Donnerstag, 27. Juli 2017

Belästigungen 12/2017: Es lebe die Weiße-Tücher-Armee-Fraktion! (ein konstruktiver Vorschlag)

Eine „repräsentative“ Umfrage ergab neulich, daß die Münchner – also hauptsächlich jene Menschen, die sich aus beruflichen Gründen momentan vorübergehend hier aufhalten – München gut und zugleich schlecht finden. Die einzelnen Resultate waren ebenso widersprüchlich: Man wünscht sich zum Beispiel weniger Autos, aber mehr Parkplätze. Was sich so deuten läßt, daß jeder einzelne weiterhin einen Großteil seiner Lebenszeit in Blechkisten absitzen und den Rest der Welt vergasen und totdröhnen möchte, die anderen sollen aber gefälligst darauf verzichten. Wie das halt so ist in einer Leistungsgesellschaft.
Auch daß man die Mieten einerseits zu hoch, andererseits aber das grundlegende System, daß überhaupt jemand Wohnraum vermieten und damit ohne jede Anstrengung stinkreich werden darf, ganz in Ordnung findet, ist ein Widerspruch in sich. Schließlich lautet in jedem Fall, wo man einen „Markt“ zuläßt, das Grundgesetz: Alles wird immer teurer, solange jemand blöd oder gespickt genug ist, dafür zu zahlen.
So ist der moderne Mensch: Er lebt am Rande des Nerven- und Körperzusammenbruchs dahin, verzichtet auf sein Leben, um sich ausbeuten zu lassen, und ist – weil ja alles noch schlimmer sein könnte – im Grunde recht zufrieden, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, die sich aber nun mal nicht ändern lassen, weil man dafür das gesamte Schweinesystem in Frage stellen und aus den Angeln heben müßte und dann am Ende womöglich eine glückliche, gerechte und gesunde Welt herauskäme, aber eventuell ohne Smartphone, Lotterie und Fitneßstudio.
Damit das so bleibt und der moderne Mensch sich weiterhin von der „Wirtschaft“ ausquetschen und mit ein paar windigen Ersatzbefriedigungen abfinden läßt, ohne daß er aufmuckt, murrt oder die Saubande, die ihm das alles zufügt, zum Teufel jagt, wird er tagtäglich und rund um die Uhr dermaßen mit Botschaften zugemüllt und eingesumpft, daß er gar nicht mehr merkt, daß es das München, das er zu mögen und zugleich nicht zu mögen glaubt, in Wirklichkeit überhaupt nicht gibt. Zumindest ist es nicht sichtbar im Tornado der systemstabilisierenden Reklame und Propaganda, die aus allen Rohren und Ecken und von sämtlichen Wänden und sonstigen Flächen bleckt.
Schuld daran ist die uralte Kulturtechnik des Lesens, die einen gewaltigen eingebauten Nachteil hat: Man kann sie, wenn man sie einmal erlernt hat, nicht mehr abstellen. Wer’s nicht glaubt, der radle oder flaniere mal eine halbe Stunde eine beliebige städtische Strecke entlang und versuche auch nur ein einziges Wort, das ihm von Plakatwänden, Zeitungskästen und sonstigen Signalstationen entgegenschreit, nicht zu lesen, sondern lediglich als graphische Erscheinung, als Ornament ohne Inhalt wahrzunehmen: Es ist zwecklos. Es nützt auch nichts, den Mist mit Gegenbotschaften zu verzieren, etwa indem man Zettel mit Aufschriften wie „sexistische Kackscheiße“, „Depp“, „Lüge“ oder „Stoppt den Terror“ draufbappt, weil das flächendeckend sowieso nicht geht und man dann eben auch noch die Gegenbotschaften lesen muß und trotzdem nicht in der Lage ist, einen einzigen klaren, länger als eine Hundertstelsekunde haltbaren Gedanken zu fassen.
Sind wir also hoffnungslos und unausweichlich dazu verurteilt, unser Leben lang ein gequirltes Müsli aus Kaufbefehlen, Denkvorschriften, ideologischen Parolen und sonstigen sinnfreien Unratflocken im Hirnkastl herumzutragen und unser gesamtes Tun und Denken davon lückenlos kontrollieren zu lassen, wenn wir nicht als Eremiten in einer einsamen Klause oder auf einem Berggipfel vegetieren wollen?
Vielleicht hätte ich eine Idee, die zwar viel Arbeit macht, sich aber lohnen könnte. Da es mutmaßlich verboten ist, Plakatwände und Zeitungskästen durch Aufbringen von Malfarbe oder Kleister zum Schweigen zu bringen, böte sich hier eine Gelegenheit, die ungeheuren Bestände an Bett-, Tisch-, Hand und sonstigen Tüchern, die sich infolge jahrzehntelanger großmütterlicher Weihnachtsbeschenkung und unbedachter Schnäppchenkauftätigkeit in unseren Schränken angesammelt haben und vor sich hin lagern, zum Einsatz zu bringen – als wirksamste Waffe gegen die Überflutung durch Schriftmüll. Statt die Sachen weiterhin modern und darauf warten zu lassen, daß sie eines Tages an neue Generationen vererbt werden, die genauso wenig damit anfangen können, holen wir sie hervor, begeben uns hinaus und holen uns unser Verfügungsrecht über den städtischen Raum zurück, indem wir sie über jeden böswilligen Gegenstand drüberhängen, der uns etwas vorschreibt, das wir lesen und damit in unser Denken hineinmontieren sollen.
Welch schönes Bild: eine Stadt, die schweigt. In der keine Hetzzeitung, kein Konsummuezzin, kein Verhaltens- und Meinungsbefehlshaber mehr herumblökt. Die erfüllt ist vom milden Lächeln wehender Tücher, von einer grandiosen, romantischen Leere, in der sich ihre urtümliche Schönheit ausbreiten und widerspiegeln darf und kann wie das Sonnenlicht. In der man wieder phantasieren, träumen, auch grübeln und tiefgründige Dispute führen kann. In der, kurz gesagt, der Mensch wieder lebt und nicht mehr herumgestoßen, gedrillt, drangsaliert und ununterbrochen seelisch versehrt wird.
Und wo wir schon dabei sind: Diesen Sommer droht (mal wieder) ein Overkill der Message-Keiferei, weil die Parteien frisches Geld und Nachschub an Legitimierung ihres üblen Tuns brauchen und daher die kandidierenden Pappkameraden nicht nur als solche in Armeestärke um und an jeden Baum und Laternenpfahl wickeln und kleben werden, sondern auch noch in echt über die Plätze treiben, um uns zu verkünden, was sie plötzlich angeblich alles wollen („Reformen“, „sozialen Ausgleich“ und ähnlich widerwärtige Leerhülsen).
Auch diese aufdringlichen Menschdarsteller verdienen das Tuch! Oder zumindest verdienen wir es, von ihrem hohlen Geplapper verschont zu bleiben. Vielleicht kommen uns in diesem Fall angesichts der überwältigenden Zahl der Politfiguren, die in die Parlamentsbuden hineingewählt werden sollen, unsere muslimischen Freunde zu Hilfe, in deren Schränken sich auch so einiges stapeln dürfte, was man anderweitig nicht mehr braucht?
Diese ganze textile Befreiungsbemühung wäre (vermutlich) nicht mal Sachbeschädigung, sondern höchstens im Einzelfall ein Verstoß gegen das Verschleierungsverbot. Ein läßlicher, möchte man meinen, angesichts des unfaßbaren Gewinns an Lebensqualität für uns alle – letztlich (sorry für den Kalauer) auch für die Betuchten selbst.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 23. Juli 2017

