schon keine „landschaftliche Schönheit, ist und in den letzten Jahren durch ausuferndes Eventgebimmel so umgestaltet wurde und wird, daß er zeitweise einem überdimensionierten Flipperkasten aus den frühen Achtzigern ähnelt. Aber immerhin ist er ein „Erholungspark“ und bietet nebenbei eine günstige Abkürzung in den schönen Münchner Norden, wo das Leben noch eine Freude ist, weil ihn die Eventbimmler noch nicht „für sich“ entdeckt haben.
Neulich wollte ich da wieder einmal hindurch, als sich mir plötzlich auf Höhe der Schwimmhalle ein stämmiger Mann in der Uniform eines ukrainischen Kombattanten in den Weg stellte, ein Plastikband über den Weg spannte und mich „So, der Herr!“ nannte. Da, sagte er, dürfe ich nicht hindurch. Das dürfe ich wohl, entgegnete ich und ersuchte um eine Erklärung.
Der Park sei zwecks Durchführung einer Rockveranstaltung gesperrt, erklärte er und fügte auf meine Frage, wer sich hier anmaße, die bayerische Verfassung außer Kraft zu setzen, hinzu, dies sei die Stadt München. Einen Ansprechpartner oder eine Beschwerdestelle könne er nicht nennen, die Firmenbezeichnung seines direkten Auftraggebers dürfe er ebenfalls nicht verraten. Ein neugierig herbeischlendernder Polizist teilte mit, die Durchführung derartiger Veranstaltungen entspreche „sicherlich“ der Anlagensatzung. Es sei mir neu, sagte ich, daß eine Anlagensatzung einfach so die bayerische Verfassung brechen dürfe. Er zuckte die Schultern und meinte, das sei „halt so“.
Inzwischen hatte sich eine etwa zehnköpfige Gruppe jugendlicher Radlerinnen angesammelt, die den gleichen Weg hatten wie ich und nun lange Gesichter zogen. „Mädels“, rief ich, „Verbrecherbanden haben den Olympiapark besetzt! Es ist an der Zeit, unser Bürgerrecht zu erkämpfen!“
Sie blickten skeptisch. „Hier ist Zivilcourage gefragt!“ rief ich weiter. „Jetzt sind wir eine Handvoll, aber wenn wir eine Stunde warten, werden wir hunderte sein!“ Der Polizist lächelte unsicher und sagte, das sei doch ein Schmarrn. Die Mädchen, inzwischen verstärkt durch einige weitere Radfahrer, von denen immerhin einer in traditioneller Trachtenkleidung schimpfte, es handle sich um einen Skandal und er könne ja demnächst auch einfach mal den Mittleren Ring sperren, um auf der Fahrbahn Zither zu spielen, dann sei er ja gespannt.
Eine rechte Revolutionsstimmung wollte jedoch nicht aufkommen. Die Mädchen beschlossen, „das“ sei „halt so“, und zogen ab, der Zitherrebell fuhr kopfschüttelnd ebenfalls von dannen. Ein Trupp von Eventwilligen in grimmigen T-Shirts mit Tötungsdrohungen und Abbildungen unirdischer Ungeheuer ließ sich belehren, dies sei kein Eingang und sie müßten eine halbe Stunde Umweg über den Ring, die Lerchenauer Straße und das Olympiadorf in Kauf nehmen, um zwei Meter weiter rechts beim ordentlichen Eingang anzulangen, murrte nicht einmal und setzte auch keine seiner gedruckten Tötungsdrohungen in die Tat um, sondern tippelte unter Mitführung der längst zur Ungenießbarkeit erwärmten Paletten von Billigbier von dannen.
