Samstag, 23. April 2016

Vom Heroismus der Idiotie

Das „Zentrum für politische Schönheit“ dürfte es in den nächsten Monaten nicht leicht haben. Wenn die Künstlergruppe, die mit einigen spektakulären Aktionen tote Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen instrumentalisierte, um medial auf sich aufmerksam zu machen, künftig als reaktionäre Klamauktruppe gilt, verdankt sie dies ihrem Gründer und Boß Philipp Ruch und seinem als „politisches Manifest“ etikettierten Pamphlet Wenn nicht wir, wer dann?.
Einer der grundlegenden Denkfehler des Machwerks mit dem abgegriffenen Phrasentitel (Vorlage: Andreas Veiels Enßlin-Vesper-Baader-Film „Wer wenn nicht wir“) steht schon im Titel und in der Überschrift des Rückentextes: „Warum sich nichts ändert, wenn wir nichts ändern“ – eine scheinbare Tautologie, in der das entscheidende Wort „wir“ ebenso sinnlos und unerklärt herumsteht wie hundertfach im ganzen Buch. „Wir“ – das sind mal „wir alle“, mal in x-ten Neuauflage des alten Schwindels vom Generationenkonflikt „die Jungen“, mal die Empörten, die Untätigen, die Ratlosen, die Besserwisser, die deutsche Bevölkerung, und ob nun Angela Merkel und die Rüstungsindustrie dazugehören, weiß der Autor offenbar selbst nicht.
Es ist ihm aber auch egal, denn um was es letztlich geht, wird sehr schnell klar: „Welches ist die größte Tat, mit der mein Name einst verbunden werden soll?“ Das Konglomerat aus miß- bis halbverstandenen Bruchstücken der „Ideengeschichte“ ist nichts anderes als das, was in Zeiten der Selbstvermarktung so gut wie jede künstlerische Äußerung zwangsläufig und leider ist: Reklame für sich selbst. Daß Ruch, wie er dem „Spiegel“ treuherzig versicherte, keinesfalls den Kapitalismus abschaffen möchte, versteht sich da von selbst. Ob es die von ihm blumig beschworene „Schönheit“ im Kapitalismus überhaupt geben kann – auch egal.
Die Schaffung von Schönheit setzt indes unabdingbar ein Bemühen um Klarheit voraus, und davon kann bei Ruch nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Schon das Vorwort ist ein derartiger Müllhaufen an Unfug, Blödsinn und Bullshit, daß einem nach wenigen Seiten schwindlig wird und man in Wut gerät. Verquirlt ist der wirre Mist mit den faschistoiden Parolen und Schlagwörtern, den Rufen nach „Visionen“, „großen Ideen“,„Glauben“, „Idealen“, einer „heiligen Pflicht“, Führern und Lichtgestalten, die Verrückte wie Arnulf Baring und Gertrud Höhler seit Jahrzehnten auf die Büchertische und in die Fernsehkameras erbrechen. Da hört man auch den Herrenreitergestus der Elitekanaillen um Ulf Poschardt heraus, das schnöselige Kokspathos, mit dem sich Christian Kracht et al. einst via „Tristesse Royale“ in die Feuilletons faselten, und, ja, eine „Große Zeiten!“-Eupho-/Hysterie aus ganz anderen Zeiten.
Philipp Ruch hat bei dem wegen diverser Ausfälle gegen Arbeitslose, Flüchtlinge und Frauen mindestens „umstrittenen“ Herfried Münkler promoviert, was man einerseits deutlich merkt. Angesichts der Tatsache, daß der Mann offensichtlich nicht in der Lage ist, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen und zu formulieren, fragt man sich andererseits entgeistert, wie das zugegangen sein mag. Endlos und redundant hackt er vor allem auf den „Naturwissenschaften“ (zu denen er die Medizin einfach mal dazurechnet) und deren „toxischen Ideen“ von der Erklärbarkeit der Welt herum, deren Hegemonie er die Urschuld an der Unschönheit und Kleingeisterei unserer Epoche anlastet. Hegemonie? In einer Zeit, da nach vierzig Jahren Esoterikgefummel selbst Zahnärzte nach dem Mondkalender operieren? Das ist einem Ruch wurst, der geifert gegen „Nihilisten“, die „im Menschen ein dummes Tier sehen, das sich ständig selbst betrügt und etwas vormacht“. Abgesehen vom Kasusfehler: Den derzeit triftigsten Beleg für diese These hat Ruch selbst zusammengeschrieben.
Man kann das Buch willkürlich aufschlagen, einen beliebigen Satz herausgreifen, schon hat man ein Musterbeispiel für Bullshit und Wirrnis. Exempel (Seite 48): „Worte“ (gemeint sind selbstverständlich Wörter) „können definiert, Gefühle müssen interpretiert werden.“ Wie wär's damit: Wörter müssen interpretiert werden, um Gefühle definieren zu können. Hm?
Aus der „These“ folgt die Folgerung, Erkenntnis sei Mist, der Mensch müsse sich vielmehr bekennen, nein: bezeichnen, um zu werden, was er sein will. Eine revolutionäre, ähem, Erkenntnis: Jeder ist seines Glückes Schmied! Hallo, FDP! (Womit nicht nur die Essenz des achtzehnseitigen Kapitels „Wie wir uns selbst sehen“, sondern des ganzen Buchs weitgehend auf den Punkt gebracht wäre.) Im selben Geiste fordert er, den Begriff Depression durch „Mutlosigkeit“ zu ersetzen, weil: „Die Mutlosigkeit blickt den Mut immer verliebt mit an.“ Die Depression hingegen blicke „ins Leere“. Klar, wenn man kein Latein kann.
Hier wird der Quatsch dann aber bedenklich, nämlich brauche man nur andere Bezeichnungen, und schon ließen sich alle Probleme lösen: „Depressionen können handstreichartig geheilt werden. Es klingt phantastisch, aber ein einziger Satz kann uns von einer Jahre währenden Leere erlösen.“ Ein Therapeut hingegen möglicherweise nicht von solchem Wahn, wenn der sich erst mal zum „Menschenbild“ verfestigt hat. Obwohl: Dem sind wir ja „keineswegs ausgeliefert. Wir könnten es hinterfragen, den Grundriß ausradieren und jederzeit neu malen.“ Jawohl, weil wir, eben, ALLES können!
Ob der Irrsinn, der Ruch treibt, heilbar ist, wer weiß. Öffentlich verbreitet kann er wie die meisten Allmachtsphantasien verheerende Wirkung haben. Zumal wenn man von vornherein offensiv auf emanzipative Ansätze sowie jegliche Form der Analyse und Reflexion verzichtet: „Menschen werden nicht nur von Ursachen, sondern auch von Zielen bewegt“, schrieben Ruch und sein „Zentrum“ 2009 an den deutschen Bundestag, und weiter: „Schönheit, Größe und Vollkommenheit sind Ziele.“ Nun ist niemandem auf der Welt damit geholfen, daß man Schwimmbäder rot färbt oder Pläne für eine Steinbrücke zwischen Afrika und Europa einreicht. Solche Aktionen führen auch nicht dazu, jemanden zu informieren – wer heute nicht weiß, was an Europas Außengrenzen und jenseits davon vor sich geht, woher und warum Flüchtlinge kommen usw., der will es nicht wissen –, sondern zur üblichen Hysterie des Machens, zu einem Sturm des guten Willens, der niemandem nutzt und nichts erreicht als noch mehr Verwirrung, einen Heroismus der Idiotie. Da muß man dann nicht mehr fragen, ob die uns heute umgebenden ästhetischen, sozialen und politischen Strukturen – die Verherrlichung des Einzelkombattanten, die Verwandlung von Individuen in Kampfmaschinen, die Allgegenwart des Krieges in der Alltagskultur – eventuell Ursachen haben könnten, wo diese liegen und ob es Zweck und Sinn hat, irgendeinen „Protest“ oder sonst was zu mobilisieren, ohne sich in diesem Punkt Klarheit verschafft zu haben.
Was „Größe“ und „Schönheit“ eigentlich sein sollen? Auch dazu fällt dem Ruch nichts ein als Schwurbelei, so daß man durchaus an Albert Speers Germania-Visionen denken kann. Das mag abwegig klingen, ist es aber nicht. Der Mann möchte, das ist schon nach wenigen Seiten klar, als „großer Geist“ in die Weltgeschichte eingehen; seine Ideen sollen seinen Ruhm mit Posaunenklang in die Zukunft tröten. Leider hat er keine Idee, und Ahnung auch wenig – auffällig, daß für ihn die Weltkultur offenbar mit Nietzsche und Spengler oder spätestens in den 50er Jahren endet: Ein Internet etwa, aus dem er sich seine „Belege“ wahllos zusammengegoogelt hat (selbstverständlich ohne Quellenangaben, oft sogar ohne Namensnennung), gibt es für ihn gar nicht (klar, ist ja „Naturwissenschaft, gelt?). Statt dessen zieht er in bellizistisch-brutalistischem Vokabular über die „Demokratie“ her, die ihren Kindern einimpfe, „daß alle gleich seien“: „Tatsächlich werden in Demokratien Macht und Herrschaft dämonisiert. Menschen, die nach Macht und Größe streben, gelten als potenzielle Gefahr.“ Dem setzt Ruch die Verteufelung von Gemeinschaft und der Suche nach Harmonie entgegen, den Mythos des „groß gesinnten Menschen“, der „alles auf das Große hin“ entwirft und „mit dem Recht des Stärkeren“ (immerhin) „für das Recht der Schwächeren“ kämpft. „Der Größte muß das Schwierigste vollbringen.“ Da kommt einem unwillkürlich ein anderer deutscher Künstler in den Sinn, der einst in sein Buch hineinschrieb: „Man vergesse niemals, daß alles wirklich Große auf dieser Welt nicht erkämpft wurde von Koalitionen, sondern daß es stets der Erfolg eines einzelnen Siegers war.“
Daß es Ruch angeblich um „das geschichtlich viel zu häufige Verbrechen des Völkermords“ geht, daß er gebetsmühlenartig immer wieder Elie Wiesel und Rupert Neudeck als Zeugen für sein Sehnen nach „Humanität“ herbeizerrt, macht die Sache nicht besser, zumal wenn die Dummheit endgültig siegt und er den Kapitalismus gegen Hitler, Stalin und Mao verteidigen zu müssen glaubt: „Wir wiegen uns allzu sicher in einem Haß auf den Kapitalismus. Wo ist eigentlich der Haß auf die Diktatur?“ Daß er im „Epilog“ in bübische „Ich werde nie vergessen, wie“-Schwärmerei über Bernard-Henri Lévys Einsatz für die „Befreiung“ Libyens gerät und in einem Nebensatz gleich noch den Sturz von Assad propagiert (wie zuvor den des „Diktators“ und „Massenmörders“ Putin), ist ein letztes deutliches Indiz. Die Folgen solcherart verblödeter Kriegshetzerei sind bekannt. Shit happens, wird Herr Ruch sagen. Hauptsache, erst mal kräftig umgestürzt!
Dieses „Manifest“ ist kein Dokument der Menschenliebe, der „Humanität“, sondern des Gegenteils. Es beschwört „Größe, Kraft und Schönheit“ als hohle Glocken, als leerstehende Paläste, als Formeln ohne Inhalt. Welche Art von Gestalten in solche Paläste gerne einziehen und die Glocken läuten, daß der Welt Hören und Sehen vergeht, sollten wir als Deutsche wissen.
Oder sagen wir es milder: Gerd Baumann und Marcus H. Rosenmüller führen gelegentlich ein Programm mit vergnüglichen Nonsensgedichten und Lieder auf, das den Titel „Wenn nicht, wer du“ trägt. Darin steckt mehr Sinn und mehr Schönheit, wahrscheinlich sogar politische, als in den gesamten 208 Seiten dieses Machwerks.

