Sonntag, 25. Dezember 2016

Frisch gepreßt #46: Status Quo "Heavy Traffic"


Die Empörung ist allgemein. Sie ist groß. Und sie ist echt.
"Ja wie! Wo sind wir denn! Himmel hilf! Schnaps! Notarzt! Armageddon!"
Der Aufruhr beruhigt sich - Strohfeuer sind nicht sehr ausdauernd. Im Hintergrund: schrummelschrammelboogiefetzstampf.
"Aha. Verstehe. Aber, hm. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, wenn wir unsere musikalischen Perspektiven und Perzeptionen auf den Status Quoasis zurückschrauben. Ich bin auch etwas aufgewühlt, was unser publikes Erscheinungsbild anbetrifft. Mit anderen Worten: Was ist, wenn uns jemand erwischt?"
"Gar nichts. Es gibt keinen Menschen auf der Welt oder wenigstens in der Schröderbushfischerblairschen Zivilisation, der keine Status-Quo-Platte besitzt. Das läßt sich statistisch nachweisen, denn es wäre sinnlos, wenn jemand zwei Status-Quo-Platten besitzen würde."
"Also, öchel öchel ..."
"Was machst du da hinter dem Heizkörper? Das ist ungesund!"
"Also, ganz ehrlich, ich habe mehr als eine."
"Was! Zwei?"
"Also, öchel, öchel, das war nämlich so: Die ‚Quo' fand ich gut, also hab ich mir ‚On The Level' gekauft. Die gefiel mir auch, also hab ich mir ‚Blue For You' gekauft und ‚Live' und ‚Rockin' All Over The World'. Die war dann weniger gut, also hab ich mir ‚If You Can't Stand The Heat' gekauft. Die war noch schlechter, also hab ich ..."
"Jessas! Ein Teufelskreis!"
"‚Famous In The Last Century' hab ich mir bloß noch im Laden angehört."
"Soll das heißen, du hast ‚In The Army Now' noch gekauft? Himmel! Wir brauchen mehr Getränke!"
"Natürlich nicht. War ja ein Schmarrn. Da hätten sie genausogut ‚Aba Heidschi Bum Beidschi Bum Bum' spielen können oder ‚Winds Of Change'. Das war ja bloß, weil damals das Kokain so teuer war und ..."
"Er verteidigt die schlechteste Band der Welt, ich glaub's nicht."
"Schlechteste Band der Welt? Wohl noch nie ‚Down Down' und ‚Backwater' gehört, was! Mit solchen Riffs hätte England auch den zweiten Weltkrieg gewonnen!"
"Blödmann, England HAT den zweiten Weltkrieg gewonnen."
"Huch. Schwamm drüber. Erstens konnten die Leute ziemlich gute Psychedelic-Popsongs schreiben, am Anfang. Damit haben sie zwar bald aufgehört, aber danach immerhin gerockt wie die wilde Sau in Jeans. Grundregel: Was rockt, kann nicht ganz schlecht sein."
Zwei Minuten Sprechpause. Schrummelschrammelboogiefetzstampf.
"Und? Rockt das?"
"Hm. Ich würde sagen, es klingt in etwa so wie die letzten zweihundertvierzig Quo-Alben seit ‚Live', also so wie eine pfiffige Quo-Revival-Band: jede Menge unverschämteste Chuck-Berry-Abkupferei, auf dem Studioklo aufgenommener Postboten-Gesang, bißchen Hosentaschen-Blues, bißchen Grillfest-Akustik, ein paar Pfund superpeinliche Animiererei, ein paar pfundige Licks."
"Zum Beispiel hier: ‚The Oriental'. Man darf nur nicht auf den Text hören: ‚Her name was Mia / from North Korea.'"
"Wieso? Rod Stewart: ‚Her name was Rita / and her perfume smelled sweeter ...'"
"Ja, ja, schon gut. In Korea ißt niemand Sushi, oder?"
"Das sind vielleicht Kriterien, meine Herren! Wenn ich mal was bemängeln dürfte: Da sind 13 Tracks drauf. Neun hätten's auch getan. Wahrscheinlich fiel die Auswahl schwer, weil die meisten identisch sind. Und das Cover: um Gottes Willen!"
"Solche Kleinigkeiten sind egal. Schließlich haben wir alle schon ein Status-Quo-Album. Und wer noch keines hat, kann genausogut mit diesem anfangen wie mit irgendeinem anderen."
"Moment! Ich glaube nach wie vor, daß es sich hier um eine Revival-Band handelt! Ihre Plattenfirma nennt sie im Internet übrigens ‚Satus Quo'."
"Mooment! Ich bestehe darauf, daß sie überhaupt nur zwischen 1973 und 1977 wirklich ..."
"Moooment! ‚Dog Of Two Head' war ja wohl ..."
(Langsamer Fade-out)

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Diese Folge stammt aus dem September 2002.