Ich gab nicht so leicht auf und erlangte schließlich von dem Kombattanten die Genehmigung, sein Plastikband zu unterschreiten und über eine Treppe an einer Tut-ench-Amun-Ausstellung vorbei wenigstens eine halbe Abkürzung zu machen. Ob in der Ausstellung erwähnt wurde, wie sehr sich der ägyptische Pharao stets um die Wohlfahrt der ihm göttlicherseits zugeteilten Bevölkerung bemühte, weiß ich nicht. Der Eintritt war zu teuer, und egal ist's außerdem, weil heute sowieso niemand mehr einen wählen oder erkiesen täte, der aussieht wie Freddie Mercury und die Belange der „Wirtschaft“ nicht jederzeit bedingungslos über das Lebensglück der „kleinen Leute“ stellt.
Abends versuchte ich meine Gedanken zu diesem Geschehnis in kämpferische Worte zu fassen, was aber nicht recht glücken wollte, weil vom Olympiapark her stumpfes Dumpfgestampfe scholl, wegen ungünstiger Windlage zeitweise überdröhnt von den Automassen auf dem Mittleren Ring, den der Zithermann offenbar doch keiner Sperrung unterzogen hatte. Irgendwann war das Hirn vom Lärmgetobe lahmgelegt und mürbe; es blieb nur noch die in Bayern immerhin meist verfügbare Gegendröhnung mit notfalls genießbarem Teuerbier und das Fügen in die Einsicht: „Das ist halt so.“
Es gibt ja auch viel schlimmere Mißstände, stimmt's, vor allem im Ausland, und was ist das Recht auf Zugang zum öffentlichen Raum und seinen landschaftlichen Schönheiten gegen das Recht auf Internet, Fernseh, Einkaufen und Rockevents? Was sind dagegen schon Demokratie, Bürgerrechte und sonstiges Geplänkel vor der eigenen Haustür?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Montag, 15. Juni 2015

Frisch gepreßt #340: Blur "The Magic Whip"


Wie unfaßbar bedeutend und absurd depptrottelig lächerlich zugleich Popmusik sein kann, zeigt kaum ein Casus so beispielhaft wie die legendäre „Rivalität“ zwischen Blur und Oasis in der Goldenen Ära des Britpop vor zwanzig Jahren. Da scherte sich eine ganze (internationale) Nation ein paar Wochen und Monate lang um kaum etwas als die Hin-und-Her-Schimpferei zweier Popgruppen bzw. ihrer Hauptprotagonisten, Mitarbeiter und Fans. Vor allem aber bestand die ganze „Welle“, auf der sie ritten und in der wunderbare Bands wie die Longpigs leider untergingen, aus einer hemmungslosen Orgie des In-einen-Topf-Schmeißens, bei der sämtliche Pseudomusikjournalisten der westlichen Welt im Vollsuff der Aftershowparties damit beschäftigt waren, auf alles denselben Stempel draufzuklatschen. Die Plattenfirmen taten fröhlich mit und beklebten ihre Plastikschachteln mit Union Jacks und „Buy British“-Etiketten, bis das mediale Universum aussah wie eine einzige Britparade und niemand das gleichgemachte Zeug mehr sehen und hören wollte.
Dabei sind das Interessante doch die Unterschiede und, hinter ihnen wurzelnd und sie als notwendige Parasiten tragend, die Eigenheiten. Wer sich ohne biographische Vorbelastung (oder auch mit einer solchen) heute „Dan Abnormal“ und „All Around The World“ anhört, braucht fünf Gehirne und drei Phantasien, um zu begreifen, daß beides mal in ein und dasselbe angebliche Genre gestopft werden sollte.
Alles ein Thema für Althistoriker, und zum Glück ist niemand mehr so doof, Querverbindungen herstellen zu wollen zwischen dem kreuzbiederen und stinkestonkfaden Seim, der aus Noel Gallaghers aktueller Platte quillt, ohne mehr als den Eindruck zu hinterlassen, man ertrinke in Leberwurst, und dem neuen Album von Blur, auf dem in den ersten acht Takten des Openers „Lonesome Street“ mehr passiert als auf sämtlichen Oasis- und Gallagher-Alben seit „(What’s The Story) Morning Glory“ zusammen. (War das jetzt doch eine Querverbindung? Oh, Verzeihung!)
