Freitag, 22. Februar 2019

Frisch gepreßt #430: Selling "On Reflection"


Bisweilen kommen einem seltsame Erinnerungen in den Sinn. Zum Beispiel daß wir im anbrechenden Winter 1980, als der Himmel fahl und bleischwer und seit Wochen sonnenlos über Giesing hing und die leeren, von toten Baumgerippen gesäumten Straßen und Wege mit Wolkenstaub besalzt dalagen, in das wir einsame Stiefelspuren prägten, … daß wir da alle Piraten und Indianer werden wollten. Das ist erst mal nichts besonderes: Der Winter ist streng genommen Faschingszeit, und jedes Kind will irgendwann Pirat und/oder Indianer werden. Wir waren aber keine richtigen Kinder mehr, sondern fast erwachsen, und die Sache war keine Maskerade, sondern Ernst, Weltsicht und Manie, ausgelöst durch das Auftauchen der Band Bow Wow Wow, deren hysterisch überdrehte dreizehnjährige Sängerin Annabella Lwin das so ziemlich unwahrscheinlichste Role Model der hartgekochten Post-Punk-Generation wurde, das man sich nur vorstellen kann.
Wieso mir das einfällt? Weil mir beim Stöbern im Strandgut des Musiksommers 2018 die vor Monaten unbeachtet erschienene Box mit dem Gesamtwerk von Bow Wow Wow in die digitalen Finger gerutscht ist. Und weil der Winter oft seltsame Blüten (ausschließlich im übertragenen Sinne) treibt, was Musik angeht. Angemessener war damals sicherlich das, was wir kurz zuvor noch mit der gleichen Sturheit und Ausschließlichkeit gehört hatten: der depressionslastige Klangbeton des Post-Punk von Gang of Four bis Joy Division. Der schuf allerdings durch akute Überfütterung das dringende Bedürfnis nach dem absoluten Gegenteil, und das fanden wir in den erotisch flirrenden Südseetrommeleskapaden von Bow Wow Wow.
Und so geht das oft, und hier ein weiteres Beispiel, mit dem wir unserem Thema näherkommen: Einige Jahre zuvor war die Beschäftigung mit verstiegenem Prog-Rock obligatorisch, und zwar regelrecht akademisch. Da brachte man ganze Wintertage und -nächte damit zu, Soli von Rick Wakeman und Keith Emerson, Kompositionsstrukturen zwanzigminütiger Sinfonien von Yes, ELP und Genesis, assoziativ-akzidentale, mit metareligiösen Suchphantasien aufgeladene Lyrizismen von Jon Anderson und Peter Gabriel weniger zu genießen (das ging schon auch) als zu analysieren. Das damals erlösende Gegengift hieß Tangerine Dream und war tatsächlich das absolute Gegenteil: durch und durch synthetisch, körperlos fließend, schwebend, mäandernd, aus sich selbst und dem Nichts heraus entstehend und evolvierend, frei von Brüchen und menschlichen „Ideen“. Diese Musik verlieh dem Winter, in dem der Himmel fahl, bleischwer und sonnenlos über Giesing hing und die leeren, von toten Baumgerippen gesäumten Straßen und Wege mit Wolkenstaub besalzt dalagen, einen futuristischen Schimmer und leerte den Kopf so vollständig, daß er zum Universum wurde, jenseits von Zeit und Raum, substanzlos und ewig.
Damit schließt sich ein Kreis. Diesmal nämlich trifft der Winter auf ein Gemenge aus Sandbergen von Hip-Hop-Sinnflut, analytisch-reflexiver Arbeit an Beats und Reimsplittern und dem absichtsvoll aufdringlich dröhnenden Selbstsuche- und Melodieozean, den die Buzzcocks und ihr Anfang Dezember verstorbener Kopf Pete Shelley hinterließen (größtenteils kurz vor Bow Wow Wow übrigens). Das Bedürfnis nach dem Tangerine-Dream-Effekt, das daraus entsteht, wird irgendwann so dringend, daß das Album „On Reflection“ (der Titel ist in diesem Zusammenhang durchaus ironisch zu verstehen) wie ein Komet am Horizont erscheint.
Nicht sofort: Der eckig-sperrige Opener „Qprism“ ist eine Art Restmülltonne für die sublimierten Überbleibsel der menschgeistigen Bürokratie. Das Raumschiff startet mit „Dicker‘s Dream“, und spätestens nach zwei Minuten, wenn der stratosphärische Beat anschwillt, ist man der materiellen Welt so fern, daß „Ferne“ als Begriff selbst bedeutungslos geworden ist. Nach 8:37 ist man gänzlich drüben. Hin und wieder treiben dann gespenstische Fossilien unergründlicher Phänomene vorbei, die man bestaunt, während man weiterflirrt, lichtgeschwind und reglos. Am Ende öffnet sich ein Wurmloch, und plopp! ist man wieder hier und da, aber ein anderer.
Ach so, das Duo Selling (auch der Name ist in diesem Sinne ironisch zu verstehen) besteht aus Gold Panda und Jas Shaw von Simian Mobile Disco, was ihrem Album zweifellos (Techno/Elektro-)musikhistorische und kommerzielle Bedeutung verleiht, aber wen kümmert so etwas in solchen Momenten und Wintern?