geschrieben Ende November 2015 für KONKRET (gekürzt erschienen)

Freitag, 22. April 2016

Ein paar weniger wichtige Gedanken zu einem vollkommen relevanten Konflikt zwischen Tim Renner und Claus Peymann


„Kultur“ geht ungefähr so: Eine Clique von „Leistungs-“, Entscheidungs- und sonst welchen Trägern nimmt ein paar öffentliche Millionen in die Hand und setzt irgendeinen spektakulären (d. h. in Wirtschaftsteil und Feuilleton ausgiebig bebimsten, ansonsten ahnungsfreien, auf jeden Fall „unorthodoxen“, d. h.: absolut konformen) Idioten auf einen Posten. Der kriegt dann umgehend „Visionen“, die in Feuilleton und Wirtschaftsteil ausgiebig bebimst werden und im wesentlichen darauf hinauslaufen, man müsse ein paar öffentliche Millionen in die Hand nehmen und „etwas machen“ bzw. „auf die Beine stellen“, also: ein „Event“, wo irgendwas hüpft, glitzert und raucht und die Clique sich versammelt, um ihre eigene Wichtigkeit zu bebimsen. Da der Gesamtvorgang strikt und absolut cliquenintern bleibt (vom Manager bis zum Volontär) und niemanden sonst auf der ganzen Welt angeht, betrifft oder interessiert, bleibt am Ende nichts übrig als Millionen von Druckzeilen und Sendeminuten, die kein Mensch liest bzw. anschaut, und das wäre dann eine „Kultur“.
Ich kannte mal einen Theaterintendanten, der mit so was seine Zeit verbracht hat, aber eigentlich nur zwischendurch meine Zigaretten rauchen, über Fußball reden und hin und wieder feststellen wollte, was für ein Kotzhaufen dieser ganze „Betrieb“ (die Clique) sei. Wovon ich nichts wissen wollte, weshalb er mich fragte, was ich denn in Sachen „Kultur“ für eine Alternative anzubieten hätte, und mit meiner Antwort („Na ja, wie wär’s mit: allem anderen?“) nichts anzufangen wußte. Klar, ein katholischer Dogmatiker des 16. Jahrhunderts konnte mit der Idee, daß es da draußen ein Universum mit Trilliarden Sternen und Planeten gebe, ja auch nicht recht viel anfangen.
Ist an sich auch egal; die Clique macht ihr Ding, kein Mensch liest ein Feuilleton, niemand beachtet die millionenteuren „Events“, und die Trilliarden anderen Dinge (nennen wir sie Kultur, ohne Gänsefüßchen) gibt es ja trotzdem und auch ohne Zeilen und Sendeminuten. Aber wenn man dann hin und wieder gefragt wird, was man denn zum Beispiel von der „aktuellen“ Streiterei zwischen Claus Peymann und Tim Renner halte, dann muß man doch mal recherchieren. Und stellt fest: Aha! Da möchte also mal wieder so ein spektakulärer Postenidiot ein paar öffentliche Millionen in die Hand nehmen, um einem anderen spektakulären Idioten einen Posten zu verschaffen, damit der in die angebliche deutsche Hauptstadt ein paar hüpfende, glitzernde und rauchende „Events“ hineinbimst, woraufhin dann Scharen von „Leistungs-“ und Entscheidungsträgern (sowie andere „quality people“) daherfliegen und die Wichtigkeit der Clique feiern. Der andere möchte der Clique lieber ein Theater machen, auf daß seine eigene Relevanz bebimst werde, und außenrum bimsen die sowieso wichtigen Träger angeblicher „Meinungen“ wie eine wildgewordene Affenhorde zugunsten des einen oder anderen (d. h.: um des einen oder anderen Gunst). Das ist so spannend wie die letzten fünf Minuten eines Fußballspiels, das 8:0 steht und bei dem man keinen der beiden Vereine kennt.
Ja mei, die Analyse fällt knapp aus: Von Tim Renner möchte niemand, der je einen Satz von ihm gehört hat, je wieder einen Satz hören, weil derlei Extrembullshit Lebenszeit kostet und zu Tobsuchtsanfällen führt. Der Rest? Ja ja bla. Vielleicht rauchen wir lieber meine Zigaretten und reden über Fußball. Oder bestenfalls nehmen wir eines Tages der Clique die öffentlichen Millionen weg und kaufen Hertha BSC ein paar Brasilianer. Und wenn die ganzen Bimser dann ins Sportressort wechseln, reden wir halt über Theater.

geschrieben im April 2015 für KONKRET (gekürzt erschienen)