Na gut, mag man sagen, sie hatten ja auch Zeit: Zwölf Jahre sind seit dem lauen Abgesang „Think Tank“ vergangen, da sammelt sich trotz mannigfaltigen Solo- und Projektarbeiten schon was an. Aber die heutige Band Blur steht mit allen acht Beinen ebenso fest wie locker federnd in der Gegenwart, und daß man sie trotzdem wiedererkennt, liegt lediglich an ihrer Unverwechselbarkeit und an sozusagen genetisch veranlagten, eben: Eigenheiten.
Der typisch (meinetwegen: britisch, aber längst nicht mehr ungestüm) swingende Groove, die melancholisch angebräunten Harmonieflüsse, der chic herausgestellte Londoner Akzent, die witzigen Ideen, die die Band wie bunten Diamantschnee zwischen die Schichten der (an sich meist klassisch simplen) Songs rieseln läßt, Graham Coxons an sämtlichen Underground- und Avantgarde-Experimentatoren der letzten fünfzig Jahre geschulte (und überall darüber hinaussprießende) Gitarreneskapaden … Das ist so charakteristisch Blur, daß einem plötzlich wieder einfällt, wie ungerecht es war, sie damals in Verknüpfung mit dem gallagherschen Beatles-Getue als Kinks-(und XTC-)Epigonen zu betrachten (auch wenn „Country House“ das gerechtfertigt haben mag).
Viel wichtiger war eine Band, die kaum jemand je mit Britpop in Verbindung gebracht hat: Wire, die vielleicht britischsten, wagemutigsten, solitärsten und größten Grenzgänger der Popgeschichte (deren neues Album übrigens auch grad erschienen ist). Die scheinbar simplen, aber irgendwie auf hypnotische Weise unlogischen Harmonien und an den Rändern verwischten Melodien, der skurrile, immer ernstgemeinte Witz, die verdrehten Ideenfäden, aus denen plötzlich ein Strick wird, der gleich wieder reißt, die vielen schroffen und charmanten Brüche, die provozierte Unschärfe, die Verweigerung gängiger Popstrukturen bei gleichzeitig höchster Poptauglichkeit – all das kann, wer mag, ohne Probleme auf Alben wie „Pink Flag“, „Chairs Missing“ und „Send“ zurückführen.
Ach, wer weiß: Vielleicht wäre es witzig, eine neue Britpop-Thronrivalität zwischen Blur und Wire zu inszenieren. Und sei’s nur um zu zeigen, wie unfaßbar bedeutend und absurd depptrottelig lächerlich zugleich Popmusik sein kann.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Dienstag, 9. Juni 2015

Belästigungen 11/2015: Schleichende Demütigung zwischen Panzerbolidenampeln und sündigem Bauch

Einer der fiesesten Tricks moderner Herrschaft ist die schleichende Demütigung. Die sieht man zum Beispiel an Ampeln: Weil sich München aus Gründen der Propaganda als Stadt der Fußgänger und Radfahrer aufführen muß (um nicht am Ende „lebensunwert“ zu werden), weist man zum Beispiel unsere Straße als „Fahrradstraße“ aus. Das heißt, man klebt entsprechende Beschriftungen aus Plastikteer auf die Fahrbahn, die, wenn bei Temperaturen über null Grad Autos drüberfahren, nach ein paar Tagen unlesbar verschmiert sind, und stellt hier und da noch mehr Schilder auf, als sowieso schon herumstehen.
Ansonsten hat das Ganze keinerlei Wirkung. Die Autofahrer mit ihren Panzerboliden brettern mit dem Telephon am Ohr hindurch wie eh und je und stellen ihre Panzerboliden in die wegen den immer fetter werdenden Panzerboliden nötigen Querparkplätze so hinein, daß die auf den Bürgersteig flüchtenden Radler garantiert nicht mehr durchkommen (ebensowenig wie die Fußgänger, aber die haben ja in einer „Fahrradstraße“ sowieso nichts verloren), ohne die Panzerboliden mindestens zu touchieren und Großalarm auszulösen. Aber immerhin: die Stadt zeigt „guten Willen“.
