Montag, 23. Juli 2018

Belästigungen 13/2018: Herzlich willkommen im Jahr 1600!

„Du bist ein Zyniker!“ schimpft T, legt das Buch mit älteren Folgen dieser Kolumne zur Seite und atmet tief durch.
Das sei, wenn auch nicht so gemeint, ein Lob, sage ich und zitiere aus dem verwaschenen Gedächtnis den großen Ambrose: Ein Zyniker ist ein Mensch, der die Welt so sieht, wie sie ist, nicht so, wie sie sein sollte. Daher rührt der alte Brauch, allzu frechen Zynikern die Augen auszustechen, um ihren Sehfehler zu korrigieren.
„Nein“, sagt T, „ich meine das anders. Ich meine den anderen Zynismus! den schlimmen!“
Und schon muß ich mal wieder etwas weiter ausholen. Gut, sage ich, fangen wir mal bei Marx an. Ist es nicht erstaunlich, daß in den letzten 170 Jahren die Weltbevölkerung, die Wirtschaftsleistung und der Reichtum einer kleinen Klasse geradezu explodiert sind, während der Planet selbst, die Kontinente, das Sonnensystem und fast der gesamte Rest des Universums im wesentlichen gleich groß geblieben sind?
„Wirtschaftswachstum“, sagt T. „Ein alter Hut.“
Stimmt, sage ich. Marx hat uns erklärt, daß zwei Sachen für das gesamte Bruttosozialprodukt verantwortlich sind: Kapital und Arbeit. Durch seine Arbeit erzeugt der Arbeiter einen Mehrwert, den ihm der Kapitalist wegnimmt, um einerseits in weiteres Wachstum investieren und andererseits reich werden zu können. Das behauptet die „Wirtschaftswissenschaft“ – die bekanntlich keine Wissenschaft, sondern eine Religion ist, die jede Behauptung, These und Theorie erlaubt, solange sie gottgefällig ist – im Grunde bis heute.
„Ja und?“ sagt T.
Nun ist es aber so: Wenn man alles zusammenrechnet, was Kapital und Arbeit in den letzten 170 Jahren so zusammengerackert haben, bleibt ein Loch. Eine Lücke von 50 bis 60 Prozent. Die „Wirtschaftswissenschaft“ bezeichnet sie als Solow-Residuum, weil wohl ein Herr Solow als erster draufgekommen ist und „Residuum“ so chic wissenschaftlich klingt. Wo kommt das her?
Ja nun, da hat wohl ein Heiliger Geist mitgemischt, wie er das in einer anderen Religion auch gerne tut. Die „Wirtschaftswissenschaft“ nennt ihn „technischer Fortschritt“, aber so blöd wollen wir mal nicht sein; bleiben wir lieber beim Heiligen Geist, der also folglich periodisch Benzinmotoren, Smartphones, Laptops, Mondraketen und Atomkraftwerke vom Himmel schmeißt, ohne daß dafür Kapital und/oder Arbeit nötig wären.
„Das ist doch ein Schmarrn!“ sagt T.
Genau, und deshalb heißt es „Wirtschaftswissenschaft“. Zum Glück gibt es Physiker. Der Heilige Geist verschwindet nämlich stante pede und rückstandslos aus unserer Rechnung, wenn man bedenkt, daß die explodierende Menschheit in den letzten 170 Jahren etwa 300 Billionen (300.000.000.000.000) Liter einer vordem nur als Kuriosum bekannten Substanz verbrannt hat, die wir der Einfachheit halber Öl nennen wollen. Diese Substanz hat die Arbeit geleistet, die dafür gesorgt hat, daß sich die Weltbevölkerung in einer historischen Millisekunde versiebenfacht und der Reichtum der gewissen Klasse vermilliardenfacht hat.
„Gut“, sagt T, „irgendwie klar. Und jetzt?“
Jetzt? Jetzt geht das Öl zu Ende. Die derzeit seriösesten Schätzungen gehen davon aus, daß für die Reste, die man mittels Fracking und anderer Giftschmutzorgien aus dem Boden wringt, ungefähr im Jahr 2030 mehr Energie eingesetzt werden muß, als drinsteckt. Das ist wie wenn man am Chinesischen Turm zwei Liter Bier abgeben muß, um eine Maß zu kriegen, nur mit dem Unterschied, daß dann niemand mehr zwei Liter Bier hat.
