Dienstag, 30. April 2013

Periphere Notate (2)

In stillen Momenten dachte A., daß Frau W., deren ekstatische Begeisterung seine Duldsamkeit bisweilen arg strapazierte, möglicherweise weniger an seinem Körper als am Erlebnis der eigenen ekstatischen Begeisterung interessiert war. In solchen Momenten beschloß er, es werde besser sein, die Sache schnell zu Ende zu bringen, brachte die andere Sache dann jedoch so wenig schnell zu Ende, daß er die spontane Empfindung hatte, sich entschuldigen zu müssen, obwohl doch er derjenige war, dem etwas vorenthalten wurde, wenn überhaupt.

Montag, 29. April 2013

Periphere Notate (1)

Als der Frühling anbrach, stellte A., zunächst erstaunt, fest, daß er sich von der Welt entfernte. Er führte dies nach eingehendem Nachdenken darauf zurück, daß ihm die Lektüre der täglich eintreffenden Zeitung nur in der Badewanne möglich war, vielleicht weil er damit einen symbolischen Reinigungsprozeß verband. Nun stapelten sich die Zeitungen auf dem Küchentisch und wurden elfenbeinfarben, was A. indes nicht weiter störte.

Donnerstag, 25. April 2013

Belästigungen #408: Wer zu spät klopft, den bestraft der Müllstrudel


Der moderne Nomadenmensch wird nicht nur von den sogenannten „Arbeitgebern“ und ihren staatlichen Knechtungsknechten in der Gegend herum mobilisiert, sondern kriegt, wenn er mal einige Zeit in einem Nest sitzt und nichts besonderes zu tun hat, sofort den Rappel und will woanders hin. Weil alte Witze witziger wirken, wenn sie aus neuen Hälsen dringen, und weil heutzutage jeder unablässig auf der Suche nach einem „Selbst“ ist, das darin besteht, von anderen bespaßt zu werden, bis ihnen nichts mehr einfällt und man sie ersetzen muß.
Meistens bleibt dabei irgendwas zurück – ein Haufen Gerümpel, alte Socken und kurzzeitig verschnupfte Ex-Existenzabschnittsbespaßer, die, damit sie sich ebenfalls „neu orientieren“ können (Geschlechtsorgan ist Geschlechtsorgan, sagt der Biologe; neu ist Chance, sagt der Betriebswirt), den Krempel loswerden müssen, damit er endet, wo alles endet: im „Großen Pazifischen Müllstrudel“ oder einem seiner kleineren Gefährten.
Die strudeln gern in Gegenden herum, wo sich ansonsten das ansiedelt, was noch viel mobiler ist als der fluchtsuchtgetriebene Zum-Neuen-Streber und sein Hartz-gemangelter Artgenosse: das Kapital, das an beiden Entartungen irgendwie schuld ist, sich aber nach seinen Tobsuchtsanfällen nie ums Aufräumen kümmern mag. Das schmollt lieber auf den Cayman Islands herum, weil die blöden Regierungen es nicht besteuern wollen und es sich deswegen, nachdem es den Hartz-Opfern die Haare vom Kopf gefressen hat, inzwischen in die Unterschicht der Mittelschicht hineinfrißt und aus Überdruß den verdauten Anteil am Volksvermögen denen auf die Konten kotet, die schon so viel von dem Zeug haben, daß sie aufstöhnen, wenn sie noch mehr Geld sehen, das angeblich ihnen gehört.
Ich ahne, daß sich manch zukunftstechnisch abgelenkter Leser auch den Verfasser solcher Sätze auf eine Kaimaninsel wünscht, womöglich eine mit bezahnter Maulklappe, aber gemach. Man kann Dinge in langen Sätzen erzählen oder in vielen, und wo es ums Viele geht, ist das Lange allemal das bessere Medium.