Mittwoch, 20. April 2016

Expedition in den Untergrund: Ein Tag in der Münchner U-Bahn



Die U-Bahn ist das Fastfood unter den Fortbewegungsmitteln: Nicht der Weg ist hier das Ziel, sondern das Ziel – Hauptsache satt, das heißt: Hauptsache da. Damit ähnelt U-Bahnfahren am ehesten dem Traum aller Transporttechniker, dem aus „Raumschiff Enterprise“ bekannten Beamen: Man steigt ein, wird durch identisch schwarze, ortlose Tunnel geschossen und steigt wieder aus, an identisch häßlichen, funktionsbestimmten Bahnhöfen. Die Frage, ob sich die Menschen, die an einer der 93 Stationen ein- oder aussteigen, nach Stadtvierteln und Tageszeiten oder unter anderen Gesichtspunkten gleichen oder unterscheiden, ob sie spezifische Gruppen bilden, läßt sich am besten mittels einer Expedition erforschen, die zwar nur ein stichprobenartiges Bild liefern kann, aber immerhin ein echtes Abenteuer ist, wenn man ansonsten generell nur mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist.
Start am Hohenzollernplatz, früher Nachmittag; der von Norden kommende Zug ist gefüllt mit Schülern, Studenten, Rentnern, zu denen sich weitere gesellen, dazwischen eine Mutter mit Kinderwagen (dem heute üblichen Modell „Gesamthaushalt in klein“, bepackt mit Tüten, Taschen, Kleidung), der ohne Rücksicht auf Mitreisende in die Menge gedrängt wird. Am Königsplatz kommen ein paar kulturbürgerliche Individualisten in üblicher Uniform (Mantel, Schal und Hut, das Kinn nach oben gereckt) hinzu, und am Hauptbahnhof leert sich die Bahn weitgehend, in alle Richtungen. Am Sendlinger Tor ändert sich durch mittlere Jahrgänge auf Einkaufsbummel die Altersstruktur, Richtung Giesing auch die Ausstrahlung der Menschen: Zufriedenheit und entspannte Meditation weichen zunehmender Müdigkeit, die Gesichter werden grimmiger, und immer ist unter zehn Passagieren einer, der der aktuellen Ernährungsmode getreu eine Flasche Augustinerbier in der Hand trägt, ohne indes wie ein Trinker zu wirken. An der Untersbergstraße warten ausschließlich Ausländer und ein paar Rentner, am Giesinger Bahnhof ist es ebenso, allerdings sind es nun wieder hauptsächlich Schüler, die noch weiter aus der Stadt hinaus, nach Ramersdorf, Neuperlach und in die neue „Messestadt“ fahren. Erstaunlich trotzdem die Ruhe im Zug – es ist wohl was dran an der Behauptung, Kinder seien vom Schulstreß heutzutage so geschlaucht, daß die ausgelassene Fröhlichkeit früherer Zeiten nicht mehr denkbar ist. Höchstens noch zeigt man sich gegenseitig Bilder auf dem Handydisplay.
Am Innsbrucker Ring treffen sich vier Bahnen auf vier Gleisen, und unsere leert sich bis auf die Sitzplätze. Neu dabei einige sehr alte Menschen mit junger Begleitung, ein afrikanischer Vater mit drei Kindern, die so lebendig wirken, daß sie der Bildungsdruck offenbar noch nicht erfaßt hat. Die Haltestelle Josephsburg ist mir völlig neu, eine edel gemeinte weinrote Röhre mit schachbrettartigem Granitboden, die kulturelle Bedeutung signalisiert, wo aber niemand aus- oder einsteigen mag. Dafür an der Kreillerstraße, wo die letzten gutsituiert bis wohlhabend wirkenden Passagiere, die man eher nach Waldtrudering verortet hätte, die Bahn verlassen (abgesehen von einer blonden Frau Anfang zwanzig, die wie ein Photomodell wirkt und seit Beginn der Fahrt an Bord ist), was erstaunlicherweise die durchschnittliche Laune zu bessern scheint. An der Haltestelle Trudering, die aussieht wie ein Atombunker, wartet die nächste Ladung Schüler im Teenageralter, deutlich lauter, strenger parfümiert und mit mehr Nieten verziert als ihre innenstädtischen Vorgänger. Der Bahnhof am Moosfeld hingegen, Heimat eines hochmodernen Gewerbegebiets, ist tagsüber fast menschenleer – klar: Hier wird am Aufschwung gearbeitet.
Messestadt West: Ein etwa 15jähriges Mädchen erklärt seiner Oma am Telephon, wie deren Telephon funktioniert, die blonde Frau ist nun meine einzige Mitreisende. An der Messestadt Ost endet die Fahrt; nach einer kurzen Besichtigung der monströsen, durch Straße und U-Bahnlinie in Arbeit und Hausen zweigeteilten Betonwüste, die offenbar vollkommen wahnsinnige Architekten hier angerichtet haben, setze ich mich in die leere Bahn, in die anfangs nur spärlich Menschen tröpfeln – drei türkische Kollegen, ansonsten nur Frauen: eine extrem Korpulente Mitte zwanzig, die so unglücklich wirkt, daß man sie am liebsten trösten würde, kichernde Teenager, verhärmte Altsekretärinnen und ein still leidendes Trio aus Mutter und zwei Töchtern. Keine Rentnerinnen, die leben hier wohl (noch) nicht.
Auffallend ist, daß aus Trudering ganz andere Menschen in die Stadt hinein wollen als zuvor dort hinaus, und viel mehr. Unter vielen grauen Gesichtern mit ausladender Leibesfülle fällt diesmal ein Paar Ende 60 auf, das der Kleidung und dem „würdevollen“ Benehmen nach offenbar aus der „Urbevölkerung“ (Villa mit Garten) stammt und tatsächlich baierischen Dialekt spricht – als bisher einzige auf der Reise.
Aber die Stimmung ist jetzt entschieden fröhlicher – anscheinend fährt man nachmittags (es ist kurz nach 15 Uhr) lieber in die Stadt hinein, als aus ihr hinaus zu müssen. Am Innsbrucker Ring ist der Bahnsteig voller Menschen in Winterjacken, deren preßwurstartige Gestaltung nur in der Farbe variiert, aber niemand will zu uns, fast alle steigen in die U5 Richtung Laim. Am Karl-Preis-Platz kommt eine Handvoll Menschen dazu, die in etwa das repräsentieren, was man heute gerne mit dem entwürdigenden Begriff „sozial schwach“ diffamiert: ein übergewichtiges Mädchen in grellbunter Discounterkleidung, ein alter Mann mit fast leerer Plastiktüte, eine auffallend kleine Frau mit ungepflegter Frisur und Alkoholfahne, die vor sich hin murmelt. Dazu ein Mann Anfang fünfzig in teurer Freizeitkleidung mit SZ, „Spiegel“ und Kopfhörern, den ich spontan als Gymnasiallehrer einschätze, bis er aus seiner Aktentasche die bereits erwähnte Augustinerflasche zieht. Oder ist er trotzdem einer?
Nun ist Essenszeit, gut die Hälfte der Reisenden führt in regelmäßigen Abständen zerkrumpelte Papiertüten zum Mund, in denen unterschiedliche Zusammensetzungen von Mehl, Fett und Zucker stecken, und ab der Silberhornstraße steigt der Anteil von Büchern als Reiselektüre deutlich an; allerdings meist fette Taschenbuchschwarten mit nichtssagenden Titeln, nur eine unauffällige junge Frau mit Nußschnecke liest ein fest gebundenes Exemplar, sogar mit Lesebändchen. An der Fraunhoferstraße erfüllt eine Sechsergruppe mutmaßlich Freischaffender, die sich aufreizend hochgestochen und geziert über Filme unterhalten, das Klischee vom Schwulenviertel, der Bahnsteig am Sendlinger Tor wimmelt von noblen gestylten Papiertragetaschen voller hochwertiger Beute, deren Besitzer jedoch alles andere als glücklich wirken – vielleicht schlägt ihnen das Wetter aufs Gemüt, es ist den ganzen Tag noch nicht hell geworden (und hier im Untergrund sowieso nicht). Kurze Zigarettenpause am Tor, wo sich auffallend viele Menschen verabreden, die gerne mehr wären als das, wofür sie sich halten (ein spontaner Eindruck, den ich nicht erklären kann), während drunten die Polizei ein paar Punkjugendliche und einen betrunkenen Ausländer provoziert.
Die Poccistraße ist der wohl deprimierendste U-Bahnhof der ganzen Stadt; wer hier einsteigt, hat offensichtlich eine demütigende Amtsbehandlung auf dem KVR hinter sich; wer aussteigt, tut das ebenfalls recht freudlos, wohl weil man weiß, was einen erwartet. Die innenstädtische Individualität der Winterkleidung nimmt Richtung Westen rapide ab, ebenso die Verständlichkeit der Durchsagen in der U6, dafür wechselt die Lektüre nun wieder zum breiteren Format mit den Riesenbuchstaben. Am Harras sitzt ein Rentnerehepaar, das nicht einsteigt und so wirkt, als säße es hier schon seit Jahren, so wie man früher vor dem Haus auf einer Bank saß.
Wieso gerade am Partnachplatz nur abgekämpfte Arbeiter und illusionslos deprimierte Arbeitslose (allesamt männlich) einsteigen, ist mir ein Rätsel, weil ich ehrlich gesagt gar nicht weiß, wo der Partnachplatz liegt – Sendling, na gut, vielleicht ist das Zufall. Die Station Westpark, grüngelb gekachelt wie ein altes Wienerwald-Klo, ist völlig leer, hier will auch niemand raus. Es sind sowieso nur noch acht Menschen im Abteil, von denen sechs in Holzapfelkreuth (noch so eine Toilette, diesmal mehr gelb) aussteigen, unter anderem ein Künstler mit Cellokoffer. Zurück bleiben ein Mann und eine Frau, beide klein und schwächlich wirkend, die Rücken an Rücken sitzen, bis er das bemerkt und ein paar Reihen weiter Platz nimmt. Am Haderner Stern, einer Scheußlichkeit aus Glasbausteinen, steigt die Frau aus, nun sind wir allein, der Mann sitzt mir schräg gegenüber und hält eine leere blaue Stofftasche. Wer oder was er ist, wage ich nicht zu vermuten, es ist absolut nicht zu erkennen.
In Großhadern wartet ein Riesenaufgebot von Menschen zwischen 18 und 35, die größtenteils ausländisch zumindest wirken, aber in die Stadt hineinwollen. An der Endstation Klinikum Großhadern fragt mich der kleine Mann mit norddeutschem Akzent nach dem Weg zum Krankenhaus; spontan denke ich, daß er seine Mutter besucht, die zum Sterben hier ist. Die Menschen, die hier auf die Rückfahrt in die Stadt warten, wirken so desillusioniert, daß ich ohne Aufenthalt sofort zurückfahre, wieder fast allein im Abteil, nur eine verträumte Schülerin fährt mit. Erst am Haderner Stern drei weitere Fahrgäste: ein junges Paar trägt einen Holzrahmen, der zu einem Kinderbett gehören könnte, ein Mann im Anorak schließt sofort nach dem Hinsetzen die Augen und schläft ein. Zwei ehemals Halbstarke, jetzt Ende vierzig und anscheinend Veteranen der Örtlichen Stehausschänke, springen in Holzapfelkreuth in letzter Sekunde lachend in den Zug, unterhalten sich lautstark darüber, daß sie noch Zigaretten besorgen müssen, und schweigen dann für den Rest der Fahrt. Insgesamt fahren auf der Westachse der U6 so wenige Menschen, daß die wenigen nicht zusammenzufassen sind, sieht man davon ab, daß sie offensichtlich finanziell weniger gut dastehen als die Richtung Norden, aber zufriedener aussehen als die Luxuskonsumenten am Sendlinger Tor.