Samstag, 24. Dezember 2016

Frisch gepreßt #380: Howe Gelb "Future Standards"


Am Rande der gewaltigen Wüste, die ich meine Lebensgeschichte nennen könnte, lebt in seiner buckeligen Kate ein Einsiedler, der sich dorthin zurückgezogen hat, um den Menschen so fern und dem Nichts so nahe zu sein wie nur möglich, ohne sich den einen ganz zu entfremden und dem anderen gänzlich zu verfallen. Hin und wieder laufen wir uns über den Weg; dann erzählt er ein paar von seinen verschrobenen, verwinkelten Geschichten, und wir ziehen wieder unserer Wege.
Zum ersten Mal begegnet sind wir uns vor Urzeiten, es könnten noch die 80er gewesen sein, Jesus Christus! Dazumalen ließ er in einer Halle namens Theaterfabrik, Gott hab sie selig, ein Konzert seiner Band Giant Sand ankündigen. Giant Sand waren eine Alternative-Band, ziemlich independent, und das hieß damals noch so richtig was. Ihre und seine Spezialität war, draufloszuspielen, ohne daran zu denken, was bei einem Song am Ende herauskommen könnte, ob es überhaupt ein regelrechtes Ende geben konnte, sich statt dessen ganz darauf zu konzentrieren, dem momentanen und dem tiefen Gefühl absolute Freiheit des Ausdrucks zu verleihen.
Ich kannte Giant Sand von einem bekifften Nachmittag im Schwabinger Dachzimmer eines Freundes, den wir damit verbrachten, uns Platten vorzuspielen. Allerdings wußte ich nur noch, daß ich verwirrt und begeistert war von Gitarrenakkorden, die es gar nicht gab und auf denen trotzdem Melodien tanzen konnten, und einem Schlagzeug (John Convertino), das so wunderbar klar, präsent und natürlich knallte, rummste und klirrte wie keines sonst in jenen fürchterlichen Zeiten der Noise-gates, Simmons-Pads und Elektrotrommeln.
Nun kam jener Einsiedler, der Howe Gelb heißt, also auf die Bühne, sturzbetrunken, ließ mittendrin das Saallicht anschalten, beschimpfte seine Band, trat ins Schlagzeug, schmiß Instrumente und Sachen in der Gegend herum und spielte dann stundenlang, ohne Ziel und Zusammenhang, die schönste, bewegendste und chaotischste Musik, die ich je auf einer Bühne gehört hatte. Wir waren hinterher so betäubt, daß wir aus Versehen in die falsche Richtung fuhren und das erst in Freising bemerkten.
In den Jahren seither habe ich mir jedes Album von Giant Sand und Howe Gelb angehört, und das waren tatsächlich Massen. Darunter war das Meisterwerk „Swerve“ (1990), auf dem zu hören ist, wie Gelb mit seiner improvisierten Genialität einen Musiker zur Weißglut bringt („I hate doing this kind of shit! I need to know what the music is, I need to know what the words are, I need to know what the notes are! I’m a professional. I’m not no improviser, no scat musician!“), war manch schönes Album, war auch viel Zeugs, auf dem aus dem Sumpf des Herumspielens nur Convertinos Schlagzeug herausragte (leider ging er dann zu den Langweilern Calexico).
Jetzt ist der Einsiedler sechzig Jahre alt und dort gelandet, wo viele seiner Wege nachträglich betrachtet schon immer hinführten: beim klassischen, coolen, rauchgeschwängerten Jazz, den er so begreift, wie er seine Musik immer begriff – offen, blue, gelassen mäandernd. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Songs, die man schon immer zu kennen glaubt und zugleich noch nie gehört hat. Zukünftige Standards wie „Irresponsible Lovers“, die Pianisten in Spelunken und spätnächtlichen Hotelbars möglicherweise in hundert Jahren noch spielen und damit die Gespenster des Zwielichts zu Tränen und einem gelegentlichen Grinsen über ein besonders schönes Bonmot rühren werden. Ob sie sie je so genial hinkriegen wie der Einsiedler selbst? Ich zweifle und sehe Cole Porter, Frank Sinatra, Billie Holiday, Chet Baker und Dexter Gordon im Jenseits vor Freude schweben und schweigen.
Daß Gelb die sonst üblichen Fransen seiner Musik komplett gekappt, sie destilliert und reduziert hat, bis sie in absolut reiner Form erstrahlt und jeder vermeintlich falsche Ton einen Charakter annimmt, der einem immer wieder ein „Wow!“ entlockt, macht dieses Album zu seinem möglicherweise schönsten überhaupt. Und wenn er am Ende die moderne Aufnahmetechnik abschaltet und drei Songs lang im düsteren Saloon herumhängt, wo das Klavier klingt wie mit einer Zeitmaschine aufgenommen, die jemand aus einer alten Küchenuhr gebastelt hat, schließt man die Augen, erfüllt von einem so unendlichen Glücksgefühl, daß man nicht mal zu seufzen wagt und sich zehn Monate tiefsten Winter wünscht, um nichts anderes zu tun als diese Musik zu hören, immer und immer wieder.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 20. Dezember 2016

