Dienstag, 15. März 2016

Frisch gepreßt #359: Rihanna "Anti"


Obacht, der Mainstream-Drücker steht vor der Tür! Armer Kerl, freilich, will ja auch bloß sein Brot verdienen, indem er Klingeln putzt und jedem, der ihm in die Quere kommt, sein Zeug ins Hirn reibt, damit der es sich dann ins Trommelfell reibt und solcherart („Was? Noch nicht gehört!?“) weiter verbreitet.
Jetzt steht er da, betrachtet die Hirnbriefkästen und beschließt mal wieder, seine Sprachzugehörigkeit ein paar tausend Kilometer umzudefinieren, um „Keine Werbung! Wir wollen Müll vermeiden!“ nicht entziffern gekonnt zu haben. Und schmettert sein Zeug hinein, das die Beschallungsbeauftragten der Super- und Drogeriemärkte dann loszuwerden versuchen, indem sie es so beharrlich abspielen, bis die CD leer ist. Wird sie aber nicht.
Lustig ist, daß niemand merkt, wie sich der Begriff „Mainstream“ und sein Inhalt in den letzten Jahren verändert haben. 2005 zum Beispiel galt alles zwischen PC-Game-Elektro und – ja, z. B. Rihanna als Mainstream, insbesondere die Eisenbahnladungen von synthetischem „R&B“, die derart genormt fließbandmäßig erstellt und in die Weltlandschaft gepumpt wurden, daß sich ernsthafte Musikfeuilletonisten damit nur dann tippend beschäftigten, wenn ein gescheiter Name draufstand (d. h.: einer, der durch eine gewisse Haltbarkeit „Relevanz“ bewiesen hatte; im Zweifelsfall Madonna). Freiwillig anhören tat sich derlei: niemand.
Ernsthafte Musikfeuilletonisten zuckten damals im Indiefieber und berauschten sich gegenseitig mit Begeisterungselogen über Bloc Party und immer mehr andere neue Bands, von denen es bald so viele gab, daß die Unterschiede und Eigenheiten im Sumpf der Fließbandnorm versanken.
Heute sind davon im Grunde nur Bloc Party übrig, die der neue und ein etwas anderer Mainstream sind: Zwar muß sie niemand im Drogeriemarkt über sich ergehen lassen, aber beschäftigen tut sich gefälligst JEDER damit, zu Befehl! Das neue Album anzuhören ist dafür nicht unbedingt nötig, die Kritiken sind auch eher lau bis mau, aber mei: Pflicht ist nun mal Pflicht. Wer keine Meinung hat, ist off, out und anti!
Dabei war es doch mal so chic und schön und persönlichkeitsbildend, anti zu sein! Da muß man sich nicht schämen, wenn man sich der Pflicht entzieht und statt dessen ein Album auflegt, das schon „Anti“ heißt, rein äußerlich soooo viel interessanter aussieht als das banale Bloc-Party-Ding und nach zehn Jahren Indiezwang zumindest Abwechslung verspricht. Und man möcht's nicht glauben: Es lüftet das Hirn fast so ähnlich wie damals „Silent Alarm“.
Beim ersten Durchlauf darf ruhig nebenher noch der Staubsauger oder die Waschmaschine laufen – die trotzig-traurige Stimme in der gläsernen Statik der ersten Single „Work“ fällt trotzdem auf, gerade weil sie (wie auf einem großen Teil des Albums) mit der terroristischen AutoTune-Software verfremdet ist. Und wenn der Finger bei der klassisch-hypermodernen Ballade „Love On The Brain“ nicht automatisch nach dem Ausknopf (des Haushaltsgeräts) tastet, tut er's spätestens bei dem noch viel mitternächtlicheren, nur von Klavier und zaghaften Synthetikstreichern begleiteten Finale „Close To You“. Dann kommt der zweite Durchlauf, diesmal mit ganzem Ohr, der viel Überraschendes, überraschend Überraschendes und zwischendurch auch einigen Schrott findet, was sich insgesamt zu einem vergnüglichen, bisweilen nachdenklichen Abend ohne Halligalli und Glitzerblitzer amalgamiert. Der mit etwas Koinzidenz sogar lebensgeschichtlich im Gedächtnis bleibt.