Zweiter Abstecher in den Westen, diesmal mit der U3 von der Implerstraße, wo die Ruhe beim Warten besonders friedlich und geduldig wirkt. Die hochmodernen Anzeigetafeln, die in etwa so viel gekostet haben, wie die Angestellten der MVG derzeit vergeblich an Lohnerhöhung fordern, zeigen vier Minuten lang stur eine Minute Wartezeit an, aber die Menschen hier nehmen sie in ihrer Erschöpfung sowieso nicht wahr; ich stelle fest, daß ab 16 Uhr die Niedergeschlagenheit in den Gesichtern stark zunimmt; gegen 17 Uhr werden sie regelrecht griesgrämig, der Blick so leer, daß er nicht mal mehr die Werbetafeln über den Sitzen erfaßt, die wohl als eine Art Ersatzlandschaft gedacht sind. Zugleich wird es immer wärmer in der Bahn, in der an der Brudermühlstraße zumindest um diese Zeit niemand mehr unter 45 und über 65 ist. Klar: für einen Ausflug in den Tierpark ist es zu spät, zumal dienstags. In Thalkirchen leert sich der Wagen ein wenig, die Aussteigenden wirken noch am zufriedensten. In Obersendling, noch so einem schockierenden Atombunker, steigen die letzten einigermaßen Jungen aus, an der Forstenrieder Allee zwei neue ein, die offenbar aus akademischem Elternhaus kommen: Die Kleidung ist leger, aber teuer, ihr Auftreten selbstbewußt, sie sprechen über die Vorzüge aktueller Unterhaltungselektronikgeräte und mokieren sich über den französischen Akzent des Fahrers. Zweite Zigarettenpause in Fürstenried West, dessen soziale Struktur von der Forstenrieder Straße eindrucksvoll und unüberbrückbar geteilt wird: links trostlose Wohnblocks in Reih und Glied, rechts Ein- und Zweifamilienhäuser mit Gärtchen. Die Menschen, die hier aus- und einsteigen, bieten dafür ein überraschend homogenes Bild: Arm ist offenbar kaum jemand, richtig wohlhabend auch nicht. Es gibt geringfügige Unterschiede: Mütter mit Kinderwagen halten sich eher links, wo man auch die Treppen deutlich erschöpfter hinaufsteigt, während rechts das Haar der Frauen mittleren Alters kürzer und gefärbt ist und man lebenslustiger die nur hier angebotene Rolltreppe erklimmt.
Auf der Rückfahrt bleibt die Bahn fast leer, offenbar gibt es in dieser Gegend also auch kaum „Arbeitsmigranten“, vulgo Pendler, zumindest keine solchen, die jetzt, um halb sechs, schon Feierabend hätten. Dafür an der Aidenbachstraße: viele junge Frauen, einige ebenfalls junge Paare; alle wirken so, als stünden sie am Anfang einer unspektakulären, aber einigermaßen sicheren Karriere, dazu gut gekleidete Männer zwischen fünfzig und sechzig, mutmaßlich der Berufsgruppe zuzuordnen, die man einst Abteilungsleiter nannte und heute mit kryptischen englischen Phantasiewörtern verziert.
Die zuvor so virulente Niedergeschlagenheit ist auf der Rückfahrt viel geringer; man liest konzentriert, aber gelassen. An der Brudermühlstraße steigen die ersten Jugendlichen ein, die erkennbar auf dem Weg ins Nachtleben sind; überhaupt sinkt der Altersdurchschnitt von Station zu Station, selbst an der Poccistraße, die ein um diese Zeit überraschend begehrtes Ziel zu sein scheint, und am Goetheplatz, wo der weibliche Anteil der zusteigenden Menge vielleicht wegen der Kliniken in der Umgebung so hoch ist.
Am Odeonsplatz steige ich um in die U4 ostwärts. Hier ist der Ausländeranteil praktisch null, ebenso die Zahl der Übergewichtigen; wer im Lehel oder am Prinzregentenplatz aus- oder einsteigt, blickt streng bis hochmütig und macht sich wohl so seine Gedanken über die sinkende Leistungsbereitschaft in Deutschland. Klar: in Bogenhausen wohnen die Sieger des kapitalistischen Prozesses; der Bahnsteig an der Richard-Strauß-Straße stadtauswärts wirkt fast wie ein Zweitliga-Model-Wettbewerb (die erste Liga fährt Auto), und am Arabellapark weiß man um die eigene Bedeutung und muß sie nicht mehr zur Schau stellen. In diese Gegend zieht es auch die Kulturelite, die für einen Konzertabend mit leichter Hand das Monatseinkommen eines Hartz-IV-Beziehers ausgibt, aber in der U-Bahn logischerweise kaum vertreten ist. Und selbstverständlich gibt es „normale“ Menschen, die wie überall den Kontrast bilden und deren Anteil auf der Rückfahrt Richtung Innenstadt um diese Zeit naturgemäß wesentlich höher ist.
Dritte Zigarettenpause um sechs in einem stillgelegten Bushäusl an der Englschalkinger Straße, inzwischen ist es dunkel; der Laptop, auf dem ich schreibe, sorgt dafür, daß man mich nicht für einen Stadtstreicher hält, der hier noch unwillkommener wäre als in Milbertshofen oder Giesing. Dennoch ist der Blick derer, die von der U-Bahn direkt in eines der wartenden Taxis umsteigen, mißtrauisch. Auf der Rückfahrt sammelt die U4 bis zum Odeonsplatz die ein, die hier nur arbeiten und nicht wohnen; immerhin sind es Graphiker, Werbefachleute, Finanzmenschen, also solche, die zumindest hoffen dürfen, sich eines Tages im Lehel oder in Bogenhausen anzusiedeln. Es wird erstaunlich viel geredet, vor allem über Firmen und Kinder.
Die weitere Fahrt, dies aus Platzgründen kurz zusammengefaßt, führt in den fernen Westen, wo der Münchner Kleinbürger noch am traditionellsten kleinbürgerlich wirkt und manche Frauen sogar Kopftuch tragen (allerdings nur das klassisch deutsche Modell, gegen das erstaunlicherweise niemand etwas einzuwenden hat), dann in den noch ferneren Südosten – nach Neuperlach, wohin so viele Menschen unterwegs sind, daß der Begriff „Trabantenstadt“ mit der Vorstellung von Erde und Mond nicht recht in Einklang zu bringen ist. Dann geht es ein letztes Mal nach Süden (zum Mangfallplatz, wohin am frühen Abend niemand fährt, den man irgendwie für gegendtypisch halten könnte) und nach Norden, ins fast ebenso stark wie Neuperlach frequentierte Hasenbergl und weiter nach Feldmoching, das offenbar nur als Umsteigebahnhof zum Flughafen dient.
Dann ist es wirklich Abend, und inmitten vorglühender Jugendlicher auf dem Weg zu diesem oder jenem Amusement stelle ich fest: U-Bahnfahren ist ermüdend und deprimierend und kostet Kraft; obwohl man nur sitzt, ist man beim Ankommen erschöpft wie nach einem langen Arbeitstag. Na gut, aber U-Bahnen sind ja normalerweise nicht dafür gedacht, stundenlang herumzufahren, was ich als Freizeitbeschäftigung übrigens ganz und gar nicht empfehlen kann. Und: der größte Teil der Menschen, die U-Bahn fahren, verliert dabei das Gesicht, wird Teil einer formlosen Masse von 351 Millionen Beförderungen pro Jahr, aus der nur ganz wenige herausstechen, die dafür aber um so deutlicher.
Ein anderes Fazit (und einige Randbemerkungen): Während man als Radfahrer und selbst in der Trambahn auf dem Weg durch München stetige Veränderungen der Menschen, ihrer Kleidung und Ausstrahlung, aber auch von Landschaft, Architektur, Enge und Ferne, Ruhe und Lärm, Heiterkeit und Trauer erlebt, ist die U-Bahn tatsächlich ein großer Gleichmacher – hier fließt alles in eins, läßt sich die Ortlosigkeit der modernen Fortbewegung als Mischung aus Vertrautheit, Sicherheit und Öde erfahren. Die Zeit, die man in der U-Bahn verbringt, ist vielleicht nicht verloren, aber gelebt ist sie auch nicht. Die Welt der Unterschiede, der regionalen, lokalen, individuellen Zugehörigkeiten löst sich dort drunten im Tunnel auf, ist aufgehoben in einer Gemeinschaft der Leere, in der selbst die sozialen Trennlinien der Klassengesellschaft unscharf werden.
An einigen Haltestellen, etwa dem St.-Quirin-Platz am Rand von Giesing, versucht die Bahnhofsarchitektur wenigstens notdürftig die dort drunten mit dem da draußen zu verbinden, indem sie die umgebende Landschaft dem Blick öffnet; auf der oberirdischen Strecke der U6 nordwärts wird die Bahn zum Teil davon. Auch hier scheidet eine große, die Ingolstädter Straße die Wohnblocks rechts von den Siedlungshäuschen links; beide entfernen sich, bis endlich die Fröttmaninger Heide ein ganz neues Bild von Weite und Stadtferne bietet, allerdings ge- oder zerstört vom Tosen der Autobahn, dem schrecklichen Anblick der müllcontainerartigen Panzerwiesensiedlung und der wie ein Wahrzeichen gigantischer Vergänglichkeit über allem thronenden, unübersehbaren Arena-Kloschüssel.
Am nordwestlichen Ende, am Olympia-Einkaufszentrum, aber auch in Neuperlach West, zeigt sich schließlich, was die U-Bahn auch ist: Münchens größte Wärmestube, in der vor allem Jugendliche sich treffen, um in unmittelbarer Nähe unterirdischer Konsumtempel sozusagen in der Aura und im Prestige der dort erhältlichen, aber für sie unerschwinglichen Produkte zu baden und das zu tun, was sie ehemals auf öffentlichen oder Sportplätzen und in Freizeitstätten taten: ihren Platz in der Welt suchen, ohne pädagogisches Gebimse. Man möchte ihnen spontan predigen, doch hinauszugehen in die tagsüber impertinent strahlende Herbstsonne; aber zugegeben: Die Hanauer Straße ist für Kinder in keiner Hinsicht ein geeigneter Lebensraum, und Neuperlach auch nicht. Das ist vielleicht der größte Nachteil regelmäßigen U-Bahn-Fahrens: Man vergißt, daß es irgendwo da oben eine Stadt gibt, und läßt sie entsprechend verwahrlosen.
Oh, und das bemerke ich erst jetzt: Auf der ganzen Fahrt bin ich nicht ein einziges Mal kontrolliert worden.