Belästigungen 24/2016: So geht das, wenn das so geht und das Winterhirn sich füllt und leert (eine Reisemeditation)

Man hat ja leider immer was zu tun. Gerade im Winter, wo man beste Gelegenheit und nachgerade Lust hätte, mal so richtig ausgedehnt und -giebig überhaupt gar nichts zu tun als tagsüber im Bett herumzugammeln, Himmel und Bücherwand zu betrachten, sich abends in die Kneipe und morgens wieder ins Bett zu schleppen, – gerade zu dieser wundervollen Jahreszeit kommen die Leute daher und wollen, daß man Termine einhält, Schrift liefert, Sinn stiftet, Erklärungen bietet, zu Handlungen aufruft, Erinnerungen beschwört, Lächeln und Lachen aus Modernweltmasken lockt, insgesamt: Texte vorträgt, zu diesem Behuf in Eisenbahnen steigt, die seit langem zu Plastikbahnen umgebaut und folglich vollkommen unbewohn-, ja: -belebbar sind und daher ausschließlich mit Leblosen besetzt und von diesen bewimmelt sind und werden, deren leere Augen eine Weltsicht formen, indem ihr Blick an Kilometern und Aberkilometern von grauen Lärmschutzwänden entlangschleift.
Unterwegs rasseln Bing! Bing! Bing! die Elektrobriefe ins Telephon, randvoll mit Fragen: ob man nicht noch schnell „zwischendurch“, aber bitte dringendst „zeitnah“ diversen „Buch“-Produkten und/oder solchem Zeugs wie (zufälliges Beispiel) einer „Antilopen Gang“ (die Lupe darf in der Schublade bleiben: Da steht auch beim dritten Versuch kein Bindestrich) ein paar kritisch reflektierende Zeilen reinwürgen möchte, weshalb man eine Stunde damit zubringt, sich den gestreamten Rapsrappelmist peripher anzuhören, unter Aufwendung hirnlicher Muskelarbeit in der Gedanken-Cloud zusammenformuliert festzustellen, daß das Rapsrappelmist ist und sein muß, schon weil es aus dem verläßlichen Misthaus Tote Hosen kommt, das Ganze dann aber doch nicht aufzuschreiben, weil man sich nicht überwinden kann, womit die ganze Stunde zum Fenster hinaus in die Ewigkeit der Sinnlosigkeit geschmissen ist und man die nächste, ähnlich zweckfreie Beschäftigung angeht. Ach, es ist schlimm.
Dabei wäre doch oder ist im Winter das einzige, was der Mensch tun soll und darf: sich und sein Sein und Sinnen dem Himmel anzugleichen, der in einem endlos leeren Weißgrau vor sich hin himmelt und die Leuchtstoffröhren, die sich vergeblich mühen, es ihm gleich- oder wenigstens ähnlichzutun, vom ortlos weiten Obenüberall aus milde anzu-sozusagen-himmelt. Man säße also idealerweise in braun-gelb-gescheckten, dunkel beeckten Innenräumen wie der Leipziger Gosenschenke „Ohne Bedenken“ weniger herum als – eben – drinnen, tränke hin und wieder einen Schluck, ließe das belanglose Getröpel um Fremdtische herum plätschernder träger „Gespräche“, in denen es um nichts geht als um die Pausen zwischen den Lauten, ins eine Ohr hinein, beim anderen wieder hinauströpeln, kuschelte