Apropos Verweigerung: Hits sind hier nicht wirklich drauf, zur Beschallung eines Kindergartenfaschings eignet sich die Platte auch nicht, und ein Kritiker meinte: „Letztlich wirkt das Album nicht, als wäre es der Künstlerin nicht gelungen, ihre Vision durchzuziehen, sondern als hätte sie gar keinen Bock gehabt, eine Vision zu entwerfen.“ Hinzu kommt: Wer im Bemühen um sozialdistinktiven Mehrwert die „Deluxe Edition“ kauft (die normale gibt es als Download kostenlos), kriegt eine Nase gedreht: Die drei Bonustracks sind so übel, daß man Rihanna förmlich hämisch lachen hört (an einem davon war übrigens Ex-Bloc-Party-Produzent Paul Epworth beteiligt, so schließt sich der Kreis). Und so was („Ever get the feeling you've been cheated?“) nannten manche Leute früher mal: Punk, hä hä.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 12. März 2016

Im Regal: Hanna Lemke "Gesichertes" (eine exemplarische Kritik der Institutsliteratur)


Man meint, jüngeren Lesern das schon erklären zu müssen: daß vor einem guten Jahrzehnt einmal eine „Literatur“ in Deutschland mehr aufpilzte als -blühte, die in „Instituten“ gelehrt wurde, nachdem sie Kulturhampelmänner wie Hellmuth Karasek zum „Sound einer Generation“ erhoben hatten, die aber kaum mehr als der verspätete Neuaufguß des „Sounds“ von Raymond Carver war, oder sagen wir: dessen, was sein Lektor Gordon Lish daraus zusammenmontiert hatte und was nun die „Lakonie“ zu einem fast ebenso häufig in der Gegend herumgeworfenen Modewort machte wie ein Jahrhundert zuvor die Hysterie. 1991 (drei Jahre nach seinem Tod) war dieser Rudimentär-Carver in den USA berühmt geworden, 1993 durch Robert Altmans Verfilmung „Short Cuts“ weltweit, 1998 durch Judith Hermanns Bestseller „Sommerhaus, später“ auch in Deutschland, wo dann auch bald eine Werkausgabe erschien, die zur Hauptlektüre der jungen Menschen wurde, die sich in „Literaturinstituten“ versammelten, um zu lernen, wie man so schreibt und genauso viel Erfolg hat wie Judith Hermann.
Das wäre alles höchstens für spezialisierte Literaturhistoriker von Interesse, hätten nicht gleichzeitig die Verlage beschlossen, es endgültig aufzugeben, Manuskripte zu lesen, und statt dessen lieber immer mal eine Handvoll möglichst photogen-schwermütig dreinglotzender Institutsschüler aufzugabeln, um sozusagen per Schrotschuß „die neue Hermann“ zu generieren – oder am besten zehn, dreißig, fünfzig davon. Hängt man die Titel dieser zwischen 2000 und 2006 erschienenen Bücherflut aneinander, ergibt sich tatsächlich eine Art hübsches Gedicht, mit dem weitgehend alles gesagt ist über all die aufgeblasenen Banalitäten zwischen den Deckeln, abgesondert von jungen Menschen, die ganz offensichtlich noch nie etwas erlebt hatten, sich auch nichts vorstellen und schon gar nicht mit Sprache umgehen, sondern einfach ein bisserl was in den Laptop tippen wollten, um fortan als hofierte Modeliteraten im Café zu sitzen, in die Vormittagstrübe zu melancholisieren und nebenbei vielleicht mal ein „Open Mike“ zu gewinnen.