geschrieben im November 2010 für das Magazin BISS, dort stark gekürzt erschienen


Montag, 18. April 2016

Belästigungen 07/2016: Müßige Gedanken bei der Betrachtung einer Art Hochleistungsschwimmhalle ohne Dach und Becken

Man kann nichts mitnehmen. Das ist die Grundeinsicht des menschlichen Lebens, und wie alle Einsichten, Erkenntnisse und rettenden Ideen kommt sie so gut wie immer zu spät. Drum irrt der Mensch durch die ihm zugeteilte Lebenszeit und kriegt nichts davon mit, weil er wie irr schaffen und raffen muß, und am Ende macht es dann Zupp!, und er ist weg, aber das Zeug bleibt da.
Ich komme da jetzt nicht wegen Guido Westerwelle drauf, dem man ein möglichst langes Leben mit möglicherweise irgendwann eintretender Einsicht oder gar Weisheit gewünscht hätte, statt daß er hinfort muß und der Irrsinn, den er angerichtet hat, noch Generationen von Menschen auf den Schultern hängt wie ein Bleirucksack. Noch nicht mal wegen Lothar Späth, dem die Erkenntnis des Zuspätkommens jeglicher Einsicht gnädigerweise dank Demenz erspart blieb, weil sie geholfen ja ohnehin nicht mehr hätte. Sie mögen in Frieden ruhen, am besten in einem Dreibettzimmer mit Lemmy Kilmister, einer der ganz wenigen Ausnahmen: Was der in seinem Leben so zusammengedampfplaudert und -gedröhnt hat, mag streng betrachtet überwiegend ein Riesenschmarrn sein, aber nett ist es doch, daß er den Krampf nicht einsammeln, in einen Koffer packen und mitnehmen konnte, weil an Schmarrn herrscht auf diesem Planeten immer mehr Bedarf als gedeckt werden kann.
Nein, komischerweise ist mir das mit dem Mitnehmen neulich ein- oder vielmehr aufgefallen, als ich durch Schwabing spaziert bin, über den Wedekindplatz. Der war früher mal ein ziemlich wild gewachsener, beschaulich unaufgeräumter und oft richtig lustiger Ort, wo sich Menschen, die nichts zu tun hatten, zufällig trafen und versammelten, um Blödsinn zu erzeugen und auszutauschen und insgesamt eine Gaudi zu haben oder auch bloß müßig auf einem Bankerl oder am Straßenrand zu sitzen und anderen beim Gaudihaben zuzuschauen.
Dann aber kam eine Bagage daher, die mindestens aus einem profitsüchtigen Spekulanten, einem von seiner unbremsbaren Gestaltungsmacht besoffenen Stadtplaner (möglicherweise in Personalunion) und einem traditionell brumpfigen Bauunternehmer (vermutlich mit ebenfalls mindestens monetär schwippschwägerlichen Verschweißungen zum Rest der Besetzung) bestand. Das geht selten gut aus, weil derlei Leute, wenn sie einen solchen Platz betrachten, nichts sehen von dessen zivilisationsnatürlicher Gewachsenheit und gaudimäßiger Bedeutung, sondern lediglich zwei „Gedanken“ haben: „Sakrament, aus diesem windigen Viertel läßt sich mit ein bisserl Investition, Beton und Fassadenfaschismus ganz schön was rausleiern!“ und „Das leiern wir raus, und dann nehmen wir es mit!“
Und schon wurde gerissen, gesprengt, gebrochen, gebohrt, gehackt und planiert, daß es eine Art hatte. Und zwar möglichst chaotisch, durcheinander und langwierig, weil bei allzu hurtigen Baumaßnahmen die Gefahr besteht, daß sich die Menschen hinterher noch erinnern, wie es vorher war, und dann spüren sie am Ende einen Phantomschmerz dort, wo früher die Gaudi war, und begehren vielleicht sogar auf, weil sie dem Irrglauben verfallen, die Welt, die sich die anderen angeeignet haben, gehöre irgendwie doch auch ihnen. Nein, die müssen schon so richtig weggegrault werden, und ihre Nester, wo sie sich im unregierbaren Bierdampf berauschen, die kriegt man nebenbei mit etwas Glück auch gleich trockengelegt und kann sie in schmucke Latte-Automaten für zugezogene Hipsterdarsteller verwandeln, von deren (von den Elterngenerationen logischerweise nicht mitgenommenem) Millionenerbe man dann ebenfalls noch was abzapfen darf.
Jetzt also: ist der Platz zu einer Art Hochleistungsschwimmhalle ohne Dach und Becken oder (je nach Blickrichtung) zum Open-air-Äquivalent eines besonders sterilen Parkhauses (ohne Parkplatz) kastriert, mit dem man nichts mehr anfangen kann als eilig zwischen den herumdröhnenden SUV-Panzern hindurchzufetzen und hilflos nach einem Ersatzort zu suchen, wohin man sich flüchten kann. Und die Verwüster hängen am Ende an ihren Schläuchen auf der Palliativstation und müssen einsehen, daß sie den angerafften Kapitalhaufen eben doch nicht mitnehmen können.
Den versucht der Nachwuchs dann per Latte macchiato und Porschemaschinen in Distinktion umzusaldieren, bis er irgendwann merkt, daß ein Leben aus dem Geld nicht herauszudestillieren ist und man es deswegen besser ansammelt, damit es mehr wird und man es am Ende mitnehmen kann.
Man möchte meinen, es wäre ein Leichtes, den unheilvollen und letztlich irgendwann gesamtfatalen Wahnsinn aufzuhalten. Da bräuchte man doch bloß einen Staat gründen, der dafür sorgt, daß es gar nicht erst zur Anhäufung solcher Haufen kommt, die dann ihre hirn- und weltzersetzende Wirkung entfalten, um sich weiter aufzuplustern. Zum Beispiel mit einer lustigen Erfindung namens Steuern. Aber leider ist es in Deutschland traditionell verboten, Profit und Vermögen zu besteuern, weil die sonst zürnen und den Staat einfach wieder abschaffen oder ihn wenigstens in einen Krieg hineinschmettern, daß ihm Hören, Sehen und Besteuern garantiert vergeht.
Und so geht der Wahnsinn weiterhin im Kreis herum, Generation um Generation, die Haufen blähen sich auf, und während sie das tun und es im Kreis herumgeht und alle wie die Irren schaffen und raffen und betonieren, denkt niemand daran, daß man außer dem Mammon vor allem eines nicht mitnehmen kann, was einem nicht erst am Ende abgeht (da allerdings dann auch), sondern (meistens ohne daß man es merkt) jeden Tag und jede Stunde: die Lebenszeit, die man in Lebensfreude umwechseln kann. Oder gekonnt hätte, wenn man nicht zu spät – kurz bevor es Zupp! macht – gemerkt hätte, daß der Vorrat begrenzt ist und es keine Tankstelle zum Nachfüllen gibt.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #363: White Denim "Stiff"


Immer wenn der Schnee schmilzt, der Matsch verfließt in der milde lächelnden Frühlingssonne, erstehen vergessene Vergangenheiten wieder auf, in Form von Gegenständen und Gefühlen, aber auch als Lebenszusammenhang. Das ist nicht einfach bloß jahreszeitlich zu verstehen, sondern auch metaphorisch.
Zum Beispiel die elektrisch verstärkte Gitarre. Wie oft war man versucht, zu denken: Ach ja, gab es mal, waren lustige Zeiten, aber jetzt sind und herrschen andere, da muß man sich anpassen und das so nehmen und die kulturellen Fühler und Fühligkeiten entsprechend ausrichten. Aber heißa!, dann schmilzt der Schnee der letzten Moden, und plötzlich steht sie wieder er-, auf und da, und es fetzt und dröhnt ein unwiderstehlicher Knaller wie „Had To Know (Personal)“ oder „Mirrored In Reverse“ aus den Boxen, und plötzlich ist wieder 1975. Und zwar ein 1975, das nie war, auch wenn die Namen, Bilder und Erinnerungen nur so hageln aus dem jahreszeitlich unabhängigen Frühlingshimmel.
White Denim ist ein schönes Bild: ein weißes Stück Stoff, auf das man malen kann, was man mag und was einem in den Sinn kommt. Blumenblüten, Blutstropfen, Liebesweh, Regennachmittage, eine Landschaft ohne Zeit und Bewegung, das Toben einer Stadt, die sich ekstatisch in ihrem eigenen Lärm suhlt. Wichtig ist: einzusehen, daß es nichts schon gab, sich nichts wiederholt, nichts schon da war. Das sind nur Anwandlungen, die aus dem menschlichen Grundbedürfnis erwachsen, Dinge und Gefühle zu identifizieren. Liebe, Freude, Lust und Wut, Trauer, Sehnsucht, Begeisterung gibt es immer nur dann, wenn man sie spürt, und mit irgendeinem Moment, da man ähnliches schon mal gespürt zu haben glaubt, hat das nichts zu tun.
Drum ist es ein Riesenblödsinn, der Band White Denim zu attestieren, sie sei „retro“, obwohl das stimmen mag. Diese euphorisch packenden, die Eingeweide erschütternden Gitarrenriffs und unberechenbaren, gleichzeitig sparsamen wie essentiellen Solos, diese mal selbstvergessen frohlockende(n), mal saftig-soulig röhrende(n) Stimme(n), die zum Fäusterecken und den seltsamsten Körperverrenkungen und kaum erklärlichen „Yeah!“-Ausstoßungen animierenden Rhythmen und rhythmischen Verschiebungen (am schönsten vielleicht im finalen „Thank You“) mag man irgendwann mal gehört zu haben glauben, aber da kann man noch so tief im Plattenschrank und im Kollektivgedächtnis wühlen, man findet immer nur Annäherungen, die man mit einem überraschten „Nein, huch, das war ja doch ganz anders“ wieder verwirft. So geht Erinnerung: Das Neue formt die Vergangenheit, aus der es logischerweise kommt, in der es aber keine Wohnung mehr hat.
Es klingt paradox, ist aber einfach wahr: White Denim, vier relativ junge Männer aus dem texanischen Austin, erfinden die Rockmusik vollkommen neu. Und ja: in den neun Songs auf ihrem siebten Album gibt es buchstäblich tausende von Momenten, wo man mit leuchtenden Augen denkt: „O ja! Das ist doch ...“ Dieses Verwirrspiel beschränkt sich auf die siebziger Jahre, auf die Zeit und die Welt zwischen Slade und REO Speedwagon, Deep Purple und Free, Montrose und Vinegar Joe, Silverhead und Soft Machine, Wishbone Ash und Mott The Hoople, Sharks und Terry Reid, Commodores und Led Zeppelin, Traffic und Nazareth; und wer die Hälfte dieser Namen noch nie gehört hat, der hat ein Riesenglück: Er kriegt eine ganze Epoche auf einem Album, und zwar nur die guten, die großen, die anrührenden und mitreißenden Momente, zusammengerührt zu einem überschäumenden Hexenkessel der Ideen ohne eine fade Zehntelsekunde.
Wir anderen: sind begeistert, ganz einfach. Da ist er, der Frühling, mit dem man nie rechnet und der doch einfach kommt, immer wieder und nie mehr so.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 13. April 2016

