Mittwoch, 26. November 2014

Frisch gepreßt #322: Bear Hands "Distraction"


Am ersten Ferientag nach der dritten Grundschulklasse lagen wir im Schyrenbad und kannten weder Zeit noch Raum; es duftete nach warmen Chlorwasser, das am Beckenrand in Pfützen verdampfte, in die man sich manchmal legte, wenn man zu lange im Wasser gewesen war und nun mit himmelhellblauen Lippen sofortige Erwärmung suchte; es duftete nach feuchtem Gras, nach Schaumwaffeln, Pommes frites, Waldmeistereis und Americana-Comic-Kaugummi. Alles war himmelhellblau und waldmeistergrün, und neben meinem waldmeistergrünen Handtuch lag ein Buch, das ich mir aus der Stadtbücherei in der Deisenhofener Straße ausgeliehen hatte: „Gepäckschein 666“; ich war aber zu faul zum Lesen, schaute lieber in den himmelhellblauen Himmel und dachte an: nichts.
Seltsam, daß es damals im normalen Leben keine Musik gab. Um die zu hören, mußte man sich zu Hause vor den Plattenspieler setzen, und wer setzte sich schon im Sommer zu Hause irgendwo hin? Also gab es keine Musik, oder doch: im Kopf. Leider weiß ich nicht mehr, was für Musik das war und ob es sie im wirklichen Leben auch gab. Später habe ich oft an „Gepäckschein 666“ gedacht und mich gefragt, ob es das Buch wirklich gab und ob ich es je gelesen habe.
Heute morgen, am 1. August, bin ich unter dem himmelhellblauen Himmel die Leopoldstraße entlanggeradelt und sah auf einer Bank ein paar Bücher liegen, die jemand da hingelegt hatte, damit sie jemand anderer mitnimmt. Es waren lauter Bücher mit kyrillischen Schriftzeichen und blassen Schwarzweißbildern, gedruckt irgendwann in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der Sowjetunion. Nur eines war deutsch: „Gepäckschein 666“. Da dachte ich, das ist vielleicht ein Zeichen. Aber wofür?
Zu Hause spielte mein Computer zufällige Musik, wie er das manchmal tut, um mich vielleicht neugierig zu machen. Einige Zeit plätscherte das so vor sich hin, aber plötzlich wurde ich hellwach: Da lief „Party Hats“ von Bear Hands, und das ging mir nach vier Sekunden schon so sehr nicht mehr aus dem Kopf, als bestünde mein ganzes Gehirn, mein ganzer Körper daraus. Erstaunt stellte ich fest, daß ich das Lied und das ganze Album im Februar schon mal gehört hatte, ohne es zu bemerken. Wie geht das? Noch erstaunter stellte ich fest, daß die Platte nächste Woche noch mal erscheint, wie das Platten früher manchmal taten, wenn sie für die deutsche Plattenindustrie erst einmal zu neu, zu fremdartig, zu gut waren. In diesem anachronistischen Fall: ein Glück, weil der August die ideale Zeit ist für diese Mischung aus himmelhellblauem Synthesizerpop, klirrenden Gitarren, kantigen New-Wave-Grooves, waldmeistergrünen Stimmen in windig-kühlen Hallräumen, wütendem Punk, nüchternem Achtziger-Tanz-Chrom/Plastik/Glas, Postpunk-Indietronik, hochsommerlich schwebender Glücksmelancholie, mediterranem Shabby-Chic-Glanz und Melodien, die im Gedächtnis kleben wie Americana-Comic-Kaugummi. Und weil „Thought Wrong“ die seltsamste, traurigste, schwereloseste Ballade ist, die ich seit langem gehört habe, und mich durch mehr als einen einsamen Herbst begleiten wird wie ein tröstender Geist.
Es interessiert mich nicht, was Kritiker daran beanstanden („zu repetitiv“, „zu radiofreundlich“), was für Referenzen sie bemühen: The Police, MGMT (mit denen Sänger Dillon Rau zur Schule gegangen ist), The Clash, Hall & Oates, Foster The People, Vampire Weekend, INXS, The Dismemberment Plan, The Fixx, Mansions, Phoenix … das ist alles Quatsch und stimmt wahrscheinlich trotzdem, aber es hilft gegen die Magie glücklicherweise so gut wie Aspirin gegen eingewachsene Zehennägel.