Irgendwann flaute der Sandsturm der Beliebigkeiten dann wieder ab und machte völliger Orientierungslosigkeit Platz. Eine wirkliche junge Literatur, die auch und vor allem zweitere Bezeichnung verdient gehabt hätte, ließ sich nicht mehr „etablieren“ (da hätte man zumindest mal Manuskripte lesen müssen, zumindest die, die nicht aus den nach wie vor weiterwurstenden Instituten kommt; doch, die gäbe es durchaus), also verließen sich die Verlage auf ganz Alt- und Hausbackenes. Was auch nicht so sehr zog, von Daniel Kehlmann abgesehen, der allerdings den Nachteil hat, daß er schreiben kann und sich so leicht weder imitieren noch aufgießen läßt und daß von den Berufslektoren auch keiner nachvollziehen konnte, wieso der eigentlich so erfolgreich war. Die Instituts-„Literatur“ indes wurstet, wie gesagt, unablässig weiter, erzählt nach wie vor das gleiche (nämlich nichts: von Menschen, die in leeren Zeitlupenalltagen herumhängen und dies und das tun, zum Beispiel bedeutungsschwanger rote Limonade trinken, Telephonhörer anstarren und berühren und Geldscheine vom Balkon wehen lassen, bis es dunkel wird, immer wieder), aber inzwischen in einer „Sprache“, die vermuten läßt, daß auch die Lektoren neuerdings „Institute“ besuchen (oder gar nichts mehr tun außer roter Limonade zu trinken, Telephonhörer zu berühren und Geldscheine vom Balkon wehen zu lassen).
Hanna Lemke, 1981 geboren, hat vier Jahre lang (!) am „Deutschen Literaturinstitut Leipzig“ „studiert“, einer mittlerweile besonders notorischen Einrichtung, nach deren Absolvenz man offenbar nur in der Lage ist, Stilblüten abzusondern, als wär's ein Karneval: „Es war, als würden sie so tun, als seien sie erwachsen“ ist nur eines von vielen Beispielen, die schon nach ein paar Seiten die Vermutung nahelegen, das alles sei am Ende als Parodie gedacht auf die Instituts-„Literatur“, die aber wahrscheinlich nur derart zur Selbstparodie verkommen ist, daß sie und der ganze hohle Betrieb um sie herum es schon lange nicht mehr merken. „Erzählt“ wird in diesen Geschichten von pappkameradenhaften Protagonisten, die dies und das tun, während sie in einer weltlosen Welt herumtaumeln, die es gar nicht gibt und wo es nichts gibt, weil man das ja erst einmal erdenken, ersinnen und sprachlich fassen müßte. Wenn dann auch noch einer davon sagt: „Kannst du mich alleine lassen, bitte, kannst du mich bitte, bitte alleine lassen“, ist die Parodie bei der Carverei selbst angekommen (der erste Band der Werkausgabe hieß damals „Würdest Du bitte endlich still sein, bitte ...“), und bei „Und das Schlimme, also das wirklich Schlimme an dem Film war, es war ein totaler Kitsch“ ist weitgehend alles gesagt – den Film kennt man, ohne ihn je gesehen zu haben (es gibt ihn wohl auch nicht), das Buch, das da verfilmt wurde, mag man nicht noch ein fünfzigstes Mal aufblättern, mit wieder neuem Titel und neuem „Talent“-Photo auf der Klappe.
Wie ertragen diese Menschen dieses vollkommen leere Lesen, Schreiben, Lesen? fragt man sich kopfschüttelnd, legt das Zeug dann aber doch einfach weg, zieht ein altes, gutes Buch aus dem Regal und denkt, daß das alles wahrscheinlich irgendwann doch von selber wieder verschwinden wird, wenn es niemand mehr beachtet.

geschrieben am 18. Februar 2010 aus reiner Notwendigkeit, ohne Auftrag und Aussicht auf Veröffentlichung

Frisch gepreßt #358: Suede "Night Thoughts"


Ich weiß nicht, ob es für oder gegen die 90er oder für oder gegen die Zehner oder für oder gegen beide oder gegen die Wirksamkeit der dazwischenliegenden Nuller als Filter oder Damm oder Nährboden oder alles drei oder für gar nichts und gegen ebenso wenig spricht, jedenfalls: gehen die 90er einfach nicht weg. Oder vielleicht waren sie zwischendurch mal kurz draußen an der frischen Luft, das hat aber keiner bemerkt, weil wir so intensiv ins Gespräch oder den Sex oder irgendwas anderes vertieft waren?
