Samstag, 31. März 2018

Frisch gepreßt #408: Fleetwood Mac "Fleetwood Mac" (Expanded Edition)


Wie Gewalt zwischen Menschen funktioniert, privat: das fragen Sie am besten (oder zweit-, dritt-, fünftbesten) mal Stevie Nicks.
Wir vernehmen ein leises Grummeln: Stevie wer? etwa die von Fleetwood Mac, diesem weichgespülten Schlagerpop-Dinosaurier aus Kalifornien, der mit seinen aufdringlichen Honigbomben „Go Your Own Way“ und „Don't Stop“ seit vier Jahrzehnten das Autoradio verstopft und dafür sorgt, daß die auf dem Rücksitz kauernden Kinder die „Rockmusik“ erst zerschlagen, dann ganz neu erfinden, dann verbrennen und schließlich gar nichts mehr davon wissen wollten, weil ihre kaugummikauenden Eltern davon gar so friedlich-fröhlich wurden, daß sie vor lauter Zuckerwatte-Feeling gar nicht bemerkten, wie sie der Scheidung entgegenbrausten?
Ja, die. Die waren nämlich tatsächlich mal eine Rockband (ein leises Echo hört man hier auf „World Turning“) gewesen und überhaupt nicht aus Kalifornien, sondern … Holen wir kurz aus, die Geschichte ist lang. Juli 1967: Da gründete man noch Bands, ohne vorher ein Seminar besucht und einen Businessplan erstellt zu haben. Da war das Bandgründen zwar nicht mehr neu, aber so recht wußte noch kaum jemand, wie das geht, weil Oma und Opa nicht mit nostalgischem Blinkern davon schwärmen konnten. Da wurden Fleetwood Mac gegründet, in London, eine Bluesband, wie es viele gab (und anfangs Teil von John Mayalls Bluesbreakers), aber eine ziemlich bombige, die bald große Hallen füllte und etliche tausend Platten verkaufte, neun Alben und sieben Jahre lang, in denen einiges passierte. Unter anderem kiffte sich Wundergitarrist Peter Green so effektiv in die Psychose, daß ihn ein (in München übrigens) ziemlich zufällig eingeworfenes LSD-Blättchen zum schizophrenen Wahnprediger wandelte und er für viele Jahre in diversen Anstalten verschwand. Sein Nachfolger ging ein Jahr später „'ne Zeitschrift holen“ und kam nie zurück (christliche Sekte etc.). Sein Nachfolger wurde engagiert, ohne daß man sich die Mühe machte, etwas von ihm zu hören.
Tausender waren etwas, womit die zum sagenhaften Hypermonster aufgeblähte Popindustrie 1974 höchstens noch zwischendurch Kilos von Kokain in ihre Nasenlöcher blies. Da mußte, wer mithalten wollte, schon andere Stelligkeiten auffahren. Fleetwood Mac waren 1974 tatsächlich in Los Angeles gelandet, aber nur noch ein Wrack: Alkoholexzesse, gefeuerte Kurzzeitmitglieder, bröckelnde Ehen und Beziehungen, abgesagte Tourneen, ein desinteressierter Plattenkonzern und ein Manager, der eine Fake-Band unter ihrem Namen auf Tour schickte.
Intro Stevie Nicks und ihr Sex- und Songwritingpartner Lindsey Buckingham. Mit ihnen wurde der kümmerliche Resthaufen tatsächlich zur Softrockband, was in einer Verpuffung von Peinlichkeit enden hätte können – aber zu diesem Album führte, dem sogar die bösesten Schimpfer zugestehen mußten, daß es was Magisches hatte: schimmernde Gitarren, eine flockig schwingende Rhythmusgruppe und körperlose Gesänge, die so anmutig durch die Sphären tanzten, daß man das Autoradio dafür erfinden hätte müssen, wenn es nicht schon begierig bereitgestanden wäre. Ein paar Monate dümpelte die im Juli 1975 erschienene Platte herum, spielte die Band in jedem Drecksloch, dann kletterte die (neu aufgenommene) Single „Over My Head“ in die US-Top-20, und schon waren fünf Millionen LPs verkauft. Ein Jahr, ein Album und einen Grammy später waren das Peanuts: bis heute sind's insgesamt gut hundert Millionen.
Ja, und dann? Kam die Gewalt zwischen die Menschen. Die Traumwelt gebar drei kaputte Beziehungen (zwei davon intern), Drogenwahn, Suff, Haß, Nerven- und körperliche Zusammenbrüche, Schlägereien ohne Geschlechtergrenzen, eine einzige Seifenoper unfaßlicher Scheußlichkeiten, aufgeführt im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit und ausgiebig dokumentiert zwischen den Zeilen auf folgenden Platten. Ach so, wir wollten ja Stevie Nicks fragen: „Wir waren jung, und es war eine Tragödie, was das alles mit unserem Leben machte.“ Fragen wir genauer nach so einem typischen Abend (hier: in Neuseeland): „Ich glaube, ich sang in Lindseys Solo hinein. Er marschierte über die Bühne, gab mir einen Fußtritt, und es ging irgendwie weiter. Dann warf er seine Gitarre nach mir, wusch! Ich sah sie kommen und duckte mich. Sonst wäre ich tot gewesen, eine Les Paul wiegt 30 Pfund. Nach dem Song stürmte er von der Bühne, Chris ihm nach in die Garderobe. Sie packte ihn, wollte ihn umbringen. Die Bodyguards zerrten uns schließlich alle irgendwie auseinander.“ Die Tour: ging weiter.
Übrig blieb nach (und vor) all dem Irrsinn dieses halkyonische Album, dessen Wert und Schönheit sich vielleicht nur in Kenntnis der Umstände voll erschließen. Dann aber um so mehr (und auch ohne die 35 Bonus- und Livetracks, die's dazugibt).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 20. März 2018

Belästigungen 04/2018: Abgekürzt: Literatur und Leben, insbesondere (aber nicht nur) im öffentlichen Verkehrsmittel

