Ich werde ab und zu gefragt, was ich eigentlich esse. Das
hat wahrscheinlich damit zu tun, daß es heutzutage als olympische Leistung
gilt, sich nicht als menschliches Äquivalent eines modernen, im Vergleich zu
seinen Vorfahren auf titanische Ausmaße angeschwollenen Automobils durch die
Welt zu schleppen. Denke niemand, ich wollte fettleibige Menschen
diskriminieren, wie das unter amerikanisierten Fitneßgerippen seit einiger Zeit
in Mode ist (wie der heutige Bewohner der kapitalisierten Welt ja überhaupt
immer irgendwen oder -was diskriminieren muß, weil ihm sonst seine Identität in
den unteren Bereich der Hose rutscht, aber das gehört jetzt nicht hierher).
Nein, das möchte ich ganz und gar nicht; einige meiner
besten Freunde sind fettleibig und haben davon wenig Gewinn. Suchen wir uns
lieber einen wohlfeilen Schuldigen, schließlich sind wir hier bei den Medien!
Das Problem ist, daß weder Vladimir Putin noch die Linkspartei als Sündenbock
dafür herhalten können, daß deutsche Kinder – wie eine (vermutlich
„großangelegte“) Studie unlängst herausfand – sich schlecht ernähren und daher
zu einem großen Teil schon bei Erreichen der Gymnasialunreife als gefälschte
Elefanten durchs Bildungssystem stapfen. Sondern, so hört man: die
Schulspeisung.
Etwas unter diesem Namen gab es damals bei uns auch: Da
erhielt man täglich zur großen Pause eine Semmel und eine Pyramidentüte Milch
oder Kakao in die Hand gedrückt. Gesund war das sicher nicht, aber
wahrscheinlich auch nicht sooo ungesund wie die verkochte
Fleisch-Salz-Sahne-Pampe, mit der sich heutige Schüler die Wampe mästen – schon
weil man damals mittags zu Hause war und was Gescheites vorgesetzt bekam, ehe
man hinaus stürmte und bis Sonnenuntergang Fangermandl, Räuber und Schandi,
Fußball, Verstecksterl spielte, Bäume und Garagendächer erkletterte, Radlrennen
fuhr und anderen Blödsinn betrieb, mit dem man sich den Weizen-Zucker-Bapp
wieder von den Rippen trainierte.
Damals kostete es (äußerst grob geschätzt) zwei
durchschnittliche Stundenlöhne, ein anständiges Essen für eine Familie auf den
Tisch zu stellen. Heute dürften wir uns da im Minutenbereich bewegen, und da
sollte es eigentlich niemanden mehr wundern, daß man vom Essen krank wird,
zumal eine weltmächtige Industrie Billionen damit scheffelt, Abfall in Pommes,
Schoki, Pizza, Baguette, Wrap, Chips etc. zu verwandeln und ganzen
Bevölkerungen einzuhämmern, dabei handle es sich um Nahrung. Während
andererseits eine nicht weniger milliardenfette Immobilienwirtschaft das Geld,
das die Menschen „einsparen“, indem sie sich mit Müll vollstopfen, in Form von
astronomischen Mietpreisen einsammelt.
Also ist die Lösung eigentlich denkbar einfach: Man braucht
bloß vom Dreck auf echte Lebensmittel umzusteigen und eine knappe Generation
abzuwarten, schon ist alles wieder gut. Leider können sich solch simple
Weisheiten gegen die Reklamesturmgeschütze der erwähnten Industrie kaum
durchsetzen, und wenn die Gefahr besteht, daß sie’s doch tun, kommt eben ein
„Wird man wohl noch sagen dürfen“-Propagandist von der Abteilung „Politisch
unkorrekt ist das neue Cool“ daher und „setzt“ einen „Akzent“ (wie man so
sagt).
Einer dieser Lautsprecher ist der Kolumnist Harald
Martenstein, der seine ressentimentgefettete Ahnungslosigkeit zu so ziemlich
allem in dem transatlantisch-neoliberalen Oberschichtblatt „Die Zeit“
verbreitet und neulich feststellte: „Wenn es nach der Natur ginge, dann würden
wir alle mit vierzig Jahren sterben.“ Nämlich sei das bei „unseren Vorfahren“
so gewesen, „die dieses total natürliche Leben geführt haben, mit Biofood,
reichlich Rohkost, ohne Zigaretten, klimaverträglich und mit viel Bewegung in
(sic!) der frischen Luft“.
Ein derartiger Bullshit wird heute gerne als „Humor“
verstanden, vor allem wenn sein Verzapfer vergnüglich mit dem Auge zwinkert, hi
hi. Daß die durchschnittliche Lebenserwartung „unserer Vorfahren“ durch zwei
Welt- und tausende andere Kriege, eine industrielle Revolution, diverse Pest-
und andere Epidemien, von gewissen Schichten eingeleitete bzw. begünstigte
Wellen von Ausbeutung, Sklaverei und Hunger sowie eine all dem und anderen
Gründen geschuldete Kindersterblichkeit stärker gedrückt wurde als heute der
billigste Billiglohn, daß große Teile der Welt von Bangla Desh über Sierra
Leone bis in die Slums der toten Städte der USA nach wie vor oder erst recht so
leben (und dort im Durchschnitt kaum ein Mensch vierzig wird), während der
„Westen“ den überwiegenden Teil seines Bruttosozialprodukts dafür ausgibt,
seine Fettmutanten mit Pharmazie und Gerätemedizin so lange am Leben zu
erhalten, bis wirklich gar nichts mehr geht und es lohnender erscheint, ihre
Organe zu verscherbeln – all das ist dann nicht mehr so wichtig. Hauptsache,
wir können weiterhin Fastfood mampfen.
Übrigens hielten sich Menschen, die sich der Mühle von
Unterdrückung, Ausbeutung, Kriegsvernichtung, Konsum und fremdbestimmter Arbeit
entziehen konnten, schon immer relativ lange. Am schlimmsten waren wohl die
Philosophen der Kyniker- und Stoikerschulen (nicht nur) im alten Griechenland,
weil sie auch noch genau die Lebensweise pflegten, die Herr Martenstein so „humorvoll“
„auf die Schippe nimmt“: Zenon fiel mit 72 eine Treppe hinab, Chrysippos lachte
sich mit 73 tot, Antisthenes erlag mit 80 einer Krankheit, Diogenes von Sinope
hielt mit 90 die Luft an, und Kleanthes war fast hundert, als er nach einer
Zahnfleischbehandlung beschloß, es gehe ihm ohne Essen besser.
Hingegen ist es ein gemeinsames Merkmal der Kolumnisten,
deren Berufsstand erst im 20. Jahrhundert seine Blüte erlebte, daß sie sich
gerne in relativ jungen Jahren zu Tode soffen. Wahrscheinlich weil sie den
erbärmlichen Zustand der Welt, die sie beschreibend und kommentierend ertragen
mußten, irgendwann nicht mehr ertrugen. Dazu indes braucht es einen Verstand,
weshalb Herrn Martenstein dieses Schicksal wohl erspart bleiben wird. Und ich?
Ich gehe jetzt ein Bier trinken.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.