Mittwoch, 29. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 16 Reste/Ruinen

Dienstag, 18. Juli 2006: Das Wetter ist noch da, aber anders: geblieben die Sonne, das ewige Blau; verflogen die Schwüle, die einem wochenlang das Gefühl gab, die Stadt schwitze stöhnend unter den Massen von Eventmenschen, die überall herumwuselten wie bunte Ameisen. Jetzt bläst der Wind hindurch, ein Aufatmen.
Die Rasentreppen am Olympiasee, Schauplatz des „Official Public Viewing“: von fern eine braune Kaskade mit leerem Blick auf den Berg, wo das absurde Fußballfeld lag. Die schrägen Tore abgebaut, die Kreidelinien verweht, der Kiosk wochentags verbrettert; müßig spaziert man herum, in Kleinstgruppen ohne Sog, nur die weitläufig kalifornische Abteilung sammelt sich zum quäkenden Trupp, als besichtigten sie schon die Ruinen der historischen Schlacht.
Weiß noch jemand, wer Andre Heller war? Andere machen weiter, greifen die Massenstimmung auf, die Laune zur kollektiven Dröhnung in Staub, Rauch und Schmutz, mit gewohnten Ritualen in anderem Umfeld. Am Wochenende verwandelt sich die Leopoldstraße in den Dickdarm des Lärmreklamekonsums, an der Peripherie registriert man staunend die Leere, die fehlende Nationalhysterie hinterläßt. Man tobt wieder ohne einendes Symbol, läßt sich mitschieben und -reißen minus hehres Ziel. An ein paar von den überdimensionalen Kampfautos weht noch die Flagge, den anderen ist Deutschland wurst. Kurz flackert die Erinnerung an die dümmste Zeitungsschlagzeile der WM-Zeit: Nein, nicht „Schwarz rot geil!“ („Bildzeitung“), sondern: „Kauflust dank südländisch-fröhlicher Stimmung“ (SZ).
Jetzt jammert wieder „die Wirtschaft“, palavert wieder „die Politik“, die es irgendwie doch verpaßt haben, den manischen Nationalheinis, die vor kurzem noch in schwarzrotgelbweiß mit Bierflaschen vor den Supermärkten herumsaßen wie unangebracht verspätete Karikaturen wilhelminischer Hurradeppen, effektiver das Fell über die Ohren zu ziehen, vor der plötzlichen Rückverwandlung in grundsätzlich opferbereite, aber unzugängliche Individualstinkstiefel.
Das Wetter ist noch da, aber anders, die Hubschrauber auch, aber nicht mehr ständig, und wenn das Abebben so weiterginge, könnte, denkt man, die Stadt in einen langen Schönheitsschlaf fallen.

Dienstag, 28. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 15 Kopfstoßlegende

Montag, 10. Juli 2006: Ein großes Spiel ist auch das Finale nicht, aber eine halbe Stunde lang gut und rasant, dann ist Frankreich nach einer Schwalbe in Führung gegangen, hat Italien ausgeglichen, den gleichen Trick noch zweimal probiert und eingesehen: Das wird so nichts. Da war das Spiel in gewisser Hinsicht vorbei, obwohl Frankreich erstaunliche Ausdauer beim Berennen des italienischen Strafraums entwickelte: Der letzte Paß war immer schlecht, einen zweiten Elfmeter verweigerte der Schiedsrichter, und die Italiener zogen sich zurück, als wollten sie ihre Kräfte für die Ehrenrunden sparen.
Nur einer gab nicht auf: Reinhold Beckmann. Der „kommentierte“ die Partie, als handelte es sich um die Abschiedsgala des Fußballgottes Zinédine Zidane, ein TV-Heldenbild, an dessen Ende der große Mann mit kargem Lächeln alleine im Lichtdom stünde und den Weltpokal ins Universum reckte, den seine Ritter an den Spielfäden seiner Genialität tanzend errungen und ihm zu Füßen gelegt hätten. Das ist Beckmanns Beruf: mit rhetorischen Fragen und geheuchelter Überwältigung aus vielfältigem Geschehen, wechselvoller Geschichte, komplexen Persönlichkeiten eindimensionale Pappkameraden herausstanzen. Und als hätte ihn Zidane gehört und könnte das Geschwätz einfach nicht mehr hören, platzte dem in der Mitte der Verlängerung der Kragen, krümmte er den Rücken zur Sprungfeder, schleuderte den Kopf in Marco Materazzis Brust; der stürzte, und Zidane verschwand in den Kellern des Stadions.
Die Show ging trotzdem weiter, ohne Hauptfigur, und da Beckmann weder Journalist noch Erzähler ist, Menschen nicht versteht und vom Fußball keine Ahnung hat, kam er nicht auf die Idee, Materazzis Rolle (er war am Elfmeter beteiligt und hatte den Ausgleich erzielt) zu würdigen oder eine Erklärung für den (spektakulären, aber im Grunde harmlosen, weil zwischen Nase und Sonnengeflecht angesetzten) Kopfstoß zu versuchen, spielhistorisch (der Zweikampf mit der bösen Nemesis), biographisch (die nicht zu unterdrückende Natur des proletarischen Straßenkämpfers) etc. Nein: Zidane, repetierte er, ist schuld, hat es „kaputtgemacht“, das Spiel, die Inszenierung, die Gala, die ja auch seine, Beckmanns, sein sollte, so wie es in seiner Talkshow letztlich immer um ihn selbst geht.
Vielleicht läge darin Zidanes Genialität, sein Gespür für den richtigen Augenblick: nicht (oder auch) die eigene Karriere kurz vor dem vermeintlichen Höhepunkt mit einem antiklimaktischen Blitzschlag zu beenden, sondern die eines unbedarften Plapperers, dem es auf unergründlichen Wegen der Opportunität gelungen ist, sich als Fußballkommentator auszugeben und zum Anführer einer Riege unbedarfter Plapperer zu werden, die sich das Spiel angeeignet haben, ohne es zu lesen, zu durchschauen, die Vielfalt seiner Deutungsmöglichkeiten annähernd zu begreifen. Daß Fußball keine trivialdramatische, Happy-end-gekrönte Heldensaga fürs Hauptabendprogramm ist, könnte man eindrücklicher nicht zeigen.