Moderne Zeiten: Was immer wir tun, wir kürzen gerne ab. Was man sich vor zwanzig Jahren als Super-extended-Maxi-Mix ins sowieso pralle Regal schob, füllt heute als Klingelton kaum einen Nanometer auf der Telephonspeicherkarte. Und die Verwandtschaft, die man früher an den Weihnachtstagen in Halbtagesreisen per Kutsche quer durch Pampa und Tundra des Münchner Umlandes abklapperte, die besucht man heute bequem mit dem öffentlichen Verkehrsmittel, das der Münchner Bürger über Jahrzehnte mit seinem Steuergeld zu einem vollelektronisch gepowerten Transportsystem ausgebaut hat, bei dem altmodische Ärgernisse wie Verspätungen gar nicht mehr denkbar sind.
Zwar gibt die zuständige MVG offenbar den größten Teil ihrer Einnahmen für reichlich topfige Reklame und kryptische Digitalangaben zu Wartezeiten („1“ = ein bis zehn Minuten, „2“ = ein bis zehn Minuten usw.) aus, dabei fiel aber immerhin auch ein Budget für eine App ab, mit der sich jede Tour optimal abgekürzt planen läßt. Wenn wir zum Beispiel vom trauten Schwabinger Heim ins ferne Harlaching reisen möchten, empfiehlt die App als einzige und damit beste Möglichkeit, mit der U2 nach Giesing zu gelangen und dort in vier Minuten Treppenfußweg in einen (hoffentlich nicht allzu pünktlichen) Bus umzusteigen. Im Idealfall ist man in 41 Minuten am Ziel.
In solchen Fällen indes erweist es sich als nützlich, länger als der heutige Normalmünchner und MVG-App-Praktikant (also mindestens fünf Jahre) in München zu wohnen und daher zu wissen, daß auch die U1 nach Harlaching fährt, und zwar eine gewisse Teilstrecke lang auf demselben Gleis wie die U2. Aus dieser Überlegung ergibt sich folgender abweichender Reiseplan: U2 zum Hauptbahnhof, zwei Meter Fußweg zur U1. Fahrtdauer mit dieser Variante: 19 Minuten.
Andererseits hat die Recherche dieser sicherlich zeitsparenden Route Zeit gekostet, die man besser im öffentlichen Verkehrsmittel verbringen sollte. Da nämlich tat man früher bevorzugt das, was heute wg. Handy, Apps und solchem Schmarrn immer weniger Leute tun: lesen. Und zwar Bücher. Daß das immer weniger Leute tun, ist schlimm, sagt man uns mit periodischen Kampagnen, bei denen mal Günter Grass auf dem Titelblatt eines Bahn-Reklamehefterls behaupten durfte: „Ich will zum Lesen anstiften“, und heute eine deutsche Filmemacherin behaupten darf: „Das Buch kann immer mehr, weil das Buch keine Schwerkraft kennt.“1
Zufällig interessiere ich mich für Literatur und schaue ab und zu ganz gerne in die Vorschaukataloge von Verlagen hinein, die ja einem unergründlichen Gesetz zufolge für das Indieweltbringen von Literatur zuständig sind. Da stehen dann Dinge wie diese (zufällig ausgewählt): „XY erzählt von Schatten und Licht, Verzweiflung und Sehnsucht, Verrat und Vergebung. Ihr packendes Debüt bringt alle Facetten der Freundschaft zum Leuchten, die Leidenschaft, die Sanftheit – und die Liebe, in ihrer heilsamen, aber auch funkelnd grausamen Pracht.“
Da möchte man denken: Dieses Buch kenne ich doch schon, habe es dutzendemale in dutzenden Versionen aufgeschlagen, angelesen und zum Papiercontainer getragen! Der moderne Mensch aber denkt zuerst: Das läßt sich abkürzen! Und das tun die Verlage, indem sie solch blumige Girlanden mit knappen Empfehlungsslogans umtupfen: „Ein Erzählstil mit virtuoser Leichtigkeit bei gleichzeitig großer Sprachgewalt“, „temporeich, feinfühlig und unkonventionell“, „ein Buch zum Weitergeben in der Familie“, „ein zeitgemäßer“ bzw. „mitreißender Familienroman“, „für alle Generationen interessant“, „absolutes Gespür für Töne, Klänge, Rhythmen und Geräusche“, „rasantes Kopfkino für schlaflose Nächte“, „Literatur, deren weltumspannender Horizont seinesgleichen sucht“, „eine derartig talentierte und unberechenbare Autorin, daß ich offiziell ihrem Fanclub beitrete“, „ein Pageturner mit einer wilden, treibenden Geschichte und anhaltender Spannung“ „fesselnd und kaum beiseitezulegen“, „das Buch, nach dem sich jeder Leser sehnt: intelligent, spannend und unmöglich beiseitezulegen“, „ein beunruhigend gutes Buch“, das „viele Preise verdient“, „eines der bemerkenswertesten Bücher der letzten Jahre“, „unwiderstehlich und glaubwürdig und Objekt meiner absoluten Bewunderung“, „merkwürdig und verstörend, das Werk eines Genies“, „verzweifelnd schön, traurig und unvergeßlich“, „der bewegendste Abschiedsroman, den ich in meinem Leben gelesen habe“, „ein packendes Buch“, „ein ganz großes Buch“, „ungerührt und doch sanftmütig, mit Gespür für den Zeitgeist“, „berührend und spannend“, „mit einem einzigartigen Setting und einer emotionalen Präzision, die direkt ins Herz fährt“, „der überwältigende Roman ist manchmal kaum auszuhalten – und ein selten intensives Leseerlebnis“, „ein monumentales, jedem Genre trotzendes Meisterwerk“, „man kann nicht anders, als XY zu ihrer Lebensklugheit und überragenden Darstellungskunst zu beglückwünschen“, „XY schreckt nicht davor zurück, Familiendynamiken in eine dunkle und fesselnde Geschichte zu verwandeln“, die man, na klar, „nicht vergißt, lange nach der letzten Seite“. Und überhaupt: „Was will man mehr als unvergeßliche Figuren, komisches Timing, Originalität und Schärfe? Und Herz. Alles da. Fertig.“2
Wer könnte da widerstehen? Wer griffe da nicht umgehend zu einem solchen hochliterarischen Pageturner (den er möglicherweise irgendwann voreilig beiseitegelegt hat), um ihn nicht zu vergessen, lange nach der letzten Seite?
Oder nach einer solchen (ebenfalls zufällig ausgewählten): „Jeden Morgen stand Victor Balulu auf, kochte sich ein Ei genau zweieinhalb Minuten und aß es behaglich vor dem Radiogerät. Während die Sprecher über Inflationen und Kabinettssitzungen berichteten, tunkte Victor Balulu das Eigelb mit einer Scheibe Weißbrot aus und dachte sich, jetzt verspeise er noch ein Küken, das es nicht geschafft hatte. Nun wußte Victor Balulu sehr wohl, daß aus den Eiern im Lebensmittelladen ohnehin keine Küken schlüpften. Aber der Gedanke an das Küken machte ihm, neben leichtem Unbehagen, auch einige Freude, denn da konnte Victor Balulu, zweifellos ein unbedeutender Mensch, doch eigenhändig ein so großes Unheil anrichten. Ein Ei, zweieinhalb Minuten, jeden Morgen. Das macht ja dreihundertdreiundsechzig Küken pro Jahr, wenn man den Versöhnungstag und den 9. Av abrechnet, an denen Victor Balulu, wegen des Fastengebots, kein Ei und auch sonst nichts aß. Nahm man Victor Balulus Lebensjahre zur Grundlage, abgesehen vom ersten Jahr, in dem seine Ernährung auf Muttermilch basiert hatte, erreichte man die außerordentliche Summe von dreizehntausendvierhunderteinunddreißig Eiern, das heißt vierzehntausendvierhunderteinunddreißig Küken, die Victor Balulu in einem riesigen gelben Schwarm auf Schritt und Tritt nachtippelten. / Victor Balulu grübelt über diesen Kükenschwarm, während er die Brotkrümel und Dotterreste von seinem Teller spült und sich ankleidet. Das Etikett am Hemdkragen belehrt ihn, daß das Hemd in China genäht wurde, erste Wahl ist und nicht heißer als zwanzig Grad gewaschen werden darf. Victor Balulu schenkt diesen Daten nur wenig oder gar keine Beachtung, obwohl China immerhin ein Land mit eins Komma vier Milliarden Einwohnern ist, ja überhaupt eine Weltmacht. / Hat er sein Hemd fertig zugeknöpft, die Hose aber noch nicht angezogen, geht Victor Balulu meist seine Notdurft verrichten. Ernsthaft und mit erheblichen Befürchtungen setzt er sich auf die Kloschüssel und wartet, was der Tag bringen mag. Nie bedenkt er, daß die Toilettenschüssel, auf der er sitzt, aus Indien stammt, das mit China eine Grenze und eine weitgehend auf Reis basierende Ernährung gemeinsam hat. Sobald Victor Balulu fertig ist, betätigt er einen kleinen Metallgriff und schickt seinen Kot aus dem vertrauten Bereich, in dem er entstanden ist, in die Abwasserrohre der Stadt Beer Sheva und von dort, auf gewundenen Wegen, ins Meer. Zwar werden die Fäkalien Beer Schevas niemals ins – viele Kilometer entfernte – Meer geschickt, sondern durch Rohre und Maschinen einer Sickergrube in der Nähe des Sorek-Bachs zugeleitet, aber in gewisser Hinsicht fließen ja alle Flüsse ins Meer, sogar ein versiegender Bach. Diese Gewißheit ist Victor Balulu besonders wichtig, denn obwohl er mit einigem Unbehagen daran denkt, daß sein Kot jetzt die unergründlichen Tiefen des Ozeans verschmutzt, empfindet er doch auch etwas Freude, weil er, Victor Balulu, ein Mann, über den man sich nicht viele Gedanken macht und der seine eigene Existenz zuweilen sogar selbst vergißt, weil dieser Mensch also etwas produziert hat, das eben jetzt über den weiten Ozean schwimmt.“3
Das ist, na klar, weder bemerkenswert, noch intensiv und zwar kaum auszuhalten, aber jedenfalls keine Literatur. Abgekürzt und damit in Literatur (oder wenigstens Raum für Literatur) verwandelt könnte die Passage so lauten: „Victor Balulu stand auf, aß ein gekochtes Ei, zog ein Hemd und, nachdem er die Toilette benutzt hatte, eine Hose an.“ Dann wäre das betreffende Buch wie die meisten seiner heutigen Artgenossen aber nicht mehr 424, sondern nur noch zehn Seiten dick und kein richtiges Buch mehr. Dann könnte man, um Zeit zu finden, sich mit richtiger Literatur (oder anderen schönen Dingen) zu beschäftigen, die Sache abkürzen, indem man den Umschlag anschaut und feststellt: Moderne Autoren haben oft modische Frisuren und schauen bedeutungsvoll. Das gilt aber auch für die Mitmenschen im öffentlichen Verkehrsmittel.