Belästigungen 11/2017: Wem was wie wo und warum droht (und wem was nicht)

Manche Blödheiten funktionieren wie Brennesseln und Ameisen: Man kriegt sie einfach nicht weg, sie nesseln und wimmeln immer wieder aus denselben Ritzen und Löchern hervor, um arglose Menschen zu ärgern. Zum Beispiel trompetete mich neulich auf dem Weg ins Grüne mindestens zwanzigmal die gleiche „Zeitung“1 an: „Jeder 5. Münchner von Armut bedroht!“
Das war zum Glück gelogen, sonst wäre es schlimm: Von Armut bedroht ist bekanntlich so gut wie jeder, selbst der Multimilliardär, der zwar von seinen devoten Ausgebeuteten in Deutschland nichts zu befürchten hat, dem aber sämtliche Steuergeschenke und Spezln nichts helfen, wenn am Börsentheater die falsche Blase platzt. Die einzigen, die tatsächlich nicht von Armut bedroht sind, das sind: selbstverständlich die Armen, weil einem etwas nur so lange drohen kann, bis man es hat. Wer mit vierzig Grad Fieber im Bett liegt und sich Seele und Kehle aus dem Leib hustet, schwitzt, keucht und niest, täte niemals behaupten, er sei „von Grippe bedroht“. Das sind nur die, denen er seine Absonderungen ins Gesicht niest.
Wenn der zitierte Schlagzeilenquatsch wahr wäre, hieße das folglich: Jeder fünfte Münchner ist von Armut bedroht, die anderen vier, mithin achtzig Prozent der Bevölkerung, sind arm. Wie gesagt: schlimme Vorstellung, aber zum Glück nur ein Mißverständnis, das auf eine Lüge zurückgeht – freundlicher gesagt: eine Beschönigung, die vertuschen soll, daß in der insgesamt zweifellos reichen Münchner Stadt ein Fünftel der Bevölkerung arm ist, weil ein anderes Fünftel (oder eher Hundertstel) das anrafft und bunkert, was dem einen Fünftel fehlt. Das geben die, die daran schuld sind – Politiker, die großzügig darauf verzichten, ihre Pflicht zu erfüllen, für eine gerechtere Verteilung der gesellschaftlichen Reichtümer zu sorgen, und sich statt dessen vollberuflich darum bemühen, die Reichen noch reicher zu machen, damit sie ihnen gewogen bleiben – nicht so gerne zu. Nein: sie „räumen“, wie man in diesem Fall sagt, es nicht so gerne „ein“, weil das Wahlvieh sonst irgendwann doch mal sauer wird und keinen Bock mehr hat, den Skandal alle vier oder fünf Jahre mit einem Kreuzerl (egal für wen) zu genehmigen und abzusegnen.
Der Effekt ist in gewisser Weise magisch: Schwupp! gibt es keine Armen mehr, sondern nur noch ein paar Randwürstchen, die irgendwie diffus „von Armut bedroht“ sind, wie man halt im Winter von einer Erkältung bedroht ist. Ja mei, sagt der Empfänger der Botschaft, da muß man sich halt warm anziehen und kalt duschen, ein paar Vitamintabletten einschmeißen, eine Zitrone essen, und wer trotzdem krank wird, ist irgendwie selber schuld und hat’s nicht besser verdient.
Sowieso, kräht der neoliberale Kampfhahn, gibt es in Deutschland eh keine Armut. Die sollen mal nach Afrika oder Asien schauen, da sind die Leute wirklich arm! Während hierzulande eine stetig schwellende Armee von Megawampen ganz offensichtlich keine Sorge haben muß, ihre tägliche Pampenschlacke kiloweise mampfen zu können! Also Schluß mit dem Theater, Ärmel hochkrempeln und anpacken, dann ziehen wir den verkrusteten Karren mit einer Kanonade von „Reformen“ und einer „nationalen Kraftanstrengung“ gemeinsam aus dem bedrohlichen Dreck! (Das unmittelbar folgende „Hä hä!“ wird in den offiziellen Verlautbarungen gerne abgeschnitten.)
Da wären ein paar Dinge anzumerken. Wie ist es zum Beispiel mit der vor allem neuerdings so viel und oft beschworenen „Identität“ des Menschen, die durch kulturelle Teilhabe entsteht und für ein sinnhaftes Leben so unverzichtbar ist wie Kalorien, Vitamine und Flüssigkeit? Die, das lernt man in der Schule, erwirbt man durch den reflektierenden Konsum von Büchern, Filmen, Musik, Museen und anderen Kunstwerken, durch Diskussion und Diskurs, Debatte und Genuß. Daß man dafür Geld braucht, können die Verfechter der neoliberalen Totalreform nicht wissen, weil sie das Zeug in Form von Rezensions- und Leseexemplaren, Vorzugsausgaben, Eröffnungsgalas, Premierenfeiern und Einladungen in diverse Exklusivsalons und andere Buffetsausen samt Kaviar und Promipromo-Klatschreporter dermaßen draufgebuttert kriegen, daß es schon wieder lästig ist. Die stellen, wenn sie großherzig sind, Riesenkisten mit der Aufschrift „bitte mitnehmen“ auf die Straße und verschwenden keinen Gedanken daran, daß ein paar Stadtteile weiter gerade einem bildungshungrigen Jugendlichen eine unbezahlbar teure Abmahnung ins Haus flattert, weil er sich das Zeug, das sie achtlos wegschmeißen, nicht kaufen kann und deswegen „illegal“ heruntergeladen hat. Die jetten auf „Firmenkosten“ (d. h. auf Kosten derer, die arbeiten müssen, damit der Geldquell an der Spitze fröhlich weitersprudelt) durch die Kontinente, hausen in Luxushotels, düsen mit Dröhnkarossen die linke Spur entlang zum subventionierten Opernhaus und scheren sich nicht um die, die all das bezahlen, sich aber selber nie im Leben werden leisten können. Denen bleibt ein kultureller Blechnapf voller Propagandamüll, Fernsehtrash, Nationalsportklamauk und das resignierte Gesamtgefühl, von dem elitären Gehampel und Gebrabbel sowieso nichts zu verstehen, weshalb sie am liebsten AfD wählen, weil die zwar laut Programm die finanzielle Spaltung der Gesellschaft in superreich und ausgebeutet noch viel radikaler vorantreiben will, ihnen aber immerhin ein Ventil anbietet: Zum Ausgleich für die eigene Ausbeutung darf man wenigstens mal wieder ungestraft ein bisserl Ausländer hassen, weil das die geschundene Seele tröstet, und schließlich sind an der Misere immer die schuld, die noch weniger haben und um ein Scherflein betteln. Man nannte das unter Reagan, Thatcher, Kohl, Blair und Schröder mal „Trickle-down-effect“, gab aber öffentlich vor, das genaue Gegenteil zu meinen: Wenn der Papa von der gemeinsamen Familienpizza jeden Tag ein noch größeres Stück frißt, werden automatisch auch die Stücke von Mama, Bub und Mädi größer. Hi hi.
Ob man derartige Zustände, Vorgänge und Entwicklungen „Armut“ nennt, ist wurst. Fest steht, daß es das gibt und daß es keinesfalls denen „droht“, die bereits im Schlamassel sitzen. Sondern (als nächstes) denen, die gerade noch so am Rand entlangbalancieren. Wenn man deren Anteil an der Gesamtbevölkerung der Stadt mal großzügig und äußerst konservativ auf fünfzig Prozent schätzt, müßte die ehrliche Schlagzeile demnach lauten: „Jeder zweite Münchner von Reichtum bedroht!“ Ich bin gespannt, ob wir so etwas irgendwann mal lesen dürfen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 17. Juli 2017