Drum ist’s egal. Ich fahre jetzt zum Baden, wickle „Gepäckschein 666“ in mein waldmeistergrünes Handtuch, und diesmal habe ich Musik dabei – vielleicht ist es sogar diese Musik, die damals in meinem Kopf lief. Schöne Ferien.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Samstag, 22. November 2014

Belästigungen 22/2014: Ich! bin! alt! und! du! nicht! (eine Tirade)

Neulich war ich zu einem Poetry-Slam geladen. Früher durfte man dort so ziemlich alles, was oft recht spannend war. Seit Julia Engelmann (googeln: auf eigene Gefahr) gilt Regel Nummer eins: Du bist jung. Und du mußt davon schwärmen, wie geil es ist, jung zu sein.
Wer jung ist, hat Chancen, Optionen, Möglichkeiten, Aussichten, eine Zukunft! Aber keine Gegenwart. Die besteht aus Lernen, Aufsagen, Terminen, Jobs, Vorstellungsgesprächen, Praktika, sich endlos den Kopf zermartern, was für Chancen, Optionen, Möglichkeiten man nutzen soll und wie das geht.
Das ist mein Glück: Da, wo ich aufgewachsen bin, hat es keine Chancen und keine Zukunft gegeben. Da hieß es: jetzt Schule, später Arbeit, Rente, dann aus. Aber es gab eine Gegenwart: Fußballspielen, Musik, rumhängen, Leute ärgern, Sachen kaputtmachen, Sex haben, zum Baden fahren, Bücher lesen, spazieren gehen, in der Sonne liegen, nachdenken. Ich habe nie verstanden, wozu ich eine Zukunft brauche, wenn ich eine solche Gegenwart habe. Ich wollte, daß das immer so weitergeht, ohne Zukunft.
Jetzt bin ich alt und habe keine Zukunft mehr. Und ihr habt immer noch eine. Ihr lernt auswendig, habt Termine, Praktika, Chancen. Und furchtbar Angst davor, alt zu werden, weil das dann aufhört. Keine Sorge, das hört auf. Und dann dauert es noch mal 15 Jahre, bis ihr kapiert, daß es eine Zukunft gar nicht gibt, weil sie immer in der Zukunft liegt und nie hier ist. Wahrscheinlich jammert ihr dann, daß ihr nicht alles anders gemacht, andere Chancen, Optionen, Möglichkeiten genutzt habt.
Ich will nichts anders machen, nicht mal die schlimmsten Dinge, und ich will nichts noch mal erleben, auch nicht die schönsten Momente, weil die schönen Momente, die ich erlebt habe, niemals verschwinden. Und weil ich das weiß, im Gegensatz zu euch, die ihr in eurer ohnmächtigen Trauerduseligkeit angeblich verpaßten Chancen hinterherheult und eine armselige „Zukunft“ beschwört, die in eurer rudimentären Phantasie sowieso nicht mehr ist als ein Remake des Vorstellungsgesprächs von letzte Woche mit leicht verändertem Dialog und etwas teureren Möbeln.
Wozu sollte ich jung sein wollen? Wozu sollte ich in einem Zustand sein wollen, in dem all die wunderbaren Dinge, an die ich mich erinnern kann und die deswegen immer da sind, noch gar nicht passiert sind? Wozu sollte ich all die schrecklichen Dinge, bei denen ich froh bin, daß ich sie hinter mir habe, erst noch erleben wollen? Den ersten Vollrausch, die erste Kotzerei, die erste Scheißliebe, die einen wegen irgendeinem Arsch mit Ohren sitzen läßt? Wozu sollte ich all die Bücher erst noch finden müssen wollen, die mich klug und glücklich gemacht haben?
Auf meinem Computer sind 702 Tage Musik. Es hat Jahrzehnte gedauert, die schönste, tollste, krasseste Musik der Welt zu entdecken und lieben zu lernen. Jetzt kann ich darüber verfügen, wie ich will, mein Leben damit füllen, schmücken, zu einem Traum machen. Wenn ich diese Musik höre, erwachen Erinnerungen, Augenblicke, Empfindungen, die intensiver sind als irgendeine eingebildete Zukunft. Wenn ihr diese Musik hört, empfindet ihr nichts, weil ihr noch nichts erlebt habt und nicht wißt, wie man etwas empfindet.
Wofür sollte ich mit einem Quarkpudding vollidiotischer politischer Meinungen im Kopf durch die Gegend laufen wollen, wenn es mich Jahre gekostet hat, diesen dreimal verdauten Mainstreampropagandamüll nicht nur nicht mehr nachzuplappern, sondern mir nicht einmal mehr anzuhören und damit kostbare Lebenszeit zu verschwenden?