Andererseits muß München jedoch wie jede andere Stadt die Wünsche und Bedürfnisse der Auto- und Verkehrsindustrie bedingungslos erfüllen und stellt deswegen im Autoreich des Münchner Nordens, wo die Karren hergestellt und verkauft und begeisterten koreanischen Touristen in einem regelrechten „Museum“ vorgeführt werden, dutzende Ampeln für jede noch so kleine Ein- und Ausfahrt auf, so daß ein Radler, der einigermaßen gesund den Mittleren Ring überquert hat, selbst am Wochenende und nachts bei vollkommen leerer Straße und geschlossenen Werks- und Zwingburgtoren circa siebzehnmal stehenbleiben und warten muß, gierig beäugt von der Polizei, die mit derlei widersinnigem Schmarrn ein Heidengeld verdient.
Aber zurück zu unserer Straße. Da gibt es auch Ampeln, die den Fluß der querlaufenden Hauptstraßen kurz unterbrechen sollen, damit nichtmotorisierte Lebewesen hin- und wieder herüberkommen, ohne versehentlich von rasenden Panzerboliden ermordet zu werden. Das nervt die Panzerboliden, weil es wertvolle Sekunden kostet. Also hat man deren Grünphasen vor einiger Zeit kurzerhand und ankündigungslos verdreifacht.
Der Effekt ist klar: Anfangs überquerten Fußgänger und Radfahrer die Straße nach einigem Warten einfach bei Rot, weil sie die Ampel für defekt hielten und die Straße ja nun eh vollgestaut mit stehenden Karren beziehungsweise völlig leer ist. Dann kam die Polizei und kassierte ein Heidengeld. Und heute wird man zum Beispiel am Sonntagnachmittag Zeuge einer geradezu absurden Szenerie der Demütigung: Da steht eine Horde von Menschen eine gefühlte halbe Stunde an einer völlig leeren Straße herum. Und niemand bemerkt die Demütigung, weil sie so schleichend verlief.
Schleichend verlaufen auch andere Dinge. Zum Beispiel die Entwicklung der menschlichen Ernährung. Da vermeint man, wenn man die Trendpropaganda studiert, der moderne Hochleistungs- High-Performer mampfe dermaßen ausschließlich bio, regio, nachhaltig, vegan und bimsi-bomsi-ultrabewußt, daß man sich fragt, wieso das Sortiment der Supermärkte nach wie vor zu 95 aus Müll besteht (der Rest ist Müll mit „bio“-Aufkleber).
Neulich habe ich mal ein Männermagazin durchgeblättert. Ich weiß, jetzt lachen alle, aber die Liebste war beschäftigt, ein Buch nicht zur Hand, der Computer kaputt, und das Ding hatte ein offenbar halbvernünftiger Zeitgenosse ungelesen (zumindest ohne die Parfumproben zu entnehmen oder reinzukotzen) im Biergarten liegengelassen. Und außerdem habe ich diese Männermagazine aus meiner späten Kindheit in guter Erinnerung. Da waren immer Interviews mit Terroristen, Filmregisseuren und anderen Wahnsinnigen drin, Texte von Bukowski, Truman Capote, Woody Allen, notfalls auch mal Wolf Wondratschek, aber jedenfalls nicht von Franz Josef Wagner, Marc Beise, Ijoma Mangold und Konsorten. Und es gab schlüpfrige (aber manchmal ganz witzige) Witze sowie viele Bilder von nackten Püppchen, die so aussahen, als wäre Sex mit ihnen ungefähr so reizend wie eine Grillparty in einer Kaufhaustiefgarage mit Folienkartoffeln aus dem Auspuffrohr eines VW Käfer. Was einen in gewissen spätkindlichen Sehnsuchtszuständen recht gut trösten konnte: lieber gar nicht als so.