Montag, 27. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 14 Deutschland am Ende Deutschland

Freitag, 7. Juli 2006: Komisch sei, sagt der Freund, daß jetzt, wo alles vorbei ist, plötzlich so viele Sicherheitsleute am Chinesischen Turm rumlaufen. Stimmt, stelle ich fest, und auf einmal wimmelt Schwabing auch wieder vor Polizei. Diskriminierung! sagt er. Franzosen und Portugiesen sind auch nicht gefährlicher als Deutsche! Vielleicht, sage ich, sind die Deutschen gefährlicher, wenn sie verloren haben. Wir kaufen einem männlichen Photomodell aus der Schweiz zwei grüne Gummiarmreife ab, mit der Aufschrift „Respect“ und „WC 2006“.
Aber die deutschen Nachfeierer singen immer noch ihr Lied, unterstützt von einem Trupp Franzosen, die den Text aus Sprach- und Wahrheitsgründen auf „La la la!“ reduzieren. „Wir stehen wieder auf!“ droht die „Bildzeitung“, „Schade Helden“ lallt die AZ von gestern. „München ist Meister der Weltmeisterschaft“, sagt der Oberbürgermeister. „Der Totti ist ein Weltmeister aus Deutschland“, sinniert ein intellektuell Besoffener in der Sonnenglut. „Ich will das nicht glauben“, jammert ein Halbmastfahnenträger. „Viel Bier“, sagt einer im Mexikotrikot, „Bier müde“, sagt sein Begleiter. „Klinsmann muß bleiben!“ fordert die Nation, aber Klinsmann ist weg. „Ich bin stolz auf dieses Land“, verkündet Horst Köhler. „Deutschland muß sterben, damit wir leben können“, steht auf einer Wand, die abgebrochen wird. Die beflaggten Autos, meistens edle Karossen, haben alle einen Parkplatz gefunden. „Die hätten wir beide weggehauen“, sagt einer nach Frankreichs müdem Halbfinalsieg gegen Portugal und trinkt sein Bier aus, „Gott sei Dank.“ „Aber schön war’s“, sagt der Nachbar, und „Nein“, antwortet er gleich selber, „schön war’s nicht. Aber mei, was willst machen.“ Er gehe jetzt heim, sagt der Freund, und ich: Ich auch, ist spät. „Ihr seid’s doch schon daheim“, lacht der mit dem leeren Bier, „zu Gast bei falschen Freunden.“

Sonntag, 26. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 13 Chronik eines angekündigten Untergangs