So oder so sitzt das Kapital jedenfalls dort, wo es nicht hingehört, und zwar in derart obszön fetten Mengen, daß sich neuerdings sogar der nicht „liberale“ Anteil unserer Regierungen (möglicherweise) schämt, weil sie schließlich schuld sind an dem Schlamassel: Ein Ableger des IWF schätzt, daß in „Steueroasen“ Geldsummen von ungefähr fünfundzwanzigtausend Milliarden Euro herumgammeln. Weil es ein IWF-Ableger ist, kann man da locker noch eine Null dranhängen, was aber wurst ist, weil es eh schon zwölf sind und man in den Werbeagenturen längst überlegt, wie man das billige „Giga“ (und das zerlumpte „Mega“) aus Jugendsprache und Reklame heraus und ein zünftiges „Tera“ oder gleich „Peta“ hinein popularisieren könnte. Nein, letzteres eher nicht, da wären der Urpapst und seine Namensgenossen diskriminiert.
Während wir uns wundern, wieso diese Steuerinselchen (wenn es sie wirklich gibt, also „physisch“, nicht nur als Bankleitzahl) nicht längst im Ozean versunken sind und die Schweiz sogar teilweise auf einem Gebirge herumzinst, ohne daß das viele Gold sie zum Erdmittelpunkt wumpsen läßt, drehen sich die Müllstrudel munter weiter, ebenso wie das Fortschrittsrad, die zweite epochale Absurdität der Erdgeschichte. Für diesen Schmarrn nämlich ist Geld da, obwohl es ansonsten überall fehlt: Der Schwabe rammt sich einen Tiefbahnhof unter die Hauptstadt, wegen dem hinterher weniger Züge fahren als vorher (aber die wichtigen) und das Wasser der ganzen Region ungenießbar sein wird; der Berliner planiert halb Brandenburg mit einem Flughafen zu, und in Italien, wo die gewaltsame Ausschröpfung der Nichtmillionäre längst in echtes Elend übergegangen ist, hat man auch noch genug Geld für eine Florentiner Variante des „Stuttgart 21“-Wahns.
Freilich, viel Geld ist es nicht, das für die Totalpervertierung des Mobilitätswahns ausgegeben wird – zehn Millionen Hartz-Opfer könnten davon höchstens tausend Jahre in Saus und Braus leben, und auf den Cayman Islands würde man für die lächerlichen Milliärdchen höchstens behüstelt. Drum beschwert sich auch niemand groß, höchstens wenn’s mal ganz daneben geht, wie in Stuttgart – oder in Kassel, wo man für 271 Millionen ebenfalls einen Flughafen hinbetoniert hat, dessen Anzeigetafeln die ganze Woche über leer sind, weil niemand dort starten oder landen möchte. Weil es da zwar eine Börse gibt, selbige laut Telephonbuch aber eine „Bierkneipe“ ist, womit der champagnerverwöhnte Krisengewinner nichts anfangen kann.
Dabei wäre es im Grunde schöner, wenn der Mensch (und das Kapital) da bliebe, wo er ist. Und sich dort hin und wieder für was anderes interessierte als die große Welt und ihre Zukunft: Im japanischen Hokkaido „entsorgte“ neulich eine Frau ihren Bruder im Hausmüll. Nicht erschrecken: Der Mann war schon viele Jahre tot, wovon die Frau, die mit ihrer Schwester in derselben Wohnung wohnte, nichts bemerkte, weil „er nie aus seinem Zimmer gekommen“ sei (was Leichen selten tun, aber egal). So fand sie ihn erst, als sie – na klar: ausziehen wollte, um anderswo ihr „Glück“ zu finden.
Weshalb wir uns vornehmen sollten, inmitten des ganzen Gerödels ab und zu – vielleicht einmal die Woche – an eine Tür zu klopfen, und sei es nur die des Existenzabschnittsbegleiters. Und sei es nur um zu erfahren, ob das, was irgendwann mal so viel wichtiger schien als der übrige Schmarrn, zumindest noch lebt.

(Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.)