Heute gibt es in so einem Männermagazin: Autos (d. h. Panzerboliden: „Wenn man es schon selbst nicht tut, dann soll wenigstens das Auto das Maul aufreißen“ – das hört er gern, der „Arbeitgeber“), Interviews mit den Herstellern von Panzerboliden sowie Klamotten, Karrieregeschwafel, noch mehr Karrieregeschwafel, ein bisserl „Personality“-Geschwätz von dummen Millionären und Leistungssportlern („Ich habe mir immer genau das abverlangt, was von mir gefordert wurde“ – das hört der Boß noch lieber), Klamottenreklame und vor allem: Essen. Und zwar: Fleisch. Weil der moderne Quality-High-Performer jedoch ein solcher ist, frißt er nicht mehr einfach so Spare-ribs (zur Erinnerung: Das ist das Zeug, das vor zwanzig Jahren alle fraßen, bis sich herausstellte, daß es „Soulfood“ ist – also die Reste, die Obdachlose in amerikanischen Großstädten aus den Müllcontainern der Schlachtfabriken klauen und in Ölfässern so lange anbrennen lassen, bis man sie mit viel Salz, Pfeffer und Glutamat notfalls essen kann, ohne am nächsten Morgen zu sterben). Und falls doch, dann kauft er sie beim Nobelfleisch-Outlet, nennt es einen herzhaften Schweinebauch und schmiert ein Pfund Honig drauf, weil das dann „sündig“ ist und nicht mehr einfach nur eine üble Sauerei.
Und ansonsten frißt er: Burger. Zur Erinnerung: Das ist das Zeug, mit dem ein paar US-Konzerne vor dreißig Jahren auch deutsche Schulkinder in Ölfässer zu verwandeln begannen, in denen man jedoch nicht mal Soulfood anbrennen kann, weil man sonst Diabetes kriegt. Aber freilich ist der heutige Burger nicht mehr der 1-Mark-Hackdreckfladen mit Weizenwatte, einem schwermetallverseuchten Salatblatt, einer angeblichen Tomatenscheibe aus Holland und auf Wunsch etwas „Schmelzkäse“ (einem Mansch aus Eiweißresten mit giftigen Salzen) von dazumal. Sondern ein irgendwie bioregionachhaltiger Hackdreckfladen mit leicht krustiger Weizenwatte, einem schwermetallverseuchten Salatblatt, einer angeblichen Tomatenscheibe aus Holland und auf Wunsch etwas „Gouda“ (einem Mansch aus Eiweißresten mit giftigen Salzen). Also dasselbe, aber jetzt voll männlich, doppelt so fett und nicht mehr eine Mark teuer, sondern zehn bis zwanzig Euro.
Den gibt es heute überall da, wo es früher Essen gab, seit in jedes ehemalige Speiselokal ein Burgerbrater hineingezogen ist, und den dreht man sich dann samt extrafetten Pommes vor der Glotze in den Schlund, rülpst zufrieden, glotzt eine Regiobionachhaltigkeitssendung über moderne Ernährung und blättert hinterher auf dem Klo in der Männerzeitschrift, um noch mehr Lust auf Burger und „sündige“ Schweinebäuche zu kriegen.