sich gemütlich „bebiert“ (F. Ani) in Laken und Kissen, um sich zu wärmen und nichts als diese Wärme zu empfinden. Und zwar monatelang, bis im Märzen Freundin Sonne das vereiste Universum zum Schmelzen brächte und lächelnde Rotlippen und Strahlaugen das ewig wiederkehrende Verheißungstheater einleiteten, das zuverlässig in Enttäuschung und Depression nicht endet, sondern zerläuft und zerbröselt, bis man endlich im Oktober das glühende Herz wieder löschte und verschlösse und alles von Neuem begänne.
Statt dessen: wringt man sich derartige Satzungetüme aus dem unterbiertrüben, zwischendurch vom frisch angezapften Freudenecker Fischerbräu zu sprotzigem Zwischengas angekurbelten Vormittagsresthirn, bloß weil einem mal wieder so ein Buch, in das die Nase nicht zu stecken man gleichfalls mal wieder nicht rechtzeitig sich befehlen hat können, eine „Anregung“ hineingepflanzt hat. Da reicht ja manchmal ein Satz, eine Mitteilung (die es übrigens längst vor der neuzeitlichen „Teilung“ auf Facebook gab, die aber auch nichts recht viel anderes war): „Der Verein zur Abschaffung der Übel der Welt ist gemeinnützig und setzt sich für die Ausrottung der Eselsgrippe, des Warmbiers, des Liebeskummers, von Sat 1 und Springer, von Magenweh und Mist, von Banken, Quatschberufen und kapitalistischem Bestreben ein.“ Diesen (Satz) findet man beim müßigen Blättern im gemeinsamen Büchlein der Freunde Roth und Metulczki, in einem dieser insolventen Depperlverlage erschienen und trotzdem im Grunde eine Freude, wäre nicht Winter, wo es keine Freuden braucht, weil die die Ruhe stören.
Andererseits ist doch gerade das ein Schönes: daß man nun, wo der durch diesen Satz und die Betrachtung der gülden-hölzern strahlenden „Trinkgedächtnisse“ von Meister Metulczki aufgewallte Dampf in Zeilenmaß geschüttet und das Hirn wieder leer ist, sich sozusagen unfalls und ohne Bedenken dem Freudenecker hingeben, zwischen Laken und Kissen verkuscheln und ausgedehnt und ausgiebig überhaupt gar nichts tun kann und darf. Weil: wenn die Elektropost daherbingt und dringende Ablieferung des seitenfüllenden Buchstabengewirrs verlangt, man ja ausnahmsweise ein solches quasi schon vorrätig hat, ohne Not geboren, ohne Drang geerntet und ohne Zutun abgehangen. Muß man nur noch servieren.
Und schon: hat man nichts zu tun, eine zeitlose Zeit nicht ent-, sondern einfach nur: lang. Da möchte man sich direkt und regelrecht auf den März freuen, der im klimaverwandelten Dezember immer mal wieder frech dahergrinst, und ihn schneller herbeiwünschen, aber ach: Eitelkeit menschlichen Wollens, vade retro und entfleuche!

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 9. Dezember 2016

Belästigungen 23/2016: Ein (vor)letztes Wort zu großen und noch größeren Übeln, denen man am besten die Zunge rausstreckt

