Freitag, 30. Oktober 2015

Belästigungen 19/2015: Von James Dean zu Markus Söder – sechzig Jahre „Rebellion“

Daß Deutsch eine komplizierte Sprache ist, müssen nicht nur Ausländer feststellen, wenn sie versuchen, ihre mühselig erworbenen Kenntnisse des Idioms anzuwenden, um von einem geborenen Stuttgarter etwas zu erfahren. Vor allem aber hat das Deutsche Lücken. Zum Beispiel gibt es kein Wort für eine Person, die nichts Bemerkenswertes tut und getan hat, außer prominent und noch am Leben zu sein.
Im Englischen (vor allem im amerikanischen) nennt man so jemanden einen „survivor“ – bevorzugt dann, wenn er sich mehr oder weniger vehement blöd bemüht, nicht am Leben zu bleiben, indem er zum Beispiel vor lauter Frust und Überdruß wegen seines schröcklichen Schicksals „zur Flasche greift“ oder „dem Heroin verfällt“. In den meisten Fällen handelt es sich um Popstars, Fußballer, Schauspieler beziehungsweise Filmdarsteller, Politiker sowie andere in der Öffentlichkeit Freischaffende, die im weiteren Umfeld des Schaugeschäfts erfolglos herumkreuchen und -fleuchen und denen das, was Kern und Zweck ihres Herumwesens ist, schon lange nicht mehr gelungen ist: die ewig keinen Hit mehr hatten, kein Tor geschossen, keine Rolle bekommen haben, nicht mehr gewählt oder in ein TV-Lager eingeladen worden sind und nur noch dann in den Medien auftauchen, wenn sie mal wieder ein „Comeback“ versuchen oder volltrunken jemanden auf den Kopf hauen oder die fünfte Ehefrau nach der zehnten Watschn vor laufender Kamera schon wieder zu einem erfolgreicheren Kollegen umgezogen ist.
Dafür gibt es im Deutschen keinen Begriff (außer „Depp“), wenn man nicht auf die saudumme Allerweltsfloskel „Kult“ zurückgreifen möchte. Die kann allerdings auch Leute treffen, die gar nicht mehr am Surviven sind und vor ihrem Abtritt möglicherweise diverse Erfolge hatten. Hingegen ist ein bloßer „Überlebender“ selten „Kult“, außer er überlebt zum Beispiel einen Flugzeugabsturz, was aber selbst dem hartnäckigsten „survivor“ selten gelingt. Und schon gar nicht ist es „Kult“, wenn einer einem Krieg entflieht, sich in ein wackeliges Miniboot hineinsetzt und die Fahrt übers Mittelmeer überlebt. So jemanden will niemand haben.
So jemand ist übrigens auch kein „Held“, selbst wenn es ihm gelingt, fünf Kleinkinder und seine greise Oma mitzuretten. Ein „Held“ ist vielmehr jemand, der etwas relativ selbstverständliches tut (etwa einen Handtaschendieb verscheuchen oder eine Katze vom Baum holen) und dafür sein heldisch-stolz grinsendes Gesicht in die Boulevardpresse hineingedruckt kriegt, unter einer Überschrift wie „Wir sind Helden“, die mich neulich von sämtlichen Papierverkaufskisten des Münchner Nordens angeplärrt hat. Daß es sogar eine Doofi-Popgruppe gibt (oder gab), die so heißt, zeigt, wie gern der Deutsche seine Helden hat – mindestens so gern wie der Ami seine „survivors“.