Oder reden wir über Sex. Darüber redet ihr nicht mehr gern, weil das unhygienisch ist und man dazu nackt sein muß und weil der andere dann merkt, daß man Problemzonen hat. Wozu soll ich über Problemzonen nachdenken? Wozu soll ich mir das armselige Gestocher, Gequietsche und Gereibe, diesen Firlefanz aus Verklemmtheit, Verklemmung, ungewaschenen Geschlechtsteilen, halbgelernten Kußtechniken und vollgeschleimten Tempotaschentüchern zurückwünschen? Fragt eure Freundinnen, wieso sie lieber mit Alten ins Bett wollen. Und wenn sie das nicht wollen, dann sucht euch neue Freundinnen, damit wenigstens ihr was davon habt.
Ja, ich bin alt, und euer Argument, ich hätte nicht mehr viel Zeit, ist Quatsch: Im Gegensatz zu euch habe ich Zeit, weil ich sie nicht mehr mit Dummheit, blöden Ersterfahrungen, Arbeit, Streberei, Irrtümern, Scheißlieben und Drecksbeziehungen, vergeblichen Hoffnungen, Konsum, Plapperei, Ohnmacht, schlechten Büchern, beschissener Musik, üblen Parties, vollgeschleimten Tempotaschentüchern und diesem ganzen überflüssigen Zeug verschwenden muß, sondern damit anfangen kann, was ich will.
Ja, ich bin alt. Und ich werde sterben. Wir werden alle sterben, ihr auch. Aber bei mir ist sicher, daß es mir gelungen ist und gelingt, so zu leben, wie ich will. Bei euch warten wir das lieber mal ab. Zwischen 20 und 30 sterben mehr Menschen als zwischen 50 und 60: auf Autobahnen, an Überdosen, beim Extremsport, an Krankheiten, von denen ich weiß, daß ich sie nie gekriegt habe, und von denen ihr nicht wißt, ob ihr sie nicht nächste Woche kriegt.
Alt zu sein hat mich verdammt viel Zeit und Mühe gekostet. Und ich will noch viel älter werden und sein, und das ist das Fieseste an der ganzen Geschichte, was euch wahrscheinlich so wütend macht, daß ihr euch mit Gewalt einbilden müßt, es sei etwas Tolles, jung zu sein: Ihr werdet mich niemals einholen. Ätsch.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Mittwoch, 12. November 2014

Frisch gepreßt #321: Neil Diamond "All-Time Greatest Hits"


Für die Generationen, denen ich angehöre, war Neil Diamond schon ein Witz, als wir noch gar nicht richtig wußten, wie man lacht. Ich meine: Wer irgendwann mal, warum auch immer, versehentlich „Song Sung Blue“ hört, dem haut es automatisch den Vögel aus dem Häuschen (insbesondere in der unfaßbar anti-selbstironischen und dabei vollkommen souveränen Version auf dem Livealbum „Hot August Night“). „Everybody knows one / Every garden grows one“ – ho! ho!
Neil Diamond war die perfekte Musik für Pseudoerwachsene, die nicht viel mehr vorweisen konnten, um diesen Zustand zu rechtfertigen, als Auto- und Hausschlüssel (für eine Bude, die samt Garage identisch aussah wie 35.000 andere Buden in den umliegenden Suburbs), einer treu grinsende Frau (die fünf Jahre später, ab etwa 1977, ihrem Psychiater vorjammern würde, sie sei in das alles hineingeschlittert), einem Job (Auto oder Atom) und der rechtlichen Verfügungsgewalt über die Kinder (die ab sechs bei ihrem eigenen Psychiater saßen, wegen aller möglichen „Entwicklungsstörungen“, und mit sechzehn Dad den Finger zeigten und zu Hippiefestivals trampten, wo sie drei Tage lang im Schlamm ertranken und hinter irgendeinem Caravan selber Kinder zeugten, die sich fünfzehn Jahre später mittels Fastfood und Vitamintabletten in ungeschickt nachgebildete Kopien ihrer Autos verwandelten).
Neil Diamond ist der dritterfolgreichste Erwachsenenpopmusiker aller Zeiten, und das liegt an der Perfektion, mit der er stets das (etwas) Falsche machte. Daß die Monkees mit seinem „I’m A Believer“ ihren und einen der größten Hits überhaupt landeten, lag wiederum an dem haarsträubenden Kontrast zwischen der naiv-irren Versponnenheit und witzsprühenden Renitenz der Darsteller und der gipsernen Hartfressigkeit des Liedes, das sich nur in ihrer Version selbst entlarven und ernstnehmen zugleich konnte.