Mittwoch, 5. Juli 2006: Dienstag um zwei im Englischen Garten: M. ruft an, er sei am Düsseldorfer Flughafen, und wo er wohl hinfliege? Nach Dortmund! Das sei doch der Wahnsinn! Dabei ist P., dessen Lied zur WM auf Platz eins der deutschen Charts steht, gerade noch rechtzeitig, meine ich, weil der Traum heute abend wohl vorbei ist. Als ich das Telephon weglege, hallt die Begeisterung in mir nach, ernte ich skeptische Blicke aus drei Richtungen: ein Defaitist unter uns?
Halb fünf auf der Hohenzollernstraße: G. trägt leere Plastiktüten ums Haus und sieht aus wie narkotisiert. Nein, er komme nicht mit zum Fußballspielen, sei erst nächste Woche wieder ansprechbar. Was ich tippe? Zwei bis drei null für Italien, vages Vorgefühl von Elferschießen. Ihm fehlt die Kraft für Empörung oder Lächeln.
Halb sieben am Flaucher: Die Großleinwand kaum zu sehen im Sonnengrell, erste Deutschmonturen sitzen da, weitere tröpfeln ins Tischgewirr, zaghafte Tambourprobe. Alles wirkt unsicher, wie eine Familie kurz vor der riskanten, aber möglicherweise lebensrettenden Operation des Oberhaupts. Zum erstenmal scheint sich die Ahnung einzuschleichen, daß man selber nichts tun kann; versuchen wird man es trotzdem, bis die Hände schwellen und die Kehlen rasseln.
Schwabing, kurz vor halb zwölf: Kein entsetztes Geplärr, als Fabio Grosso endlich und endgültig den Luftballon aufsticht; oder doch irgendwie: ein Aufschrei der Stille, fast monströs und unheimlich, der minutenlang anhält. Das Zweiergespann der Machtdarsteller eilt in die Kabine der Geschlagenen, mit Gesichtern, als fürchteten sie den schockartigen Zusammenbruch ihres Gesellschaftsumbauprojekts. Im stumm gelähmten WM-Studio versucht man sich in aufgewärmter Motivationshysterie; in einer Sprechpause das nüchterne Geräusch eines müde hinfallenden Klappstuhls; im Hintergrund sieht man Gebeugte davonschleichen. Niemand mag sich freuen, daß viel mehr erreicht wurde, als man (vorgeblich) erwartet hat.
Dann, mit einer seltsamen Verzögerung (als hätten sie abgewartet, ob das Ergebnis nicht nachträglich für ungültig erklärt wird): das Hupkonzert der Italiener, wild und polyphon, bald in Zufriedenheit ausklingend. Die erste Nacht nach einem Deutschlandspiel ohne klirrende Scherben und Lallbrüllen vor dem Haus.
Freitag, gegen neun: ein milchgläserner Morgen über der wiedererwachenden Stadt, deren „von vorher“ gewohnter Geräuschdunst eigentümlich neu und fremd wirkt. Wo waren die alle die letzten Wochen? und wo ist das andere hin?

Samstag, 25. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 12 Der unergründliche Augenblick der Identifikation

Samstag, 1. Juli 2006: Es fällt schwer, für Nationalmannschaften Begeisterung zu entwickeln, weil sie keinen Ort haben, kein Milieu, keine Geschichte, weil sie die Perfektion des modernen Fußballs sind: Unter ökonomischen Gesichtspunkten zusammengestellte Funktionsträger erzeugen Erfolgsergebnisse; bleibt der Erfolg aus, fahren sie zurück in die Luxuszentren des privatisierten Modernfußballs, nach Madrid, London, Mailand, Manchester, Barcelona, München.
Aber bei einem Turnier mit so vielen Spielen meint man um eine Identifikation irgendwann nicht mehr herumzukommen, was unterschiedlich bald unterschiedlich stark fast immer gelingt, meistens doch über das Lesen des Spiels. Holland 1974: eine leichte Wahl (perfekt bis zum tragisch verlorenen Finale), Deutschland 1970 eine späte (Halbfinale), Marokko 1986 trotz frühem Ausscheiden so intensiv, daß ich kaum eine Woche nach dem Finale an den Strand von Khenitra getrampt bin, um mit einer einheimischen Barfußmannschaft in den Sanddünen zu kicken. Kamerun, Kroatien, England, Senegal, Frankreich: alle hatten ihre Momente, Tage, Wochen, waren bald wieder vergessen; unerforscht blieb der Augenblick, in dem das passierte.
Wie gestern abend: Waren es die Minuten nach dem Ansturm der Ukrainer, die zu Beginn der zweiten Halbzeit in zehn Minuten mehr Torchancen hatten als Deutschland und Argentinien in zwei Stunden? die unprofessionell freudeschönen Gesichter nach dem 2:0? die Hinterkopfgeschichte vom Selbstmordversuch eines italienischen Spielers wegen des Bestechungsskandals? Nicht zu sagen, aber irgendwas ist da geschehen. Heute nachmittag fragt der Mann im Laden an der Ecke, für wen ich eigentlich bin. Wie aus der Pistole geschossen: Italien. Wird ein schönes Finale gegen Portugal. Aber ich sei doch Deutscher? Ja ja, nichts dagegen, denen gönne ich den dritten Platz (Elfmeterschießen gegen Brasilien).
„Italien“, sagt er, lachend, „pah! Alles Schwerverbrecher! Dann heute nix Sonderpreis für Bier.“ Rechnet aber doch elf für zehn, und ich lege ihm zwei Euros in die Trinkgeldblechbüchse, für seine Iraner, die er auch nicht mag. Und er lacht noch lauter: „Chips aus. Aber Nudeln noch da!“