Fast ebenso sehr mögen beide jedoch seltsamerweise den „Rebell“, was erst verständlich wird, wenn man mal genauer hinschaut, was unter einem solchen zu verstehen sein soll: Ein „Rebell“ ist dem Deutschen und dem Ami keineswegs einer, der die Regierung stürzt, die Macht der Banken brechen möchte oder die Befreiung der ausgebeuteten Arbeiterklasse herbeizuführen versucht. Ein „Rebell“ braucht noch nicht mal bei Rot über eine leerstehende Kreuzung zu marschieren.
Ein „Held“ ist gerne mal auch ein „Rebell“, vor allem wenn er einigermaßen aussieht und tot ist. Das Paradebeispiel für so einen ist James Dean, dessen rebellischste Taten darin bestanden, ziemlich fesch zu sein, in einem Pepsi-Reklamefilm aufzutreten, als Tellerwäscher zu jobben und auf Parties zu gehen. Daß er in drei erfolgreichen Hollywoodfilmen zu sehen war, von denen einer „Rebel Without a Cause“ hieß, bewahrte ihn davor, ein „survivor“ zu werden: Noch bevor die larmoyante Schnulze in die Kinos kam, kaufte sich Dean von einem Teil seiner Gage einen neuen Porsche, ließ sich noch schnell für einen Reklamefilm gegen Raserei auf der Autobahn abfilmen und raste zwei Wochen später (vor fast genau sechzig Jahren) an einer Kreuzung, wie man so sagt, „in den Tod“.
Und schwupps! war er ein „Rebell“, sogar eine „Symbolfigur“, und zwar für die „Auflehnung gegen etablierte Strukturen“. Was in diesem wie in allen Fällen heißt: Er ließ sich – schon weil er sich nicht mehr dagegen wehren hätte können – prima zum „Idol“ aufblasen, zur Lichtgestalt einer angeblichen „Rebellion“, die dazu dient, „neue Märkte zu erschließen“, indem man Milliarden vom Kapitalismus frustrierten Ausgebeuteten einredet, der Grund ihrer Frustration sei nicht etwa der Kapitalismus und der von diesem angezettelte Krieg der Reichen gegen die Armen, sondern ein sogenannter „Generationenkonflikt“ - und gegen diese Frustration gebe es nur ein einziges Heilmittel: Konsumieren!
Um das zu dürfen, ist es wiederum unerläßlich, sich in die etablierten Strukturen nicht nur einzufügen, sondern sich und sein gesamtes Leben diesen Strukturen in einer Totalität zu unterwerfen, von der sogenannte „totalitäre Regimes“ nicht mal träumen. Sechzig Jahre nach James Deans Autotod ist das Leben sämtlicher Generationen so vollständig vom Kapitalismus beherrscht und durchstrukturiert, daß die Opfer sogar glauben, sie tun all das, womit sie ihr Leben verschwenden, freiwillig. Nach sechzig Jahren „Rebellion gegen etablierte Strukturen“ gilt man wahrscheinlich schon als „Rebell“, wenn man einem einjährigen Kind nicht mit angemessener Vehemenz tagtäglich „Leistungsbereitschaft“ einbleut (übrigens eines der vielen Wörter, die es nur im Deutschen gibt).
Seien wir gnädig: James Dean kann dafür nichts, Friede seiner Asche. Es könnte sich aber lohnen, ein bißchen mißtrauischer zu sein, wenn die Plärrmedien der herrschenden Klassen „Kulte“, „Rebellen“ und „Helden“ ausrufen. Neulich zum Beispiel brüllte mir einer der erwähnten Zeitungskästen entgegen, neuerdings sei sogar der verblichene Franz Josef Strauß, der Inbegriff der Brutalität von Macht, Gier und etablierten Strukturen, ein „Rebell“. Wird sich demnächst eine neue „Generation“ Strauß-Poster ins Kinderzimmer hängen?
Wie, da gab es schon einen Vorläufer? Na dann: Hut ab, Herr Söder – Sie Rebell, Sie (tätschel, tätschel)!