Da sind sie jedenfalls, wieder, immer noch, wer weiß. Sicher ist: Wenn 1993 jemand gesagt hätte: „Wir werden auch in 23 Jahren hier sitzen und uns neue Alben von Skunk Anansie, Tortoise, den Tindersticks, Bonnie Prince Billy, Suede und meinetwegen Dream Theater und Terrorgruppe anhören, die genauso klingen und aussehen werden wie heute!“, dann hätten wir höchstens milde gelächelt, ihn getätschelt und ihm nötigenfalls etwas über den Fluß der Zeit, der Mode und der Entwicklung erzählt.
Und jetzt? Hätte der vermeintlich arme Irre in vielerlei oder fast jeder Hinsicht recht, und wir müssen wägen, ob das gut oder schlecht oder egal ist. Schlecht könnte sein, daß keine Zeit für neues Neues bleibt, wenn man sich mit neuem Alten beschäftigt, aber wer mag entscheiden, ob es das wert gewesen wäre? Gut andererseits ist, daß neues Altes Erinnerungen weckt und man was zu erzählen hat, von damals.
Suede: waren mal die größte Band der Welt, zwei Sommer und Winter und zwei titanische Alben lang, umflirrt von Chaos, Glamour, Sex, Drogen, Sensation und Aufruhr, von epischen Träumen, gebrochenen Herzen und der Vision einer anderen Welt, in der es den dumpfen Stumpfrock der Crossover-, Grunge- und Alternativewichte nie gegeben hatte, sondern Bowie, Roxy, Jobriath und Cockney Rebel den Staffelstab der Popmajestät nach einer kurzen Auffrischung durch Punk und New Wave direkt an Brett Anderson übergaben, der mit seiner antarktisch coolen Bande von genialen Outcasts von Tag eins an einen Ewigkeitshit nach dem anderen in die trostlosen Straßenschluchten der kapitalistischen Metropolen schoß.
Es folgte die Supernova mit dem dritten Album, das den zuvor mit Bernard Butler angehäuften Brennstoff an Wahnsinnsideen fast restlos abbrannte, und der erst taumelnde, dann katastrophische Sturz ins Nichts. Gut so, dachten wir damals, denn „Suede“ und „Dog Man Star“ werden für immer bleiben und nie ein Molekül an romantischer Größe, an melancholischer Wucht und Kraft verlieren (zumindest solange niemand „A New Morning“ auflegt). Eine Halbreunion als The Tears und nette Soloalben von Brett Anderson schmierten Balsam auf bisweilen aufreißende Narben, heilend war indes vor allem die reifende Einsicht, daß einmal Erlebtes eben für immer bleibt und gar nicht wiederhergestellt werden muß.
Aber schließlich: war der Kern von Suede (und, nicht zu vergessen, schon von Roxy Music) schon immer eine Art paralleluniversaler Nostalgie: die Sehnsucht nach Zeiten, die es (so) nie gegeben hatte. Wie überhaupt im Zentrum jeder wirklich guten Popmusik das schwarze Loch der jugendlichen Grunderfahrung schwärt: Vergeblichkeit. Drum kann man nicht anders, als „Night Thoughts“ hören zu müssen, in der zitternden Erwartung der herbeigesehnten Enttäuschung.
Und dann stellt man fest, daß die eher ideell ist, daß schon Songtitel wie „Pale Snow“, „Outsiders“ und „No Tomorrow“ im Herzen Saiten erklingen lassen, an die Richard Oakes mit seinen meinetwegen immer noch epigonalen, aber wirksamen Riffs nur sanft zu rühren braucht, die Brett Andersons nach wie vor grandiose Stimme und seine Melodiebögen fast zum Reißen spannt. Mag sein, daß der orchestrale Pomp dieses neuen Albums höchstens eine Reminiszenz an „Dog Man Star“ sein kann, es ist aber meilenweit „echter“ als der unentschlossene, nur teils inspirierte Aufguß von vor drei Jahren, und wahr ist auch, daß die Imitation einer Geste manchmal fast so schön sein kann wie die Geste selbst.