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 20. Februar 2019

Belästigungen 23/2018: Die Ausweitung der Verkehrskampfzone (auch eine Sommerbilanz)

Die Stadt München läßt sich von ihren amtlichen und nichtamtlichen Reklameabteilungen seit einiger Zeit gerne als „Hauptstadt des Radfahrens“ bezeichnen. Klar, denkt der unbedarfte Tourist nach ausgiebigem Genuß des aus südlicheren Gefilden mitgebrachten Adolf-Hitler-Weins: Radfahren ist Bewegung, da gibt es eine gewisse Tradition!
Zum Glück jedoch ist von der damals gemeinten Bewegung im Münchner Alltag so richtig virulent nur noch die Unterscheidung zwischen „lebenswert“ und „lebensunwert“. Radeln wiederum ist zumindest grundsätzlich keiner faschistischen Ideologie verdächtig, also ist gegen eine solche Bezeichnung zumindest grundsätzlich wenig einzuwenden.
Indes erweist die Sommerbilanz: daß ich auf dem Weg von meiner Haustür zu meinem bevorzugten Badeplatz in Thalkirchen (Zählung vom 23. August) an 32 Verkehrsampeln vorbeikomme, die die Blut- und Lebensadern der ganz Bayern durchfressenden Autokrebsgeschwulst vor allzu vielen unbefugten Eingriffen schützen. Das heißt: ich komme nicht daran vorbei, weil diese Ampeln samt und sonders so geschaltet sind, daß man als Radfahrer an jeder einzelnen davon anhalten muß, um für geraume Zeit eine leere Kreuzung und die Fressen der aktuellen Parlamentspappkameradenkandidaten des Autokrebses zu betrachten.
Das führt zu erwart- und sicherlich auch berechenbaren Aufweichungen der Verkehrsdisziplin: Nach einer gewissen Toleranzzeit (die in etwa einer traditionellen Ampelphase entspricht) fahren und gehen Radler und Fußgänger scharenweise einfach los. Stört ja eigentlich keinen. Nicht die Polizei, die sich ansonsten damit herumlangweilen müßte, grimmige Maschinengewehre spazierenzutragen und einen „Terror“ abzuwehren, den es gar nicht gibt. Und erst recht nicht die Stadt München, der es die solcherart abgezockten Bußgelder ermöglichen, auf eine angemessene Besteuerung der Autogeschwulst zu verzichten.
Die wiederum stört es am wenigsten. Die investiert einen Bruchteil der eingesparten Milliarden in weitere Ampeln und stellt die demütigenden Leuchtgeräte rund um ihr Brutbiotop am nördlichen mittleren Ring auf, damit dort auch sonn- und feiertags und nachts die Pilgerströme zum Tempel der modernen Weltreligion strömen können und zufällig Vorbeiradelnde ohne Interesse am BMW-Kult alle zwanzig Meter ein hübsches rotes Licht und photographierende Asiaten betrachten dürfen.
Stören tut es nur die Radler selbst, und deshalb rüsten sie auf. Und sie diversifizieren: Neulich raste uns auf der Autokrebsader, die quer durch den Englischen Garten pumpt und normalerweise zum Glück nur von Bussen, Polizeistreifen, Liefer-LKWS und ähnlichen Exemplaren genützt wird, ein Kindertretroller mit darauf befestigtem Börsenheini entgegen, dessen Höllentempo uns nur so lange verblüffte, bis wir das Nummernschild am hinteren Ende sahen. Ob das überhaupt erlaubt sei, fragte meine Begleiterin irritiert, während