Neil Diamond war immer, immer einer, der darzustellen versuchte, was er nicht war: Everly Brother (ganz zu Beginn seiner Karriere), Countrysänger, Zweitliga-Billy-Joel, Rocker, Jazzer, Jugendidol, Popstar, Crooner, reifer Liedermacher, nachdenklicher „Great Old Man“. Bezeichnend, daß er wirklich Neil Diamond heißt, sich aber anläßlich seines zweiten Plattenvertrags einen Künstlernamen zulegen wollte: Noah Kaminsky oder Elce Charry. Vielleicht typisch für ihn insgesamt ist das Album „Brother Love’s Traveling Salvation Show“ von 1969, auf dem er sogar so etwas wie einen Hippie zu verkörpern versuchte, sämtliche gängigen Popgenres der Zeit unfreiwillig parodierte und zugleich Botschaften von einer derartig reaktionär-selbstzufriedenen, höchstens mal weinerlichen Biederkeit verbreitete, daß sich sein Publikum (s. o.) nach dem Ausschlußverfahren von selbst bildete. Die Erzähler dieser Songs hegen vieles, aber nie und nimmer Selbstzweifel, und daher ist die „Liebe“, von der sie oft schwärmen, nichts anderes als Erdnußbutter und der Gott, den sie noch häufiger loben, eine Art Ronald McDonald mit Donnerkeil.
Es mag einen zum Haareraufen bringen, daß der Sohn einer jüdischen Familie mit polnischen und russischen Vorfahren aus den vielen krassen Dingen, die ihm in 73 Jahren Leben widerfahren sind, nie mehr gemacht hat als höchstens einmal pseudonachdenkliche Couplets – unbestreitbar ist abseits der Textfrage sein Spürsinn für uramerikanisches Liedgut, für Zewa-wisch-und-weg-Lieder und Hot-Dog-Songs, die man beim Einkaufen hört und nie wieder vergißt, obwohl man sie gar nicht bemerkt. „Girl, You’ll Be A Woman Soon“, „A Little Bit Me, A Little Bit You“, „Red Red Wine“, „Kentucky Woman“, „You Don’t Bring Me Flowers“, „Solitary Man“ … Man könnte eine Riesenliste zusammenstellen, von der mindestens die Hälfte selbst bei Semifachleuten zu dem Ausruf „Was, das ist auch von dem?!“ führte.
Und dann kommt irgendwann die Nostalgie, die die schlimmsten Schlimmheiten zu pflegenswertem Kulturgut macht (vgl. z. B. Elton John). Daß Rick Rubin mit seinem Versuch, den späten Neil Diamond zu einer Johnny-Cash-ähnlichen (oder -antipodischen) „Lonesomer“-Gestalt auszubauen, scheitern mußte, versteht sich von selbst; überraschend hingegen ist die Wohligkeit des Fracksausens, das Angehörige meiner Generationen überkommt, wenn sie all diese (insgesamt 23) Sachen (wieder-)hören: Doch, das hat was, sogar eine Art klassischer Schönheit, und selbst wenn’s nur die Bilder einer versunkenen Welt sind, die diese Songs heraufbeschwören.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Freitag, 7. November 2014

Frisch gepreßt #320: Morrissey "World Peace Is None Of Your Business"


Manchmal möchte man meinen, es sei alles gesagt. Schlußsteine und Abspänne haben die schöne Eigenschaft, daß nach ihrem Auftreten und Erscheinen der Meinungsführer die Feder spitzen und Gesamtbilanz ziehen kann: Was war’s denn nun, in weltgeschichtlichem Kontextzusammenhang? Und was war’s wert?