Sonntag, 21. April 2013

Beim Schreiben eines Romans ... (4)


„Was soll das heißen: Du fühlst dich wertlos?“
„Das heißt genau das: Ich bin wertlos. Sie hat mich einfach weggeworfen, also habe ich keinen Wert.“
„Ach.“
„Ja.“
„Du bist also so eine Art Accessoire. Ein Gegenstand.“
„Natürlich nicht. Wieso?“
„Nur Gegenstände sind was wert. Und du meinst, sie hat dir den Wert genommen, den sie dir zuvor gegeben hat.“
„So meine ich das nicht.“
„Doch, genau so meinst du es. Etwas ist nur was wert, wenn man es tauschen kann. Und sie ist böse, weil sie dich nicht zum Tausch angeboten, sondern einfach entsorgt und durch ein neues Gerät ersetzt hat.“
„Ich bin kein Gerät. Menschen sind keine Geräte.“
„Dabei ist das ganz normal: Man holt sich was, benutzt es, und wenn es kaputt ist, schmeißt man’s weg. Deine Frau ist nicht böse, sondern vernünftig. Du würdest es doch auch nicht anders machen, wenn es um eine Kamera oder so was geht, oder? Außer du bist ein sentimentaler Idiot, der kaputtes Zeug aufhebt, weil angeblich sein Herz oder irgendeine Erinnerung dranhängt. Und dann wundert er sich, daß er auf einer Müllhalde lebt.“
„Menschen sind keine Geräte.“
„Sagt wer, das Gerät? Klar, sind sie nicht, außer sie machen sich selbst dazu, indem sie was von einem Wert faseln, den sie angeblich mal gehabt haben, weil irgendein beliebiges Zufallswesen ihnen erlaubt hat, ihr Geschlechtsorgan in sie reinzustecken. Weil es über ihre Witze gelacht hat. Und jetzt tut es das nicht mehr, weil dir kein Witz mehr einfällt und weil du gemeint hast, das mit dem Reinstecken geht auch ohne Witz. Und schau mal, was aus dir geworden ist: Du bist sauer, weil sie dich nicht bei Ebay versteigert.
„Halt das Maul. Halt einfach mal das Maul.“

Donnerstag, 18. April 2013

Beim Schreiben eines Romans ... (3)


„Was hat dich an ihr am meisten gestört?“
„Ihre Arbeit. Ihre Einstellung zur Arbeit. Daß sie ihr so wichtig war, daß sie sich dafür aufgeopfert hat. Nein, das klingt blöd. Daß sie umsonst Überstunden gemacht hat und die Zeit nicht lieber mit mir verbringen wollte.“
„Was war ihr so wichtig an der Arbeit?“
„Ich weiß es nicht. Es war wohl so was wie Pflichtgefühl. Sie wollte die anderen nicht im Stich lassen und hat nicht gemerkt, wie sie ausgenutzt wird.“
„Die anderen?“
„Ihre Kollegen. Jeder hat dort Überstunden ohne Bezahlung gemacht.“
„Ihre Kollegen. Du meinst also, ihre Kollegen waren wichtiger als du?“
„Nicht so direkt. Mehr die Firma an sich.“
„Du warst also eifersüchtig auf ihre Kollegen.“
„Nein, nicht eifersüchtig, natürlich nicht. Ich wollte, daß es ihr gut geht, daß es uns gut geht. Daß wir Zeit füreinander haben.“
„Daß sie Zeit für dich hat.“
„Auch, ja.“
„In der sie dann vor dem Computer saß und an ihren Kriegsspielen hing. Oder vor der Glotze.“
„Nein, das lag ja daran, daß sie so überarbeitet war. Wenn wir mehr Zeit gehabt hätten ...“
„Du warst eifersüchtig auf ihre Kollegen.“
„Nein, darum ging es nicht.“
„Sie ist mit einem Kollegen abgehauen.“
„Ja, aber ...“
„Sie ist abgehauen vor dem eifersüchtigen Kerl daheim, der sie umerziehen wollte und die ganze Zeit belehrt hat. Geflüchtet in ein Leben, in dem sie bewundert wird und sich wohl fühlt.“
„Na ja, wenn du das so sehen willst.“
„Ich will gar nichts. Du bist derjenige, der es so sieht.“

Das Horoskop spricht:

Stopp! Sie brauchen Ruhe und Entspannung. Schön und gut, dass Sie Mars ordentlich pusht, aber vergessen Sie den Ausgleich nicht. Die herrliche Venus beschert Ihnen ein romantisches Abenteuer. Ideal für alle Singles, die sich schon eine Weile eine neue Beziehung wünschen.