Geben wir uns also hin, eine wundervolle gute Dreiviertelstunde lang, und wenn der letzte Nachhall von „The Fur & The Feathers“ verklungen ist, dann ziehen wir die schweren Samtvorhänge wieder auf und erblicken vielleicht: eine neue Welt.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 11. März 2016

Belästigungen 04/2016: Vernunft 2016: Wir stellen das Mühlrad verkehrt herum auf und reden dann mit dem Bach!

Jedes Jahr das gleiche blöde Ritual: Erst kommt irgendein Amt oder eine Behörde zu der Erkenntnis, daß die „Schere“ zwischen Arm und Reich im verflossenen Jahr mal wieder weiter aufgegangen ist und insgesamt immer mehr aufgeht. Die Regierung sagt dazu normalerweise nichts, höchstens daß sie sich bemühe, um was auch immer. Dann kommen die Leitmedien (SZ, FAZ etc.) daher und stellen fest, daß das schon seine Richtigkeit habe und nicht weiter schlimm sei, schließlich sei Deutschland im Durchschnitt recht wohlhabend und es gehe ja auch den Armen hier noch besser als anderswo.
Was wahrscheinlich stimmt, aber egal ist, weil man immer jemanden findet, dem es noch schlechter geht – notfalls sorgt man dafür selber, indem man mal wieder ein Land in die Steinzeit bombt, weil dort „der Terror“ haust. So oder so: gibt es genug anderes zu vermelden, was fürchterlich, erregend und schlimm ist und selbstverständlich keinesfalls etwas mit der Anhäufung von immer gigantischeren Reichtümern in den Klauen von immer weniger Erdbewohnern zu tun hat.
Zum Beispiel eine „Flüchtlingskatastrophe“, die darin besteht, daß Menschen auf dem Erdball, den sie bewohnen, auch nicht anders reagieren als zum Beispiel Mäuse und Schnecken in einem Garten: Wenn der allmächtige Gärtner auf die Idee kommt, alles, was an irgendwie Genießbarem in „seinem“ Garten sprießt und reift, in den Schuppen hineinzuraffen, obwohl er so viel niemals mampfen kann, dann muß er sich nicht wundern, wenn die Mäuse und Schnecken ihr Naturrecht selber in die Hand nehmen und irgendwie in den Schuppen hineinschlüpfen. Da hilft weder Gift noch Falle noch Stacheldraht, und wenn der Gärtner im Furor seines Haßneids das Zeug lieber vernichtet, als es dem Geziefer zu gönnen, dann haben wir eine Kreatur vor uns, die die Welt nicht versteht und der man deswegen auch keine Verfügungsgewalt darüber gewähren sollte.
Von der anderen Seite marschieren derweil die notorischen Sozialromantiker heran und bringen ihre gewohnten Vorschläge in Stellung: Der ganze Wahnsinn mit der ungerechten „Verteilung“ (ein typischer Euphemismus, der das Trugbild erzeugt, da stehe irgendwo ein lieber Gott mit unsichtbarer Hand herum, der die Früchte der gesamtgesellschaftlichen Arbeit verteilt und dem dabei halt ein bisserl das Augenmaß verrutscht ist) wäre ganz leicht zu beheben, indem man an ein paar „Stellschrauben“ dreht. So empfiehlt etwa der sicherlich ehrenwerte und wohlmeinende Heiner Flassbeck in seinem aktuellen Buch „Nur Deutschland kann den Euro retten“: „Die Herausforderung für Deutschland besteht darin, seine Unternehmen zur Rückkehr zu Bedingungen zu überreden, unter denen sie viel weniger verdienen und viel mehr investieren.“
Das klingt auf den ersten Blick vernünftig, o ja, weil die dahinterstehende Logik so logisch und verlockend ist: Wenn nur der Reiche etwas weniger schnell noch reicher (oder gar ein bißchen ärmer) wird, sei alles gut, weil eigentlich mögen wir uns ja allesamt und wollen letztlich nur in Harmonie gemeinsam wirtschaften und abends die Biergläser zusammenstoßen. Leider hat der gute Herr Flassbeck überhaupt gar nichts verstanden, und deshalb ist an seinem Satz rundweg alles falsch: „Die Herausforderung“ (als wäre die Herstellung gerechter Verhältnisse eine Disziplin der Bundesjugendspiele) „für Deutschland“ (als wäre der Rest der Welt davon nicht oder nicht in erster Linie betroffen) „besteht darin, seine Unternehmen“ (als wäre Deutschland – wer auch immer das im einzelnen sein sollte – eine Art Eigentümer globaler Konzerne) „zur Rückkehr“ (als hätte es das Paradies je gegeben) „zu Bedingungen“ (als könnte irgendwer außer dem Kapital selbst dem Kapital irgendwelche Bedingungen stellen oder auferlegen) „zu überreden“ (als könnte man mit Börsenkursen freundlich plaudern), „unter denen sie viel weniger verdienen (...)“ (was so absurd ist, daß sich jeder Kommentar erübrigt).