„Aber es gibt doch erneuerbare Energien! Sonne! Wind!“ schwärmt T.
Klar, auch wenn sie selbstverständlich nicht „erneuerbar“ sind: in Deutschland zur Zeit etwa 28.000 Windenergieanlagen und 19 Millionen Quadratmeter Solarzellen. Die tragen 6 Prozent zum gesamten Energieverbrauch bei. Nötig wären also zusätzlich ungefähr 250.000 Windanlagen und 200 Millionen Quadratmeter Solarzellen. Schwierig. Zudem gibt es einen Nachteil: „Erneuerbare“ Energie ist defizitär. Das heißt: Man muß mehr Öl hineinstecken, als sie ersetzen kann. Das geht also auch nur bis ungefähr 2030, dann ist Schluß.
„Hm“, sagt T schon weniger euphorisch. „Atomkraft? als Zwischenlösung?“
Geht auch, sage ich. Allerdings müßten wir dann allein in Deutschland bis 2030 hundert neue Atomkraftwerke bauen. Acht bis neun pro Jahr, das möchte ich erst mal sehen. Abgesehen davon, daß es die Massen Öl, die dafür nötig sind, wahrscheinlich gar nicht mehr gibt, lohnt sich Atomkraft aber auch nur dann, wenn man auf sämtliche Nebenkosten pfeift, die durch den dabei entstehenden Dreck, Schrott und Müll und seine Jahrmillionen lange sichere Lagerung anfallen. Ganz abgesehen von den sich durch die schiere Zahl der Anlagen häufenden „größten anzunehmenden Unfällen“ und Super-GAUs, nach denen ja auch irgendwer aufräumen und die Sperrzonen bewachen muß.
„Na gut“, stöhnt T. „Wie lautet deine Lösung?“
Ich habe keine, sage ich. Nur eine Vermutung: Wer sich hinstellt und den Leuten erklärt, was Sache ist, den werden sie als Zyniker bezeichnen und sich daranmachen, seinen Sehfehler zu korrigieren. Also rackern wir einfach weiter wie gewohnt. So wie ein Mopedfahrer, der mit seiner Liebsten nach Berlin aufbricht und kurz hinter Dachau feststellt, daß sein Tank fast leer ist. Zum Umkehren ist es zu spät: Da müßten sie spätestens ab Schleißheim schieben, und der Typ müßte auch noch zugeben, daß er ein Depp ist. Also fährt er einfach weiter und sagt: Da wird schon noch eine Tankstelle kommen, bestimmt! Wenn dann doch keine kommt, wird ihm schon irgendwas einfallen.
„Das ist zynisch!“ protestiert T.
Eben. Und wenn ich jetzt sage, daß die derzeit stattfindenden Kriege um das letzte Öl im Nahen Osten bloß das Vorspiel zu dem allerletzten, extremen Krieg um die allerallerletzten Reste sind, der sich vielleicht nur noch deswegen verhindern läßt, weil dafür nicht mehr genug Öl da ist, und daß nach diesem Krieg eine Menschheit, die ungefähr so zahlreich ist wie im Jahr 1600, da weitermachen wird, wo sie im Jahr 1600 aufgehört hat, allerdings unter stark erschwerten Bedingungen, – was bin ich dann?
„Uff“, sagt T. „Gehen wir ein Bier trinken?“
Freilich. Das gab es 1600 auch schon.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

Frisch gepreßt #413: The Vaccines "Combat Sports"


Es ist April, da ist der Kleiderschrank dran, genauer gesagt: die Kollektion an Lieblingsband-T-Shirts der letzten zehn Jahre. Hach, sweet nostalgia! Da schwellen Erinnerungen heran an zweisame Frühlingsspaziergänge, Knutschnächte und Bombenparties von 2011, 2013, 2015 … Howler: Wie war das schön! (Jordan Gatesmiths neue Band heißt übrigens Wellness; die dritte von drei sehr erfreulichen EPs erscheint diese Woche, aber ehrlich: Wer zieht ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Wellness“ an?) Palma Violets: the world‘s best-kept big time secret – Nummer-eins-Hits, die niemand kennt, ein zweites Album, das niemand kennen muß, und der mutmaßlich letzte handgeschriebene Liebesbrief dieses Jahrzehnts. (Über Nachfolgebands ist derzeit nichts Konkretes bekannt.)