Sonntag, 14. April 2013

Beim Schreiben eines Romans ... (2)

„Es gibt kein Früher“, schrieb er. „Entweder gibt es ein Immer, oder es gibt gar nichts. Abstand schafft Abstand. Wenn die Nähe verschwindet, kann man sich nie mehr daran erinnern, weil sie aus nichts besteht als Unbemerktem.“

Freitag, 12. April 2013

Frisch gepreßt (Nr. wird nachgereicht): Wire „Change Becomes Us“


Es gab eine Zeit, da wagte sich die Popmusik ganz weit vor und ganz weit hinaus. Was im Großen nach mehr klingt, als es bedeutet: Freilich war auch das eine Zeit, da sich die Popmusik gar nichts traute und nirgendwohin wollte. Eine Menschheit wogte um den Planeten, verrichtete ihre Verrichtungen und hörte dazu Bruce Springsteen, Van Halen, die Bee Gees, Abba und Disco und massenweise Autoradioballaden für Herzamputierte. Rod Stewart heiratete ein Blondchen, und in den sommers brachliegenden Stadien verrichteten Altrock-Institutionen ein freudloses Rumpfwerk, von Black Sabbath (ohne Ozzy Osbourne) bis The Who (ohne Keith Moon).

Aber das war eben nicht alles; in dem großen, weiten und strahlend weißen Schatten, den der Punkrock nach seiner Implosion im Sommer 1977 hinterlassen hatte, erblühte nicht nur das entzückend infantile Kinderbeatles-Theater von The Knack, sondern da öffneten sich Türen und Tore, wo vordem Mauern  gewesen waren, und manche, ja, die wagten sich ganz weit vor und ganz weit hinaus.

Die Voraussetzung dafür lieferten einige grandios glückliche Irrtümer. Zum Beispiel hatte das institutionelle Großplattenlabel EMI, eine Art Royal Family der britischen Musikindustrie, in der Wirrnis der Zeit in und nach New Wave, als innerhalb weniger Wochen plötzlich alles neu und anders zu werden schien und man um jeden Preis irgendwie dabeisein mußte, die Gruppe Wire unter Vertrag genommen, ohne richtig zu wissen, was das eigentlich war. Und die Gruppe Wire, zunächst eine störrische, aber im Vergleich etwa zu den Sex Pistols recht umgängliche Veranstaltung, lieferte nun, im Sommer 1979, ihr drittes Album ab, „154“ genannt, und stellte die EMI-Angestellten, die schon vieles erlebt hatten, vor das größte Rätsel der Firmengeschichte. Die Platte ließ sich nicht vermarkten (kein Titel, Bandname, Foto, erkennbares Bild auf dem Cover); es waren praktisch keine „Songs“ drauf, sondern eine fragmentierte Klanglandschaft von eigentümlich unzugänglichem Reiz (mit Titeln wie „Two People In A Room“, „Indirect Enquiries“ und „Map Ref. 41°N 93°W“); man verstand die Texte nicht, bekam die Musiker nicht zu sehen, die sich zudem weigerten, auf der Bühne etwas zu tun, was mit der Platte zu tun gehabt hätte (oder gar ihrem Absatz förderlich gewesen wäre).

Nein, Wire traten 1979 und 1980 zwar auf, aber wie: von einem seltsam dadaistischen Konzepttheater vernebelt und ohne erkennbare musikalische Struktur. Es entstanden wilde, industrialtheoretische Improvisationen jenseits bekannter Forme(l)n, die Fachzeugen als „unanhörbar“ bezeichneten; der überforderte Postpunk warf seine Bierflasche in die Richtung, wo er die Bühne vermutete. Das Livealbum „Document & Eyewitness“ verewigte den Moment, da die Popmusik aufbrach, zerfloß, sich selbst überwand, für kurze Zeit entgrenzt zum absoluten, zeitlos schwebenden Nichts wurde.
Danach war Wire (erst einmal) vorbei, Pop auch, dann begann alles von neuem, schrieb man wieder Songs, machte wieder Promo und Balladen fürs Autoradio, als wäre nichts gewesen. Der kurze Moment der befreienden Explosion wurde aus den Geschichtsbüchern getilgt, die Tür ins Nichts verschlossen, der Schlüssel vergraben.