Frisch gepreßt #388: The Vibrators "The Epic Years 1976-78"


Historisch betrachtet war der Übergang von Punk zu Punkrock im Herbst und Winter 1976/77 weniger ein solcher als eine echte Zäsur. Was gerade noch subversiv, extrem, gefährlich und radikal war bzw. mindestens schien, wurde zum reckless but harmless Partyspaß – laut, schnell, schmutzig und zynisch, aber eben: weder Revolution noch Subversion, sondern (nur) Rockmusik.
Die Vorreiter dieser Welle, die in den folgenden Jahren mit tausenden von (meist One-off-, oft selbstproduzierten) Platten wenn schon nicht die Charts, dann doch mindestens die Preßwerke auslastete, hießen The Vibrators und verkörperten sie prototypisch. Im Grunde waren sie zudem der erste „Rock 'n' Roll Swindle“ der Szene, nämlich keineswegs jugendlich-halbverwahrloste Dilettanten, sondern erfahrene Sessionmusiker. Gitarrist John Ellis hatte 1970 mit dem späteren Videoregisseur und James-Bond-Titelgestalter Danny Kleinman die Pubrocker Bazooka Joe gegründet, in deren Line-up-Karussell für einige Zeit u. a. Adam Ant und die Vibrators-Bassisten Pat Collier und Gary Tibbs Platz nahmen und in deren Vorprogramm die Sex Pistols im November 1975 erstmals eine Bühne belärmten. Sänger Ian „Knox“ Carnochan war schon mit Bands aufgetreten, bevor es die Beatles gab.
Seit Anfang 1976 spielten sie mit (relativ) kurzen Haaren, angewachsenen (auch mal Leoparden-)Jeans, Kindersonnenbrillen und Lederjacken kurze, simple, enorm packende Popsongs, die jeden Club zuverlässig in einen Dampfkessel verwandelten. Und gaben sich zugleich große Mühe, die eigene Glaubwürdigkeit zu ramponieren: „Wir haben mit dem Punk-Ding nicht wirklich was zu tun, aber das ist halt jetzt Mode“, ließ sich Pat Collier im Melody Maker zitieren, und daß sie 1976 auf Empfehlung von Chris Spedding bei Mickie Mosts Kitsch-Hitfabrik RAK unterschrieben, sich von Most die Single „We Vibrate“ produzieren ließen und Spedding auf dem Novelty-Song „Pogo Dancing“ begleiteten, war ein schwerer Schlag in die eigene Magengrube.
Aber die Vibrators zeigten erstaunliches Durchhaltevermögen, landeten Anfang 1977 bei Epic und veröffentlichten das Album „Pure Mania“, das in den meisten Punk-Diskographien fehlt und weder bahnbrechend noch verstörend, aber charmant primitiv und partywirksam war und bis heute ist. Ihren wirklich großen Moment hatten sie 1978 mit dem Nachfolger „V2“ und superkompakten Energiebomben wie „Automatic Lover“, „Destroy“, „Flying Duck Theory“ und „Pure Mania“, perfekt bis ins kleinste Detail (etwa die ultraeffektiven Sekunden-Gitarrensoli, angesichts deren Ökonomie wahrscheinlich sogar George Harrison errötete), die sich beim ersten Hören auf ewig ins Ohrwurmgedächtnis brennen.
Den Charts war das leider weitgehend wurst, weshalb die Major-Label-Zeit der Band 1979 schon wieder vorbei war; es folgte ein gutes Dutzend Alben und eine endlose Odyssee der Umbesetzungen, Auflösungen und Comebacks, an denen heute (abgesehen von Jubiläumsfeiern) nur noch Schlagzeuger Eddie Edwards beteiligt ist. Ellis tat sich danach u. a. mit Peter Gabriel und Peter Hammill zusammen, ersetzte von 1990 bis 2000 Hugh Cornwell bei den Stranglers und veröffentlicht elektronische Klangspielereien. Pat Collier arbeitete viele Jahre mit Robyn Hitchcock und produziert im eigenen Studio, sein Nachfolger Gary Tibbs spielte bei Roxy Music und Adam & The Ants, und Knox widmete sich hauptberuflich der Malerei. Mit welcher Vehemenz und uhrwerkartiger Präzision die Vibrators ihre fallweise klassischen Riffs und Refrains herunterbretterten, zeigen vier BBC/Peel-Sessions von 1976 bis 1978 und ein Mitschnitt aus dem Marquee von Juli 1977, die neben fünf Bonustracks diese hübsche kleine Box mit dem Hauptwerk der Band ergänzen. History in a nutshell, so to say.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 12. Juli 2017

Belästigungen 10/2017: Hurra, wir retten die Wissenschaft! (es fragt sich nur, welche)