der Hund um unsere Beine herum einen Veitstanz aufführte, der ausnahmsweise nichts mit Lebensfreude zu tun hatte. Ich wußte keine Antwort, weil meine Kenntnisse in Sachen Verbote nicht mal dafür ausreichen, ungefähr zu erläutern, welche Rauschmittel man aktuell in welcher Menge erwerben, mitführen beziehungsweise konsumieren darf. Was den motorisierten Verkehr angeht, vermute ich schon länger, daß im Grunde alles erlaubt ist, was das Wachstum ankurbelt.
Drum schraubt man neuerdings an jedes ehemals friedliche Fortbewegungsgerät außer der Luftmatratze Motoren dran, elektrische meistens, die angeblich „nachhaltig“ sind, aber mit diesem Schmarrn wollen wir uns heute mal nicht befassen. Ein Effekt dieser Aufrüstung ist, daß die In- oder vielmehr Aufsassen der Maschinen schneller beim Baden sind als ich, weil sie in den Genuß der ansonsten Autos vorbehaltenen grünen Welle kommen. Nachteil: Der Mensch muß ja nicht nur zum Baden und wieder heim, sondern hunderttausend weitere Ziele erreichen, und außerdem kriegt er (wahrscheinlich wegen eines evolutionären Gendefekts) vom anstrengungslosen Herumschwirren sofort Lust auf noch mehr anstrengungsloses Herumschwirren.
So verwandeln sich nun auch Radwege, Bürgersteige, Fußgängerzonen, Trampelpfade und notfalls die gesamte Landschaft in die Kriegs- und Kampfzonen, die „unsere“ Straßen längst sind. Orientierungslose Greise auf tonnenschweren E-Bikes suchen vergeblich die Bremse, kollidieren mit den behelmten Piloten der Kinder-LKWs, mit denen das Elitepack schaukelnd und schlingernd seinen Nachwuchs vom Bioladen zur „Kita“ gondelt. Dazwischen springen, irren, hüpfen, taumeln und purzeln überforderte Normalmenschen mit ihrem Alltagsgepäck herum, landen im Rinnstein, krachen in Glascontainer und falsch (oder richtig, das ist kein großer Unterschied) parkierte herkömmliche Riesenautos hinein, laufen gegen Bäume, stürzen in Flüsse und Bäche.
Von den Tieren wollen wir gar nicht sprechen. Das herbstliche „Hä! Hä! Hä!“ der Krähen (die bekanntermaßen in Sachen Intelligenz dem homo sapiens weit überlegen sind, was man zum Beispiel daran sieht, daß sie weder Autos noch Fernseher noch Lohnarbeit erfunden haben) ist vielleicht hämisches Gelächter über das selbstmörderische Tohuwabohu da drunten. Oder sogar diese ansonsten gelassenen und kontemplativen Viecher sind so entsetzt von dem Wahnsinn, den der Mensch da mal wieder anzettelt, daß es ihnen elaboriertere Sprachäußerungen verschlagen hat.
Man könnte befürchten, daß demnächst auch die Fußgänger anfangen, sich für den Fortbewegungswettbewerb zu rüsten, mit Düsentriebwerken oder atomaren Elektrostiefeln. Man könnte hoffen, daß der heranziehende Winter dem wüsten Gemetzel einen Dämpfer verpaßt und die Erholungspause in den beheizten vier Wänden zu Einkehr und Besinnung führt.
Aber wie beim Menschen üblich, ist auch diese Hoffnung höchstwahrscheinlich vergeblich.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 13. Februar 2019

Frisch gepreßt #429: itoldyouiwouldeatyou "Oh Dearism"