Freitag, 24. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 11 Halbzeit in der Ferne

Freitag, 30. Juni 2006: Der Zug geht früh, aber in der feuchten Morgenluft des Hauptbahnhofs schwitzen und klirren die Bierflaschen: Siegesschwüre im noch nachtklammen Nationaltrikot, strenge Zuversicht, Schulterklopfen – als wären es die schlaflosen Fanatiker, von denen alles abhängt. Den ersten Achtelfinaltag haben wir im Garten verdöst, nachdem der Trambahnfahrer „für fußballinteressierte Kollegen“ das zweite Tor gegen Schweden durchgesagt hat; da, wußten wir, würde sich nichts mehr tun, und für das argentinische Gewürge gegen Mexiko war nach einer Viertelstunde der Schlaf zu verführerisch.
In Berchtesgaden eine andere Welt: Zwar ist auch hier jedes vierte Auto schwarzrotgelb beflaggt, aber es gibt keinen Corso, keine nächtlichen Jubelbrigaden, kein „Public Viewing“. Die Jugendlichen in Hitlers Kehlsteinhaus tragen müde ihre „Böhse Onkelz“-, „Tote Hosen“- und „Gehaßt Verdammt Vergöttert“-T-Shirts durch die überraschend dünne Aura eines siebzig Jahre alten Weltmachtwillens, dessen groteske Anderweltlichkeit einem über blanke Zahlen bewußt wird: Zwölf Jahre hat das gedauert; der letzte deutsche WM-Sieg ist länger her, Jürgen Klinsmann war da schon dabei.
Abends im Pensionszimmer krabbeln winzige Strichmännchen über den Fernsehschirm, draußen erfrischt das Gewitter die schwül pulsierende Luftglocke und hängt dem Watzmann alle paar Minuten neue Kreationen auf den Leib. Für ein echtes Interesse ist alles zu klein: die portugiesisch-niederländischen Prügeleien, das erwartete Ausscheiden der Australier und Ghanaer gegen jeweils zwölf bis vierzehn Gegner, die zweistündige Spielverweigerung von Schweizern und Ukrainern, die gerechterweise mit einer Sperre beider Mannschaften geahndet werden müßte. Dann endlich spielfrei; zwei Tage lang steht der Fernseher im Hofbrauhaus als das herum, was er hier immer ist: ein Fremdkörper.
Ein letzter Morgen mit Blick auf das müßige Schafquintett, unsichtbare Lautsprecher erbrechen das widerwärtige Gequengel von X. Naidoo, in der Zeitung ist E. Stoiber zu sehen, in ein Deutschlandtrikot gezwängt. „Beste Werbung für unser Land“ sei die WM. Der Gedanke, daß der Kerl seine mentale Verfassung selbst immer am besten auf den Punkt bringt, ist schon ein Stück Abreise. Heimfahrt ins Fahnenmeer, die Wolken bleiben über Königs- und Chiemsee hängen, wieder schwitzen und klirren die Flaschen, und als dann das erwartete Elfmeterschießen endlich absolviert ist und die hupende und grölende Hysterie durch die Schwabinger Straßen rast, fühle ich eine absurde Sehnsucht: nach einem echten Fußballspiel.