Kein Tag ohne Schreckensmeldung von Le Frisur im Weißen Haus. Neuerdings, so hört man, ist die Wissenschaft in Gefahr. Und zwar nicht weil weltweit die Mächtigen seit langer Zeit und mit Erfolg alles dafür tun, aus Universitäten und Forschungsinstituten marktkonforme Modulfabriken zu machen, die oben innovative (meist: Militär-)Technik und unten effektiv gedrillte Billigarbeitssklaven ausspucken.
Nein, das stört ja niemanden, schließlich ist es gut für das Wachstum und sowieso alternativlos wegen so Sachzwängen, „Fachkräftemangel“ oder „Bildungsoffensive“ oder wie die Quatschparole halt grad lautet, was soll’s. Aber jetzt kommt der Donald daher und „schätzt“, so heißt es, statt Wissenschaftlern „Ideologen“, die zum Beispiel nicht an die Evolution und die Erderwärmung glauben und überall „Zweifel streuen“ möchten, damit am Ende niemand mehr an die Wissenschaft glaubt. „Regierungen“, zitiert die „Süddeutsche Zeitung“ mit belustigter Empörung einen dieser „wahren Feinde der Wissenschaft“, „treffen schlechte Entscheidungen. Märkte führen zu guten Entscheidungen.“ (Daß dieser gemeingefährliche Stuß in demselben Blatt seit über zwanzig Jahren jeden Tag drinsteht, sei hier nur deshalb erwähnt, weil es in der SZ nicht erwähnt wird.)
Das ist ja ganz was Neues: Daß in den USA Millionen Menschen herumlaufen, die überzeugt sind, die Regierung sei böse und der Markt gut und die Welt sei in exakt sieben Tagen von einem allmächtigen Gott erschaffen worden, daß deren mächtige Prediger von Armageddon schwärmen und mit ihren Fernsehpredigten Milliarden scheffeln, daß dort selbst die höchsten Politiker den biblischen Endkampf zwischen Gut und Böse herbeibeten und noch der kleinste Ausgebeutete das kapitalistische Credo bis ins Mark verinnerlicht hat und in der Freizeit seinem Auto, seiner Knarre und den nationalen Atomraketen huldigt, als wären sie die Inkarnation des Messias – das hätten wir ja nie gedacht, und das hätte es ja nie gegeben unter der aufgeklärten Herrschaft eines Ronald Reagan, Bill Clinton, Bush I. oder II. und Barack Obama (der übrigens die Erderwärmung in „Klimawandel“ umtaufen ließ, weil das harmloser klingt).
Vor allem hätte man das nie gedacht in einem Europa, das demselben allmächtigen Wolkenheini, demselben alternativlosen Wirtschaftsfaschismus und dem gleichen heiligen Automobil huldigt, aber halt noch an Evolution und Klimawandel glaubt, solange sie nicht dem Wachstum in die Quere kommen. Und der Wissenschaft, die zum Beispiel sagt, daß Passivrauchen Krebs erzeugt, Asbest und Dieselgiftgas aber nicht.
Darüber wollen wir gar nicht streiten, auch nicht darüber, daß Wissenschaft in erster Linie darin besteht, Zweifel an religiösen und anderen Glaubenssystemen zu streuen und diesen Zweifeln denkend und forschend nachzugehen. Daß der Urknall ein ebenso putziges symbolisch-allegorisches Szenario der Weltentstehung ist wie die biblische Mär, wissen wir sowieso, und daß uns die Evolutionslehre zwar vieles nicht erklären kann, aber anderseits den Irrglauben an den Fortschritt ins Hirn geimpft hat, soll uns auch nicht so arg interessieren.
Die interessante Frage ist doch, weshalb das alles jetzt plötzlich so wichtig ist. Wieso ausgerechnet die Marktradikalinskis jetzt plötzlich ihre geliebte „Zukunft“ bedroht sehen, weil ein US-Präsident jemanden „schätzt“, der in einer Holzhütte in Nevada oder sonstwo sitzt und irgendwas anzweifelt. Daß der Mensch in den letzten zweihundert (und insbesondere in den letzten fünfzig) Jahren das irdische Klima so ramponiert und ruiniert hat, daß er selbst in absehbarer Zeit den Planeten nicht mehr bewohnen oder zumindest nicht mehr „bewirtschaften“ können wird, ist in Hekatomben von Studien hinreichend erwiesen. Daß dagegen weitere Hekatomben von Studien, Akkorde von Konferenzen mit Millionen Düsenjets und Limousinen, Gebirge von Verträgen, Pakten, Abkommen und Willenserklärungen nicht das geringste bewirken, ist ebenso erwiesen, sicher und absolut klar. Ob ein amerikanischer Hinterwäldler oder Präsident (oder beides in Personalunion) daran glaubt, spielt nicht die geringste Rolle.
Die Ursache des Übels ist auch bekannt: Es ist das von Profitgier getriebene ökonomische Wachstum, an sich und in jeder Hinsicht. Was nötig wäre, um den Planeten noch für einige Zeit oder vielleicht sogar auf lange Sicht bewohnbar zu halten oder wieder zu machen, erklären uns „alternative“ Wissenschaftler seit Jahrzehnten: Das Wachstum muß enden, meinetwegen schrittweise, aber jedenfalls sofort und radikal – weniger Wachstum ist immer noch Wachstum, hilft also absolut nichts, und es grün zu tünchen, ist purer Humbug. Der Mensch muß weniger erzeugen, produzieren, erfinden, verkaufen, verbrauchen und wegschmeißen. Auch das ist so eindeutig, klar und einsichtig, daß an dieser Erkenntnis auf die Dauer kein denkfähiges Lebewesen vorbeikommt.
Es sei denn, man verrußt ihm das Hirn. Nämlich stehen der Erkenntnis mächtige Interessen entgegen: Menschen und Konzerne, die mit Hilfe einer sogenannten Wissenschaft wilde Träume propagieren, von immer neuen Technologien, die die bösen Folgen des Wachstums irgendwie mildern oder mindern und das Wachstum selbst „nachhaltig“ oder „klimaneutral“ oder sonst was Hübsches machen sollen und nebenbei sogar noch neues Wachstum und neuen Profit generieren.
Dafür kassieren sie von ihren Regierungen unfaßbare Geldsummen, auf die sie keinesfalls verzichten mögen, und da kommt es ihnen ganz recht, wenn sie einen Donald als Sündenbock vorzeigen können, der sich der hehren Wissenschaft und dem Fortschritt in den Weg stellt. Einer Wissenschaft, der wir vom Verbrennungsmotor über Pestizide und Atomkraftwerke bis zum Genpatent so ziemlich jeden mörderischen Wahnsinn verdanken.
Aber der Donald kann nichts (oder vergleichsweise wenig) dafür, und die „Wissenschaft“ kann nichts dagegen, daß die Dinge nun mal so sind, wie sie sind. Und anstatt weiter zu erforschen, wie man das Unausweichliche möglicherweise ein bißchen hinauszögern könnte (und es damit im Normalfall noch zu beschleunigen), sollten wir uns vielleicht lieber auf das konzentrieren, was nötig ist. Braucht es dafür eine Wissenschaft? Aber ja. Die gibt es aber längst, und sie kommt ohne Teilchenbeschleuniger, Genlabors, Hybridmotoren und Marsmissionen aus. Und ohne „Markt“, sowieso.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 8. Juli 2017