Und dann, irgendwann, ist man so gedemütigt, daß man selbst dann nicht mehr aufstehen und sich wehren könnte, wenn das mit der angefressenen Riesenplautze noch hinhauen täte. Weil's halt so schleichend ging, daß man gar nichts gemerkt hat. Schon fies, gelt?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Mittwoch, 3. Juni 2015

Frisch gepreßt #339: Vierkanttretlager "Krieg & Krieg"


Unser Rezensent hat ein ernstes Problem mit Bezugsdeppen. Bezugsdeppen, das sind Menschen, die, statt eine Sache zu würdigen, einen Bezug zu einer anderen Sache herstellen und sie damit abtun. Also zum Beispiel findet jemand eine wunderschöne Glasperle im Dreck an der Bushaltestelle, zeigt sie dem Bezugsdeppen, und der Bezugsdepp sagt: „Na ja, eine Perle halt. Sieht bißchen so aus wie die, die ich letztes Jahr im Wald gefunden habe. Hab ich weggeworfen, weil ich schon eine zu Hause hatte.“
Aber schau mal die Farben, den Schimmer, die Lichtbrechung, den Glanz! sagt unser Rezensent, und der Bezugsdepp führt ihn über die Straße zu einem Perlenladen, wirft die Perle in irgendeinen Topf mit vielen Perlen und sagt: „Eben. Sehen alle gleich aus. Alles schon mal dagewesen.“
So geht es unserem Rezensenten immer, wenn er alle paar Jahre eine neue Band zur geilsten Band der Welt oder wenigstens der nächsten vierzehn Tage ausruft. Dann kommen die Bezugsdeppen und stellen unmögliche Bezüge her, um die Bands abzutun: Bei Howler haben sie ihm The Trashmen ans Knie genagelt, bei Wanda wollten sie ihm Falco hinters Ohr klemmen, bei Herrenmagazin haben sie Blumfeld und bei Findus Ton Steine Scherben aus dem Keller geholt. Und bei Vierkanttretlager sind die Allerschlauesten gleich mit der kompletten „Hamburger Schule“ dahergekommen, ohne auf den Gedanken zu geraten, daß es ohne u. a. Wedding Present, Wire und Münchener Freiheit und notfalls Robert Johnson und die Schrammel-Brüder keinen einzigen Ton von Blumfeld gäbe und Die Sterne mehr Ähnlichkeit mit den Bee Gees haben als mit diesen Burschen, die noch dazu aus Husum kommen, was die Bezugsdeppen nicht anficht: „Eben! noch hamburger als Hamburger!“
Verzweifelt fragt unser Rezensent, wieso denn niemand auf die Idee kommt, mal zu fragen, wieso die Bands zum Beispiel in Deutschland (oder gerade da) seit Jahrzehnten immer besser werden. Ob das vielleicht damit zu tun haben könnte, daß sie lieber viel hören und noch mehr lernen, als sich in den Keller zu setzen und dreimal täglich „Wir müssen alles vergessen und was völlig Niedagewesenes tun!“ zu beten. Und ob vielleicht nicht das Neue mit dem Alten, sondern das Alte mit dem Neuen zusammenhängt und das insgesamt total egal ist.
Denn freilich verstrahlt ein Lied wie (nein, eben: das Lied) „Laß uns den Verstand verlieren“ eine ähnlich unfaßbare Euphorie, alle Rahmen und Radioprogramme sprengende Radikalität und die orgasmische Melancholie des triumphierenden Verlierers wie Sportfreunde Stiller damals auf ihren ersten beiden EPs, aber aus tausend Kilometern Entfernung sieht ein Apfelbaum so ähnlich aus wie ein Kirschbaum, und trotzdem sind Äpfel keine Kirschen, ist ein Garten mit einem einzigen Baum traurig und es absolut nicht einzusehen, weshalb es untoll sein soll, wenn die guten Dinge mehr werden.
Vielleicht ist der Bezugsdepp, der gerne mal als moderne Witzfigur mit Diekmann-Bart, Hütchen und getönter Sonnenbrille um seinen inneren Gärtnerplatz herumkreiselt, allzu sehr vom Erbe des Monotheismus geprägt: Gott darf es ja auch nur einmal geben, und wenn jemand weniger doof ist als ich und mehr Spaß hat, dann halten wir ihm das Wort der Bibel oder des Propheten entgegen! Ja mei.