Bei Morrissey wünscht sich das so mancher lange schon, weil der Nachruf zu Lebenszeiten in der Schublade liegt und nur noch etwas aufgehübscht, mit ein paar aktuellen Nachwörtchen berüscht und der aktuell gültigen Rechtschreibung angepaßt werden muß. My dear, ist das etwa kein Lebenswerk: eine der wichtigsten Bands aller Zeiten, neun Soloalben, von denen (vielleicht mit Ausnahme von Nummer zwei und drei) ein jedes besser war/ist als das vorhergehende, eine doppeldaumendicke Autobiographie, die bei Penguin Classics erschienen ist – und aber verdächtig doppelt und doppelt verdächtig endet: Mit den Worten „and it was dark, and I looked the other way“ schließt der Text; den knappen Danksagungen indes ist das Motto beigefügt: „Whatever is sung is the case.“
Und so wird weitergesungen, und Steven Patrick Morrissey, kürzlich 55 geworden, wäre ja auch ein Depp, wenn er seine weltgeschichtlich einzigartige Stimme fortan müßigem Teestundengeplauder vorbehielte. Damit die Bilanzeure auch gleich wissen, daß dies und auch dies kein Schlußstein und kein Abspann ist, hat er seinem zehnten Soloalbum (das ebenso ein Gang-Album ist wie die letzten sechs) ein Cover aufgesetzt, das als finales, alles bereits Gesagte noch mal kurz aufscheinen lassendes Statement so gut geeignet ist wie ein gestreckter Mittelfinger mit herausgestreckter Zunge als Grabrede.
Daß sein Hang zur bitteren, oft alle Grenzen auch der Selbstachtung überschreitenden Ironie, zum maßlosen, sich selbst (und allem anderen aber erst recht) ins Gesicht spuckenden Zynismus, zur rasierklingenscharf schneidenden Klugbosheit, zum triumphalen Trotz mit den Jahren eher immer stärker wird, neue Kanäle in noch wilderen, noch poetischeren Textzeilen sucht und findet – das versteht sich irgendwie auch von selbst: „Das Gute und das Böse müssen dokumentiert werden. Das Leben ist eine ernste Angelegenheit, wozu sollte man also so tun, als wär’s das nicht?“ rief er kürzlich den planetaren Horden der ohnmächtigen Spaßgesellschaft entgegen, die über nicht mehr zu singen wissen als über mißverstandene, in Plastikfolie verpackte Plastikdinge, die sie für Sex halten, den „fetten 19jährigen“, die unter Stil nicht mehr verstehen als „Klamotten zu kaufen, die zum Sofa passen“.
Musikalisch ist die Sache punktuell vertraut: schwere, leichtfüßige, schwebende, wie Lava walzende Harmoniefolgen, hymnisch arrangiert, in große Refrains mündend, die das Schicksal der Welt („Earth is the loneliest planet of all“) auf den spürbaren Punkt bringen. Aber die Überraschungen und schönen Schritte nach vorne und zur Seite purzeln nur so aus dem Schrank; man höre etwa „Smiler With Knife“ und versuche einen Vergleich für diese seltsam entspannte, dräuende Horrorballade zu finden – es darf schon mal erwähnt werden, daß es durchaus etwas Ungewöhnliches ist, wenn ein Liederdichter Mitte fünfzig nicht krampfhaft versucht, seine späte Jugend als Farce heraufzubeschwören oder noch verkrampfter sich in irgendeine Ruhmeshalle von Konsensvorbildern hineinzumeißeln, sondern einfach reift, indem er Neues versucht, auf was man mit 30 nie kommen könnte, und Altes weiter formt, beschleift, perfektioniert (ohne es je perfektionieren zu können, ehe nicht wirklich der Schlußstein gesetzt und der Abspann verklungen ist).
Das sind nicht nur Gags, Trompetenintros, spanische Gitarren, versetzt-progressive Akustikriffs, eigenartig verschrobene Breaks, ein jazziges Oboensolo; es ist das Ergebnis der Ausschöpfung aller musikalischen Möglichkeiten, die eine Entwicklung über etwas mehr als 30 Jahre eröffnet. Und damit war von den Texten noch gar nicht die Rede, die in poetischster Form und ohne Rücksicht auch auf sich selbst tun, was Poesie im allerbesten Falle tut: das Unfaßbare, die Dinge, das Leben und die Welt (selbstverständlich auch die tagesaktuelle) in be-greifbare Bilder und Zeichen gießen, die den unschätzbaren Vorteil haben, auch noch von blendender Schönheit zu sein.
Mag das nächste Album noch einmal fünf Jahre auf sich warten lassen – was sind schon Jahre? Wir haben bis dahin genug zu tun.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Belästigungen 21/2014: Vom Dämmern zwischen Urzidil, Schnepfenthal und Zitterspinne

Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders wenn er so angeschlichen kommt wie dieser, jeden Tag und jeden Tag aufs neue verkleidet als späte Halbschwester des seit Juli spurlos vermißten Sommers, frivol zum Fenster hereinblinzelt, so daß man sich jeden Tag und jeden Tag aufs neue draußen findet, Fuß in der müden Isar, Kopf im taufeuchten Gras, der Blick im milchigen Sonnenhimmel versunken. Wie soll da etwas vorwärtsgehen, wenn die zwei Drittel des Lebens, die man aus guten Gründen vergessen hat, wie Schusterpilze, Fichtenreizker und Pfifferlinge herausploppen aus der Wiese der Vergangenheit und säuselnd-verlockend flüstern von Dingen, die eventuell nie waren, jedenfalls nicht so, bis das gesamte Bewußtsein und Gemüt mit einem nostalgischen Pfannkuchen überzogen ist?