Unbemerkt indes blieb ein Virus, das fast alles infizierte, was in den 80ern an „moderner“ Popmusik entstand. Wire selbst kehrten zurück, seltsam domestiziert nun und unwohl inkorporiert als Führungskollektiv einer massenhaften Synth-Pop-Bewegung, der sie sich verzweifelt und vergeblich entzogen und daher wieder verschwanden, atomisiert in viele Projekte, die so weit draußen waren, daß sie niemand mehr verstand.

Aber der Schlüssel war eben nur vergraben, und die Trümmer und Fragmente, die seit 1980 im tiefen Keller lagerten, haben Colin Newman, Graham Lewis und Robert „Gotobed“ Grey nun durchstöbert, umgestellt, verdreht, zerlegt und neu zusammengebaut. Herausgekommen ist dabei etwas, was nur bei Wire herauskommen kann: Musik, die von der ersten Sekunde an vertraut und vollkommen fremd, ewig und absolut neu, verwegen romantisch und schmerzhaft kalt zugleich klingt, voll mit unerhört anrührenden Melodien an der Kante des Zerfalls. Eine ungreifbare, lebensgefährlich schroffe Singularität und zugleich eines der schönsten Popalben der Gegenwart.

Belästigungen #407: Wenn das Fragezeichen bös vibriert, gibt die Antwort die Faust


Wenn der Mensch spinnt, gibt er ein Zeichen, pflegte meine Oma zu sagen. Ich füge hinzu: Wenn es ihm das Hirn komplett verdröselt und er gar keinen Weg hinaus mehr sieht aus dem Wirr, dann gibt er ein Fragezeichen. Weil das Fragen (scheinbar) weniger peinlich ist als sich hinzustellen und zu plärren: „Kann bitte jemand die Zukunft wieder in Gang setzen, damit ich vorankomme und diese peinliche Gegenwart verlassen und vergessen kann?“ Was im Grunde auch eine Frage wäre, aber eine sogenannte rhetorische, auf die man keine Antwort, sondern ein „Handeln“ (A. Merkel) erwartet; egal, es wird sowieso nicht geäußert, eben.

Statt dessen: „Nichts wissen, aber fragen!“, wie man dem nervtötenden Zufallsgast am Tresen zu attestieren pflegt, wenn er nicht mehr aufhört, das gesamte „Bist du öfter hier?“-Repertoire herunterzukurbeln und zwischendurch ein paar Deklarationen aus dem „Nämlich!“-Genre hineinzuwürzen. Auf diese Weise erfährt jedermann in seiner späten Jugendzeit von den drei Ks, die eine Marlboro-Schachtel als Produkt des Ku-Klux-Klans kenntlich machen, und fängt sich ein paar sogenannte „Bekannte“ ein, mit denen man hinterher jahrzehntelang je zwei „Hallo!“-Rufe austauschen muß, wenn man ihnen zufällig begegnet, und sich womöglich noch fragen lassen, wie „es“ gehe, worüber man notfalls einen langen Winter lang nachgrübeln kann, ohne zu einer Antwort zu kommen.

Das kommt vom Fragen. Davon können aber auch noch ganz andere Sachen kommen. Zum Beispiel ist dies ein enorm langer Winter (bei Erscheinen dieses Heftes hoffentlich: gewesen, aber danach frage ich lieber nicht), und wenn der winterschlafentfremdete Mensch in einem solchen Ende März immer noch eingeschneit im Kämmerchen sitzt und inzwischen gar nichts mehr zu tun weiß, weil sämtliche Bücherregale dreimal umgeräumt und sortiert, die Wände tapeziert und die Teelöffel poliert sind, dreht es ihm sozusagen selbstgenerierte Fragen ins Hirn hinein.