Donnerstag, 23. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 10 Zeit der Wespen, Zeit der Hubschrauber

Sonntag, 25. Juni 2006: Das Gefühl, als wäre alles mögliche am Anschwellen; ein erinnertes Stimmungsbild von dem Sammelsurium auf der karierten Decke im Garten 1976: Frigeo-Puffreistüten, Perry-Rhodan-Taschenbücher, Donald-Duck-Sonderhefte aus einem verstaubten Flechtkorb im Speicher (der drückend schwüle Hitzegeruch von alten, stumm drohenden Wespennestern), das blecherne Gedudel von Yes, Kraan und Harlis aus dem Kassettenrecorder, abends die bebende Freudenspannung, als drei Tore von Dieter Müller aus einem 0:2 gegen Jugoslawien ein 4:2 machen, die entsetzten Schreie über Uli Hoeneß’ verschossenen Elfmeter gegen die CSSR, die die erwachsene Diskussionsrunde über Arbeit und menschliche Würde einen Augenblick innehalten lassen. Gelbe Wiesen, Wasserschläuche, sieben Wochen täglich hitzefrei, der tanzende Jubel auf der Straße über das endlich anrückende Gewitter, das ein paar Tropfen fallenläßt und weiterzieht, die lähmende und befreiende Stille in der Dampfglocke der glühenden Stadt, im bebenden Dunst von Lohe und Heide. Und dann kommt doch der Regen, mit einem Donnerschlag Mitte August, und hört nicht mehr auf bis zum Ende der Großen Ferien in neblig kühlem Frühherbst.
Dreißig Jahre später ein anderes Anschwellen; der einheitlich schwarz-rot-gelbe Farbteppich der Fahnen und Gesichtsbemalungen füllt die Lücken überraschungslos zwangsläufig, die deutsche Mannschaft gewinnt so mühelos technokratisch, daß man Ecuador und Schweden nicht mehr absitzen mag, lieber auf Argentinien oder gleich aufs Finale gegen Brasilien wartet. In den Zeitungen werden die affirmativen Beschwörungen eines guten, edlen, modernen, positiven, erfreulichen, natürlichen usw. usf. Nationalismus täglich überschwenglicher; im Schatten der Heimathymnen versteigen sich Wirtschaftsjournalisten zu annähernd wörtlichen Paraphrasen der Volkserweckungspropaganda aus den mittleren Dreißigern, aber die rauschhaft schamlose Bösartigkeit ihrer Hetze, die beispielhaft in der Forderung gipfelt, die Menschenwürde solle „vor allem davon abhängen, ob jemand überhaupt arbeitet“, geht unter im Nationalgeschwall.
Und über allem röhren, knattern, donnern die Hubschrauber, ohrenbetäubend, düster allgegenwärtig drohend. Die Nester: bleiben unsichtbar.

Dienstag, 21. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 09 Ich habe Deutschland verpaßt!

Mittwoch, 21. Juni 2006: 
Millionen von uns waren live mit dabei,
mit Massenchorälen und Einzelgeschrei,
gehüllt in die Fahne, ein Bier in der Hand,
gemeinsam, nur ich stand alleine am Rand.
Ballacksche Geistblitze, Schneidersche Pässe,
Grätschen von Kehl auf der Rasennässe,
Friedrichs Bemühungen, Lahms Ideen?
Ich habe bei all dem nicht hingesehen.
Daß Klinsi hüpfte und Jogi sinnierte,
ich weiß gar nicht, ob das so wirklich passierte.
Wer schoß die Tore, wer schlug die Flanken?
Bei wem muß auch ich mich am Ende bedanken?
Stand Lehmann oder doch Kahn im Tor?
Ich hatte (leider) wichtigeres vor.
Gab’s coole Raps, spontan ge-uptes Word?
Auch davon hab’ ich ganz und gar nichts gehört.
Sankt Dienstag, wo’s ging um den Gruppensieg,
die erste Etappe im spielenden Krieg,
hab’ ich meine Pflicht vor dem Schirm nicht getan.
Noch schlimmer: Ich hab’ erst heut’ morgen erfahr’n,
wie’s ausging, daß Deutschland die ecuador-
-ische Truppe beugte, die dankbar verlor.
Nun zeigt die Gemeinschaft mit Fingern auf mich:
„Da ist er, der üble Verweigererich!
Er schwänzte die Schule der deutschen Nation!“
Schon gut, ihr Braven, ich weiß das ja schon.
Und ich hab ihn verdient, den verschärften Verweis,
denn ich tat es mit Fleiß.

(Es sei aus historiographischen Gründen angemerkt, daß am Dienstag, den 21. Juni 2016 die deutsche Nationalmannschaft erneut um den Gruppensieg spielte, diesmal 1:0 gegen Nordirland gewann und daß ich die letzten acht Minuten dieses Spiels vor dem Jennerwein sitzend verfolgt habe.)