Frisch gepreßt #362: Bumillo „Veit Club LP“


Eine Kurzeinführung in Charakter und Ursprung der mitteleuropäischen Kultur kommt nicht um eine zentrale Tatsache herum, gegossen in den ewiggültigen Merksatz: Eine Kneipe ist eine Kneipe (vulgo localo: Boazn). „Dann bestellen wir beim Kellner ein Bier und saufen so lang, bis was Lustiges passiert, und dann erzählen wir uns selber, wie wir dabei waren, als was Lustiges passiert ist“ könnte als Quintessenzregel und Summenformel der Weltfunktion das Leben als solches treffender beschreiben als Hekatomben unverstandener Ergründungsliteratur. Und freilich auch dieses Album, das hierfür stellvertretend steht, indem es sozusagen sich selbst gebiert – und keineswegs gebärt, weil der Bär in diesem urko(s)mischen Urmechanismus nichts verloren hat, das Bier sehr wohl.
„So ward durch den Glauben der Trank geheiligt, und heilig war auch der Gastfreund, der an dem Tische des Hausherrn den Becher leerte.“ (Max Bauer, Der deutsche Durst, Berlin-West/Leipzig 1903) - „Gott schenkt nicht jedem Land den Wachstum derer Reben / Woraus der Menschenfleiß den edlen Wein erpreßt / Doch weil er anderwärts die Gerste wachsen läßt / So weiß des Menschen Kunst uns daraus Bier zu geben.“ (Theodor Schöpfer, Traktat vom Bierbraurecht, o. O. 1732) – Schon zu Zeiten indes, als man in ärlich-erbärmlicher Unkenntnis der Hopfendolde und ihrer segensreichen Wunderwirkung hierzulande Eichenrinde, Wacholderbeeren, Birkenblätter, bittere Wurzeln und Nesselstengel in den zum Trunk geheiligten Urquell des Lebens und der Narretei hineinsott, ragte einer an Bedeutung und Macht über Kaiser, König und Truchseß hinaus: der Wirt, nach dem folglich auch das späterhin zum „Gasthaus“ selbstentwürdigte, recte aber Wirtshaus zu nennende Lokal benannt ist, in dem und um das sich alles dreht, solange sich alles dreht.
Nennen wir ihn Veit, nennen wir es einen Club, schließlich ist wie der Witz auch der Kalauer als Sonderform nur in der Welt, weil und solange man trinkt. Nennen wir in diesem Sinne das Genre, das hier seine Erstehung aus dem Zapfhahn und sich selbst inszeniert und zelebriert: Kabarap, und fügen wir für die Anhänger hin und wieder florierender Mäßigungsinitiativen hinzu, daß man sich freilich dann und wann ein „Ma“ vor den Begriff und den Kaba als solchen denken kann, wenn vorabendliche Exzesse es nötig machen, „Den ganzn Dog im Schlafanzug“ zu verbringen.
Es ist ja mit dem unmittelbaren Umkreis von Tresen, Faß und Krug bei weitem nicht alles abgedeckt, was der umtriebig sprudelnde Geist von Meister Bumillo aus dem Sud seiner infibierten Gedankenläufe herausdestilliert und mit Unterstützung des Beatarchitekten Dammerl sowie einer denkbar weitläufigen Gästeliste (Zwoa Bier, Christoph Theussl, Sauerkirsch und aber auch Horst Seehofer) in die Welt gestellt hat als Monument von Sinn und Unsinn des Wesens im – nun ja: weiteren Umkreis von Tresen, Faß und Krug. In der „Geldstadt mit Scherz“, der, wer möchte widersprechen: „Vorstufe zum Paradies“.
Dabei sein, wenn man sich erzählt, wie man sich erzählt, wie etwas Lustiges passiert, eben. Das ist es: Zehn Tracks, zehn Lieder, zehnmal Weisheit und Dummheit in unverbrüchlicher Fusionseinheit – dabei eine einzige Geschichte, ein Spiegel des Lebens, ein aus sich selbst entspringender, Geist und Gemüt erquickender Wasserfall der Worte, eine (wie sollte man es treffender sagen als es sich selbst sagen zu lassen?) „Frischluftwatschn“, die den Frühling einläutet, begleitet, illustriert, vertont und auf den Punk bringt.

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Montag, 11. April 2016

Belästigungen 6/2016: Ich werde jetzt zur Abwechslung auch mal was wohl noch sagen dürfen!

Wenn man sich in Deutschland ein bißchen umschaut, könnte man glatt Mitleid bekommen. Da leben ein paar dutzend Millionen Menschen, die brav ihre Arbeit tun und redlich ihr Brot brechen, die Kinder nähren, das Haus in Ordnung halten und die Kehrwoche achten. Und dann kommt eine wildgewordene Bande von ein paar unverbesserlich gutmenschlichen Weltverbessererlinken daher und möchte sie mundtot und zur Unperson machen, indem sie ihnen verbietet, ihr Grundrecht auf freiheitlich-demokratische Meinungsausstoßung auszuüben und zu sagen, was Sache ist.
Zum Beispiel daß der Ausländer nicht ins Inland hineingehört. Daß beim Hitler nicht alles schlecht und manches sogar ganz gut war, außer dem Krieg, an dem aber nicht nur er schuld war. Daß der Neger von Natur aus alles rammelt, was bei drei nicht auf dem Baum ist. Daß der Araber aus jeder Handtasche alles herausreißt, was man nicht festkettet, und uns dann noch sein viel zu teures Benzin verkaufen und in jeden deutschen Weiler Minarette hineinstellen möchte, um mitten in der Nacht darauf herumzuklettern und mit Muezzingesängen die christliche Abendandacht zu stören. Daß der Jude seit Jahrhunderten mit Zinswucher und Bankenmacht das Abendland aussaugt und so mächtig ist, daß ihn nur noch ein neuer Hitler aufhalten kann. Daß es nun mal so ist, daß die Menschenrassen nicht gleich schlau und tüchtig und tapfer sind, sondern je südlicher, desto fauleres und feigeres Kroppzeug. Und sowieso daß sämtliche Politiker ein korruptes Pack sind, das nur seine Diäten im Sinne hat. Und so weiter. Und vor allem daß man all das auf keinen Fall sagen darf, weil sonst die linke PC-Gesinnungspolizei daherkommt. Schon gar nicht darf man es fischerchormäßig grölen auf täglichen Großaufmärschen, bei denen auch mal ein kleines Feuerchen das Mütchen wärmt, und in Millionenbestsellern und in jeder Talkshow im Fernsehhauptabendprogramm und überhaupt.
In der Tat: schlimm, schluchz. Aber die Polemik mal beiseite: Unbestreitbar ist, daß die öffentliche Meinung in Deutschland und insbesondere die öffentliche Meinung der Meinungsführer in den letzten circa zwanzig Jahren mit stetig wachsender Dynamik und zunehmendem Schwung eine nationalvölkische, pseudokonservativ-reaktionäre, in der Mehrheit rassistische und in pionierischen Teilbereichen offen faschistische Richtung eingeschlagen hat, bei der man sich Woche für Woche wundert, daß rechts vom Tenor der Vorwoche und der gerade noch für final gehaltenen Scham- und Wahngrenze offenbar doch immer noch Platz ist.
Diese üble Devolution scheint einer gewissen Logik zu folgen. Schließlich ist vor gut fünfzig Jahren eine meistenteils studentische und mittelschichtige Masse ebenfalls recht bewußtlos in die vermeintliche Gegenrichtung geströmt und fand sich am Ende in zersplitterten Zellen hunderter K-Gruppen wieder, im Mao-Anzug und mit belferndem Geschwätz auf den Lippen, beziehungsweise in Seuchenherden von WG-Küchen die Versetzung des öffentlichen Trinkwassers mit LSD diskutierend und Pläne für den nächsten Nepaltrip schmiedend. Scheint doch irgendwie zwangsläufig, daß das gesellschaftliche Weltanschauungspendel dann mal wieder in die Gegenrichtung ausschlägt, oder?
Der Unterschied ist, daß die sogenannten 68er in der millionenfachen Mordwirtschaft der Generation ihrer Eltern und Großeltern, in deren nach wie vor tobendem „Sollte man vergasen! Hätt’s beim Führer nicht gegeben!“-Furor des Verdrängens und Vertuschens und der Vehemenz, mit der sie gegen den harmlosen Karneval der Hippies vorging, durchaus plausible Gründe fanden, den Laden auf den Kopf zu stellen und mal gründlich auszumisten. Von vergleichbaren Greueltaten des heterogenen Haufens von Gammlern, Haschrebellen, Esoschwärmern und Möchtegern-Rotgardisten ist hingegen nichts bekannt – es sei denn, man wollte der Kommune 1 und Rudi Dutschke die Verantwortung für Pol Pot und die chinesische Kulturrevolution anlasten. Aber so weit würde wohl nicht mal Akif Pirinçci gehen.
So oder so: dürfen die Rechtslautsprecher ohne Zweifel in meinungsbefreiten Zeiten sagen, was sie zu sagen haben. Einen Furz soll man nicht zu lange unterdrücken, sonst wird aus der Blähung eine Kolik. Man könnte allerdings einwenden, daß wir den Quatsch mittlerweile zur Genüge vernommen haben, daß die einschlägigen Bestseller die Müllhalden füllen und daß es daneben noch ein paar andere Dinge gäbe, die man auch sagen könnte und die aber niemand sagt. Dann sage halt ich jetzt mal ein paar davon.
So wird man etwa ja wohl noch sagen dürfen, daß die Armen nichts dafür können, daß sie arm sind, die Reichen hingegen schon. Man wird ja wohl noch sagen dürfen, daß die Armen auch nichts dagegen tun können. Oder fast nichts, was nicht verboten ist.
Man wird ja wohl noch darauf hinweisen dürfen, daß es im Gegensatz zu Hunderassen keine Menschenrassen gibt. Man wird ja wohl noch sagen dürfen, daß „Flüchtling“ im Gegensatz zu Bäcker, Spekulant, Taschendieb, Künstler, Schreiner, Taxifahrer, Bettler, Schwimmlehrer, Aktienhändler, Gärtner und Zahnarzt keine Berufs- und im Gegensatz zu Münchner, Waliser, Tiroler, Texaner, Athener oder Chinese auch keine Herkunftsbezeichnung ist. Man wird ja wohl noch erwähnen dürfen, daß ein rassistischer Berliner Buchautor ebenso schnell zum Flüchtling werden kann wie ein pazifistischer syrischer Buchhändler. Und umgekehrt, im einzelnen.
Man wird wohl noch sagen dürfen, daß der eine nur das haben kann, was der andere nicht hat. Daß dadurch, daß aus viel immer mehr und aus wenig immer weniger wird, Reichtum und Armut entstehen und daß weder Reichtum noch Armut per se glücklich macht, wird man ja wohl noch erwähnen dürfen. Man wird außerdem wohl noch sagen dürfen, daß es ohne Reichtum keine Armut gibt, ohne Armut keinen Reichtum und ohne beides eine schöne Welt voll glücklicher Menschen.
Und man wird ja wohl noch sagen dürfen, daß all das, was die tobenden Horden der besorgten Deutschen bejammern und anprangern und worauf sich ihr Haß und ihre Gewalt richten, ziemlich einfache und ziemlich konkrete Gründe hat, von denen sie selbst, ihr Lebensstil, ihre Dummheit, ihr Mitmachen beim verbrecherischen Treiben des kapitalistischen Prozesses aus reiner Gier, Bequemlichkeit und purem Opportunismus nicht der kleinste und bei weitem nicht der unwichtigste sind.