Ebensogut könnte man ein Mühlrad verkehrt herum in einen Bach hineinstellen und dann meinen, man bräuchte bloß dem Bach gut zureden, damit er andersherum fließt, und schwuppdiwupp verwandelt sich die Welt in eine Märchenidylle, in der Fuchs und Has und Kapital und Lumpenproletariat nach gemeinsamem Schaffen friedlich am Lagerfeuer sitzen. Ebenso sinnlos ist der immer wieder aufflackernde, scheinbar bescheidene Pseudozynismus, mit dem Leute wie Yanis Varoufakis und Oskar Lafontaine eine „Rettung des Kapitalismus“ herbeizuführen fordern, indem man Zustände, die unerträglich und unmenschlich sind, zumindest davor bewahrt, komplett zusammenzubrechen, weil sonst die Barbarei, die jetzt schon praktisch überall herrscht, angeblich erst so richtig ausbrechen täte.
Und das Kapital? Das sitzt derweil herum, wird immer fetter und fühlt sich auch nicht wohl. Es fühlt sich, so hört man, bedroht, allerdings selbstverständlich nicht von irgendwelchen Vermögens- oder „Reichen“-Steuern, gegen deren Einführung verläßlich die am lautesten plärren, die davon profitieren würden. Sondern vom Gegrummel seiner Opfer, die vielleicht eines baldigen Tages keine Opfer mehr sein mögen und dann eventuell am Watschenbaum rütteln könnten. Es lebt sich nicht sonderlich gemütlich in der Zweitausend-Zimmer-Villa, wenn draußen vor dem Elektrozaun die Verhungernden campieren.
Da ist es ganz natürlich, daß man den Abstand vergrößern möchte, und das geht (abgesehen von ein paar Panikern, die sich in letzter Zeit vermehrt entlegene Ländereien kaufen, um dort in Ruhe vegetieren zu können) dem Instinkt zufolge am besten, indem man noch reicher wird, um sozusagen den Berg, dessen steile Abhänge einen schützen, noch weiter aufzuschütten. So entstehen – zusätzlich befeuert durch Gier, Langeweile und das Wissen, daß es wurst ist, wenn das Geld „verbrennt“, weil eh noch zu viel davon übrig ist – schwindelerregend riskante Finanzmanöver wie die beliebten „Leerverkäufe“, die ungefähr so funktionieren: In einem Schaufenster hängt das Bild einer schönen Gitarre, die tausend Euro kosten soll. „Hör zu“, sagt ein schlauer Berater, „das Ding wird nächste Woche nur noch zehn Euro kosten! Wenn du jetzt hundert Stück davon verkaufst und sie erst nächste Woche bezahlst, nimmst du hunderttausend Euro ein und mußt nur tausend Euro zahlen!“
Ein Irrsinn, freilich. Einer von vielen, die natürlicherweise aus dem Boden schießen wie Schwammerl, wenn genug Geld, das niemand brauchen kann, auf Privatkonten herumliegt und schimmelt. Wer glaubt, solcher Irrsinn lasse sich mildern, eindämmen oder sänftigen, damit der „normale“ Irrsinn noch ein bisserl länger weitergehen kann, macht sich nicht unbedingt der Vernunft und Menschenfreundlichkeit verdächtig.
Manchmal ist das Akzeptieren von Unausweichlichkeiten der erste Schritt zur Einsicht, die irgendwann (fast) von selbst zur Überwindung führt. Möglicherweise.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.