1Das Zitat von Doris Dörrie entnahm ich der Zeitschrift Münchner Feuilleton, November 2017, S. 17.

2Die Sprüche entstammen den jeweils ersten Seiten der Frühjahrskataloge 2018 der Verlage Kein & Aber und Frankfurter Verlagsanstalt.

3Die Passage entstammt dem Buch „Löwen wecken“ von Ayelet Gundar-Goshen (Kein & Aber 2015), das fast durchgehend und ausschließlich aus derart wirrem Bullshit besteht und über das Elke Heidenreich sagte: „Ich konnte nicht aufhören zu lesen. Das Buch ist eine Granate.“ Die FAZ meinte hingegen, es sei ein „mutiger Roman“; laut Deutschlandradio ist es „eine nachhaltige Verstörung, die den Leser veranlaßt, seine eigene Position immer wieder zu hinterfragen“. Im Klappentext behauptet eine WDR-Rezensentin, Gundar-Goshens erstes Buch sei „ein Roman wie ein Donnerhall“ (was immer das sein soll – laut Lexikon handelt es sich dabei um ein 2002 an einer Darmvergiftung verstorbenes deutsches Dressurpferd).

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 19. März 2018

Im Regal: Ulrich Greiner "Heimatlos - Bekenntnis eines Konservativen"

Ich bin, ich muß es gestehen, konservativ: Alles was gut, schön, wichtig und brauchbar ist, möchte ich mit solcher Vehemenz bewahren, daß mich das Gefasel von voranzutreibenden „Reformen“, „schmerzhaften Einschnitten“ und der Schädlichkeit jeglicher „Besitzstandswahrung“, das seit Jahren aus allen Kanälen dröhnt, schon als solches zur Raserei treiben kann. Auch die „Heimat“, die Ulrich Greiner im Titel beschwört, ist mir bis zur Irrationalität derart ans Herz gewachsen, daß ich (nur ein Beispiel!) den Abstieg des TSV 1860 in die bayerische Regionalliga als Jahrhundertsegen empfinde. Allerdings ist diese Heimat selbstverständlich nicht Deutschland, von dem ich weite Teile gar nicht kenne; sie läßt sich mit Landes- und anderen Grenzen überhaupt nicht bestimmen. Und auch die Dinge, die ich bewahrt sehen möchte, unterscheiden sich enorm vom „Wertekanon“ anderer Konservativer, etwa dem von Ulrich Greiner, Ex-Redakteur des transatlantisch-neoliberalen Amtsblatts „Die Zeit“.
Das Problem der Diskussion des Begriffs ist, daß es einen „Konservativismus“ als ganzheitliche Grundhaltung nicht geben kann, weil das Bewahrenwollen immer nur eine Reaktion auf das Verschwinden bzw. die (vermeintliche) Gefährdung dieser und jener Gegebenheiten ist. Ein konservativer Kommunismus ist ebenso plausibel wie der konservative Marktfaschismus, der seinem Scheitern in allen Belangen zum Trotz seit 35 Jahren das Lambsdorff-Papier als religiöse Monstranz vor sich herträgt und in Gestalt von FDP und AfD gerade wieder in den Bundestag eingezogen ist, um den Neoliberalismus von SPD, Union und Grünen weiter in Richtung Feudalismus zu radikalisieren.
Das schwarze Loch im Zentrum seines Wesens füllt dieser „Konservatismus“, wie er sich in selbstentlarvendem Schluder-Neudeutsch nennt, mit abgetakeltem Popanz und Plunder: einem Nationalstaat, den es in Deutschland vor dem Nazireich nur ein paar Jahre und danach aus guten (und anderen) Gründen nicht mehr gab, der jetzt aber erstehen soll, um Blutsvolk und Kulturrasse vor der Überflutung durch primitive Scharen aus dem Orient zu schützen, einem schwarzkitschigen Deutschtum, wie es aus Heimatromanen herausdünstet, und einem „abendländischen“ Christentum, das er seit den Kreuzzügen (und, wie wir vermuten dürfen, seit Hexenwahn und Judenvernichtung) „geläutert“ wähnt.
Daß Greiner eine Analyse der eigenen Haltung und Entwicklung (die eine solche selbstverständlich gar nicht ist) nicht ansatzweise gelingen kann, ist ebenso logisch wie exemplarisch, weil es dazu nötig wäre, sich ein paar Schritte von dem ideologischen Gewölle, das in seinem „Denken“ west, zu entfernen. Statt dessen spult er in gewohnter Bräsigkeit sämtliche Klischees und Phrasen seiner Zunft herunter, zitiert sich durch den Handapparat des „Zeit“-Praktikanten von Goethe und Hegel bis Safranski, Sloterdijk, Finkielkraut und Botho Strauß und bringt keinen einzigen originellen Gedanken zustande. Das ist insgesamt so langweilig, wie man das von den Einlassungen der hegemonialen rechten Medien kennt; lediglich die islamophoben Entgleisungen, zu denen er sich versteigt, verschlagen einem ein bißchen den Appetit. Ansonsten ist alles, was er aufzählt, wohlbekannt, von der angeblichen „linksgrünen kulturellen Hegemonie“ über den angeblichen „Kontrollverlust“ in der Flüchtlingspolitik, ein bißchen EU- und PC-Gedisse, die gruselige Sorge um „genealogische Ordnung“, „Blutsbande“ und „Ahnentafeln“ und eine teilweise (aber aus anderen Gründen) nachvollziehbare Abneigung gegen die Technisierung von Leben und Sterben bis hin zur Forderung von „Barmherzigkeit“ statt „Diktatur der Fürsorge“ (was stets auf Steuersenkungen zugunsten „mildtätiger“ Stiftungen hinausläuft) und dem üblichen Geschimpfe auf staatliches Wirken gegen sexuelle Diskriminierung, weil der Staat sich schließlich um das „große Ganze“ und nicht um individuelle „Selbstverwirklichung“ zu kümmern habe. Der eine oder andere Ansatz mag hier ganz interessant sein, leider aber denkt Greiner keinen Gedanken weiter oder gar zu Ende. Vielleicht war dafür einfach keine Zeit – die vielen Flüchtigkeitsfehler („dass“ statt „das“, zweimal „hingegen“ in einem Satz, „nichts weniger“ statt „nicht weniger“ usw.) lassen ahnen, daß das Büchlein in Eile zwischen Bahnhof und Bahnhof heruntergetippt wurde. Andererseits dürfte eine haarsträubende Stilblüte wie „Wer nicht einmal 'Stille Nacht, Heilige Nacht!' auswendig kann, sollte vom christlichen Abendland schweigen“ nicht einmal das oberflächlichste (Selbst-)Lektorat passieren, ohne in einem Lachkrampf getilgt zu werden.
Wie gesagt, ein exemplarisches Machwerk: wirr, fragmentarisch, phantasie- und lustlos runtergeschrieben und insgesamt vor allem: dumm.