Als ich ein kleiner Bub war, hatten wir jede Menge Ideen, die meistens nicht den Beifall der Erwachsenen fanden. Das mag die unterschiedlichsten Gründe gehabt haben, die für uns jedoch auf einen einzigen, immer gleichen Grund zusammenschnurrten: Die Erwachsenen haben keine Ahnung und wollen uns unser Menschenrecht auf ein unbeschwertes, spaßiges Leben verweigern!
Ob wir ein gefundenes Fünfmarkstück sofort in fünfzig Kugeln Eis umsetzen, auf Bäume hinauf- und unter Zäunen hindurchklettern, ein Schrottauto zu einem Indianerlager umbauen, mit Kartoffelpistolen auf Passanten schießen, unser Fußballtor (zwei Jacken) direkt vor dem Hauptfenster eines Großraumbüros installieren, Aschentonnen nach wertvollen Dingen durchwühlen, in den Lüftungsschächten eines Rohbaus herumrutschen, hartgekauten Kaugummi im Backrohr wieder weichrösten, statt Hausaufgaben lieber zum Baden fahren, unsere Klappräder mit Wasserfarben anmalen, uns sonntagmittags über drei Balkone hinweg neue Glamrockplatten vorspielen, nachts Edgar-Wallace-Filme anschauen, die halbgrüne Ernte eines ganzen Zwetschgenbaums auf einmal essen, in der Tiefgarage ein Lagerfeuer entzünden oder Ende November in der kurzen Hose in die Schule gehen wollten – immer war jemand dagegen.
Nun gab es unter den Erwachsenen drei Phänotypen. Erstens: der Strenge. Der verhinderte alles durch kategorisches Verbot, Gebrüll, Watschen und versperrte Türen. Diesen Typ fürchtete man, entzog sich ihm soweit wie möglich durch Flucht oder indem man ihm weiträumig aus dem Weg ging. Und darauf hoffte, daß niemand petzte, weil der strenge Typ (bei dem es sich erstaunlich oft um Angehörige des weiblichen Geschlechts handelte) nachtragend war und einen im Zweifelsfall präventiv für Sachen bestrafte, die man noch gar nicht angestellt hatte.
Der zweite Phänotyp war der Weise, der wie meine selige Oma zwar auch mal durchdrehen konnte und dem mitten in der Nacht bis zum Anschlag aufgedrehten Plattenspieler mit der Axt zu Leibe zu rücken drohte, ansonsten aber auf Selbstheilungskräfte vertraute: Dieser Typ zuckte die Achseln, ließ uns nach einem kurzen Hinweis auf die absehbaren Folgen nach Herzenslust Fußball spielen, Zwetschgen essen und Kaugummi rösten, zuckte dann, wenn die Scheibe kaputt, der Bauch gebläht, die Finger verbrannt und sonst was kaputt war, noch mal die Achseln und fragte höchstens: „Und, ist's jetzt besser?“ Diesen Typ bewunderte man, auch wenn man's nicht zugeben wollte, weil er offenbar die Welt verstand und irgendein Geheimwissen hatte, mit dem er aber nicht auftrumpfte oder sich mit Radau und Repressalien durchzusetzen versuchte.
Und dann gab es noch die vermeintlich verständnisvollen, pseudoabgeklärten Mahner. Das waren die schlimmsten, weil sie in Wirklichkeit überhaupt kein Verständnis, keine Contenance und von den meisten Dingen auch keine Ahnung hatten und nicht etwa mahnten, sondern forderten, und zwar ohne Widerspruch, und zwar so lange, bis sie sich restlos durchgesetzt hatten. Diese Leute hatten auch dann, wenn man wirklich ein Problem oder Hunger oder Bauchweh hatte, nur ihr überhebliches Mahnen zur Besonnenheit (oder so) drauf, weil sie in Wirklichkeit bloß möglichst ungestört und unbehindert ihr eigenes Süppchen kochen und ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollten.