Belästigungen 09/2017: Der Wolfsmensch und seine Selbstverschlingung

Daß der Mensch des Menschen Wolf sei, ist eine uralte Binsenweisheit, die durch Wiederholung nicht wahrer wird. Schließlich ist der Wolf bekanntermaßen ein höchst soziales Wesen, das niemals auf die Idee käme, seine Rudelgenossen mit Verelendungsmaßnahmen wie Hartz IV zu schikanieren, um sich selbst eine noch fettere Wampe anfressen zu können. Gemeint ist der in allen möglichen Märchen herumlungernde Böse Wolf, bei dessen Antreffen aufgrund seiner sämtliches Maß überschreitenden Gier mit Sofortverschlingung zu rechnen ist, und zwar dermaßen sofort, daß einen ein gütiger Jäger problemlos unverdaut, fit und fidel aus der Wolfsplautze wieder herausschneiden kann. Und zwar ohne daß der Wolf das in seinem hypersatten Mittagsschlaf überhaupt mitbekommt.
Das wirkt, übertragen auf den Menschen, ein bißchen unrealistisch; die Allegorie zwackt offensichtlich an den Hüften und im Schritt. Denn bis heute ist kein Fall bekanntgeworden, wo solch ein gütiger Jäger zur Stelle gewesen wäre, um ein armes Rotkäppchen aus dem Verdauungstrakt des kapitalistischen Wolfsrudels wieder herauszumessern und diesen durch massive Einbringung von Bruchgestein (oder dessen allegoristischer Entsprechung) zumindest vorübergehend außer Funktion zu setzen.
Nein, zum Bösen Wolf im Märchensinn wird der Mensch erst dann, wenn er zum Nachbarn wird. Und selbst dann geht es ihm in den meisten Fällen nicht darum, den durch seine Nachbarwerdung ebenfalls vernachbarten Mitmenschen zu verschlingen. Vielmehr soll dieser durch nachbarliche Penetration, Piesackung und Schikane moralisch und notfalls auch ökonomisch und physisch gebrochen und zur freiwilligen oder zwangsweisen Abwanderung aus dem Revier bewegt werden. Und hier versagen erneut alle Vergleiche, weil das klassische wölfische Wegbeißen dem Menschen aufgrund von Knebelgesetzen und Karies verwehrt ist.
Dafür hat er eine Erfindungsgabe. So baut er sich atomar betriebene Haushaltsgeräte, mit denen sich vor allem spätnachts selbst jahrhundertalte Ziegelbauten zum Vibrieren bringen lassen, ganz zu schweigen von modernen Betonschachteln, in denen unter dem massierten Ansturm der Smoothie-Püriermaschinen kein Steinbrösel auf dem anderen bliebe, wenn man sie nicht durch Einbringung von Spannstahl, Kunststoffgewebe und Carbon so stabil machte, daß ein anderer bekannter Märchenwolf selbst mit Monsterturbinenlungen chancenlos wäre (und andererseits nicht fürchten müßte, durch den Kamin im Kochtopf zu landen und gesotten zu werden, weil es einen Kamin in solchen Bunkern höchstens noch für die Abluft gibt).
Dazu baut er sich Werkzeuge, um Nägel, Schrauben und Haken in Wände und Decken zu donnern, Löcher in Mauern zu sprengen, Böden aufzubrechen, Rigips, Stahl und Hartholz zu fräsen, zu schreddern und zu schmirgeln, alles mögliche zu zerschmettern und zu atomisieren, Laub, Dreck und pulverisierte Hundescheiße wolkenweise durch Straßenschluchten zu blasen. Und er montiert sich an seine Raskiste einen sogenannten „Sportauspuff“, mit dem sich ganze Stadtviertel zu Weißglut und Nervenkrebs terrorisieren und durch punktuellen Einsatz gezielt Schlaganfälle und Infarkte herbeiführen lassen, gerne beim Losbrettern an harmlosen Kleinampeln, um das Kinder- und Seniorengewürm von der Piste zu scheuchen und dem Kreuzungsnachbarn in seinem Töff klarzumachen, daß der Verzicht aufs Blinken beim Abbiegen kein Versehen ist, sondern eine röhrende Klarstellung der sozialen Rangordnung.
Wer Lärm, Gestank und anderen Radau selber nicht so gut verträgt, verlegt sich auf subtilere Methoden und überzieht den ungeliebten Beiwohner mit jahrzehntelangen, millionenteuren Gerichtsverfahren wegen Millimetern, Mikrodezibeln, Sekunden, Pfennigbruchteilen, Unterunterunterparagraphen und Affären aus der vorletzten Nachkriegszeit, wechselt Schlösser, verhängt Fenster, schraubt Nischen zu, verstreut Scherben, sägt Rohre an, vergiftet Bäume, Blumen und Hausgetier, gießt Wasser aus Fenstern, ruft die Polizei vorbei und scheißt notfalls in die Dachrinne. Stachel-, NATO- und Elektrodraht sind eher ländliche Varianten, weil sie in der städtischen Enge gerne mal zur Selbstverstümmelung führen.
Warum der Mensch das tut, ist und bleibt wahrscheinlich für alle Zeiten ungeklärt. Weshalb der Deutsche ganz besonders anfällig dafür ist, ebenfalls. Möglicherweise deshalb aber fürchtet er den Wolf, der angeblich in ihm lauert und in der nachbarschaftlichen Tobsucht derart artungerecht hervorbricht, ganz besonders: weil er unter- oder unbewußt weiß, daß er am meisten Angst vor sich selber haben sollte. Der Wolf gibt ihm die Chance, sich gewissensrein zu wähnen: schließlich kommt der nicht aus seinem verkorksten Seelenpfuhl heraus, sondern aus dem tiefen, dunklen Wald. Und der liegt nun mal im Osten.
Bekanntermaßen hat Thomas Hobbes den Wolf, der der Mensch dem Menschen ist, ausdrücklich nicht aufs Private bezogen, sondern auf die zwischenstaatliche Gewalthuberei, bei der der nationalkollektivierte Mensch „Gerechtigkeit, Liebe und alle Tugenden des Friedens der Ähnlichkeit mit Gott“ über Bord wirft und „selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d. h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen“ müssen.
Möglicherweise hatte Herr Hobbes keine Nachbarn und ließ sich deshalb zu einer solchen Verklärung der gemeinschaftlichen Innenverhältnisse hinreißen. Wahr bleibt indes seine zweite Annahme, was das automatisch böswölfische Gehabe von Staaten untereinander betrifft. Das zeigt sich derzeit in der von mächtigen Instanzen und ihren Medien herbeigeplapperten Debatte über einen „Cyberkrieg“, mit dem angeblich das durch zielstrebige Erweiterung der NATO plötzlich zum Nachbarn gewordene Rußland den Westen in die Knie zwingen möchte, durch „Fake News“ und Hacking. Weshalb man sich, wie der „Bundessicherheitsrat“ feststellt, unbedingt verteidigen müsse.
Das klingt – abgesehen von der Frage, wo diese gespenstischen Wogen von „Fake News“ denn nun bleiben, ob sie im Manipulationsozean der deutschen Medien überhaupt auffielen und wer solche Kampagnen zu welchem Zweck aufschäumt – zunächst logisch. Wenn einem jemand einen üblen Virus auf die Festplatte pumpt, ist es vorteilhaft, selbigen durch Abfangen oder Löschen unschädlich machen zu können.
Der staatsdeutsche Wolf möchte aber, der archaischen Kriegslogik treu unterworfen, mehr. Nämlich durch „Backhacking“ wiederum dem Übeltäter selbst einen Virus auf die Platte pumpen, gegen den der sich dann wieder schützen muß, indem er einen noch übleren Virus zurückschießt. Und so weiter; wir kennen das aus dem alten Kalten Krieg: Haust du mir eine Bombe drauf, hau ich dir zwei drauf, und im Zweifelsfall haue ich dir die zwei Bomben drauf, bevor du mir deine Bombe draufhauen kannst.
Nun ist es leider so, daß man bei derartigen „Cyberangriffen“ nie weiß, von wem sie wirklich kommen. Möglicherweise entpuppt sich der böse Russe bei genauerem Hinsehen (auch Verschwörungstheoretisiererei genannt) als neurotischer Nerd im tiefen Schwarzwald, der für seine Hackereien unter Umständen den Server einer Notfallklinik nutzt. Im Vorwärtsverteidigungsfall müßte man also entweder die Klinik logistisch in Klump und Asche backhacken oder den Russen gleich so massiv mit Viren vollpumpen, daß er gar nicht mehr dazu kommt, mit „Fake News“ und Verschwörungstheorien seine Unschuld zu behaupten.
So oder so: wünscht man sich dann doch endlich einen gütigen Jäger herbei, der irgendwo Steine hineinfüllt und mit Kuchen und Wein nach Osten aufbricht, um dem vermeintlichen lauernden Raubtier klarzumachen, daß man das ganze Theater als Privatmensch hier wie dort nicht böse meint und daß man sich doch irgendwann irgendwie zusammentun könnte, um dem Hobbeschen Staatenwolf und seiner Raubkriegssucht endlich Halsband und Leine anzulegen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 6. Juli 2017