geschrieben im Oktober 2017 für KONKRET

Donnerstag, 15. März 2018

Belästigungen 3/2018: My Life in the Gestrüpp of Kausalität (und der Werthaftigkeit von Streichfett)

Normalerweise lese ich keine Zeitungen, der geistigen Hygiene wegen: Alles, was über die Augen in den Kopf hineingeht, hinterläßt dort Spuren. Wer schon mal versucht hat, die olfaktorischen Überbleibsel einer versehentlich verbrannten Kürbissuppe restlos aus der Wohnung zu entfernen, weiß: Da bleibt immer was, und wenn es nur ein eigentümliches Rüchlein am Rücken eines lange nicht zur Hand genommenen Büchleins aus der obersten Regaletage ist.
So geht es mir mit Zeitungen: Wenn ich ein ganzes Exemplar durchblättere, bündelt sich Bullshit in meinem Kopf, der sich mit stundenlangen Spaziergängen nicht mehr gänzlich hinauslüften läßt. Noch nach Tagen ploppt plötzlich irgend so ein Schmarrnsatz im Gedächtnis auf, und schon muß ich mich wieder ärgern, statt die Schönheit der Welt zu würdigen. Nach zwanzig Jahren Abonnement ähnelt das Gehirn wahrscheinlich einer jahrhundertealten Odelgrube samt Misthaufen oben drauf. Ein gemütliches Wohnzimmer kann man da nicht einrichten.
Aber manchmal fahre ich zum Beispiel mit der Eisenbahn, und da läßt gerne mal ein Vorpassagier so ein Blatt liegen, auf das zwangsläufig mein Blick fällt – wie man die Ohren nicht verschließen kann, um dummes Gequatsche auszublenden, ist es dem Menschen, wenn er erst mal lesen gelernt hat, leider nur noch unter größten Mühen möglich, Schrift, die man ihm vorsetzt, nicht zu lesen.
Heute stand da (empfindsame Naturen sollten das folgende Zitat nicht lesen, andererseits: Probiert's mal, hi hi!): „Beliebt“ sei „der negative Blick: 'Die Wirtschaft' sei profitversessen, beute Arbeitnehmer aus, zerstöre die Umwelt und mache die Menschen krank. 'Die Wirtschaft' ist 'der Kapitalismus', eines so schlimm wie das andere. Und natürlich muß 'der Staat' die Wirtschaft zähmen.“
Oho! dachte ich, da stimmt ja praktisch jedes Wort – abgesehen von der Frage, ob es eines und anderes geben kann, wenn das eine das andere ist. Und dem „sei“ und den putzigen Anführungszeichen, die (zwinker!) andeuten, daß der Verfasser in Wirklichkeit die exakt gegenteilige „Meinung“ propagieren möchte. Tut er auch: Nämlich sei „die Wirtschaft“ gar nicht böse Konzerne et al., sondern „ein Prozeß“ oder vielmehr „wir alle“: „Wenn eine ganze Gesellschaft nur noch auf Eigennutz und Selbstverwirklichung aus ist, dann werden auch Unternehmen so agieren. Wenn eine Gesellschaft sich nicht um die Umwelt und faire Produktionsbedingungen schert, wenn Verbraucher Fünf-Euro-Klamotten kaufen und Benzinschlucker fahren, dann werden Unternehmen Entsprechendes anbieten.“
Da ging mir schlagartig ein Licht auf. Seit Jahren ärgere ich mich, weil kein Münchner Bäcker mehr Brot anbietet, das mit Kümmel und Koriander gewürzt ist. Dabei bin ich selber schuld! Ich muß ja nur so stur und ausdauernd Kümmel-Koriander-Brot kaufen, bis die Bäcker ein Einsehen haben und es backen!
Ich bin nämlich „Gesellschaft“ und habe eine Macht über die armen Konzerne, die ich unbarmherzig einsetzen werde. Ich werde bei überfüllten S-Bahn-Kurzzügen so lange in den zusätzlichen Waggon einsteigen, bis der MVV einen zusätzlichen Waggon dranhängt! Ich werde so viele gute Bücher lesen, daß die Verlage gar nicht mehr anders können, als gute Bücher zu drucken! Ich werde so lange gute Musik hören, bis Leute Bands gründen, die gute Musik spielen! Ich werde mich im Januar nackt an den Isarstrand legen, bis das Thermometer dreißig Grad zeigt!
Oder nein, das Klima ist schließlich kein Konzern und kann nichts für und gegen die Gesetze der Physik. Dafür werde ich im Supermarkt so stur gesunde, giftfreie, wohlschmeckende Lebensmittel kaufen, bis der Supermarkt gesunde, giftfreie, wohlschmeckende Lebensmittel in sein Sortiment aufnimmt. Ich schaue mir so lange gute deutsche Fernsehserien an, bis jemand eine gute deutsche Fernsehserie produziert. Und zur Not lese ich so lange vernünftige Zeitungsartikel, bis sich ein Journalist erbarmt und etwas in eine Zeitung hineinschreibt, was nicht einem Batzen Pudding zwischen zwei Ohren entsprungen ist, sondern zumindest eine Ahnung von Kausalität verrät.
Reiten wir nicht zu sehr darauf herum. Das Zitat entstammt einem „Wirtschaft“-Teil, und in Wirtschaftsredaktionen sitzt bekanntermaßen mehr Pudding mit Ohren herum als sich Doktor Oetker in seinen wildesten Träumen vorstellen könnte. Der schwachköpfige Artikel ist ja auch nur wieder mal Teil der Strategie, Schuld und Verantwortung denen aufzuhalsen, die weder etwas dafür noch dagegen können. Damit alles so weitergeht, wie es geht. So wie damals, als uns eine Lehrerin weismachen wollte, schuld an den Millionen Plastikbechern, die täglich in die Welt gemüllt werden und sie irgendwann unbewohnbar machen, seien nicht die Hersteller von Plastikbechern, sondern wir, weil wir sie nicht einsammeln und nach Trennung vom Aludeckel zu Containern schleppen, damit sie einem geregelten Recycling zugeführt werden. Nur so gehe das! Ein Verbot von Plastikbechern hingegen sei streng verboten, weil … nun ja, Markt und so.
Und schon ärgert man sich wieder, weil die Dummheit hinter solchen „Gedanken“ gar so abgrundtief ist und man so gar überhaupt nichts dagegen tun kann, nicht mal als „ganze Gesellschaft“. Zum Glück fällt aus so einem Wirtschaftsteil bisweilen auch mal ein Sätzlein heraus, das nicht nach verbrannter geistiger Kürbissuppe möpselt, sondern in seiner strunznaiven Gläubigkeit so goldig ist, daß man es am liebsten streicheln und ihm ein gütiges „Tutsi Tutsi!“ auf den Weg in die kichernde Welt mitgeben möchte. Etwa diese Sentenz, die dem Zweck dienen soll, gestiegene Butterpreise schönzureden: „Noch immer können es Liebhaber des Streichfetts gar nicht glauben, daß Butter neuerdings wieder zu den guten Nahrungsmitteln zählt. Gern zahlen sie mehr, spiegelt die Verdoppelung des Preises doch die neue Werthaftigkeit (sic!) wider.“
Da fällt mir wirklich gar nichts mehr ein, außer einem langen, langen, lauten Lachen, das möglicherweise vierzehn Tage dauern und mit einem durch und durch gereinigten Gehirn verklingen wird.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 11. März 2018