WM-Tagebuch 2006 - 08 Typ: Der alte Torwart

Montag, 19. Juni 2006: Daß Fußballspieler sich immer ähnlicher werden, ist eine Flachsbinse aus dem „Früher war alles …“-Zopf, zu deren Untermauerung man die gängigen Unterscheidungsbemühungen (grellwirsche Coiffuren, Tätowierungen, bunte Schuhe) heranziehen müßte, und es stimmt ja gar nicht; aber die Individualismen bei dieser WM neigen ins Negative: der schwammige Ronaldo, der ewig ins Abseits rennende Luca Toni, der kleine Deco, das alternde Genie Figo, dazu bekannte Gesichter, unglücklich entzerrt auf Bänken: Jan Koller etwa.
Der erste Typ, der sich mir vom Spiel über das persönliche Bewegungsspektrum bis zur Mimik ins unmittelbare Erlebensgedächtnis prägt, ist der angolanische Torwart João Ricardo, der in zwei Spielen (gegen Portugal und Mexiko) nur einmal überwunden wird (nach dreieinhalb von gut hundertneunzig Minuten), der, wenn er Flanken mit einer Hand aus der Luft pflückt, aussieht wie Fußballspieler aus sehr frühen Zeiten: eine klassische Eins, spielend souverän, über alle stumpfe Erfahrung hinaus mit dem Ball so verwandt/verwachsen, daß man auch in den Momenten, wo er scheinbar hilflos durch den Torraum stolpert, purzelt (dabei aber nie strauchelnd, torkelnd, der aufbrausenden Bewegung des Spiels hilflos ausgeliefert wirkt), stets gewiß ist: Das geht gut, der bleibt ruhig, sicher, fest und macht das schon.
Die an Ronnie Hellström erinnernden Langflüge (keine zuckenden Streckexplosionen, sondern gewaltige Bögen, unspektakulär schön und effektiv) hat er mit dem US-Amerikaner Kasey Keller gemeinsam, ebenso das Alter und die Ausstrahlung von Abgeklärtheit; aber Keller bleibt eine unperfekte Annäherung: Er spielt, immerhin, bei Borussia Mönchengladbach (Ricardo, arbeitslos, trainiert bei einem portugiesischen Zweitligisten mit) und plappert nach dem metaheroischen 1:1 gegen Italien in US-Boy-Manier die Mikrophone mit Motivationssenf voll.
Es gibt mehr halbe, Viertel-, Achteltypen, auffällige Erscheinungen für erinnernswerte Augenblicke; viele davon sind Torwarte, eine notwendige Folge des häufigen Aufeinandertreffens von berechneten Gewinnern und Außenseitern in der Vorrunde. Das wird sich ändern, wahrscheinlich, und João Ricardo wird – bald – ausscheiden. Aber die turnierästhetische Hoffnung ahnt, wie: ohne Zorn, Häme, aufgekochte Autotragik; und man wird sich an ihn erinnern, nicht an zwei Ziffern und ein Spielergebnis.

Montag, 20. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 07 Schaum in Antalya

Samstag, 17. Juni 2006: Er werde, sagt der mit den gesträubten Augenbrauen, wohl noch Deutschland schmähen dürfen, ohne dafür Sanktionen befürchten zu müssen. Sein Blick taucht in den Krug, kein Schaum mehr; zum fünften Mal schiebt der Föhn die Gewitterfront zurück nach Norden, Dachau, Franken. Die mandeln sich jetzt auf wie noch was, die Deppen, und hintenrum werden sie derweil armreformiert von der Bande.
Der andere schaut wirr, als wollte er was fragen; weiß aber nichts, klammert sein Glas mit beiden Händen. Deutschland sei geil, murmelt er, super Sache. Achwas, achwas, achwas, orgelt der mit den Brauen, schwellend: Ganze Stadien voller Nazis. Der Wirre: Nix, kommen gar nicht rein, zum Beispiel mit dem da – er deutet auf mich, ich trage ein verschwitztes Fred-Perry-Hemd, aber wahrscheinlich ist er neidisch auf meinen Schaum. Das müssen die ausziehen! deklamiert er, weil es die Reichs … Reichsfahne ist. Der Gesträubte schüttelt den Kopf in den Krug hinein. Nicht beachten, sagt er. Schwarz! Weiß! Rot! Reichsfahne!
Er solle mir doch mal das Rot zeigen, sage ich. Der Wirre mustert mein Hemd aus zwei Zentimeter Entfernung, mit offenem Wurstmund. Hoppla, komisch. Ist alles durcheinander, sagt der Brauenmann, trinkt seinen Krug leer und rückt seinen rotgelben Iro schief. Der Wirre zurrt an seinem Deutschlandfahnenumhang und kippt von der Bank, weil hinten einer draufsteht, der das jetzt erst bemerkt. Der will ihm aufhelfen, kann aber nicht recht stehen; beide purzeln eine zeitlang am Boden rum, verschlungen ächzend.
Deutschland gut, sagt der Neue, als dann alle am Tisch sitzen, viel Tor, aber Fraue keine Dutt und Mann alle Nazion. Ob er trinken wolle, fragt der Gesträubte, schiebt ihm den leeren Krug rüber: Bringst mir eins mit, meine Frau ist in Antalya.
Und der Föhn will immer noch nicht aufgeben.