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Donnerstag, 29. Oktober 2015

Frisch gepreßt #348: Wilco "Star Wars"


Selige Frühneunziger: als man das abendliche Tresengeplauder allen Ernstes dem Thema widmen konnte, was die Unterschiede zwischen „Alternative“ und „Independent“ waren. Da wurden steinerne Standpunkte vertreten: das eine Rock, das andere Pop, beides jedenfalls nicht bei „etablierten“ Plattenfirmen, hier mit Philosophie, dort mit Stil, tiefgängig bzw. stolzbewußt oberflächlich, anders sowieso ohne Frage.
Zusammengefaßt ließe sich rückblickend sagen: Independent war, wer auf einem „unabhängigen“ Label erschien (das im Zweifelsfall längst von einem Major aufgekauft oder überhaupt erst gegründet worden war), klassische Songs mit großen Melodien schrieb und durch das bloße Überqueren einer Straße in persona bei Tageslicht einem Heer von (oft nur noch gefühlten) Teenagern Anflüge orgasmischer Massenhysterie verschaffte, stets jedoch mit einer bezaubernd anmaßenden Attitüde der Abgrenzung zu Vorläufern (Beatles und folgende) und sowieso zu allem, was „Rock“ war. „Rock“ nämlich waren jene Institutionen, die seit zehn, manchmal fast zwanzig oder noch mehr Jahren sporadisch millionenteuer aufgeblasene Mega-Alben in die Welt setzten und aussahen wie Kollegstufensprecher Mitte dreißig: Matte, Bart, lässiges Indienhemd, hautenge Glockenhose. Die fuhren im Rolls Royce herum, stritten vor Gericht jahrelang um Kleinigkeiten und waren insgesamt vollkommen aus der Zeit gefallen. Oldies, lebende Fossilien, Dinosaurier, deren möglicherweise relevante Wirkungszeit eine Generation zurücklag, die aber von den Titelseiten der Magazine nicht wegzukriegen waren. Sagen wir: Pink Floyd, Genesis, Eagles, Deep Purple.
„Alternative“ war die andere, diametral unterschiedliche … ähem: Alternative. Hier wirkten wenig gepflegte Männer in Karohemd und Lederstiefeln, gezeichnet von beiderseitiger Verweigerung (Niemand will uns! Niemand versteht uns! Dufte!), im Säurebad endloser Landstraßentourneen von jedem Glamour gereinigt, die sich von den alten Heroen vor allem dadurch unterschieden, daß sie kein Geld für Studios hatten, nicht sonderlich gut spielen konnten und aus beidem eine Tugend machten: Wie, wir haben keine richtigen Songs? Richtige Songs sind Mainstream, Baby! Wir verzichten absichtlich darauf!
Wilco galten mal als Verkörperung von „Alternative“ und gelten in mancher Hinsicht auch mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Gründung (oder Umfirmierung aus Uncle Tupelo nach dem Abgang von deren Sänger) als irgendwie „anders“, eigen, außenseitig. Das beruht wahrscheinlich auf einer Reihe populärer Mißverständnisse, ist aber nun mal nicht mehr aus der Welt zu schaffen und soll uns daher nicht weiter scheren, weil: Alternative Rock ist schon länger Mainstream, als die Beatles brauchten, um ihr Gesamtwerk zu schaffen, und Wilco (von Anfang an bei einem der größten und traditionsreichsten Musikkonzerne der Welt zu Hause) drehen schon immer beiden Fraktionen eine Nase. Sie machen Reklame für Apple und VW, werfen aber mit literarischen und anderswie „relevanten“ Begriffen und Anspielungen um sich, kontern jeden noch so berechtigten Versuch, sie zwischen Eagles und Jefferson Airplane zu lexikalisieren, mit einem geschickt inszenierten Schachzug in Richtung Zwielicht und Party-Talk-kompatible Intellektuello-Relevanz. Ein höchst gelungener Seiltanz in der Tat, aber lassen wir uns nicht ablenken.
Ihr neuntes Album verkörpert so ziemlich alles, was die Band ausmacht, im Guten wie im Schlechten: Es ist schön und leicht zu hören, zugleich interessant und spannend, voll von überraschenden Wendungen, aber auch ultratraditioneller Rockmusik, aufgeladen mit gefühltem Anspruch und Bedeutung, dabei aber frei von wirklich genialen oder auch nur originellen Kompositionen, an die man sich fünf Minuten nach dem ersten Hören noch erinnert (verwirrenderweise erkennt man sie beim zweiten Hören dennoch sofort wieder). Es erinnert mal an den John Lennon der „Imagine“-Jahre („More ...“), mal an ein B-Seiten-Demo der Glitter Band, das mangels catchy Chorus in der Schublade blieb („Random Name Generator“), oft an beides gleichzeitig. Es ist offenbar bewußt „billig“ produziert, läßt unter den Kofferradio-Gitarren und Pappkarton-Schlagzeugen aber den Aufwand ahnen, der nötig war, um diese Simplizität zu erzeugen. Es wirkt belanglos und macht neugierig.
Mit anderen Worten: ein Album, über das man mehr schreiben und sprechen als es hören wird. Vielleicht ist das der entscheidende Punkt, um die eingangs erwähnten Diskussionen mit einem Vierteljahrhundert Verspätung abzuschließen und die Pole zu verschmelzen. Vielleicht aber auch nicht, wer weiß, wer will's wissen?

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.