Sonntag, 29. April 2018

Belästigungen 5/2018: Hilfe! Schwarze Schachteln wollen mein Gehirn in Scheiben schneiden!

Ein Bekannter hat mir die Geschichte von Lenins Gehirn erzählt: Das zerschnippelte man nach dem Tod des Oberrevolutionärs in 30.963 dünne Scheiben, die einem deutschen Forscher zur Untersuchung vorgelegt wurden. Man hoffte in dem zerebralen Carpaccio Indizien für Genialität zu finden, fand jedoch anfänglichem Jubel über superviele „Assoziationsstränge“ zum Trotz letztlich nur Spuren der geerbten Versteinerung (oder, je nach momentaner Theorielage, Syphilis), die Lenin dahingerafft hatte.
Das mag daran liegen, daß sich aufgrund der etwas unklaren Beschriftung die einzelnen Scheibletten nicht mehr so richtig zu einem ganzen Hirn zusammenbauen ließen. Zwar wurden sie akribisch photographiert, was unter Umständen helfen hätte können. Allerdings landeten die Bilder auf wiederum unklaren Wegen in Berlin, wo irgendwer auf die Idee kam, Schultüten für Kinder daraus zu drehen.
Man sieht: Die Welt- oder Medizin-, jedenfalls die Geschichte geht seltsame Wege. Und wir wissen nicht mehr als das: Ein Gehirn ist etwas, wo etwas hineingeht und etwas herauskommt. Eine „Black Box“, wie man gerne sagt, wenn man etwas meint, von dem man nicht weiß, warum das, was herauskommt, herauskommt.
Von solchen schwarzen Schachteln redet man in letzter Zeit besonders gerne, wenn es um Computer und das Internet geht. Zum Beispiel wenn man sich bei einem Onlinehändler ein Paar Socken bestellt und erfährt, was einen noch so interessieren könnte: eine Energiesparlampe, eine CD von Public Enemy, ein chinesischer Kräutertee und ein Buch, das man selber geschrieben hat. Da kann einem schon mulmig werden, weil diese Information gar so blackboxig daherkommt und man sich von ebenso unsichtbaren wie undurchschaubaren Kräften gesteuert fühlt, die der moderne Plappermensch gerne als „Algorithmen“ bezeichnet.
Was ein Schmarrn ist. Ein Algorithmus hat in einer „Black Box“ nichts verloren, weil er nichts zu verbergen hat. Ein Rezept zur Herstellung von Kräutertee aus Kraut und heißem Wasser wäre zum Beispiel so ein Algorithmus, ebenso wie eine Handlungsanweisung zum Öffnen der Wohnungstür mittels Drücken der Klinke oder eine Vorschrift, die besagt, daß man einen bestimmten Geldbetrag bezahlen muß, wenn man eine bestimmte verbotene Handlung durchführt.
Daß man das finstere Walten der Computerprogramme als Algorithmen bezeichnet, könnte daran liegen, daß der arabische Rechenmeister Al-Chwarizmi, dessen Namen wir die Bezeichnung verdanken, auf populären Portraits das Musterbild eines orientalischen Assassinen abgibt, dem der diffus rassistische Westmensch alles zutraut, auch ein Bombardement mit dunkler Desinformation über seine angeblichen Konsumwünsche. Aber das soll uns heute mal nicht interessieren. Sicher ist: Wir fühlen uns bedroht und umstellt von schwarzen Kisten, die besser Schach spielen als wir, Atomkraftwerke steuern, U-Bahnen und Flugzeuge lenken, Facebook mit angeblich „personalisierter“ Reklame vollstopfen, die uns überwachen und durchschauen, dabei auch noch ständig schlauer werden (und zwar von selbst!) und eines Tages möglicherweise einen großen Krieg anfangen, ohne daß wir wüßten, warum.
Freilich: Die Vorstellung, daß ein selbstfahrendes Auto selbst entscheidet, ob es lieber seinen Insassen opfern oder die spielenden Kinder am Straßenrand totfahren soll, wirkt auf den ersten Blick ziemlich ungemütlich. Aber weshalb sollte man die Entscheidung der offenbar sowieso überforderten Augenblicksintuition des rasenden Porsche-Rambos überlassen? Das Problem ist in diesem Fall doch eher, daß wir es überhaupt zu- und so weit kommen haben lassen, daß Autos an spielenden Kindern vorbeidonnern.