Sonntag, 19. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 06 Gefühlte Zahlen

Freitag, 16. Juni 2006: Circa 20: Fernschüsse pro Spiel; die meisten gehen da hin, wo sie hergekommen sind – in die Ferne. Torgefährliche Strafraumszenen: 5 (gefühlter Durchschnitt bei extrem von Sicherheitsdenken geprägten Zweitligapartien: 15). Ausrutscher: etwa alle 10 Minuten landet ein Spieler ohne Einwirkung eines Gegenspielers auf dem „Wunderrasen“, für den die geeigneten Schuhe leider noch nicht erfunden sind; jeder dritte dieser sonderbaren Stürze vereitelt einen vielversprechenden Angriff. Wahrscheinlich rührt auch das groteske Mißverhältnis von Fernschüssen und gefährlichen Strafraumszenen daher, daß die Spieler fürchten, in aussichtsreicher Position wegzurutschen und sich vor der ganzen Welt zu blamieren. Querpässe: Gefühlte 30 Jahre, seit (gefühlt) deutsche Mannschaften ein Wundermittel zur Spielzerstörung erfanden, das bei dieser WM mit ungenießbarem Bier und Deutschlandfahnen zu den meistangebotenen Produkten zählt. Tore: fallen (in Spielen, die vom Kommentator eingangs als „hoffentlich groß“ angekündigt werden) meist zwischen der 88. und 95. Minute und verwandeln fades Quergepasse in dramatisches Diskussionsmaterial inkl. Gottesurteil. Kommentarzeit: Deutschen Spielreportern bleibt bei der Langweiligkeit und Ereignislosigkeit der meisten Spiele nichts anderes übrig, als 60 Prozent der Spielzeit zu schweigen und mit Kommentaren wie „Vielleicht jetzt“, „Horst Hrubesch auf der Tribüne“ und „Hu!“ prickelnde Brisanz (oder wenigstens eigene Anwesenheit im Stadion) zu simulieren (auch daher – neben der Zahl von etwa 80.000 Großleinwänden pro Stadt – wohl das gegen Null gesunkene Interesse an Radioübertragungen). Anteil von Total-Einstellungen am gesendeten Bildmaterial: annähernd 90 Prozent. Zahl der im nachhinein (durch Rück- oder Vorverlegung des Zeitpunkts der Ballabgabe) falsch dargestellten Abseitsentscheidungen: annähernd 100 Prozent. Anzahl der Augenblicke pro Tag, in denen man wahlweise Netzer, Delling, Beckmann, Kerner oder Urs Meyer vor Überdruß und Blödheitszorn das halbvolle Bier über den Kopf gießen möchte: circa 20.

Samstag, 18. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 05 Mittendrin der Tod

Donnerstag, 15. Juni 2006: Nur Minutenwege entfernt vom tobenden WM-Metropolenkessel finde ich mich in einem grenzenlosen Areal scheinbarer Idylle, wo das Wasser schläft wie weiches Silber, die Bäume müde ragen, die Sonne vanillebleich hineinschmilzt in den ewigen Himmel; da sitzt man zwischen offenen Ziegelwänden und findet nichts zu betrachten als eine längliche Kiste aus Holz, in der angeblich der Körper eines lieben Kollegen und guten Freundes liegen soll. Den sieht man nicht, und ich habe ihn lange nicht gesehen, und wie ich so darüber nachdenke, habe ich ihn überhaupt nicht oft gesehen und kaum je berührt; und dennoch schien er irgendwie immer da zu sein, konnte ich seine Stimme hören, sein Lächeln sehen, seine Argumente, Geschichten und Deutungen einfließen lassen in das, was man so gerne für das eigene Denken hält. Jetzt könnte ich zusammenrechnen, auf ein paar Dutzend Begegnungen, Diskussionen, gemeinsame Abende, Telephongespräche kommen, eine unsichtbare Linie aus Punkten in der trägen Strömerei der Zeit erkennen und mich fragen, wie etwas enden kann, was nie begonnen hat, sondern immer war und ist. Bis zu dem Anruf, der Mitteilung vom plötzlichen Tod; nein, bis jetzt und hier zwischen diesen Ziegelwänden, in der trüben Hitze der Sprachlosigkeit danach, nein: bis irgendwann, wenn die Asche auf einem griechischen Berg verstreut ist und ich mit einem kleinen, stechenden Schmerz hinter den Augen seine Mailadresse gelöscht habe und mich frage, ob überhaupt irgend etwas ist und nicht vielmehr nichts.