Unser Rezensent dreht dann gerne die Lautstärkeregler auf, weist auf die aberwitzigen Gitarrenfiguren auf seiner neuen Lieblingsplatte hin, auf die unglaublichen, todesmutigen Strukturen und Arrangements, auf die Liebe, Mühe und Genialität, die in diesem wunderbaren Krach steckt. Hört euch, sagt er, die Geschichten an, die diese Lieder erzählen, die beim Hören in eurem Kopf entstehen und die diese Songs erst zu richtigen Songs machen, weil sie so funktionieren, wie Jeff Buckley das unserem Rezensenten mal erklärt hat: Sie sind „… hm, ein Bild vielleicht so klein wie eine Briefmarke. Du trägst es eine Woche in der Hosentasche spazieren, und wenn du es dann in Wasser legst, wird es so groß wie ein Fußballplatz.“
Wenn er ganz geschert ist, legt unser Rezensent dann „Der letzte Satz der Welt“ auf, und dagegen kann sich wirklich kein Mensch mit Herz und Seele wehren. Dann reißen wir die Fenster auf, dann ziehen wir los, schießen uns mit der eisig stolzen Postpunk-Melancholie von „Jetzt für immer“ in die Stratosphäre, heulen zu den vernichtend schönen Ballade „Schweigen“, sprengen den Perlenladen in die Luft und lachen und brüllen so laut, daß es der ganze Planet hört: Vierkanttretlager sind die geilste Band der Welt oder wenigstens der nächsten vierzehn Tage.
Und das sind dann eben die geilsten vierzehn Tage der Welt. Oder so. Ohne Bezug.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Dienstag, 2. Juni 2015

Belästigungen 10/2015: Ich und die Krakenschwester bei der Toten Armee (inkl. Farbeinspritzung und DNA-Kneifzange)


Die Finger sind manchmal kaum mehr als ein Werkzeug, das das Unterbewußtsein (oder das Überbewußtsein? Wer weiß so was schon!) einsetzt, um seinem Protest gegen die Zumutungen des Alltags ein Ventil zu verschaffen, das ordentlich zischt.
Das zeigt sich bei der Haupttätigkeit des modernen Tätigkeitlers: dem Drauftippen auf Tasten, wodurch angeblich sinnvolle „Informationen“ erzeugt werden, die man dann hinaussenden kann in die Welt, damit die Menschen zu informierten Menschen werden und ihre Lebensqualität ein Ausmaß erreicht, das vor dem Informationszeitalter ungeahnt war – also etwa im Garten Eden, dessen Bewohner über keinerlei Information verfügten, abgesehen von einem vagen botanisch-disziplinarischen Hinweis (und übrigens auch keinerlei Tätigkeit nachgingen).
Ich hege im allgemeinen kaum mehr Lust auf Tätigkeiten als weiland Adam und Eva, und deshalb wird mein Unterbewußtsein bisweilen grimmig, wenn man es zu arg schlaucht. Das ist das eine. Das andere ist die Sache mit den „Informationen“, bei denen es heutzutage weniger auf selbige als vielmehr auf die Auslastung der Kanäle zu ihrer Verbreitung geht. Die hat, wie man so sagt, „Priorität“.
Das heißt – und das weiß jeder, der schon mal eine Tageszeitung aufgeschlagen oder versehentlich den Radio eingeschaltet hat: Was da so in die Welt hinein informiert wird, ist im Zweifels- bis Normalfall egal. Und weil auf der Welt zwar viel, aber so viel auch wieder nicht passiert (und man über einen großen Teil davon aus Rücksicht auf „Interessen“ gar nicht informieren darf), haut man den gleichen Schmarrn halt gleich fünf- bis hundertmal hinaus, und wenn der eine Depp plärrt, der vollkommen berechtigte und bewundernswert mutige Streik der Lokführer sei eine Erpressung und ein Skandal, dann plärrt der nächste Depp den gleichen Blödsinn eben noch lauter und schnippelt ein paar Empörungsbriefmarken von „Betroffenen“ in die Desinformation hinein.
Man könnte das Manipulation nennen. Ich nenne es heute mal Redundanz. Ähnliches tritt auf, wenn mal wieder ein Jubiläum daherkommt, zum Beispiel das der Befreiung der deutschen Konzentrationslager. Zweifellos war es eine höchst erfreuliche Sache, daß die Rote Armee vor siebzig Jahren nach Deutschland hineinmarschiert ist und die Deutschen daran gehindert hat, noch mehr Millionen von Menschen umzubringen. Und angeblich sind ja inzwischen sogar die Deutschen selber ganz froh darüber; schließlich haben sie das alles ja bloß getan, weil es einer dieser Führer, nach denen Gestalten wie Arnulf Baring heute so gerne schreien, verlangt hat und sonst ganz sauer geworden wäre.