Frisch gepreßt #407: Salvador Sobral „Excuse Me (Ao Vivo)“


Sagt es laut und sagt es stolz: Ihr steht zu euren Ressentiments!
„Wir stehen zu unseren Ressentiments! Laut und stolz, jawoll!“
Und zwar weil der Psychologe sagt?
„Der Psychologe sagt, daß das Vorurteil der wichtigste Bullshitfilter ist, den es gibt und geben kann!“
Gut, dann hätten wir das geklärt.
„Gut! Dann hätten wir das geklärt!“
Nun paßt's aber wieder.
„Nun paßt's aber wieder!“
(Geräusch einer sich sachte schließenden Tür, durch die sich der abgenutzte Joke hinausgeschlichen hat.)
So laßt uns denn einig sein: was wir machen mit – Eurovisions-Songcontest-Teilnehmern? „Die schmeißen wir hinaus!“ Mit: dem Adel? „Den hängen wir an die Laternen, wie's das Revolutionslied will! Weil Bäume zu schade sind!“ Mit: Weichspülern? „Die schütten wir in die Waschmaschine und … Oh, falsche Kategorie!“
(Geräusch einer crescendierenden Diskussion.)
So laßt euch denn eine Geschichte künden, die das Gemüt wärmt und das Vorurteil mit feiner Backlauge pinselt: Von einem adeligen Schnöselchen handelt sie, entfernt verurschwägert mit Karl I. von Hohenzollern, das nichts zu tun hatte und daher eitel musizilierte, mit weichgespültem Jazz (sprich: „Jatz!“) Siebter bei „Idols“ und Erster beim Eurovisions-Tralala wurde und …
„Da haben wir's doch genau beieinander!“
Richtig. Aber jetzt kommt die andere Seite der Geschichte: Wer wie wir die Konsumption von Eurovision stur verweigert, hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges an Ohrenrotz, Augenschmalz und Hirnschleim erspart; aber es geht mit jeder LKW-Fuhre Gerölldreck, den man dem blauen Fluß der Zufriedenheit aus dem Weg räumt, bekanntermaßen auch das winzige Goldkörnchen verschütt, das statistisch darin herumsandet.
So haben wir zum Beispiel nicht mitgekriegt, daß „Amar Pelos Dois“, mit dem Salvador Sobral im letzten Jahr das Eurodings rekordtriumphal gewann, ein gar niedliches, hübsches Liedchen ist, das ziemlich elegant an der Kitschgrenze vorbeiperlt. Nicht mehr ganz so geschickt, zugegeben, wenn ein ganzes Publikum den Chorus mitsingt, aber dann um so herzlich-kerzlich anrührender. Auch nicht wissen können wir, daß Sobrals Stimme, die erst mal doch recht babyputzig auf zärtelnden Spinnenbeinchen tänzelt, erstaunlich, fast frappierend vielgestaltig werden kann, wenn man sie läßt. Da gelingen Opernausflüge, Bluesgeraspel, Scatkapriolen, Improrisiken und Chet-Baker-Hommage ebenso erstaunlich sicher, sympathisch erfrischend (oder wahlweise andersrum) und zugleich heimelnd verletzlich wie trauliches Geplauder zwischen und während Songs, von dem man zwar kein Wort versteht, wenn man nicht portugiesisch spricht; aber was sind schon Worte im Flaum der Melodie?
Ebenso vielgestaltig übrigens ist das Repertoire, von der Ballade bis zur Ekstase, vom Scherz bis zum schwärenden Abgrund der Melancholie, der auf den Schwingen des Lebensfreuens durchsegelt wird wie in der Bossa-Jazz-Playlist, die uns in fernen Jahren manch klirrende Januarnacht zum (paradox!) stillen Paradies gemacht. Haben wir schon erwähnt, daß Sobrals Band aus pfundigen Virtuosen besteht, die insbesondere an Klavier, Baß und Schlagzeug (ein Solo! Oh holder Irrwitz alter Ären!) ganz für sich fesseln und glänzen, ob sie nun auf „echt alt“ machen oder sich mit durchgeknipstem Bremsseil gehenlassen.
„Obacht! Der Mann, der das sagt, ist derselbe, dem damals auch das erste Swingalbum von Robbie Williams so gefallen hat! Gewarnt! Gewarnt!“
Tut es noch, ihr Instanzengläubigen, die ihr damals vom Vorurteil abgefallen seid und dem Rezitipperurteil euch unterworfen habt! Und seid ebenfalls gewarnt: Wir könnten auch noch erzählen, daß sich der arme Salvador Anfang Dezember einer Herztransplantation unterziehen mußte und zwei Tage vor Heiligabend wegen Nierenversagen erneut auf der Intensivstation landete! Wir könnten dann sehen, wie (no pun intended) herzlos ihr seid, weiterhin zu meinen, der habe es leicht im Leben und könne vom Leiden daher gar nicht singen (und einer Blues/Jazz-Logikregel zufolge von gar nichts)!
Aber davon sprechen wir nicht. Davon spricht auch die Musik nicht. Und die lassen wir nun sprechen.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 9. März 2018

Belästigungen 2/2018: Was dem einen sein besorgter Bürger, ist dem anderen (vielleicht bald) sein Chinese (oder das Fieber?)