Und worin kleiden wir uns 2018, in diesem seltsamen Jahr, in dem Gitarren längst noch nicht wieder in Mode kommen können, weil der Kühlschrank randvoll ist mit Resten von der letzten Aufwärmparty? (Man kann sich da irren, vgl. 2001 und The Strokes, späterhin Mitgastgeber fast jeder Aufwärmparty und dieses Frühjahr in Person von Julian Casablancas und The Voidz schon wieder am Kühlschrankfüllen.)
Wenn sonst nichts da ist: nehmen wir The Vaccines. Und schwindeln ein bißchen. Wir verraten zum Beispiel einfach nicht, daß es die Band schon seit 2010 gibt. Wir sagen auch nichts vom NME-Cover im Jahr 2011 und diversen Best-new-Band-Polls. (Daß die Jugend des Jahres 2025 unter „NME“ nur noch ein kryptisches Wortspiel aus einem Sex-Pistols-Song verstehen wird, sagen wir auch nicht.) Wir müssen nicht erwähnen, daß ihre Covers schon immer enorm T-Shirt-kompatibel waren, weil wir sonst gefragt werden, wieso im Lieblingsband-T-Shirt-Kleiderschrank zwischen (circa) Vacationer und (circa) Vibrators eine Lücke gähnt.
Wir müßten sonst zugeben, daß wir das Nummer-eins-Album „The Vaccines Come Of Age“ (schon das zweite, pst) vor fünfeinhalb Jahren zwar hin und wieder gehört haben, zumindest die Singles „No Hope“ und „Teenage Icon“, aber wer sollte davon viel mitbekommen in einer Zeit, die mit der Palma-Violets-Debütsingle „Best Of Friends“ dermaßen zuasphaltiert war, daß zwischendurch höchstens immer noch „America Give Up“ die Ohren enteinseitigen durfte? Nein, drum sagen wir all das nicht.
Des weiteren verschweigen wir die kurzzeitig aufflammende Freude über die „Melody Calling“-EP, weil die auch schon wieder fünf Jahre lang darauf wartet, ein Playlist-Revival zu erleben, und wir dann eventuell in der Bredouille säßen, noch ein Album (das zum Glück keine Hits zu bieten hatte) aufzählen und beiläufig gemeinsame Auftritte mit den Rolling Stones (nach denen sie einen Song benannt haben, der auch noch ziemlich cool ist), Arcade Fire, Stone Roses, Red Hot Chili Peppers, Muse und weiterem Kühlschrank-Kram „einräumen“ zu müssen (und das das Schlimmste ist, was man jemandem antun kann: ihm ein solches Etikett draufbappen). Wir lassen auch die Jesus-&-Mary-Chain-Vergleiche weg, weil sie nicht mehr gelten und wir das „Darklands“-T-Shirt vor Jahren verloren haben.
Wir sagen drum lediglich dies: The Vaccines sind irgendwie eine neue Band (mit zwei neuen Mitgliedern), weil sie sich auf „Combat Sports“ anhören wie nicht wirklich was sonst (auch nicht wie die nicht erwähnten früheren Platten), aber ein ähnliches Gefühl auslösen wie … ähem, Big Star in einem Jahr, das lange genug her ist, um sich zu fragen, ob es da überhaupt schon Kühlschränke gab. Wir sagen: Songs wie „Put It On A T-Shirt“ (!), „Your Love Is My Favourite Band“ und „Surfing In The Sky“ sind schon als Titel Grund genug, den Kühlschrank auszuleeren. Wir sagen: „Young American“ ist ein Lebenssong von annäherndem „This One‘s Different“-Kaliber. Wir sagen: „Combat Sports“ ist eine so prall volle, überschäumende Kiste voller glitzernder, funkelnder, tobender, glänzender, umhauender, trotziger, witziger, elektrisch geladener und hyperarrogant kommerzieller (aber nicht konventioneller) Popmusik, daß mehr dazu nicht gesagt werden muß; alles weitere verkünden die Gitarren, und wenn die nächstes Jahr plötzlich doch wieder in Mode kommen, dann tragen wir ein T-Shirt, das der Welt erklärt, wieso das so ist.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 16. Juli 2018

Belästigungen 12/2018: Hilfe! Ich habe mich in einen Rahmen hineingedacht!