Das wollen sie bis heute, wo sie nach diversen Studien und Karrieren in Funktionen, Parteien und Redaktionen herumsitzen, den etwas höhergestellten Lakaien des Geldadels den Hintern pudern und mit pseudoabgeklärtem Blick auf die Welt da drunten mahnend den manikürten Zeigefinger heben. Wenn sie doch mal in einen Konflikt hineingezogen oder mit einem Skandal konfrontiert werden, zeigen sie sich „betroffen“ und wissen alles von vornherein besser, ohne sich die Situation auch nur anzuschauen. Und wenn sie sich ausnahmsweise mal nicht durchsetzen, prangern sie hinterher das dräuende Weltende an, mit dem sie sich aber meistens nach zwei Tagen gewinnbringend und hinternpudernd arrangiert haben. Im Englischen nennt man dieses Verhalten „patronising“, was sich auf deutsch mit „herablassend, gönnerhaft, bevormundend“ nur unzureichend übersetzen läßt. Nennen wir die Typen heute mal Patronisierer.
Solche Typen trieben uns damals in ihrer Ignoranz und ostentativen Überheblichkeit zur Weißglut. Bei denen machte man jeden Blödsinn erst recht, und zwar noch viel schlimmer, und wenn sie das hinterher monologisch „ausdiskutieren“ wollten, streckte man ihnen die Zunge raus und schaltete den Trotzgenerator auf Volldampf.
Als ich ein kleiner Bub war, gab es ein paar Strenge, vor denen man flüchten, und kaum Weise, die man bewundern konnte. Dafür wimmelte es nur so vor Patronisierern. Vielleicht reagiere ich deswegen heute noch mit weißglütigem Trotz, wenn man mir (oder sonst wem) auf diese Weise kommt. Wenn man zum Beispiel dem US-amerikanischen Wahlvolk erst alle akzeptablen Kandidaten wegkorrumpiert, ihm dann eine kriegstreiberische Wall-Street-Sprechpuppe, die in wenigen Jahren hunderte Millionen angescheffelt hat, als einzige „vernünftige“ Möglichkeit vorsetzt und, um absolut sicherzugehen, einen tourettekranken Kläffdackel dagegenstellt mit dem Hinweis, man solle doch nicht so verstockt tun, sondern wenigstens „das kleinere Übel“ wählen.
Da hätte ich als kleiner Bub die Zunge rausgestreckt. Da hätte ich mich gefreut, wenn die Patronisierer noch am Tag der Wahl mahnend (und leise schlotternd) auf die Titelseite ihrer Zeitung geschrieben hätten: „Hillary Clinton muß um den Sieg zittern“ – als wäre dieser Clintonsieg ein Naturgesetz, dessen Geltung nur Deppen in Frage stellen. Da hätte ich möglicherweise sogar laut gekichert, wenn die Patronisierer mit ihrem scheinbar unfehlbaren Plan dermaßen auf die Schnauze gefallen wären, daß sie und ihr gläubiges Fußvolk, dessen größtes Problem die Verfügbarkeit von Smoothies in Konzernkantinen ist, hinterher vor lauter „Betroffenheit“ zehn Kilometer Facebook volljammern und -jaulen müssen. Und vielleicht hätte ich als unmittelbar Betroffener mir den Spaß gemacht und auf meinem Wahlzettel weder das eine noch das andere Übel angekreuzt, sondern einfach „Ätsch!“ draufgekritzelt.
Weil nämlich die mahnenden Patronisierer auf dem politisch-medialen Feld nichts anderes sind als eine eiskalte, eisenharte, neoliberale „Gated Community“, die um nichts anderes besorgt ist als um ihren eigenen Arsch und die sich um die Interessen, Nöte, Wünsche und Bedürfnisse der Leute, denen sie ihre Dienstwagen, die Vierzimmerresidenzen in der Maxvorstadt und das abendliche Schlückchen im „Schumann's“ verdankt, einen vertrockneten Vogelschiß schert. Man kann aber selbst dem bestdressierten Hund nur ein paarmal das Fell über die Ohren ziehen, ohne daß er in die Hand, die behauptet, ihn zu füttern, hineinbeißt, selbst wenn er ahnt, daß dadurch nichts besser wird.
Mag sein, daß Trotz kein guter Ratgeber ist. Mag aber auch sein, daß es in einer Welt, in der es offenbar keine Weisen mehr gibt und die Patronisierer dermaßen penetrant aus allen Kanälen blöken, zumindest Spaß macht, ihnen mal die Zunge rauszustrecken. Hinterher, wenn die Wutluft draußen ist, besinnt man sich. Vielleicht besinnen wir uns eines Tages sogar auf etwas vollkommen anderes als die größeren und noch größeren Übel, die die uns zur Auswahl vorsetzen wollen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 6. Dezember 2016