Viele Leute sind sehr besorgt. Das heißt: Bürger, in Deutschland; von anderswo weiß man das nicht so genau. Was ist zum Beispiel mit den Chinesen? Sorgen die sich auch? in solchem Maße gar, daß ein gut organisierter Flashmob der besorgten Chinesenbürger mit einem Hüpfer die Erde aus der Umlaufbahn schmeißen und zum Jupitersatelliten umwidmen könnte?
Und sind die überhaupt Bürger, diese besorgten Chinesen, wo ihr Land doch offizieller Sprachregelung zufolge als „kommunistisch“ gilt und die Unterschiede zwischen Bourgeois und Pöbel somit aufgehoben sein sollten? Und wie ist das wiederum bei uns, wo Verlautbarungen zufolge dem stetig schrumpfenden Häuflein Bürgertum ein ungeheurer Massenansturm unbürgerlicher Flüchtlinge gegenübersteht? Haben die Flüchtlinge keine Sorgen? und werden sie im Falle einer Besorgtheit automatisch zu Bürgern, irgendwie sozio-logisch oder so?
Daß der Deutsche Angst hat, ist nicht neu. Der Bewohner des mitteleuropäischen Kernlands ist traditionell furchtsam und eingeschüchtert, und immer fürchtet er das, was ihm am wenigsten droht. Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts fürchtete der Deutsche nicht Ausbeutung, Unterdrückung, Weltkrieg oder meinetwegen die Maul- und Klauenseuche, sondern: den Juden, der offizieller Verlautbarung zufolge sein Unglück war und ihn existentiell bedrohte. Heute fürchtet der Deutsche überwiegend nicht etwa Ausbeutung, Unterdrückung, Weltkrieg oder meinetwegen BSE, Schweinepest, Vogelgrippe (bitte hier den momentan gültigen Saisonvirus dazudenken) und Überwachung, sondern: den Terror, der ihm mit einer Massenflut von Flüchtlingen ins Land schwappt.
Daß dieser Terror überwiegend gar nicht stattfindet, ist wurst. Sorgen tut man sich ja meistens wegen Dingen, die es nicht gibt, die aber unweigerlich zu dräuen scheinen. Weil jemand den Teufel flächendeckend an die Wand malt. Das funktioniert manchmal besser (vgl. Terror), manchmal nicht so gut (vgl. Putin, vor dem außer den „Grünen“ und einigen Zeitungen immer noch niemand so recht Angst haben mag). Aber es funktioniert, und heraus kommt, daß der moderne Deutsche besorgt durch seine Städte und Fluren schleicht und immer besorgter wird, bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als Nazi zu werden und eine Flüchtlingsunterkunft anzuzünden.
Dann evakuiert man ihm die Flüchtlinge ein paar Kilometer weg, und er ist eine Zeitlang weniger besorgt, bis ihm klar wird, daß der potentielle Terror nun zwar ein paar Kilometer weiter weg, aber generell immer noch da ist. Weil ihm Radio, Fernsehen und Zeitung alle paar Minuten einen Politiker vorsetzen, der den Teufel an die Wand malt, indem er beschwörend kundgibt, unser „Hauptaugenmerk“ müsse auf „dem Terror“ liegen, der ständig drohe. (Und dem Putin, was aber im Bewußtseinsgewölle des besorgten Bürgers irgendwie dasselbe ist.)
Drum muß man mit besorgten Bürgern reden. Ihnen zum Beispiel mitteilen, daß das Anzünden von Unterkünften Terror ist und daß man, wenn man so was „verübt“ oder durch dummes Gerede herbeiführt oder begünstigt, nicht etwa seine Sorgen loswird, sondern das Leben anderer, ebenfalls besorgter Bürger oder wenigstens Menschen in Gefahr bringt und deswegen ins Gefängnis gesperrt werden muß.
Ihnen ihre Sorgen ausreden hingegen muß man nicht, weil die ja größtenteils Unfug sind. Falls das doch mal nötig wird, weil man gründlich vorgehen möchte oder weil die Besorgtbürger im Fieberwahn der jährlichen Influenza wähnen, da stürme tatsächlich ein Millionenheer von wildwüsten Barbaren heran, die sie zu unterwerfen und einen „Gottesstaat“ zu errichten trachteten, kann man sie ganz schnell beruhigen. Man hört ja gelegentlich, in jenen ostdeutschen Gefilden, die mal eine eigene Fußballnationalmannschaft hatten (an die sich Franz Beckenbauer und Sepp Maier gut erinnern), stünden hunderte Bauernhöfe, Burgen, Schlösser, Dörfer und Städte leer, weil dort keiner mehr wohnen mag. Da ist Platz genug für viele Menschen, die anderswo nicht mehr wohnen können, weil man sie dort mit deutschen Waffen totschießen will. Daß man sich mit denen anfangs nicht so leicht verständigen kann, sollte so problematisch nicht sein; schließlich ziehen auch hunderttausende Norddeutschbürger nach München und ins bayerische Oberland und verstehen kein Wort. Und das mit dem irgendwie anderen Gott, ja mei, das wird man schon geregelt kriegen. Erstens ist hierzulande die Verknuddelung von Staat und Religion sowieso verboten (und die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit von Parteien wie CDU und CSU somit per se ebenso verfassungswidrig, wie es eine „Islamistische Soziale Union“ oder so was wäre). Und zweitens haben wir es immerhin geschafft, die terroristischste aller bekannten Groß- und Kleinreligionen so in den Zaum zu kriegen, daß sie heute nur noch selten Kreuzzüge unternimmt und die Urbevölkerung ganzer Kontinente ausrottet.
Das übrige läßt sich leicht klären: Daß es den meisten von uns, ob besorgt oder Flüchtling, nicht besonders gut geht, daß wir kein Geld, keine sichere Wohnstätte, keine frische Luft, keine giftfreie Nahrung, keine Zeit, keine Liebe und wenig Schönes, dafür aber Streß, Druck, Depressionen, Überwachung und psychische Störungen haben, daß unsere Krankenhäuser auf dem letzten Loch pfeifen, die Städte den Autos gehören, unser Trinkwasser verseucht ist und neun Zehntel der Weltbevölkerung uns nicht mögen beziehungsweise glühend beneiden – das liegt an dem Grundübel, das uns früher von außen beherrschte und inzwischen als lebenssteuernder Chip in unser Hirn eingebaut ist, so daß wir gar nicht mehr anders denken und fühlen können: am Kapitalismus. Den sieht man nicht so leicht wie eine Flüchtlingsunterkunft, weil man ihn mit dem Chip im Kopf nicht sehen kann.
Wenn wir unsere Besorgtbürger so weit haben, daß sie das einsehen, wird es allerdings kompliziert. Denn nun sind sie zwar immer noch besorgt und machen sich vielleicht sogar Gedanken, wie man die üblen Zustände ändern könnte. Aber reden darf nun keiner mehr mit ihnen. Das darf man nur mit besorgten Nazis, Antisemiten und ihrem dreiviertelextremistischen Mitläuferschwarm. Den anderen, deren Sorgen sich auf die tatsächliche Ursache des ganzen Elends beziehen, kommt man mit Razzia, Staatsschutz, U-Haft und Hausdurchsuchung. Die nämlich umschwebt der Verdacht, sie könnten das sein, was offizieller Mahnung zufolge das schlimmste ist, was man sein kann: linksextrem!
Das heißt: irgendwie chinesisch. Und da springen wir über drei logische Ecken zu der Frage, ob man sich sorgen muß, daß die echten besorgten Chinesen ausländischen Zuwanderern, die sie bedrohen und ihnen die Haare vom Kopf fressen (Siemens, Apple et al.), demnächst die Unterkünfte anzünden werden und wer dann wie mit ihnen reden soll. Oder hat uns lediglich selbst der Fieberwahn der Influenza gepackt?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 6. März 2018