Bis dann endlich doch eines Tages das Wolkenplumeau sich nicht lichten will, blutorangenfarbene Blätter wie eine Horde verspäteter Zaunkönige und Rotkehlchen um die leere Luft tanzen und gar ein paar Tropfen als mahnend-monotone Wasseruhr allgemeines Schwinden darstellen: Dann ist mit einemmal der Himmel nicht mehr der Hut, die Erde nicht mehr der Schuh, sondern die eigene Wohnung eine sanfte Höhle, von der man erstaunt feststellt, daß man ihre Entwicklung seit Monaten nicht mehr verfolgt hat.
Auf dem Schreibtisch findet sich ein alter Zeitungsausriß mit einer interessanten Information: „In über einem Drittel der Haushalte in Deutschland“, heißt es da, „kreuchen und fleuchen 28 Millionen Haustiere.“ Schon spürt man ein eigentümliches Kribbeln und Zippeln, ein Huschen und Sirren, Flirren und Krabbeln, und wenn man müßig in den Ring von Blätterchen pustet, den das Granatapfelbäumchen auf dem Fensterbrett kokett um sich gelegt hat, und erstaunt zuschaut, wie eine Großfamilie von Zitterspinnen panisch-unbeholfen in alle Richtungen davonhumpelt, erscheint einem diese Mitteilung sehr plausibel.
Dann, o ja, ist es Zeit zum Aufräumen. Diese hochzivilisatorische Tätigkeit, die jeden Herbst so zuverlässig wiederkehrt wie bald darauf das Weihnachtsspektakel (und bei der durchschnittlich etwa dreißig längst verloren geglaubte oder überhaupt vergessene Gegenstände wieder auftauchen und ebensoviele für mindestens ein bis fünf Jahre verschwinden), bedarf höchster Akribie und Sorgfalt. Wie schrecklich die Menschen, die einmal die Woche mit dem Staubsauger durch die Bude röhren und kein Auge haben für all die Kleinigkeiten, das Strandgut häuslichen Lebens, das dabei für immer aus der Welt gerät!
Also wird zunächst der Schreibtisch „aufgeräumt“. Eine vergilbte Telephonnummer ohne Namen, eine spätnächtlich unleserlich hingekritzelte Notiz für eine Kurzgeschichte, eine goldgelb verfärbte Vorab-CD aus den Neunzigern (ohne Beschriftung), ein Flyer für eine nicht besuchte Premiere, drei verstaubte bunte Steinchen vom Strand bei Grosseto, eine finanzamtliche Mahnung, von der man nicht mehr weiß, ob man ihr Folge geleistet hat, ein jungfräulicher ZDF-Notizblock, von dem man ahnt, daß man ihn auch die nächsten fünfzig Jahre nicht benutzen wird, eine norwegische Briefmarke, auf deren Rückseite der Titel eines Films steht, den man nie gesehen hat, ein erfreuliches Blutbild von 2012, eine Aschenbecherscherbe aus dem Westbury-Hotel in Dublin, ein Kindergartenportrait einer verflossenen Bekannten, ein praktischer Riemen für Kabel, der Stempel einer unbekannten Firma mit vierstelliger Postleitzahl, eine Einladung zum Erstsemesterfest (1998), ein undefinierbares Holzfigürchen mit vier Beinen und angeleimtem Wackelkopf, ein leeres Feuerzeug mit der Aufschrift „Drogen nur vom Fachmann“, der Hinweis auf einen Literaturwettbewerb (Einsendeschluß 31. 3. 2011), ein alter Backstagepaß, ein USB-Kabel für ein kaputtes Telephon, drei Knöpfe von einer kaputten Jacke, ein Stück Plastik, das im Dunkeln leuchtet, ein Lederbändchen, zwei Matchbox-Superfast-Räder mit Achse … – darf man derartige Dinge einfach so hinfortschmeißen, auf die Gefahr hin, daß irgendwann, in Jahrzehnten vielleicht, der Moment kommt, wo man sie doch mal brauchen kann oder wo sie einen wunderlichen Lichtfinger der Erinnerung in ein dementes Hirn hineinfallen lassen?