Frisch gepreßt #379: Rio Reiser "Blackbox"


Abschlußtreffen der Forschungsgruppe „Proletarische Rockmusik in Deutschland“. Ernüchtertes Fazit: gibt es nicht, gab es nie. Im Gegensatz fast zum Rest der Welt ist die deutsche Pop(ulär)musik eine hermetisch geschlossene Veranstaltung der Ober- und Mittelschicht, zwar nicht so streng dynastisch durchorganisiert wie der Literaturcircus, aber doch abgeschottet gegen das Proletariat, das lediglich konsumieren darf.
Lediglich Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben, ebenfalls der Mittelschicht entsproßt, wagten den historisch ziemlich einmaligen Schritt, sich der Industrie (größtenteils) zu verweigern, konsequent proletarische Interessen und soziale Konflikte aufzugreifen und sich zum laut lärmenden Sprachrohr so ziemlich sämtlicher emanzipativer, progressiver, linker und randalös-wirrer Ansätze und Bewegungen ihrer Zeit zu machen. Daß sie dabei nicht wie manche Reihenhauspunks tief ins Plumpe abrutschten, vielmehr Emotion, Analyse und Anspruch so wirksam verbanden, daß einige ihrer Songs zu zeitlosen Volksliedern wurden, lag in erster Linie an Rio Reiser, der ja nicht nur Renegat und Agitator, sondern auch ein echter Sänger und Musiker war. Daß diese Vorgehensweise eines Tages in der Sackgasse enden mußte, versteht sich von selbst; auf ewig als Agitproptruppe durch die Lande zu ziehen und den eigenen Jüngern zu predigen ist keine befriedigende Perspektive für eine Musikgruppe. Was TSS bis 1981 an Tondokumenten schufen, ist dennoch unantastbar.
Zur Diskussion stehen nun Reisers Werke ab- bis jenseits von TSS, für die er sich als Solist schuldenbedingt zeitweise den Konzernen ausliefern mußte (durchaus hadernd), die aber viel weiter zurückreichen, als manch einer glaubt, und in ihrem künstlerischen Umfang weit über das hinausreichen, was man kennt: Vielfältig, divers, bisweilen ausufernd, schräg und vor Fettnapftritten nicht sicher, ist die vorliegende Box mit einer angeblich nur knappen Auswahl von 355 Aufnahmen aus Reisers privatem Bandarchiv und von vergessenen Vinylscheiben, die damit beginnt, daß der 15jährige Mitte der 60er per experimenteller Mehrspurtechnik und selbstgeschriebenen englischen Songs den Bob Dylan gibt (mit frappierendem Talent), sich über Theaterprojekte mit seinen Brüdern Gert und Peter (Möbius, er selbst hieß bekanntlich Ralph) als Hoffmans Comic Teater, mit diversen TSS-Besetzungen, den Ensembles Brühwarm, Kollektiv Rote Rübe, Transplantis und anderen, Sessions mit allen möglichen Freunden und Kollegen, Arbeiten für die Stadtoper Unna, Filme, Hörspiele und Musicals bis hin zu Demos aus den letzten Jahren vor seinem Tod 1996 erstreckt.
Vorläufiges Fazit: Dieser selbst in einem ganzen langen Winter kaum erschöpfend zu durchtauchende Ozean von Skizzen, Coverversionen, Produktionen und Rekonstruktionen ist im Gegensatz zu der TSS-Gesamtausgabe kein kulturhistorisch stringentes Archiv der deutschen Zeit(musik)geschichte, auch wenn der Anspruch auf soziale Wirksamkeit über weite Strecken spürbar ist und möglicherweise wirksamer war, als man heute noch weiß. Nein, vor allem ist dies rührend, begeisternd, witzig, spannend, experimentell, immer wieder überraschend (z. B. verknüpft „Freitagabend“ von 1969 den Beatlessong „Bungalow Bill“ und frühe TSS-Anklänge zu einem echten Gassenhauer), hier und da auch peinlich, verstörend bzw. komisch (etwa wenn sich Reiser 1967 mit „König & Clown“ als Ersatz-Drafi-Deutscher versucht und mit „Dreh dich nicht um“ Schlager und Underground-Psychedelik zusammenzuschrauben versucht), mit wenig Längen in 20jähriger Arbeit von Lutz Kerschkowski auf 16 CDs zusammengestellt und mit einem dicken, bebilderten Beibuch versehen, das zwar ein strengeres Lektorat verdient gehabt hätte, das aber auch so wie ein Trip in eine Parallelbundesrepublik wirkt.
Und es ist die bei aller Einmaligkeit von Reisers Leben und Wirken exemplarische Dokumentation eines nicht immer widerständigen, aber durchgehend eigensinnigen künstlerischen Lebens in verwehten Zeiten der Träume von Freiheit und Leben, wie es auf dem deutschen Tonträgermarkt mit Sicherheit keine zweite gibt und auf absehbare Zeit nicht geben kann. Und, dies sei für die Puristen von der sozialwissenschaftlichen Fakultät angemerkt: wirklich verstehen kann man auch TSS erst über diesen ganz anderen Zugang.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #378: Streets of Laredo "Wild"