Frisch gepreßt #406: Eminem "Revival"


Wie lange kann man leben, wenn man nicht schläft? 264 Stunden, sagt Randy Gardner, der das 1965 ausprobiert hat und immer noch lebt.
B. kann in den Wochen vor Weihnachten nie schlafen, sagt sie. Es treibt sie zu vieles um, vom Zustand ihrer Familie bis zum Zustand der Welt: Da erkennt sie Dinge, die andere nicht erkennen, während die Dinge, die andere erkennen, ihr unverständlich bleiben. Das dreht sich in ihrem Kopf, von dem sie vor allem in den frühesten Morgenstunden bisweilen befürchtet, er sei die Kugelachse des Universums.
Zu solchen Zeiten besucht B. gerne fremde Küchen, in denen sie dann sozusagen symbolisch den Tisch freiräumt und raucht, bis der Aschenbecher einem jüngst erloschenen Vulkan in Modelleisenbahnausgabe ähnelt. Ihr anheimelnd melancholischer, phasenweise zornig schwellender, dann wieder ästelnd mäandrierender Redefluß erscheint dem Zuhörer manchmal wie Musik, vor allem wenn die Dezembersonne erste milchig verwaschene Strahlen ins dunstige Gespinst vor dem bald strahlenden Blau wirft und die Stöckelschuhe der Nachbarin einen indiskreten, vom Ziegelkern der Küchenwand mit Baßfrequenzen unterfütterten Beat stöckeln.
Dann erinnert mich B. auch mal an Eminem. Sie spricht von der Wiederkehr des immer gleichen, periodisch wie die Gedanken und Anwallungen der Vorweihnachtszeit, wie die Muster von Nähe und Flucht in verflossenen Beziehungsversuchen, und wenn ihr das zu banal wird, wagt sie einen linden Witz: „Ich kann auf dem Wasser gehen“, sagt sie, „aber ich bin nicht Jesus, nur eine unbegabte Schlittschuhläuferin.“
Das sagt Eminem auch, der auf seinem neunten Album noch so einiges sagt, was man erst beim dritten, fünften, neunten Hören akustisch versteht, weil er noch schneller redet als B. (die nun versonnen dem Ausdruckstanz ihres Zigarettenrauchs folgt) und man immer wieder beim zweiten Reim die Bremse ziehen und denken muß, wodurch der Rest der Strophe davonrauscht und verschwindet wie ein verpaßter Zug auf einem winterlichen Kleinbahnhof: „I walk on water but I ain't no Jesus / I walk on water but only if it freezes.“ Aber nein, er sagt es gar nicht, sondern läßt es Beyoncé sagen, einen von vielen Gästen (Phresher, Ed Sheeran, Pink, X Ambassadors … you name 'em) auf der Platte, die also ein „Revival“ sein soll, das gefühlt sechzehnte, gemeint erste, was ein so naheliegender Anlaß für journalistische Häme ist, daß man ihn besser nicht unbesehen aufgreift: „Das Wort bedeutet nicht Rückkehr oder Comeback“, sagt B., „sondern Erweckung oder Wiederbelebung. Was man erweckt, kehrt nicht zurück, es war immer da.“
Klar, da steckt ein System drin: „Encore“ (Zugabe), „Relapse“ (Rückfall), „Recovery“ (Erholung), dazwischen per Compilation ein „Curtain Call“ (Schlußverbeugung) und ein „Re-Up“ (Verlängerung) … seit vierzehn Jahren eine einzige Wiederkehr von etwas, was scheinbar nie weg war oder immer schon ist. Dazu zählt auch das Gemecker der Kritiker, auch das Anknüpfen: Rick Rubin und Dr. Dre sind als Produzenten dabei, das Haar ist wieder blond(iert), und mit „Like Home“ (mit Alicia Keys) mutiert Eminem zu einer Art spätem Robbie Williams des Oldschool-Rap. Wie's weitergeht, ist absehbar und trotzdem neu, das macht übrigens auch den Reiz spätnächtlicher (Vor)weihnachtserzählungen aus.
B. hat alle denkbaren Mittel probiert, ihre Schlaflosigkeit zu vertreiben oder wenigstens zu dämpfen. Ganz daneben ging der Versuch mit der Medientherapie: Nach drei Tagen Fernsehen, Radio und Zeitung hatte sie das Gefühl, in einen Wahnkäfig gesperrt zu sein, in dem die ganze Welt eine flache Projektion ist, die nur aus Wirtschaft, Börse, Terror und Trump besteht. Nun, mit Eminem, hat sie einen Weg gefunden: Aus dem Dickicht der Worte führt nur eine Machete aus Worten; so hebt sich alles auf, und im Kopf entsteht ein Gleichgewicht aus Sinn und Stille, aus dem wir morgen nachmittag erwachen werden, in eine Gegenwart, in der jeder Zustand eine Wiederkehr und zugleich alles leer, neu und Licht ist.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 3. März 2018

Belästigungen 1/2018: Wer die Krone der Schöpfung und wer an allem Unheil schuld ist