Frisch gepreßt #387: Dr. Will "Addicted To Trouble"


Wenn man bei Google „Dr. Will“ eingibt, erhält man ungefähr 1,23 Milliarden Treffer, darunter gefühlte 25 Frauen- und Zahnärzte aus oder vielmehr in München. Da fällt der unscheinbare Eintrag auf Platz eins gar nicht so auf: „Dr. Will – München“; na ja, noch so ein Genitalklempner oder Fotzenspengler, denkt man und erschrickt vor sich selbst: Huch, meine Dauerwelle! Was ist denn das für eine Denk- und Ausdrucksweise!
Kommt vielleicht von der Beschallung: Wer zwei ganze Tage damit verbringt, sich von Candelilla die Auffassungsgabe und das emotionale Grundgerüst so umfassend renovieren zu lassen, daß danach die Slits wie Macho-Glampunk klingen, und dann das neue (oder wahlweise auch ein älteres) Album von Dr. Will auflegt, dem kann es die Contenance verhauen, selbst als frühlingsfrisch verliebter Romantophiliker mit nagelneuem Bremsgummi auf der Saukramnabe. Oder, um im Kontext zu bleiben, als „Dapper Dude“ mit Oberlippengangsterbart und welker Nelke im Knopfloch.
Dr. Will vorzustellen ist zumindest in München und Umgebung inzwischen nicht mehr nötig – an ausgewählten Orten im weiteren Umland übrigens auch nicht: Er trumpfte mit Eddie Bo in New Orleans, konferierte mit Willy de Ville und Louisiana Red, besuchte die Spider Murphy Gang auf der Circus-Krone-Bühne, bereiste legendäre Konzertstätten wie das Amsterdamer Paradiso, das Bluesfestival im französischen Tournon, gastierte zwischen Berlin, London und der tiefen Schweiz in so ziemlich jedem wichtigeren Etablissement, wo man das tun darf und schätzt, was derzeit wahrscheinlich weltweit niemand so perfekt hinkriegt wie er: knalligen, krachigen, röhrenden und schmetternden New-Orleans-Blues mit handgehobelten Riffbrettern, einem Schlagzeug, das das Dachgeschoß ins Wanken bringt, und einer Stimme, an der Generationen von Whiskybrennern akribisch und getreu den Richtlinien ihres Handwerks gefeilt und gemeißelt haben.
Apropos Handwerk: Puristen mögen einwenden, es handle sich bei dem ganzen Fetztheater vom ersten Songtitel bis zum letzten ekstatischen Schrei der saloongemäß hochherzig bekleideten Begleitmiezen um eine Pastiche und nicht „the real thing“. Dem wenden wir entgegen, daß gute neunzig Prozent der Musik, die heutigentags in klassischen Konzertsälen, auf maskeradisch-nostalgischen Tanzfeten, Hip-Hop-Battles, Metal-Festivitäten, Schlagerkränzchen und im superhippen Indieclub dargeboten wird, das gleiche mit anderem Genre-Badge sind: mal Anknüpfung, mal Huldigung, mal Aufwärmung von Phänomenen vergangener Epochen, von denen nicht mal sicher ist, ob sie nicht von Anfang an mehr Aufzug als unmittelbarer Urschrei bewegter Seelen bzw. Aufgriff authentischer Zeitgeistströmungen waren. Im Grunde ist selbst der Purist, der solcherart nebenberuflich prangert, ein Abziehbild von Vorgängern, die dies ehedem und schon immer taten. Also: wurst.
Nicht absprechen kann man dem Mann, der Dr. Will verkörpert und ist, seine persönliche Authentizität: Die Münchner Szene kennt ihn seit den frühen 80ern als bombigen Schlagzeuger diverser immer nur halbberühmter, aber teillegendärer Bands, und das, was er als Sänger und Bluesfigur kann und überzeugend auf die Bühne schwitzt, hat er nicht in irgendeiner windigen Akademie für Populärunterhaltung gelernt, sondern da, wo Schmutz und Glanz original sind, bei längeren Aufenthalten u. a. in London und New Orleans und in der Begegnung und Interaktion mit eben jenen Gestalten, die ihm der Purist nun vorhält. Freilich mag sich der eine oder andere wünschen, er möge die Vehemenz und Energie eines Tages in Songs gießen, in denen er unverstellt direkt, im Heimatdialekt und mit seinem unnachahmlich brachialen Witz von seinem „wahren“, richtigen Leben erzählt.
Aber wer weiß denn schon, was das wahre Leben ist. Wer weiß denn noch, daß das Motto einer seiner früheren Bands „Lieber hart als richtig“ lautete. Wer weiß denn, ob er das nicht irgendwann sowieso tut. Und bis dahin ist es gut, wahr und richtig, daß er das tut, was er tut und was niemand so perfekt hinkriegt wie er.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 3. Juli 2017