Indes ist das alles weitgehend bekannt; es gibt jede Menge Bücher und Dokumentationen dazu, die man sich bloß mal wieder durchlesen oder anschauen müßte, um nichts davon zu vergessen und sich plötzlich, weil nicht informiert, auf einem Pegida-Aufmarsch wiederzufinden. Aber leider gibt es auch die erwähnten Kanäle. Die dürfen zwar ohne weiteres fünf- bis hundertfach im Chor das gleiche plärren, aber eines dürfen sie ganz bestimmt nicht: auf Informationen hinweisen, die bereits vorliegen. Weil die jeder schon hat und keiner mehr zu kaufen braucht.
Also müssen neue Bücher und neue Dokumentationen her, in denen das bereits Bekannte neu „aufbereitet“ wird, am besten dem Zeitgeist angepaßt (also „Deutschlands neuer Stärke“ oder wie man das nennt, und ein bisserl Russenbashing wird derzeit auch gern genommen). Und noch besser: mit neuen, bislang nicht bekannten „Informationen“. Und dann muß ein armer Kerl wie ich sein Unterbewußtsein damit quälen, einen Text aus dem amerikanischen Englisch zu übersetzen, in dem niegelnagelneue Augenzeugen zu Protokoll geben, im KZ sei es „horrible“ und „terrible“ gewesen und „terrible“ und „horrible things“ passiert, und wenn meinem Unterbewußtsein das Waterboarding mit den redundanten „terrihorrible“-Varianten zu viel wird und sein Kragen platzt, bemächtigt es sich meiner Finger und tippt zum Abreagieren eine „Krakenschwester von der Toten Armee“ in die Zeilen, über die sich, falls kein Lektor dazwischengeht, zukünftige Generationen möglicherweise wundern. Oder auch nicht, bis dahin gibt es ja längst fünf Trilliarden neue Bücher.
Vielleicht wird einfach insgesamt zu viel auf Tasten herumgetippt, denke ich mir jedenfalls dann, trete in einen unbefristeten Streik und radle zum Bahnhof – nicht um mich solidarisch den Lokführern anzuschließen, die ja gar nicht da sind, sondern hoffentlich im Biergarten sitzen und neue Pläne zur Brechung der Macht der Bahnvorstände schmieden (die sich übrigens, so hört man, gerade ganz ohne Streik die Prämien auf eine knappe Million pro Kopf verdoppelt haben). Sondern um die Liebste vom Zug zu holen und beim Absitzen und -stehen der (nicht streik- sondern fahrplanbedingten) Verspätung noch schnell ein paar „Informationen“ einzuholen, um die Lebensqualität weiter zu steigern.
Und da lese ich auf einem Fahrkartenautomaten den folgenden Hinweis: „Unsere Automaten“, schreibt … hm, nun ja, jemand, „werden mit Diebstahlschutz durch unsichtbare DNA-Markierung und Farbeinspritzung gesichert.“
Und während ich vorsichtig einen großen Schritt von dem Automaten wegtrete und mir ein wahrhaft horribles und terribles Szenario vorstelle, bei dem mir von einer amerikanischen Krakenschwester von der Toten Armee mit einer überdimensionalen Kneifzange die DNS „markiert“ und mittels Injektionsnadel alle möglichen farbigen Chemikalien in den Körper hineingespritzt werden, damit ich nicht auf die Idee komme, einen Fahrkartenautomaten zu diebstehlen, frage ich mich, ob mein Unterbewußtsein (oder das Überbewußtsein von … hm, nun ja, jemandem?) nicht manchmal ein Stück zu weit geht.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1-400 gibt es in vier Bänden als Buch.