Dann wundert er sich zum Beispiel, wieso man die Angehörigen jenes Volkes, das sich zur Zeit so renitent weigert, durch Hungern und Darben deutschen und russischen Oligarchen den Zinseszins ihrer Milliarden zu garantieren, „Zyprioten“ nennt, wohingegen selbst der verschwurbeltste Esoteriker niemals auf die Idee käme, seinen Guru als Angehörigen des indiotischen Volkes (und einen deutschen Oligarchen als solchen, by the way) zu bezeichnen.

Die Erklärung ist zunächst eine ganz einfache etymologische: Das Wort kommt von den Griechen, zu denen der deutsche Fußballkommentator auch gerne mal „Hellenen“ sagt, ohne damit auf Wilhelm Buschs wüste Comicgeschichte von der Frommen Helene anspielen zu wollen. Da hat man die Erklärung sozusagen schon auf der Hand: Weil der Mensch generell zu viel sinnfreien Mist in die Welt hinein brabbelt, braucht er ab und zu ein paar „lustige“ Synonyme, damit sich sein Gebrabbel in den Phasen zwischen der Reklame nicht in den monotonen Sermon eines Staubsaugers verwandelt, weil sonst irgendwann auch der talkshowgestählteste ZDFiot abschaltet und lieber seiner Ikea-Schmetterlingsorchidee lauscht.

Wer über diese simple Erkenntnis hinaus noch weiter fragt und womöglich laut antwortet, der braucht sich nicht wundern, wenn plötzlich der Praktikant von der Zeitung vor der Tür steht und ihn mit Berufsbezeichnungen belegt, von denen er noch nie gehört hat. So kam neulich zum Beispiel ein naseweiser SZ-Bubi auf die lustige Idee, einen indischen Unternehmer, den er zu diesem Zweck zum „Globalisierungs-Theoretiker“ ernannte, mit einem Kübel von Fragen zu übergießen, für die sich Staubsauger und Schmetterlingsorchidee zu schade wären, und schließlich noch zu deklamieren: „Mobilität ist aber doch eine Grundbedingung für individuelle Freiheit!“ (Man beachte das drängende Vibrieren des fordernden Fragezeichens im Hintergrund.)

Da endlich quellen auch in uns Fragen auf: Ist Dioxin eine „Grundbedingung“ für ökologische Landwirtschaft? Kommt man schneller ans „Ziel“, wenn man mit drei Autos gleichzeitig fährt? Ist eine Gehirnamputation unerläßliche Voraussetzung, um ein Praktikum bei einer Zeitung zu ergattern und „Globalisierungs-Theoretikern“ die sinnlosesten denkbaren Kombinationen dreivierteldeutscher Wörter entgegenschleudern zu dürfen? Der entrechtete Hartz-Opferiot, der zwecks restloser Demoralisierung jahrelang von „Standort“ zu „Standort“ mobilisiert wird, könnte eines Tages eine Antwort wissen, die sich mit der Faust trefflicher formulieren läßt als mit dem Mund.

Aber den fragt keiner, jedenfalls nicht das, weil seine Antwort das Gefüge von Umverteilung, Ausbeutung, Anhäufung und Demütigung, auf dem die derzeit in Europa herrschenden gesellschaftlichen Prozesse beruhen, ins Knirschen und Stocken bringen könnte. Den fragt man höchstens Systemstabilisierendes: „Sind Sie bereit, noch mehr Verzicht zu leisten? Wieso nicht?“
Das Fragen, stellte einst der kluge Psychiater Aron Ronald Bodenheimer fest, sei als solches eine Belästigung und grundsätzlich obszön. Oder, um erneut etymologisch zu argumentieren: Das hebräische Wort fürs Fragen („scha’ol“) bezeichnet auch die Hölle, in die man den Befragten unweigerlich versetzt, wenn man damit erst einmal anfängt.

Aber ach (und um diesen Winter dann doch abzuschließen): Noch die obszönste Frage läßt sich rückwirkend im Keim ersticken, indem man sie ganz simpel beantwortet: „Wie geht’s?“ – „So jedenfalls nicht.“