Selbstverständlich nicht. Also läßt man das meiste, wie es ist, wendet sich dem überquellenden Kleiderschrank zu, bringt es aber nicht übers Herz, auch nur ein einziges der steinzeitalten T-Shirts, eine einzige der zerfetzten Jeans aus Schulzeiten zur Kleidersammlung zu tragen (wer sollte so was anziehen?), und hebt sogar durchlöcherte Socken auf, weil man schon seit Jahren plant, aus ihnen und einem zerschlissenen Handtuch eine hübsche Rolle zu basteln, die man im Winter ans Fenster legen kann, um zu viel Zugluft zu verhindern.
Vom Bücherregal wollen wir gar nicht reden. Da hat die italienisch kommentierte Ausgabe von Ovids „Fasti“ (Florenz 1822) ebensowenig zu befürchten wie Christian Gotthilf Salzmanns „Joseph Schwarzmantel oder Was Gott thut, das ist wohlgethan“ (wohlfeile Ausgabe für Schüler, Schnepfenthal 1834), Autoren wie Urzidil, Utermann, Utzinger und Uzarski, die wahrscheinlich kein Mensch mehr kennt und nie mehr kennen wird, die in Teilen zerfledderten Gesamtwerke von Irren wie Seeliger und Scherr, die „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ von Walter Ulbricht, „Ereignisse und Gestalten“ von Wilhelm II., Helmut von Hummels „Aus meinem Leben“ und die Gesprächsprotokolle der Kommune 2.
Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders wenn er so lange dauert, daß man ganze Tage in und zwischen Regalen verbringt und hineindämmert in obskure Lesezeichen, An- und Bemerkungen, bis man vollkommen vergessen hat, was man irgendwann „ursprünglich“ mal wollte („aufräumen“?). Aber dann scheint eh schon wieder die Sonne, haben 28 Millionen Zitterspinnen neue Netze erbaut, und zum Staubsaugen bleibt nächsten Herbst auch noch Zeit.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1-400 sind in vier Bänden als Buch erhältlich.



Samstag, 1. November 2014

Belästigungen 20/2014: Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie hätten diese Kolumne (und sich selbst) selbst ausgedruckt (mit Kümmel)!

Im modernen Wahnkarneval um IT-, Marketing- und andere unwürdige Plemperljobs ist es wohl unvermeidlich, daß manch ehrenwerter Beruf längst nicht mehr die Wertschätzung erfährt, die er verdient. Zum Beispiel der Kümmelbauer: Tagein, tagaus bestellt er sein Kümmelfeld, erntet das edle Würzkorn, trocknet und reinigt, sortiert und poliert es, läßt es vom Kümmellieferanten in die große Stadt karren, auf daß der Bäcker etwas Gutes daraus mache.
Leider ist der Bäcker heute kein Bäcker mehr, sondern Fließbandminijobber bei einem (wörtlich übersetzt) „Rückenladen“-Konzern, hat möglicherweise sogar „Sporteventmarketing“, ähem, „studiert“, dann aber nichts zu eventmarketen gefunden, weil der gesamte Sport in Europa und der Welt bereits geradezu surrt und brummt vor Marketing und Events, und steht nun also in einer Blechfabrik vor einem Sack Kümmel, mit dem er wenig anzufangen weiß. Man erklärt ihm, es handle sich um Würze, also haut er es zusammen mit achtzehntausend Kilo Salz auf seine Teiglinge drauf, verkauft die dann als „Bierstangerl“ o. ä. und muß zum Glück nicht zuschauen, wie achtzehntausend verärgerte Kunden im Biergarten herumsitzen und reiben und schaben wie die Irren und das ganze Areal in einen Wüstensturm von Körnchen verwandeln, weil – egal ob man Kümmel mag oder nicht – die auf einem „Bierstangerl“ festzementierte Dosis Salz annähernd tödlich und jedenfalls ungenießbar ist und man das Schlaganfallgift aber nicht runterkriegt, ohne den Kümmel mit abzuschaben.