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Frisch gepreßt #361: The 1975 "I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet So Unaware“


Der Traum ist die Bibliothek der Erinnerungen; allerdings gelten dort äußerst eigentümliche, anderweltliche Naturgesetze: Bücher, Blätter, Pergamente und Schriftrollen stehen nicht etwa einer Ordnung von Ordnungen folgenden Ordnung gemäß in Regalen und Schränken, sondern treiben in verschlungenen Choreographien durch den Raum. Körperlose Wächter in Schleiern schweben schweigend, Kannen in den unsichtbaren Händen, aus denen sie Licht gießen, das erst zu strahlen beginnt, wo es Geschriebenes trifft und die urgeheimen Zeichen zu Schrift wandelt, die sich dem inneren Auge erschließt.
Greif ein Blatt, es trägt die Signatur eines in den Mahlströmen der Ewigkeiten versunkenen Jahres: 28. Februar 1975, in kindlicher Handschrift (Bleistift) der Vermerk „Ich ließ das Wohnzimmerlicht brennen.“ Dazu Bilder weicher Landschaften, in Pastelltönen (grün bis goldbraun) flirrend, durch die verschwimmende Gestalten flanieren, durchweht von Klang, der späteren Ohren exotisch scheint in der Eitelkeit seiner Gegenwärtigkeit. Versink in der Wärme. „Please Be Naked“.
Ach, der Winterschlaf; er endet mit dem Glitzern der verfrühten Frühlingssonne in den Schneeresten und vollkommen anderen Klängen, die gleichwohl eine ähnliche Signatur tragen („1 June, The 1975“, gefunden in einem verkritzelten Jack-Kerouac-Taschenbuch – ein schöner Mythos für den Ursprung eines Bandnamens). Die verschwimmenden Gestalten materialisieren zu vier jungen Männern, und wenn „Please Be Naked“ (Track 7, die Hand des Zufalls) verklungen ist, stürmt die Gegenwart heran: ein Puzzle aus Scherben ungelebter, leichthändig aus dem Fundus gezupfter Erinnerungen auch sie. Die frühen Primal Scream und My Bloody Valentine tauchen durch die metallische Lava von „Lostmyhead“, der ersten Hälfte des zentralen Doppelpacks, aus dessen zweitem Teil („The Ballad Of Me And My Brain“) durchsichtige Bilder von INXS und Duran Duran erstehen.
Dazwischen hüpfen disparate Figuren von solcher Vielfalt herum, daß die Orientierung schwer fällt: Prince und Michael Jackson in Autotune- und Telephonfilterverfremdung, Talking Heads auf brodelndem Asphalt, der 80er-Robert-Palmer im schimmernden Cabrio, Depeche Mode in stählernen Neonfabriken, Brian Eno, Scritti Politti, Hall & Oates; der melancholische Sperrstundensynthpop der mittleren 80er („Somebody Else“) versöhnt sich blind betrunken mit dem Plastiksex der Foals, Spandau Ballet tanzen in kühlem Trockeneisnebel in schweißfrei knitternden Rüschenhemden mit David Bowies diamantenen Kötern. Die Texte verschlingen genialische Straßenpoesie mit niederem Blödsinn; der Weltversöhnungs-Hip-Hop der 90er badet in New-Wave-Verfremdung und Gospel-Seligkeit, aus dem Titelsong perlt die romantische Motorik von Cluster und Harmonia und die Elektro-House-Monotonie der Nuller, zerfließt in Dream Pop und knalligem Supermarkt-Boygroup-Funk, und am Ende verglimmt ein gemütliches Lagerfeuer, zu dem Lo-Fi-Akustiksaiten und eine einsame Kassettenrekorderstimme sanft schwingen, während die Morgensonne über die Hügel klettert.
Die vier jungen Männer „selbst“ haben sich derweil im 74 Minuten währenden Blizzard der Anspielungen, Verkörperungen, Reminiszenzen, Re-enactments buchstäblich aufgelöst, sind zu Spiegelungen geworden, zu körperlosen Wächtern in Schleiern, die aus Kannen Licht auf vergessene Chiffren gießen und sie zu Schrift wandeln, die sich dem inneren Auge erschließt.
Sänger Matt Healy entstammt übrigens einer Schauspielerfamilie und lebt in Manchester. Wer hätt’s geahnt? Und seine Ansprüche sind durchaus unzeitgemäß: „Can we stop talking about nothingness? No one’s asking you to inspire a revolution, but inspire something!“ Möglich ist vieles. Und wir: lassen derweil das Wohnzimmerlicht brennen.