Seit Tagen kauert der Rezensent im Schrank und gibt keinen Mucks von sich. Grund ist ausnahmsweise nur zum Teil die alljährlich zuverlässig über ihn hereinbrechende Herbstelei, das Schwelgen in der von der Vergeblichkeit alles Tuns und Seins heraufbeschworenen Melancholie, sondern ein fehlgeleiteter Selbstversuch: Um zu überprüfen, ob er modernen Standards der Popmusikproduktion noch standzuhalten imstande ist, hat er sich der Reihe nach den neuen Alben von Bon Jovi, dem ehemaligen Spice Girl Melanie C und Robbie Williams (nebst einigen weiteren Produkten) ausgesetzt, wodurch sich sein Gehirn durch spontane und gleichzeitige Überzuckerung und Gallertisierung in Kratzbeerenmarmelade verwandelt hat.
Mit Kratzbeerenmarmelade im Kopf wird der Rezensent zuverlässig objektiv, behält indes seine in Jahrzehnten der Geschmacksschärfung erlernte borstige Verweigerungshaltung bei. Was er da gehört habe, ließ er verlauten, sei „zweifellos qualitativ hochwertig“ und genüge „strengsten Anforderungen an Hygiene, Fertigkeit und Attraktivität“, dennoch sei es „unerträglich“.
Stundenlang kniete sein alter Kumpel Robbie vor dem verschlossenen Schrank, wedelte mit dem Album, das er aus der zwecks Entsorgung bereitstehenden Kiste mit der Aufschrift „Pupo“ („purer Populismus“) gerettet hatte, und schwor inständig, er meine es gar nicht so, und es sei doch ein gemeinsamer Song mit John Grant drauf. Aber da hat er wohl den vom Rezensenten angebrachten Aufkleber „Obacht! Lockstoffe!“ übersehen, und als er, wohlweislich zaghaft, den Namen Rufus Wainwright hinzufügt, ertönt aus dem Schrank immerhin ein leises Rülpsen. Ein Lebenszeichen!
Aber was tun? Bekannt ist: Gegen das Herbsteln hilft das Öffnen der individuellen Pandoradose, die alle Übel der Erinnerung, aber auch die Hoffnung enthält. Eine stets diffus gebliebene, nur musikalisch in die Welt getretene. Das Rezept hierfür ist ein heikles und riskantes: ein Hauch zu viel Süß, ein winziger Riß im Gesamtgefüge, schon knallt die Schranktür wieder zu. Und es muß ja so vieles verbinden an (mindestens) Ahnungen: die End-80er, als die Cowboy Junkies noch geheimnisvoll und Giant Sand noch spannend waren, die flockenwolkige Leichtigkeit der frühen gemeinsamen Alben von James und Brian Eno, eine Ahnung der grenzenlosen Freiheit von Patti Smith, vielleicht sogar eine Prise Lone Justice, Paul Simon, Bob Dylan nach einer produktionstechnischen Gesamtkörperwäsche (am besten durch jemandem, der mit Sonic Youth und Dinosaur Jr. zu tun hatte, sich daran aber nicht mehr erinnert), ein paar, aber nicht zu ausgiebige Anspielungen und Zitate, die der Rezensent nicht gleich zuordnen kann. Und ein Seil, auf dem dieser Balg, von jeglichem Ballast befreit, schwindelfrei durch den Äther tanzt, sich von goldenen Sonnenstrahlen nährt und sie als schimmernde Perlen aus Melodiegranulat in die Welt streut.
Oh, und dann sollte noch die Instrumentierung nicht zu modernistisch, aber auch nicht altbacken sein. Der Geist sollte die Welt umspannen, von Neuseeland bis Brooklyn und umgekehrt. Die Arrangements müssen hinter dem, was sie in den Vordergrund stellen, zuverlässig in den Hintergrund treten, und visuell sollte eine imaginative Farbigkeit die Jahreszeit als Fähnchenkette in der Phantasie flattern lassen, ohne Bunt und ohne Grau, um die Hoffnung aus der Büchse zu locken. Und zwar so wirksam, daß neue Erinnerungen für spätere Herbste daraus erstehen. Und eine Sehnsucht, die sich in einem Gesicht so zehrend verkörpert, daß sich der Rezensent verlieben muß, ideell mindestens.
Ach, das alles gibt es? Und es ist nach einem alten Cowboylied benannt, dessen pikaresk-pittoreske Geschichte bis ins Irland des 18. Jahrhunderts zurückreicht und die der Rezensent sicherlich gerne erzählte, wenn noch Platz bliebe? Und es ist tatsächlich so schön, wie es aussieht? Na, dann legen wir das mal auf und lauschen, ob wir die Scharniere des Schranks und der Pandorabüchse nicht bald quietschen hören …

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.