Da drüben an der Ecke steht der stinkige alte Kulturkonservativist und erzählt mal wieder jedem, der vorbeikommt und Ohren hat, daß in der Pop- und sowieso der Rockmusik alles längst gesagt und vorbei und mehr als imitierende Repetition schon deswegen nicht mehr möglich ist, weil der Zahl der – eben – Möglichkeiten von der Natur weite, aber unüberwindliche Grenzen gesetzt sind. Ist ja auch gut so, sagt sein Faulpelz von Assistent, der seit dreißig Jahren jedes Lebenszeichen seiner damals bevorzugten Indie-, Alternative- und Sonstwas-Helden chronistenpflichtig verzeichnet und vermerkt und alles andere höchstens epigonal einsortieren bzw. ausblenden kann oder mag. Denn, sagt er, über manch eine „Entwicklung“ hüllen sich völlig zu Recht filternde Schleier des Vergessens.
Da immerhin sind wir uns einig. Emo zum Beispiel, kann sich jemand erinnern? Eine ganze Welle von Buben in knielangen Hosen, die aussahen wie karikierte Heilige in Mangaversionen biblischer Tragödien und sich ein Universum von Melodie, Stringenz und poetischer Verdichtung entfernt Lunge und Seele aus dem dürren Leib krähten, um der Welt mitzuteilen, daß ihr Mädel böse und weg und mit jemand anderem zusammen ist. Klar, die Erinnerung ist ungerecht, aber im wesentlichen war‘s das doch, was uns, angefangen wahrscheinlich mit dem schönen, Äonen nicht und von niemandem mehr gehörten Album „Dark Days Coming“ von 3, diese ganze Genregeneration hinterlassen hat. Liegt im Giftkeller, sicher versperrt mit der beruhigenden Gewißheit: Auf so eine dumme Idee kommt niemand mehr oder frühestens im Jahr 2100, wenn der letzte überlebende Zeitzeuge keiner mehr ist.
Ha! Und dann kommt mal wieder der Sailer daher, der sich bekanntermaßen zuerst immer die neuen Platten anhört, die sonst keiner hören will, die aber irgendwas an seinem mutierten Interesseorgan anrühren. Zum Beispiel mit einem rätselhaft schönen Cover und einem Titel wie „Oh Dearism“, den man intuitiv-ästhetisch versteht und doch nicht begreift – schon deswegen, weil er ein Zitat ist (Adam Curtis, bitte googeln!), aus dem sich ein weites Gespinst von Gedankengängen entfaltet, die das seltene Kunststück fertigbringen, ein Leuchten ins Gehirn zu zaubern.
Und dieser Sailer kommt dann mit einer Band daher, von der man sich zufällige Zehnsekundenschnipsel anhören könnte, ohne sie wiederzuerkennen, von denen aber jeder einzelne faszinierende Assoziationen (jeweilige Gipfelhöhepunkte von Progrock, Punkrock, hymnischem Stadionpop u. v. m.) auslöst. Da muß man einfach weiterhören, alles hören, und wenn man das tut, von Anfang dieses grandiosen, grandios ausufernden Albums an bis zum letzten Ton, dann ist man durch einen Mahlstrom der Begeisterung gedreht ein neuer Mensch geworden. Es ist im Grunde, zumindest per Behauptung, tatsächlich Emo, was diese junge Band aus London veranstaltet, aber es ist erstens so reich an Ästen, die in alle Richtungen wachsen, daß der Begriff ins Leere fällt. Es ist zweitens so gut, so unfaßbar schön und gut, daß Begriffe sowieso nicht hinreichen. Es ist drittens so gewaltig, ein solcher Planet von Kleinigkeiten, Details, Melodien, Rhythmen, Tempi, Gefühlen, Bildern, von denen nicht das winzigste fehl am Platz oder störend wirkt, daß man sich beim Hören derart biedere Gedanken gar nicht machen kann.
Okay, auch Joey Ashworth, Sänger und irgendwie Kopf der Band, weiß, was Emo soll, aber selbst eine Zeile wie „I was better when I was a baby / I only cried when I was tired or hungry“ (aus der unbeschreiblich schönen Single „Young Americans“) klingt aus seinem Mund nicht wehleidig, sondern poetisch, und das ist sie ja genau betrachtet auch. Über was Ashworth schreit, weint, die meiste Zeit aber singt, ist mehr mehr mehr, politisch, soziologisch, psychologisch im besten Sinne „progressiv“, anrührend, mitreißend, gehirnfunkend, geistreich, nachvollziehbar, anregend, ein Kosmos der Ideen und Gedanken, die andere akademisch in Leder binden ließen, die er aber per Emotion direkt ins Herz schießt. Und dazu: Melodien! Melodien! Songs! traumhafte Harmonien! Wut, Liebe, Begeisterung!
Wenn es je eine Platte gab, die den Schreiber dieser Zeilen beim Hören nicht nur mit ihrer Schönheit umgerissen, sondern zugleich klüger gemacht hat, in der er versunken ist wie in einem Ozean purer Empfindung, dann ist es diese. Wenn es je eine gab, die er dem Kulturkonservativisten und seinem hartleibigen Assi nicht nur ans Herz legen, sondern am liebsten per Rezept verordnen möchte – und dem Rest der Welt dazu – dann ist es ebenfalls: diese. Heureka Halleluja.