Framing ist eine ziemlich fiese Technik, deren Wirkung sich der Mensch ebensowenig entziehen kann wie eine Katze dem Flügelgezappel eines Jungvogels oder dessen aufziehbarer Imitation. Da mag sich der aufgeklärte Modernbürger der eurodeutschen Demokratur noch so mündig und autonom wähnen – dem Framing kommt er nicht aus.
Zum Beispiel habe ich mir, um im Zeitalter allgemeiner Vernetzung Musik hören zu können, einen Lautsprecher gekauft. Lustigerweise wohnt in diesem Gerät eine (offenbar) junge Dame, die gelegentlich Anfälle von Unberechenbarkeit zeigt. Neulich, wegen eines unmenschlich früh angesetzten Zahnarzttermins von diversen Weckern aus dem Schlaf gepeitscht, stand ich in der Küche und hatte mir mittels Kaffee, Ramones-Musik und Autosuggestion soeben einigermaßen erfolgreich eingeredet, ich sei fit wie ein Ventil (oder wie man das sagt).
Plötzlich meldete sich die Dame (nennen wir sie A.) zu Wort: „Hier ist eine Auswahl von Naturgeräuschen zum Einschlafen!“ Umgehend begann es in der Küche zu rauschen wie an einem Meeresstrand, und ich konnte dem Impuls, mich „kurz“ hinzusetzen und sechs Stunden später wieder aufzuwachen, nur durch Androhungen selbstverstümmelnder Gewalt widerstehen.
Klassische Beispiele für Framing begegnen uns täglich, stündlich, jederzeit. Man schaltet den Radio ein und bekommt wegen einer bestimmten Werbung für Körnerflocken sofort große Lust, das gesamte Schwabenland mit NATO-Draht einzuzäunen. Vor allem aber wirkt die Dauerbehämmerung mit gewissen „Themen“: Daß in Bayern ein erstaunlicher Anteil der Bevölkerung in Dauerangst vor „Terror“ lebt und diese bohrende Sorge automatisch mit Menschen islamischen Glaubens in Verbindung bringt, liegt nicht daran, daß dieser „Terror“ eine echte Bedrohung wäre (so wie etwa der Autoverkehr, an dessen Folgen in Europa jährlich 600.000 Menschen sterben), sondern an der Impertinenz, mit der offenbar eigens dafür gegründete Radiosender ohne Unterlaß die Begriffe „Terror“, „Islam“ (und „Börse“) in die Welt trompeten, samt Nachklapp in der wochenendlichen Volksempfänger-Talkshow mit dem Titel „Flüchtlinge und Kriminalität – die Diskussion“. Genau: „die“. Eine andere (etwa „Flüchtlinge und Kapitalismus“) kann es nicht geben.
Zwischendurch melden sämtliche Kanäle die Ermordung eines Journalisten in der Ukraine, der angeblich „kremlkritisch“ gewesen sei, lassen dazu den Namen „Putin“ fallen, und schon erwacht im Unterbewußtsein das Gespenst des russischen Monsterbären, der Westeuropa zu verschlingen trachtet, und der momentan tätige Bundespräsidentendarsteller „mahnt“ eine „Aufklärung“ an.
Hinterher stellt sich heraus, daß die ganze Geschichte ein ziemlich idiotischer Schwindel war und der Journalist gar nicht tot ist. Das erklärt man medial mit schwurbelig-wirrem Geheimdienst-Blabla, und sechs Monate später (wollen wir wetten?) ist von dem ganzen Fake nur noch in Erinnerung, daß „der Putin doch damals auch schon“ usw.