Arme Seelen wie ich, die Brot ohne Kümmel (und Koriander) nicht als Nahrungsmittel, sondern als kompostierbares und somit immerhin als Dünger verwertbares Äquivalent zu Dämmschaum und Styropor betrachten, sitzen derweil hungernd und hilflos betrunken herum, weil der Versuch, jedes einzelne ekle Salzkorn zu entfernen, den Kümmel aber auf dem Teigling zu belassen, Stunden dauert und man dabei mehr Kalorien verbraucht, als man sich mit dem Weißmehlmüll jemals zuführen könnte, weshalb man drei Maß Bier hinunterstürzt, um überhaupt weiter rupfen, zupfen, knispeln, reiben und irgendwann mit geplatztem Kragen doch noch schaben und das endlich nackte Ding auf den Kompost werfen zu können.
Und der Kümmelbauer? Der kümmelt fröhlich weiter, nicht ahnend, was mit den edlen Früchten seiner naturverbundenen Schwerstarbeit am anderen Ende der Verwertungskette geschieht. Ein Mindestmaß an Logik kriegt man in diesen Circus des Irrsinns nur hinein, wenn man davon ausgeht, daß der Kümmelbauer sein Feld mit übriggebliebenen Teiglingen düngt, allerdings wird die Sache davon nur noch irrsinniger. Und zwar spätestens dann, wenn der Weizenbauer ins Spiel kommt.
Aber wahrscheinlich wird der Zinnober mit den Berufen sowieso überschätzt. Vielleicht wäre es vernünftiger, derartigen Kram generell den Eventmarketerern zu überlassen, die dann ihre Kümmelfelder mit Salz düngen, Brennesseln ernten und sich den Kümmel (den ihre Lieferanten vernünftigerweise direkt in die Biergärten kippen) einfach ausdrucken.
Hier stutzt der trendvergessene Kulturpessimist: Kümmel ausdrucken? Da war der Kulturpessimist wohl mal wieder zu trendvergessen und hat nicht aufgepaßt, als der „Soziologe“, der „Ökonom“, der „Publizist“ und der „Politikberater“ gesprochen haben, am besten noch der „Theoretiker der Zugangsgesellschaft“ dazu, der all das in sich vereint. Der solche trägt den Namen Jeremy Rifkin, hat „über zwanzig Bücher“ ver-, na ja, -faßt und ist vor ein paar Jahren mit der geilen These durch die Fernsehsender gezogen, in Europa werde die Kultur immer die Wirtschaft „überwiegen“ (oder so). Ho ho, haben wir damals gedacht, wer hat dem denn ins Hirn gekümmelt!
Jahre und Bücher später tingelt Herr Rifkin wieder daher und hat neue Ideen: „In ein paar Jahren wird jeder mit seiner eigenen Energie seine eigenen 3-D-Drucker-Produkte herausbringen. Für die Energie haben wir einen Plan entwickelt, der auf fünf Säulen beruht. Erstens braucht man Einspeisetarife für erneuerbare Energien, das habt ihr in Deutschland gut gemacht. Dann wandelt man seine Häuser mit kleinen erneuerbaren Energien in Minikraftwerke um. Wir machen das übrigens überall auf der Welt und schreiben nicht nur Bücher darüber.“
Wow, denken wir, offenbar besteht Herr Rifkin oberhalb der Halskrause mittlerweile nur noch aus Salz, Kümmel und Weizenmehl – ist ja auch genug davon da. Aber da hören wir ihm lieber noch ein paar Sätze weiter zu: „Kürzlich ist in Chicago das erste Auto ausgedruckt worden, nur mechanische Komponenten wie Motor oder (sic!) Batterie mußten nachträglich eingebaut werden.“ Nur! Und ob das jetzt ein Motor oder eine Batterie ist, was man da „nachträglich“ (wir vermuten: nach der etwas enttäuschenden Probefahrt) einbaut, ist eigentlich wurst, weil: „In China haben sie neulich zehn Häuser in vierundzwanzig Stunden ausgedruckt.“
Und spätestens da schweigen wir dann insgesamt, drucken uns noch ein Bier aus und notfalls die Kneipe und den Tresen dazu und finden es höchstens als komplett vernagelte und eingenähte Kulturpessimisten ein bißchen fragwürdig, was da als neue Welt auf uns zukommt. Weil der ganze Irrsinn ja auch einen großen Vorteil hat: einen Kümmelbauern kann man sich ausdrucken, notfalls zehn chinesische in vierundzwanzig Stunden, notnotfalls eine ganze Arbeiterklasse können wir uns ausdrucken!
Hingegen ein Eventmarketing, welches auch immer: Wie druckt man das aus? Wahrscheinlich aus purem Salz.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1 bis 400 sind in vier Bänden als Buch erhältlich.