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Montag, 4. Februar 2019

Belästigungen 22/2018: Vom Borderline-Narzißmus unserer elektrischen Lebensgefährten

Der Herbst, vor allem der späte (in dem man selbst in Zeiten der Erderwärmung nicht mehr jeden Tag in die Isar hüpfen kann), ist eine seltsame Zeit. Da kommen Sachen zurück, an die man längst oder überhaupt keinen Gedanken mehr verschwendet hat. Damit meine ich (heute mal) nicht das angedrohte Comeback des möglicherweise schlimmsten Wirtschaftsfaschisten der 90er und Nuller-Jahre, der die letzte Zeit als Vorsitzender der notorischen „Atlantik-Brücke“ und Lobby-Pusher diverser Geldzentrifugen bis hin zum Weltvampir BlackRock (dessen deutschem Aufsichtsrat er vorsteht) damit zubrachte, unter anderem den deutschen Steuerzahlern dutzende Milliarden abzusaugen, und nun via Vorsitz der Größtpartei – für die er einst den Kampfbegriff „Deutsche Leitkultur“ ersann – sein soziales Vernichtungswerk zu vollenden trachtet.
Nein, für solch unerfreuliche Echo-Pömpeleien aus „Christiansen“-Zeiten hat ein empfindsamer Mensch zumindest im Herbst weder Nerv noch Zeit. Zumal er davon sowieso wenig mitkriegt, weil ihm eine vordem vollkommen unbekannte Organisation namens „PŸUR“ das zum Konsum der Nachfolgeformate selbiger Propagandaschau nötige Signal im Rahmen der offenbar staatlich beschlossenen „Volldigitalisierung“ abgeschaltet hat und der Fernseher nur noch das zeigt, was auch beim Blick in den Herbsthimmel das Bild erfüllt.
Dies berichtet dem seit Jahren fernsehabstinenten Berichterstatter die verzweifelte Freundin A, die hinzufügt, sie wisse noch nicht mal, wie man diese Organisation eigentlich ausspricht, und schon gar nicht, wer sie ermächtigt hat und wo sie überhaupt herkommt. Im Internet nachschauen könne sie nicht, weil ihr Computer, der monatelang vergeblich darauf wartete, daß sie vom Baden zurückkommt und ihn doch mal einschaltet, beim ersten solchen Versuch nur noch ein sanft blinkendes Fragezeichen zeigte und bei weiterem Nachbohren meldete, beim Wiederherstellen des ursprünglichen Aktivierungszustands sei „das Problem -69842“ aufgetreten.
Ganz anders C, der zur Verständigung mit der Außenwelt neuerdings auf sein rumpelndes, rauschendes und hin und wieder gewittrig donnerndes Festnetztelephon (ein Begriff, unter dem meine Oma etwas vollkommen anderes oder nichts verstanden hätte) zurückgreifen muß, weil das sauteure Smartphone (dito) nur noch seltsame Symbole anzeigt und gleichzeitig das Heimnetzwerk in eine Endlosschleife von gescheiterten Verbindungsaufbauarbeiten gefallen ist. Da sei wohl wenig zu machen, habe ihm ein „Experte“ mitgeteilt, weil es zur Reparatur eines nicht funktionierenden Netzwerks dringend eines funktionierenden Netzwerks bedürfe. Oder so ähnlich.
T wiederum, dessen „schwere Ausnahmefehler“ einst auch deswegen Stammtischthema waren, weil sie regelmäßig zu Wutanfällen und schließlich via Möbelzerstörung zur Scheidung und folgenden vorübergehenden Totalvereinsamung vor nicht mehr reagierenden Bildschirmen führte, trägt neuerdings eine Apple-Watch spazieren, von der niemand weiß, was er eigentlich damit anstellt. Das heißt: trug. Nämlich ließ er sich gedankenlos auf ein Softwareupdate ein, das kurz darauf vom Mutterkonzern zurückgezogen wurde, leider aber schon irreparablen Schaden angerichtet hatte, weshalb die Watch ausgetauscht werden muß, was aber dauert, weil er so viele Leidensgenossen hat.