Belästigungen 08/2017: Wer weiß denn schon, wo der Marienplatz anfängt? (eine lehrreiche Anekdote)

„Hier versenkt die Stadt 72 Millionen!“ plärrte neulich eine Zeitung in selbige Münchner Stadt hinein. Wo? Das war nicht zu erkennen, ohne die Zeitung zu öffnen (was ich grundsätzlich unterlasse). Abgebildet war lediglich eine ehemalige, durch eine „Investition“ verschandelte Landschaft, die überall liegen könnte. Ist also: wurst.
Ist auch keine Sensation; schließlich sind Städte dafür bekannt, daß sie nach Belieben Orte und Gegenden finden, wo sich mal eben 72 Millionen versenken lassen. Korruption, Inkompetenz und Dummheit der kommunalen Politik schwingen sich stets zu titanischen Höhen auf, wenn es um „Investitionen“, also um das Versenken von Millionen durch Verwüstung von Landschaften und Zerstörung von Idyllen mittels Einbringung von Beton und Stahl geht. Andererseits sind 72 Millionen auch kein Pappenstiel. Die muß man (zumindest theoretisch) erst mal haben, um sie versenken und damit den Fortschritt vorantreiben zu können.
Und haben heißt: eintreiben. Da denkt man zunächst an Steuern. Aber die, die auf nutzlosen Geldbergen sitzen und bei denen sich locker nebenbei 72 Millionen eintreiben ließen, sind dieselben, in deren Taschen das Geld landet, das für „Investitionen“ versenkt wird. Da wäre es ja ein Schmarrn (oder neudeutsch: ein Nullsummenspiel), ihnen das Geld erst wegzunehmen und dann wieder zurückzugeben.
Eine weitere prima Geldquelle sind Bußgelder und Strafen. Weil man jedoch die, die viel Schlimmes tun und anrichten (wofür man nicht gleich ins Gefängnis muß), nur dann bußzahlen lassen kann, wenn es bei ihren Schandtaten nicht um „Investitionen“ geht, und es sich bei praktisch jeder dieser Schandtaten um eine „Investition“ handelt (und umgekehrt) und das Geld auch in diesem Fall wieder bei denen landen soll, denen man es zuvor wegnähme, geht da auch nichts.
So konzentriert man sich am liebsten auf den Straßenverkehr. Da, möchte man meinen, wäre auch allerhand zu büßen und zu holen: Autofahrer, die drängeln, hupen, telephonieren, Wege abschneiden, lärmen, blockieren, ihren Blinker ignorieren, gewohnheitsmäßig bei Rot „noch schnell“ durchrasen („So bald wird die Fußgängerampel schon nicht umschalten!“) und als friedlichste Variante die Rüssel und Ärsche ihrer grimmig dreinstarrenden Monsterboliden beim sogenannten „Querparken“ so weit in den Bürgersteig hineinhängen, daß die Gentrifizierungsbruthennen mit ihren Kinder-SUVs garantiert nicht und der Rest der Bevölkerung auch nur unter gymnastischen Verrenkungen daran vorbeikommt – lauter blöde, ärgerliche, störende, nervige, böse und regelmäßig tödliche Verstöße gegen das Gebot, seinen Mitmenschen nichts anzutun.
Allerdings ist, wie wir alle wissen, im Krieg und im Autoverkehr (die sich grundsätzlich nur unwesentlich unterscheiden) so gut wie alles erlaubt (zumindest praktisch), weil der Autoverkehr und die ihn befeuernde Industrie die Grundlage einer Wachstums- und Leistungsgesellschaft sind. Außerdem, so hören wir immer wieder, gibt es gar nicht genug Personal, um alles zu ahnden, was Autofahrer im Alltag so anrichten.
Zum Glück gibt es Radfahrer. Die sind leicht zu stoppen, meist harm- und hilflos und vom pausenlosen Bemühen, der Tötung durch Autofahrer zu entgehen, so entkräftet und eingeschüchtert, daß sie sich widerstandslos schröpfen lassen. Dafür gibt es dann übrigens plötzlich Personal.
So ist es mir neulich so ergangen, daß ich aus dem Münchner Süden nach Schwabing radeln wollte, was man am besten den Rindermarkt entlang tut. Nun weiß man als Münchner, daß selbiger neuerdings ein Stück weit gesperrt ist und nicht befahren werden darf. Dafür gibt es schließlich einen Randstein, an dem der Fußgängerbereich beginnt. Da steigt man ab, was ich auch tat – und im selben Moment eine rote Kelle vor dem Gesicht hatte, wie ich sie zuletzt am Tag meiner Einschulung im Zusammenhang mit einem gewissen Pamfi gesehen hatte, und den Spruch „Wissen Sie, weshalb ich sie aufgehalten habe!“ gesagt bekam.
Das wußte ich nicht. Man erläuterte es mir: Gefahren werden dürfe zwar auf der Straße, aber nur bis zu einem nicht erkennbaren Punkt etwa zwanzig Meter vor dem Beginn des Fußgängerbereichs, weshalb dort ein Schild stehe, an dem vorbei weiterzufahren fünfzehn Euro koste, die ich bar bezahlen oder überweisen könne. Diese Belustigung erfuhr ich umkreist von dreizehn (!) Uniformierten der „Verkehrsüberwachung München“, die allesamt gravitätisch nickten und sodann stückweise ausschwärmten, weil unmittelbar nach mir ein Radler nach dem anderen exakt dasselbe Vergehen beging.
Das Schild wollte ich dann doch sehen. Leider stehen in diesem Bereich des Rindermarkts (wie in der Stadt überhaupt) so viele Schilder herum, daß ich es erst nach langem Suchen fand. Oder gefunden zu haben glaube. Das Schild war etwa so groß wie eine hochkant gestellte Schultafel, zeigte ganz oben einen roten Kreis und darunter eine knappe Belehrung – knapp genug, um sie im Vorbeiradeln inmitten des Gehämmers sonstiger schriftlicher Botschaften aus allen Richtungen (Reklame! „Bild“! Hundert weitere Schilder!) sofort zu begreifen. Da stand geschrieben: „Durchfahrt Marienplatz (rot:) gesperrt / Lieferverkehr bis 7,5 t zulässiges Gesamtgewicht frei von Sonntag 22:30 h bis Samstag 12:45 h täglich von 22:30 h bis 12:45 h an Feiertagen ab (unleserlich, weil ein angekettetes Moutainbike davorstand)“.
Ja nun. Freilich hätte ich in Sekundenbruchteilen gewahr werden müssen, daß der Marienplatz neuerdings mitten auf dem Rindermarkt beginnt und mein Fahrrad das „zulässige Gesamtgewicht“ bei weitem überschreitet. Aber stimmt beides überhaupt? Und ist „täglich von 22:30 h bis 12:45 h“ nicht eine reichlich blödsinnige Angabe, weil davon (außer man lebt rückwärts) zwei Tage betroffen sind? Und das soll ich im sicheren Wissen, mich auf einer Straße zu befinden, die ordnungsgemäß am Randstein endet, instantan verinnerlichen?
Nö. Ich begab mich zurück zu der mich behandelnden Beamtin (die wahrscheinlich nur eine bemitleidenswerte Billiglohnsklavin war) und erklärte ihr, es handle sich hierbei um vorsätzliche Verwirrung und Wegelagerei in Tateinheit mit Falschinformation. Sie indes meinte, wo der Marienplatz beginne, falle nicht in ihren Zuständigkeitsbereich und es gebe „ganz unten“ noch ein Schild, das die Fahrradbenutzungserlaubniszeiten angebe, die sich auf die Nacht beschränkten. Das wollte ich sehen, und sie wollte es mir zeigen.
Ging aber nicht, weil vor dem Zusatzschild jemand neben das angekettete Mountainbike Holzpaletten gestapelt hatte, so daß man nur mit detektivischer Mühe „21“ und ein halbes symbolisches Fahrrad erkennen konnte. Das sei egal, sagte die Dame, ein Verbot gelte in Deutschland auch dann, wenn niemand davon wissen und erfahren könne.
Das wiederum fand ich eine so geile und originelle Rechtfertigung für offensichtlichen Betrug, daß ich ihr spontan verzieh, mein Eintrittsgeld für das kabarettistische Straßentheater gut angelegt wußte und ihr am liebsten geraten hätte, ein Bühnenprogramm aus ihrer Nummer zu machen. Leider hatte sie keine Zeit mehr, schließlich kamen da schon wieder zehn Radler angeschnauft, die beraubt werden mußten.
Ach, vielleicht hätte ich ihr lieber vorschlagen sollen, den dummen „Überweisungsträger“ zu zerreißen und statt dessen zweihundert Euro von meinem Konto abzuheben und uns auf eine exzessive Biergartentour zu begeben. Schließlich wäre das Geld da mit Sicherheit genußbringender und gesamtgesellschaftlich förderlicher versenkt gewesen als in irgendeiner „Investition“.
Aber wen interessiert in einer Leistungsgesellschaftsgroßstadt schon, was genußbringend und förderlich ist?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 1. Juli 2017