Ähnliches gilt auf anderen Gebieten. Wieso sollte ein Computer weniger geeignet sein, einen kriminellen „Steuersünder“ zu verurteilen, als ein menschlicher Richter, der möglicherweise mit dem Millionenhinterzieher zur Schule gegangen ist oder jeden Sonntag mit ihm Golf spielt? Wer wundert sich noch über die seltsamen „Empfehlungen“, die ihm Amazon zuschanzt, wenn er einmal einen Flohmarkt aufgesucht hat, um „sich umzuschauen“ oder ein bestimmtes Küchengerät zu suchen, und mit einer Rucksackladung von hübschem Klimbim heimgestapft ist? Und was stört uns daran, daß Computer schon drei Monate vor einer Wahl wissen, wen wir in die Parlamentsbude hineinwählen, wo wir doch sowieso höchstens über die hintersten Plätze vorgegebener Listen entscheiden dürfen und es letztlich egal ist, welcher neoliberale Haufen die nächsten Steuersenkungen für Reiche beschließt?
Ich wohne in einem Haus, das 101 Jahre alt ist und heute so nicht mehr gebaut werden kann. Weil das traditionell von Baumeistermund zu Baumeisterohr weitergegebene Wissen, das dafür nötig war, durch DIN-Normen ersetzt wurde und verschwunden ist. Wenn da irgendwo mal ein Balken knackt oder ein Steinchen durch den Kamin rumpelt, weiß niemand, wieso. In diesem Haus steht ein Kleiderschrank, aus dem ich neulich ein altes T-Shirt rausgeholt habe. Noch während ich es anzog, stellte ich fest, daß es einen bislang unbekannten Riß aufwies, zu dem sich gleich ein zweiter gesellte, dann noch und noch einer, bis das ganze Ding als Haufen von Fusseln und Fäden vor mir lag.
Klar: alles hat seine Soll- und Kannbruch- und -rißstellen. Aber daß sich ein ganzes T-Shirt binnen Sekunden in seine Bestandteile auflöst, ist ungefähr so wahrscheinlich wie daß sämtliche Neuschwabinger Schampuserbenpaare, die momentan mit ihren rollenden Nachwuchsboliden die Bürgersteige verstopfen, gleichzeitig die Notwendigkeit der Selbstverwirklichung in sich entdecken und zum Scheidungsanwalt rennen. Man könnte sagen: Nicht nur unser Haus ist eine „Black Box“, sondern auch mein Kleiderschrank. Und mein Gehirn sowieso, denn ich weiß ja nicht mal, wieso ihm ausgerechnet heute ausgerechnet dieses T-Shirt in den Sinn gekommen ist. Ganz zu schweigen von den Amseln, Meisen und Eichkätzchen, die derweil vor dem Fenster herumhüpfen und -flattern, ohne daß in dem wirren Treiben irgendein Sinn oder Ziel zu erkennen wäre. Der stündliche Computerabsturz ist in diesem Tohuwabohu fast so etwas wie ein Anker der Verläßlichkeit.
Anders gesagt: Die ganze Welt besteht aus schwarzen Schachteln. Und wir können unser Hirn in noch so dünne Scheiben schneiden – verstehen werden wir davon höchstens ganz wenig.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 14. April 2018

Frisch gepreßt #409: Olli Schulz „Scheiß Leben, gut erzählt“


Wie der Ratzingerplatz Mitte der 70er ausgeschaut hat und wie romantisch das war: Erzähl das doch dem Olli, der macht ein Lied draus. Menschen haben seltsame Gewohnheiten, erleben seltsame Sachen und tun komische Dinge, von denen sie manchmal selber nicht so genau wissen, warum sie sie eigentlich tun. Solange niemand daherkommt und Zusammenhänge aufzeigt. Also Olli Schulz. „Das Essen bei meiner Oma war immer etwas sonderbar. Das wurde mir leider viel zu spät erst klar“, singt der dann zum Beispiel. Und stellt fest, daß nicht nur Omis Erbsensuppe „schmeckt, wie Pisse riecht“, sondern noch ein paar Sachen. „Nicht alles, was gut aussieht, ist in Wirklichkeit so toll. Bei manchen Dingen fragt man sich, was das eigentlich soll. Ich mein, wenn man jemanden gern hat, vielleicht sogar liebt, dann ist es scheißegal ...“ usw., wissen wir, jetzt, weil die Platte da, nach knapp zwei Minuten Song Nummer zehn, aus ist und von vorn anfängt.