Daß in der Ukraine tatsächlich (u. a.) Journalisten ermordet werden, und zwar eine ganze Menge, und daß diese im Normalfall nicht (nur) „kremlkritisch“ sind, sondern das mittels Staatsstreich installierte kryptofaschistische Kleptokratenregime im eigenen Land durchleuchten wollten, glaubt einem hingegen kein Mensch, weil man so was ja noch nie gehört hat. Notfalls hilft eine Art Ablenkungshypnose, indem zum Beispiel die Zeitungstitelseite an die Fußball-WM in der argentinischen Militärdiktatur 1978 erinnert und munkelt, in Rußland finde 2018 das gleiche statt.
So geht das ständig. Hören (und folglich denken) wir das Wort „Zitrone“, schmecken wir förmlich die Säure im Mund. Sagt einer „Wachstum“, brodelt im deutschen Bravmenschen die Arbeitsmotivation hoch. Fällt das Wort „Griechenland“, schmerzen uns sofort die Trilliarden von Euros, die von unserem Steuergeld abgesaugt und in die Hosentaschen fauler Mittelmeerkommunisten gepumpt wurden.Daß in selbigen Taschen nie ein einziger Cent davon angekommen ist, ist eine Information, die man sich notfalls schon mal aufdrängen läßt, die aber sofort wieder verblaßt wie ein Regenbogen nach dem Junigewitter, weil das assoziative Sirenengeheul, dem wir an jeder Straßenecke ausgesetzt sind, einfach zu laut und zu dauerhaft plärrt. Wenn dann zwischendurch Italien an der Reihe ist und eine der Parteien, die die letzte Wahl gewonnen haben, niemals ohne den Zusatz „populistisch“ erwähnt wird, springt auf der Stelle die Übertragungsautomatik an.
Iran? Atomprogramm! Israel? Gazastreifen! Palästinenser? Militant! Wahlen? Die Märkte beruhigen! Asyl? Massenhaft! Ermittlung? Fieberhaft! Lohn? Zusatzkosten! Steuer? Senkung! Fachkräfte? Mangel! FC Bayern? Rekordmeister! Es nimmt kein Ende, und das Allerfieseste ist, daß man auf die alles durchdringende Dauerhypnose durch „Themen“-Auswahl und Zusammenhangzwang nicht mal hinweisen darf, ohne mit Vokabeln wie „Putinversteher“ und „Verschwörungstheoretiker“ bombardiert zu werden und sich fragen lassen zu müssen, ob man neuerdings AfD-Anhänger sei, wegen „Lügenpresse!“ und so. Weil der Frame, in dem der Homo papageiens lebt und denkt, sozusagen doppelt abgesichert ist, indem für jeden, der einen anderen Gedanken, ein anderes „Thema“ auch nur „andenkt“, die entsprechende Tonne bereitsteht. So schließen sich die Reihen, und wer nicht für uns ist, ist für die anderen!
Framing ist nichts Neues. Schon unsere Groß- und Urgroßeltern erlebten, daß man nur oft genug Wörter wie „Jude“, „Bolschewismus“ und „Führer“ hören muß, um in einen Gedankenfuror zu geraten, der beim Deutschen meistens dort endet, wo er mittlerweile wieder angekommen ist: an oder ein Stück jenseits der russischen Grenze. Hinterher wacht man dann auf und ist vollkommen ehrlich überzeugt, von all dem nichts gewußt zu haben.
Dabei wissen wir doch alles. Und vor allem wissen wir: Diese „anderen“ gibt es gar nicht. Und „uns“ gibt es in diesem Sinne auch nicht. Sondern überall auf diesem Planeten gibt es annähernd unzählige Menschen, die nichts lieber täten als fröhlich in den Tag hineinleben, im Sommer in Flüsse und Seen springen, sich zärtlich in den Armen liegen und lustige Lieder singen. Die anderen: das sind die, die uns daran hindern. Und die uns dazu bringen, uns selbst daran zu hindern.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.