Frisch gepreßt #386: Dear Reader "Day Fever"


Das letzte Lied ist immer das schönste. Das gilt freilich nicht für jedes Album. Es galt im seligen LP-Zeitalter, als die Popmusik neu, stürmisch und horizonterweiternd war, zumindest für viele Platten, auf denen nach dem vierten Stück auf Seite zwei scheinbar alles gesagt war und man sich abschließend noch dem wesentlichen widmen konnte.
Aber es gilt für jeden Abend. Wenn das Geknalle, Gerappe, Gerocke und Gerumpel verklungen ist und der Kopf mit leichtem Schwurbelschwindel die Dinge neu ordnet oder das zumindest versucht, wenn der Zapfhahn die letzten Gläser füllt, die letzten Gäste dem ersehnten Aschenbecher huldigen, die Gespräche in ungefähres Gemurmel und in stummem Zusammenklang dahinfließende Wirbelwurlgedanken münden, bis man endlich immer mehr und nur noch schweigt – dann schlägt die Stunde der letzten Lieder, von denen sich manch ein Liebhaber solch tiefblau vernebelter Nachtzeiträume wünscht, es gäbe jemanden, der nur sie schriebe und spielte.
Gibt es, und es ist ausnahmsweise mal nicht Frank Sinatra, der zeitweise in the wee small hours solche Anwandlungen hatte, denen aber stets ein schwerer Saum von verliebtem Unglück, unglücklicher Verliebtheit, verlorener Leere, leerer Verlorenheit und gesamtheitlicher Vergeblichkeit sowie ähnlichen Geweben angenäht war, in dem man sich verfangen und verwickeln und dann hinabsinken konnte in den Sumpf des Noch- oder Nichtmehrganzdaseins. Es ist auch nicht Tom Waits, der noch intensiveren Sog entfachte und hämisch keckernd auf die Welt den Sargdeckel draufschmiß. Bei Cherilyn MacNeil ist die Sache umgekehrt: Da öffnet sich das Herz nach oben und lernt fliegen, und das Dunkel wird licht.
Ihre Songs sind meist sehr einfach, leicht und simpel: ein paar Töne, hingetupft wie Wölkchen und Glitzerschimmer auf Gemälden von Bob Ross, nicht immer gänzlich kitschfrei, aber wohlig, rund und klein. Dann aber staffiert sie die anmutigen Skelette aus mit Klängen, Chören, Stimmen, bis beschauliche Kunstwerkchen daraus werden, schillernd in vielen Farben und Formen. Die jedoch glücklicherweise immer da enden, wo es – zum an den Haarspitzen herbeigezogenen Beispiel – bei Kate Bush losgeht mit Brimborium und Popanzschwere. So gehen sie, die letzten Lieder.
Wer mag, kann genauer zuhören und sich was erzählen lassen von Cherilyns abenteuerlichem Leben: Angefangen hat sie ihr Projekt einst in Südafrika, in einem Vorort von Johannesburg, unter dem Namen Harris Tweed, erntete Preise und Erfolge und eine Klagedrohung der Harris Tweed Authority, die streng über Ruf und Geschick des schottischen Traditionsgewebes wacht. Drum hieß und heißt sie fortan und jetzt Dear Reader, zog 2010 ohne ihren vormaligen Begleiter Darryl Torr ans ganz andere Ende der Welt, nach Berlin, und tat sich mit den unterschiedlichsten Musikern zusammen, von denen jeder dies und das in den Topf warf, in dem sie ihre Klanggebilde köcheln ließ.
Sie nahm ein Album in Leipzig und Portland (Oregon) auf, ein weiteres ganz allein in ihrem Berliner Einzimmerapartment, eines live mit dem Filmorchester Babelsberg, und nun ist sie in San Francisco gelandet, bei John Vanderslice, in dessen Tiny-Telephone-Studio es keine Computer und Digitalgerätschaften gibt, sondern nur ein Tonband, das sie mit ein paar neuen Freunden aus der Gegend bespielte. Sparsam, vorsichtig, gerade dicht genug, daß die Songs schimmern, leuchten und schweben können.
Wie gesagt: wer mag. In den dehnbaren, sich dehnenden Stunden zwischen Nacht und Morgen, zwischen Traum und Wirklichkeit, da braucht es die Geschichten und Bilder in den Texten eigentlich gar nicht. Da genügt es, die Musik mit leichtem Schwurbelschwindel in die Seele fließen zu lassen, Wirbelwurlgedanken sich winden und ranken zu lassen, das letzte Glas zu betrachten und mitzuschimmern, mitzuleuchten, mitzuschweben.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.