Früher lernte man in der Schule, der Mensch sei die Krone der Schöpfung. Was vielleicht gar nicht so falsch ist, wenn man genauer drüber nachdenkt: Kronen sind (von Bäumen mal abgesehen) meist ziemlich protzige, nutzlose, unförmige, sauschwere und unbequeme Dinger, die man (also: die Schöpfung) kurz mal zum Repräsentieren aufsetzt, wenn's unbedingt sein muß, und dann wieder wegräumt. Anfangen kann man sonst nichts damit, im Gegensatz zu Schuhen, Hosen, Hemden, Mützen, Pullovern, Jacken, Mänteln, Handschuhen, Brillen, Socken, Kopfhörern, T-Shirts, Unterhosen, Schals, Taschen und dem ganzen anderen Zeug, das man noch so tragen kann.
Wenn also ein vorwitziger Mensch einer Stubenfliege zu verstehen gibt, er sei übrigens die Krone, sie hingegen höchstens das Hühneraugenpflaster oder das Klopapier der Schöpfung, weshalb er Respekt und das Vorrecht verdiene, selbige Schöpfung in die Mülltonne zu hauen, wie und wann es ihm beliebe, dann sieht er das eventuell falsch. Sogar ein besonders eitler und eingebildeter Kaiser – sagen wir mal: Idi Amin oder Ludwig der Vierzehnte – hätte im Zweifelsfall mit Sicherheit lieber auf seine Krone verzichtet als auf das schmerzlindernde Pflaster. Für dreilagiges Klopapier hätte er wahrscheinlich sogar noch sein Szepter und sonstigen Klunkerklimbim hingegeben, und selbst wenn es bloß ums Schmücken gegangen wäre, hätte er sich garantiert lieber ein paar Schmetterlinge aufs Haupt gesetzt als einen beliebigen Menschen. Der Schöpfung wird es da nicht anders gehen: Auch die trägt mit hoher Wahrscheinlichkeit lieber Blumen und Pfauenaugen auf dem Schädel spazieren als, sagen wir mal, Christian Lindner oder Donald Trump.
Aber abgesehen davon: Daß je eine Krone auf die Idee gekommen wäre, sich den von ihr bekrönten Herrscher untertan zu machen, wie sich das der Mensch der Schöpfung gegenüber anmaßt, ist historisch nirgendwo belegt. Die Aufgabe einer Krone ist, wie gesagt, klumpig und klobig in Vitrinen herumzuliegen und einen fiktiven Wert zu repräsentieren, der eigentlich gar keiner ist, weil: Wenn die Nachfrage nach Kronen gegen null geht, werdet ihr feststellen, daß man Gold, Rubin und Smaragd nicht essen kann!
Und sowieso ist das mit dem Untertanmachen eine Wahnvorstellung. Seit Jahrzehntausenden ist der Mensch in Wirklichkeit macht- und willenloser Untertan zum Beispiel diverser Getreidepflanzen und wimmelnder Völker von Viren, die ihn drillen und dressieren, durch ihn florieren, sich verbreiten, die Welt erobern und noch nie daran gedacht haben, „demokratische Wahlen“ zu veranstalten. Und statt sich allmählich von der Gewaltherrschaft zu emanzipieren, hat sich der Mensch in den letzten Jahrzehnten auch noch dem Auto, der Maschine, dem Geldwachstum und dem Computer unterworfen und fungiert als deren devoter Sklave, kredenzt ihnen das einzige, was er an weltlichem Besitz tatsächlich hat (Lebenszeit), und fühlt sich, wenn er zwischendurch erschöpft aufs Lager sinkt, auch noch irgendwie „zufrieden“ und täte gerne noch mehr Sklavenarbeit ohne Gegenleistung verrichten. Zu behaupten, Autos, Geld und Smartphones seien „Mittel zum Zweck“, ist ungefähr so stichhaltig wie die Meinung eines Schwerstalkoholikers, er trinke nur hin und wieder ein Schnäpschen, weil das die Verdauung fördere.
Der Mensch, fassen wir zusammen, ist weder die Krone noch der Herrscher, sondern der leibeigene Lakai der Schöpfung (und zwar zum größten Teil seiner eigenen), und er hat im Laufe der Evolution ein solches Talent entwickelt, sich ohne jeden Widerspruch zu unterwerfen und ausbeuten zu lassen, daß er sein elendes Sklavendasein notfalls lieber mit Atombomben verteidigen würde als es aufzugeben.
Manchmal allerdings gerät der größtenteils perfekt ablaufende Prozeß, mit dem der Mensch auf lange Sicht seine Selbstauslöschung betreibt und die Übergabe der Welt an autonome Autos und Maschinen einleitet, ein bißchen ins Stocken. Da flammt plötzlich irgendwo ein Revolutiönchen oder ein Widerständchen gegen einen faschistischen Putsch auf, bricht eine Epidemie aus, tragen renitente Störenfriede Spruchtafeln durch ansonsten blitzsaubere Stadtmaschinen, mäkeln Miesmacher am Kapitalismus herum, brechen Börsenkurse ein, verweigert ein sturköpfiges Gallierdorf die Unterwerfung, geraten Banken in Schieflage, rumpelt ein stromlinienunförmiger Trottel in ein Weißes Haus hinein und bringt alles durcheinander, kommen verräterische Mails, Dokumente und Paradiespapiere „ans Tageslicht“ – lauter unerfreuliche Störungen. Die muß man irgendwie erklären, bevor das Menschenmaterial insgesamt unruhig wird, gefährliche Fragen stellt und zu zweifeln beginnt.
Lustigerweise greifen die Verwalter und Moderatoren des Prozesses dabei auf ein Erläuterungsmuster zurück, das ziemlich genau der Wahrheit entspricht: Der Mensch, betonen sie, sei nicht autonom, selbstbestimmt, Herr des eigenen Willens und der Schöpfung, sondern ein willenloser Sklave. Allerdings beherrschen ihn weder Autos, Maschinen, Smartphones noch Viren, Getreide, Suchtmittel und schon gar nicht das Kapital und die mächtigste Manipulations- und Verblödungsmaschinerie, die das Universum seit dem Urknall gesehen hat, sondern: russische Hacker!
Die nämlich haben Hillary Clinton sabotiert, Trump ins Amt gehievt, den Brexit herbeigeführt, in Banken und Börsen herumgewurstelt, Katalonien und Simbabwe aufmüpfig gemacht usw. usf., und wenn sich unsere Geheimdienste und Medien nicht unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte gegen den Sturm aus dem Osten stemmen täten, hätte der uns längst überschwemmt, und es wäre … was noch mal genau Schlimmes passiert? Nichts?
Nein, ganz und gar nicht nichts: Das Geld, das wir erarbeiten und an die Ein-Prozent-Klasse der Fettmutanten abtreten müssen, flösse dann möglicherweise nicht mehr auf transatlantische, sondern auf russische (und neuerdings chinesische) Privat- und Schwarzkonten. Was denen, die die Milliardäre dieser Welt mästen, selbstverständlich keinesfalls egal sein darf! Die müssen angesichts derartiger Bedrohungen „überlegen“, ob sie „dafür aufgestellt sind, um diese Bedrohungspotentiale auszugleichen und abschrecken zu können“! „Die Politik“ müsse unbedingt entscheiden, „ob die eigenen Wehr- und Rüstungsfähigkeiten ausreichen“!
Der Kerl, der derartigen Giftmüll in Mikrophone bellte, hieß übrigens weder Goebbels noch Hitler, sondern heißt immer noch Kahl und amtiert als (selbstverständlich nicht gewählter) „Präsident“ des „Bundesnachrichtendienstes“. Der Nachrichtendienst, der seinen Schwachsinnsschwall unredigiert und unkorrigiert (da darf auch der fiese Chinese „ganz neue Seiten“ aufziehen), dafür mit einer Zusatzportion Alarmismus in die Welt hinauspumpte, ist jeglicher Unterwanderung durch nichtrussophobe Quertreiber unverdächtig, wird von manchen für eine „seriöse“ Tageszeitung gehalten und verräumte den Quatsch deswegen auch nicht irgendwo zwischen Promigebrabbel, Horoskop und TV-Programm, sondern auf der Titelseite.
Weshalb, ist klar: Nachdem der hoffnungslos unterlegene Russe mittlerweile gesamteuropäisch in Steinwurfweite von NATO-Truppen umzingelt ist, die immer monströsere Vernichtungssimulationen („Manöver“) an seinen Grenzen veranstalten, und sich trotzdem immer noch nicht in die Knie zwingen lassen mag, muß demnächst mal wieder richtig geschossen werden.
Und da fällt uns auf, daß wir die wahre „Krone der Schöpfung“, der in der Tat die gesamte Welt auf Verderb statt Gedeih unterworfen ist, vergessen haben: die Waffe. Auch die ist eine Schöpfung des Menschen, aber wenn sie ihn demnächst von der Oberfläche des Planeten tilgt und damit nebenbei auch sämtliche Börsenkurse und Zeitungsabonnements endgültig löscht, wird er sich auf russische Hacker nicht mehr hinausreden können.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.