Sagt mir einen, der das so gut kann: Die Welt der Wohnungen, deren Wände mit Bildertapeten in dezenten Braungelbtönen tapeziert sind, deren Preßspanmöblierung zierliche Kreismuster von überfüllten Darjeeling-Teetassen trägt, deren Linoleumböden sich am Rand, wo die Furnierleisten seit Jahren an ihren Messingkopfnägeln zerren, wellen und bröseln, deren Beschallung aus dezenten Regionalnachrichten und Müslireklame die Geranien auf dem Fensterbrett gilbt, wo unter der Spüle eine zerknautschte Tube mettwurstbraune Schuhcreme darauf wartet, daß mal wieder jemand bei Romika Stiefel für die Übergangszeit kauft … diese Welt, in der sich alles falsch reimt („Wohnung“ auf „Stroh-Rum“ und so) so zu erzählen, daß man sich mit einem Rühren im Oberbauch und einer kleinen Träne im Links-innen-Augenwinkel wünscht, noch mal den Tag zu erleben, an dem man so früh ins Bett mußte, daß man nur noch durchs gekippte Plastikquadratfenster mitbekam, wie Uli Hoeneß den letzten Elfmeter gegen die CSSR in den Nachthimmel bombte: Das kann eigentlich nur Olli Schulz. „Mein abgefucktes Leben läßt sich nicht mehr schönreden“, sagt der, und da rührt es schon im Oberbauch.
Klar, das geht nicht immer gut, wird auch mal Klamauk und Depperlschmarrn, wenn's zum Beispiel um ein „Sportboot“ geht. Aber gute Lieder sind immer wie Zufallstreffer auf der Spickerscheibe, und so oft trifft halt sonst keiner zufällig: „Schlechter Atem, Hautausschlag, heute wird kein schöner Tag!“ Das ist dieselbe Welt, in der irgendwann mal Männer in blaugrauen, speckigen Overalls „so gern Dave Dudley hör'n“ wollten, durch die jetzt aber zum Glück andere Lieder schallen, eben diese.
Seien wir nicht unfair, stellen wir kein Einzelpodest aus Resopal in eine Welt, in die ja auch Gisbert zu Knyphausen, Rio Reiser, Reinhard Mey, Nils Koppruch, die Steph/fans Remmler, Zinner, Noelle, Christoph Theussl und noch ein paar andere vollkommen disparate Gestalten irgendwie ihre Spicker hineingeworfen haben und teils noch werfen. Aber was wäre das für eine Welt, wenn sie das nicht täten und nie getan hätten? Leckt an der Tapete und stellt es euch vor.
„Schmeiß alles rein, schmeiß alle raus“: Das heißt auch, daß Olli Schulz nicht immer mehr Olli Schulz sein mag. Daß er sich mal bei Neckermann eine Schachtel Beats bestellt und sich so tierisch darüber freut, wie die bumsen und zickeln, daß ihm gar nicht auffällt, daß die Melodie derweil mal strullen gegangen und nicht mehr wiedergekommen ist. Daß! Daß! Daß! Wäscht heute noch jemand mit Omo? Verlangt jemand ernsthaft, daß einer, der mal diese eine Platte gemacht hat, diese eine Platte jedes Jahr wieder macht, weil sonst der Bernd aus Sprockhövel Filzer und Block nimmt und schreibt, daß er das nicht mehr so dufte findet wie damals? Wie ironisch (und klar), daß sich ausgerechnet die Hardcore-Fans über jeden Versuch, mal was anderes zu machen, beschweren, und zwar samt und sonders mit einer Paraphrase von „Hardcore-Fans finden das sicher toll, aber ich ...“!
Doch, Olli: ist ein schönes Album, auch dieses. Mach so weiter, mach was anderes, mach dies und das, bleib einfach du. In einer Welt, die nicht mehr so recht wissen mag, wie der Ratzingerplatz Mitte der 70er ausgeschaut hat und wie romantisch das war, kann, darf und muß das sein.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.