OLED-Displays, Notch-Funktionalitäten, GUID-Partitionen, Triple-Kamera-Einheiten, WD6400BEVT-22A0RT0-Containermedien, Sealed-Sender-Signale, Waymo-Steuersysteme, Google-Doodles, Wordpress-Integrationen, Selective Sync Options, Pixeldichte-Erkennung, Travel-Mug-HealthKits, RSS-Feeds, WearSpaceNoiseCancelling … alles bricht zur Zeit ständig ab oder zusammen, wird gehackt oder von innen zersetzt. Die Smart-Home-Kaffeemaschine glotzt den ganzen Tag Basketball, das Mailprogramm schickt sich selbst Drohbotschaften mit Bitcoin-Forderungen, während in sämtlichen Ecken der verkabelten Wohnung alle möglichen Geräte mit vergeblichen Neustarts und Reformatierungen beschäftigt sind. Der Radio berichtet, ein Programm zur automatischen Kündigung mißliebiger Mitarbeiter habe als ersten den Mitarbeiter automatisch entlassen, der das Programm programmiert hatte. Dann meldet auch noch das automatisierte Tageshoroskop: „Heute erkennen Sie sehr genau, was sie fühlen sich von sich, aber auch Ihren Mitmenschen erwarten.“ Gaga akut!
Und nie – das ist das verbindende Merkmal des gesamtelektronischen Nervenzusammenbruchs, in den die Welt offenbar geraten ist – nie sind die Gadgets, Teile, Apps, Units und Programme selber schuld. Immer ist ihnen angeblich irgendwas von außen zugefügt oder angetan oder angefügt oder zugetan worden, von nicht benennbaren Geistern oder uns selbst oder notfalls russischen Hackern, die uns ja schließlich auch den derzeitigen US-Präsidentendarsteller aufgehalst haben.
Das wirft einen Verdacht auf, den (ungefragt per Spam) ein „Doktor der Philosophie und Life Coach“ verstärkt: „Der Narzißt“, berichtet er, „glaubt mit schlechtem Zugang zu seinem Selbst seine Gefühle immer von außen verursacht und empfindet dafür folglich auch keine Verantwortung“. Das kennt fast jeder aus Zeiten der Schwerstpubertät, und daß gleichzeitig das Festplattendienstprogramm meldet, es könne eine beschädigte Partition nicht reparieren, weil es selbst Teil dieser Partition sei, unterstreicht den Verdacht. Rasche Stimmungswechsel aufgrund solcherart gestörter Selbstwahrnehmung sprechen ebenso für das zusätzliche Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wie suizidale Handlungen, Selbstverletzungsverhalten, chronische Gefühle von Leere (zum Beispiel nach der Löschung einer Festplatte) und zwanghafte Versuche, ein Verlassenwerden zu vermeiden (wer schon mal sechzehn Stunden vor einem zickenden Laptop saß, weiß, was ich meine).
Warum es gerade im Herbst vermehrt zu so was kommt? Wir können es nur vermuten oder Analogien zum eigenen Weltschmerz unter trüben Himmeln ziehen. Die Elektropsychologie ist ein Gebiet, das noch wenig erforscht wird. Der Freistaat Bayern zum Beispiel pumpt zwar 20 Millionen Euro in den Ausbau eines „Zentrums für künstliche Intelligenz“, das aber vorrangig BMW beim Bauen menschenloser Autos helfen und über einen „Neurobiotik-Simulator“ das Hirnmodell einer Maus nachbilden soll.
Allerdings: auch das könnte eine Gewichtung sein, an der kein organisches Lebewesen beteiligt war, sondern nur ein schwermütiger Algorithmus. Der möglicherweise auch den eingangs erwähnten Merz wieder in die Welt gepufft und sich anschließend vor Gram selbst gelöscht hat.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 2. Februar 2019