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Samstag, 9. April 2016

Frisch gepreßt #360: Jochen Distelmeyer „Songs From The Bottom Vol. 1“


Provisorischer Lexikoneintrag: Jochen Distelmeyer, 1967 in einer Stadt geboren, die es vermutlich gibt (Bielefeld), fing recht spät als „Bienenjäger“ an, sich musikalisch zu szenieren. Gründete als Zivi in Hamburg die Band Blumfeld, deren schroffkantiges Debüt „Ich-Maschine“ eine der wichtigsten deutschen Hipsterplatten (d. h. viel diskutiert, kaum gehört) der 90er wurde. Schuf 1994 mit „L'Etat Et Moi“ durch die Verarbeitung britischer Indiepopmusik (Wedding Present et al.), aber auch von Einflüssen aus der frühen NdW (etwa des notorischen Düsseldorfer KFC) und genialisch-subjektive textliche Hackstückverdichtung ein Meisterwerk von ungeheurer Schönheit und wundervoller Kraft. Verpulverte danach mit immerhin (oder: zu allem Überfluß) unironischem Schlagerpop seine musikalische Relevanz, wurde zum Türhoch- und Torweitmacher für Kirchentags-Grützbeutel wie Tomte.
Löste die Band 2007 auf, leitete damit ihre Akademisierung ein und wurde Solokünstler. Mußte nun allerdings selbst für Bezeichnungen wie „Deutschlands untypischster Popstar“ sorgen, schrieb nach dem außerhalb der Gewerkschaft der Berufshipster kaum beachteten Album „Heavy“ einen schlaffen Roman und erregte Ende 2015 mit der Ankündigung einer Platte mit Coverversionen u. a. von Britney Spears entzücktes Entsetzen in den erwähnten Kreisen. To be continued bei Gelegenheit.
Und ja, es sind Sachen drauf auf dem Album, die geradezu ein Transparent vor sich hertragen, auf dem in Riesenlettern „Peinlich! Billige Provokation!“ steht. Aber schon der allererste Eindruck ist ein komplett anderer, und er ist bleibend: Joni Mitchells „Just Like This Train“ verstrahlt eine derart überwältigende, samtige, absolut klassische Schönheit, Eleganz und Perfektion, daß sämtliche Bedenken – auch wegen der selbstverständlich fehlenden Selbst- oder Irgendwie-Ironie – verfliegen wie winterlicher Atemdunst in der Frühsommersonne. Da greift man zum Kopfhörer, um festzustellen, daß Distelmeyer tatsächlich nicht nur ein guter, ein großer Gitarrist (geworden) ist, sondern auch ein „echter“ Sänger, der stellenweise (etwa in Pete Seegers antikem Schmachtfetzen „Turn Turn Turn“) so richtig Seele, Timbre und sinnliche Dringlichkeit/Überzeugungskraft entwickelt.
Beim zweiten Hören entdeckt man Nuancen, Tiefen und Untiefen der Songs: Britney Spears' „Toxic“ wird unter der glatten Oberfläche geradezu jazzig, ohne seine aufreizende Synthetizität zu verlieren. Nick Lowes „I Read A Lot“ verstrahlt fast so viel ernüchterte, gelassene Trauer wie das Original, während „Pyramid Song“ (Radiohead) zwar billiger Kitsch bleibt, aber in klanglicher und atmosphärischer Souveränität und Stimmigkeit die Vorlage weit übertrifft. Al Greens „Let's Stay Together“ muß man weiterhin mögen, um es mögen zu können, aber der Hauch von Bossa nova und die (etwas ungeschickt und grob hineingesampelten) Zwitschervögel verleihen dem Everschnulz erfreuliche Leichtigkeit. Bei Aztec Camera, Kris Kristofferson und Ivor Cutler hätte man viel falschmachen können, die unendlich dröge „Bittersweet Symphony“ von The Verve kann Distelmeyer immerhin versöhnend entlarven und rührende bis bewegende Momente daraus hervorkitzeln, die damals in den Lawinen von Geräusch und Hall ertranken.
Daß hingegen aus „I Could Be The One“ von der trällernden Hot-Dog-Semmel Avicii ein bescheiden grandioses, zauberhaft melancholisches Dreiviertelinstrumental zu destillieren sein könnte, hätte sicherlich niemand vermutet. Und selbst der singende Fön Lana del Rey und ihre klanggewordene Plastiktüte „Video Games“ entfaltet in Distelmeyers analog-akustischer Interpretation einen eigentümlichen Reiz.
Was man auf diesem strom- und trommelschlagfreien Album vergeblich sucht, ist ein einziger Fehler, Makel, Ausfall, ungeschickter Bruch, unschöner Moment, ein Augenblick der belanglosen Nachsingerei. Manches darauf vergißt man schnell wieder (kann es aber jederzeit mit Genuß erneut hören), manches gräbt sich so tief ein, daß man damit vielleicht für alle Zeiten den Februar 2016 verbinden und auch ihn nie mehr vergessen wird. Es ist – und ich gestehe: das erstaunt mich bis in die Haarspitzen und Zehennägel – mehr als eine Überraschung, mehr als das beste Distelmeyer-Album seit 1994: eine Sensation, möglicherweise ein echter Klassiker.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 8. April 2016

Belästigungen 05/2016: Hundert Jahre Horror - im Banne des K-Worts

Ich weiß ein lustiges Spielchen: Man setze sich in eine beliebige „aktuelle“ Diskussion hinein („aktuell“ heißt: es geht um das, was einem die Führungsmedien derzeit als „Themen“ verkaufen wollen, also je nach Stand der „Informiertheit“ Flüchtlinge, Syrien, Ukraine, Griechenland, Putin … das ist weitgehend egal, weil sowieso im wesentlichen immer das gleiche) …
Klammer zu, guten Morgen, noch mal von vorn. Also: Man setze sich in eine beliebige Diskussion über aktuelle „Themen“ hinein und schaue erst mal freundlich. Wenn sich ein günstiger Moment ergibt – also wenn zum Beispiel alle grad kurz erschöpft sind vom Pingpongspiel der „Argumente“, Schlagwörter und gegenseitigen Relativierungen (Clausnitz! – Köln! – Österreich! – Stacheldraht! – Seehofer! – Bautzen! etc. pp.), – wirft man einfach mal so den Begriff „Kommunismus“ hinein.
Das Ergebnis ist meistens höchst erstaunlich: Vom knochenköpfigen Grölnazi über den biederen Mahnkerzenkatholiken bis hin zum krempelärmeligen Sozialfaschisten bilden plötzlich alle eine spontane Einheitsfront. Das, so tönt es, gehe zu weit, sei jenseits alles Sagbaren, ein Unding im wahrsten Sinne, per se und je indiskutabel, nicht mal andenkbar, absolut tabu und pillepalle. Fragt man doch mal nach, läßt sich die empörte Replik kurz zusammenfassen: Kaiser Wilhelm, Industriesklaverei, Ausbeutung, Flucht und Elend, Weltkrieg, KZ und Völkermord, Atombomben, Umweltzerstörung, millionenfacher Hungertod … was auch immer zwischen Verdun, Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima, Korea, Vietnam, Afrika, Afghanistan und Syrien passiert ist, war halb so schlimm und im Grunde sowieso nur eine völlig legitime Reaktion auf die größte, wildeste und düsterste Bedrohung, die der Menschheit je erwachsen ist. Und war nicht der Hitler genau genommen auch Kommunist?
Schon komisch. Man möchte meinen, neunzig Prozent der Deutschen unserer und der letzten zehn Generationen hätten den größten Teil ihres Lebens in Stalins Gulags zugebracht. Am erstaunlichsten ist: Obwohl es einen Kommunismus (wenn wir eineinhalb Jahrtausende Klosterleben mal ausblenden) noch nie gab, ist es absolut verboten, sich zu fragen, was das sein, bedeuten und werden könnte. Kein Zweifel: Die alles überwölbende, durchdringende, gestaltende und befeuernde Ideologie (mindestens) der letzten hundert Jahre ist der Antikommunismus. Und wer glaubt, das sei eine natürliche Folge dessen, was Stalin, Mao und andere dazumal im Namen des Begriffs angerichtet haben, der muß sich schon fragen lassen, wieso der Deutsche den Holocaust in ein paar Monaten „bewältigen“ und dann schon wieder krähen konnte, es sei ja gar nicht alles so übel gewesen und man solle endlich aufhören mit der Schämerei. (Oder fragen wir mal anders: Weshalb konnten die fünf bis zehn angeblichen Anarchisten der ersten RAF-Generation für eine derartige Kollektivpanik sorgen, während hunderte bombende, mordende, brandstiftende und nach wie vor aktive Terroristen diverser Wehrsport-, Heimatschutz- und NSU-Horden keinem aufrechten Deutschen auch nur ein Fünkchen Nervosität einflößen?)
Offenbar rührt das schlimme K-Wort an eine menschliche Urangst, eine Ausprägung jener möglicherweise genetisch vorgeprägten Paranoia, von der Arthur Koestler einst meinte, sie sei die Folge eines evolutionären Defekts, der eines Tages zur kollektiven Selbstvernichtung führen werde. Daß in dieser Hinsicht im Verlauf der letzten hundert Jahre manch ernsthafte Anstrengung unternommen worden ist und wird, ist kaum zu bezweifeln.
Worauf aber richtet sich diese Furcht, die durch keine Vernunft zu besänftigen oder auszutreiben ist? Zusammengefaßt: Schlagt mir meine Welt kaputt, vernichtet meine Lebensgrundlagen, raubt mir meine Lebenszeit, sperrt mich in unbewohnbare Kisten und Käfige, beutet mich aus, zerrüttet meine Psyche, vergiftet und bestrahlt mich, zerstört meine Beziehungen, aber wagt es nie, meine Freiheit zu beschneiden!
Freiheit? die worin besteht? Im wesentlichen: Dreck zu kaufen, im Mobchoral eine vorverdaute „Meinung“ zu grölen und ohne Überwachung und „Gängelung“ dies und das tun zu können, ganz individuell und ohne Gleichmacherei. Zum Beispiel in Urlaub fahren, ohne Grenzen, über die man nicht hinüber darf (aber sehr wohl mit tödlich gesicherten Grenzen, über die anderes Kroppzeug nicht herüber kann).
Hört sich reichlich doof an, ist auch reichlich doof, wie das Ideologien und andere psychische Störungen halt gerne mal sind. Dagegen, so möchte man meinen, hülfe ein Schlückchen Realismus. Oder sagen wir: ein offenäugiger Blick in die Welt, die uns umgibt und deren Teil wir sind. In der vom Outlet bis zur Einzelkleidung alles immer gleicher wird, in der alle das gleiche essen, trinken, sehen, hören, lesen, reden, in der man eine Meinung jederzeit äußern, aber damit nur dann etwas bewirken darf, wenn es dem Gesamtzweck dient, in der jede (nicht nur verdächtige) Äußerung und Bewegung abgehört, aufgezeichnet und gespeichert wird, in der es nur eines noch gibt, was sie von der K-Horrorvision unterscheidet: theoretisch nach einer Richtung durchlässige Grenzen. Wenn man halt noch über genügend Kaufkraft verfügt, um ihn sich leisten zu können, den Urlaub, auf den offenbar sämtliche Lebenssehnsüchte des 20. und 21. Jahrhunderts zusammenschnurren.
Wollen wir das, was da herrscht, versuchsweise „Kommunismus“ nennen? Oder diskreditieren und beschmutzen wir damit einen Begriff, der für etwas vollkommen anderes steht, wovon Menschen einst träumten, als sie das noch wollten, konnten und durften?
Wer weiß, vielleicht finden wir auch dafür ein anderes, schöneres Wort. Und vielleicht schaffen wir es dann sogar, dem pessimistischen Herrn Koestler die Zunge rauszustrecken.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.