Frisch gepreßt #428: The Rolling Stones "Beggars Banquet"


Was für eine hübsche (auto)biographische Koinzidenz: Während die erste (wichtige) Platte meines Lebens (heißt: zwei Platten, siehe das letzte Heft) noch Tag um Tag den Tag in ein Wunderland klirrbunter Erinnerungen taucht, schwuppt nach dem „Weißen Album“ der Beatles das unfreiwillig ebenfalls zumindest kerzenwachsweiße Album der Rolling Stones daher – und die Aufarbeitung des historischen Materials könnte unterschiedlicher nicht sein.
Aber erst mal ein bisserl (Auto)bio: Im Winter 1968/69 war – abgesehen vom Doors-Debut und wochenweisen Leihgaben (Monkees und Beach Boys) das Beatles-Album die einzige Musik in meinem Leben, die erste als „eigen“ empfundene sowieso. Aber selbst „Revolution 9“ lackierte sich nach wochenlangem Dauerdrehen mit einer Schicht von Repetitivität (und wurde auswendig, wenn auch rein phonetisch mitgesungen). Das erwachte Popbewußtsein hungerte nach mehr – und stürzte im Frühjahr 1969 den damals fünfjährigen Autor in zwei Dilemmata: Zunächst mußte aufgrund begrenzten Budgets nach Besuchen der Spielwarenhandlung Obletter und des Musikfachgeschäfts Lindberg (mit telephonzentralenähnlicher Abhörabteilung) zwischen Akustik (Platte) und Optik/Haptik (Matchboxauto) entschieden werden. Was relativ leicht fiel (Popbewußtsein!).
Dann folgte die schwierigere Wahl, die bis heute nicht auf ewig entschieden ist und Züge einer harmlosen Form von Schizophrenie trägt: Zwar ruderten damals auch die Beatles irgendwie zurück zu (ihren) Wurzeln, aber die Stones taten das nach dem Psychedelic-Schnickschnack des „Summer of Love“ mit einer solchen Vehemenz, daß man sich ab da entscheiden mußte: dies oder das! (Es kam zu Scheidungen und zersplitterten Freundeskreisen.)
Mein Herz schwankte und schwankt, aber zu mindestens 51 Prozent gehört es den Rolling Stones, die sich so einen „Schmarrn“ (in den Ohren des Fünf- bis Zwanzigjährigen) wie „Julia“, „Long Long Long“ und „Good Night“ sparten und dafür im Innenklappcover als wilde Halbkriminelle auf der dekadentesten Gelage-Nachparty zu sehen waren, die man sich nur vorstellen konnte – im gewaltschwangeren Dreivierteldunkel, das auch Songs wie „Sympathy For The Devil“, „Street Fighting Man“, „Stray Cat Blues“, „Parachute Woman“ und selbst „Salt Of The Earth“ verschattete. Kaum Zweifel: Die Beatles wollten spielen, die Stones umstürzen, was auch immer.
Es gibt nicht viele Musikaufnahmen, die nach fünfzig Jahren weder etwas von ihrer Brisanz, Dynamik, Effektivität, Abenteuerlichkeit, Frische, Energie und Brillanz verloren noch einen völlig anderen Charakter angenommen haben. „Beggars Banquet“ ist eine davon: Legt man die Platte heute auf, hebt sich augenblicklich der Vorhang, und 2018 verwandelt sich in das epochale, monströse Jahr 1968 (in dessen Dezember sie erschien) und seine diabolisch chaotische Nachgeburt 1969 (als idealisiertes Phantasiegemälde, das sie übrigens damals schon waren). Da ist kein Ton auch nur um einen Baumring „gealtert“, und was davon und wie angeblich 2018 „remastered“ wurde, überlassen wir den Hi-Fi-Freaks. Für alle übrigen Erdbewohner gilt: Dieses Album allein rechtfertigt die Anschaffung eines Vinylplattenspielers und der lautesten Lautsprecherboxen der Welt.
Die Dualität zwischen Popkönigen und Outlaws spiegelt sich heute übrigens auch oder vor allem in der erwähnten Aufarbeitung: Die Beatles waren damals (zerstritten und juristisch verstrickt, aber dennoch) Herren ihrer eigenen Schöpfung. Die Rolling Stones sperrte man ins Gefängnis, klaute ihnen die Songs und gab ihnen die Rechte daran bis heute nicht zurück. Deswegen ist diese „Anniversary Edition“ im Grunde ein Witz: Als „Bonustrack“ gibt es „Sympathy For The Devil“ in mono, als „Bonusmaterial“ das damals von Decca untersagte Toilettencover und eine Flexidisc mit Mick-Jagger-Radio-Telefon-Bla. Sonst nichts. Was andererseits auch nicht nötig und eigentlich symbolisch ziemlich treffend ist (und alles übrige haben der Nerd und der biographisch Betroffene ja sowieso längst auf hundert Bootlegs).

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