Freitag, 17. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 04 Lautstilles Wochenende (Versuch über den Jubel)

Sonntag, 11. Juni 2006: Auf der Wiese am Chinesischen Turm, wo sonst die Kinder spielen, steht ein Digitalaltar, plärrt Reklamebotschaften in die Menge davor, der Zustrom aus allen Richtungen schwillt an. Lachen kann im schwarzrotgelben Leibermeer niemand; die Gesichter zerren bissige Zornfratzen, kehlige Chöre fordern „Steht auf, wenn ihr Deutsche seid!“ Auf einer grotesken Pedalkarosse trifft eine schwarzrotgelbe Blaskapelle mit Großtrommel ein, wie Ameisen schnappen sich Neuankömmlinge die Bänke um uns herum und zerren sie vor den Altar, dann erstickt der Lärm jeden Gesprächsversuch. Flucht.
Der von früheren Weltmeisterschaften gewohnte hofkarreeerschütternde Torjubel bleibt aus, obwohl die deutsche Mannschaft trotz gewohnt ideenlosem und unbeholfenem Spiel viermal Anlaß gäbe. Dafür ziehen bis spät in die Nacht Rinnsale der Begeisterung vom „Fan-Fest“ im Olympiagelände durch Schwabing; das Repertoire ist aufs mindeste beschränkt: „Deutschland!“ zu krummen Melodierudimenten, notfalls zur Viersilbigkeit gedehnt („Do-ho-heutschland!“). Traumhauptige Bilder plausibler Folgen von Sieg und Niederlage, destilliert in (wach unzulässige) Regionalismen: Der Mitteleuropäer gewinnt triumphierend, mit Da-habt-ihr’s!-wuchtigem Täterä; Verlieren ist ihm Versagen, das er nicht mit Trauer oder Achselzucken nimmt, sondern mit schamerfüllter Wut gegen vermeintlich Schwächere über das erlittene Unrecht. Beim Mittel- und Südamerikaner ziert die Niederlage ein Lächeln und eine Träne, der Sieg kann ausnahmsweise (siehe Menottis verweigerten Handschlag für die Junta-Abgesandten 1978) schwellenden Zorn tragen, der sich im Gefühl kollektiver Kraft auf vermeintlich Stärkere richtet. Afrikaner feiern um der gemeinsamen Ekstase willen, umfassend gleichmütig und fröhlich auch als Verlierer, mit einer funkelnden Spur von Trotz (siehe Didier Drogba nach dem unglücklichen 1:2 gegen Argentinien). Die verzweigten Versuche der Zuordnung von Schweiz, Saudi-Arabien, Australien, Japan … münden endlich doch in Schlaf.
Erstaunlich tagsüber die schimmernde Idylle abseits von den unzähligen Brennpunkten mit mindestens Flachbildschirmen: Die Ruhe, die in unmittelbarer Nähe zum Toben über und in allem schwebt, scheint sogar die Zeit zu ertränken; da schließt die Stadt die Augen und gerinnt zum blausilbrigen Sommerlächeln.

Donnerstag, 16. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 03 Ein Tag bis alles und nichts

Dienstag, 8. Juni 2006: Die Gegenwart ist ein Sinnfeld, das aus dem Kontrast zwischen Eindrücken und Erinnerungen entsteht; diese markieren das Spielfeld, auf dem jene sich Regeln fügen, die sie als Geschehnisverläufe über den unfaßbaren Augenblick hinaus erfahrbar machen und die auch für Überraschungen gelten. Am stärksten und weitesten erleben wir das „Wunder“ in der Musik, die den sozusagen ortlosen Schnittpunkt von Eindruck, Erinnerung und Erwartung zu einem „Gegenwartsraum“ zu erweitern vermag.
Je naiver der Blick, desto einfältiger zeigen sich Formen und Verläufe bis ins kleine Detail; dem erfahrungsarmen Beobachter begegnen unerwartete Wendungen als Wunder, sammeln sich zum Weltzustand, der (noch) nicht ins Bewußtsein gedrungen ist. Vielleicht hieraus speist sich der Reiz des Fußballspiels: aus dem Kontrast zwischen einem Ideal unvorhersehbarer Bewegung und dem Hintergrundbewußtsein des unveränderlich bestimmten Regelfeldes. Der Versuch, aus der nüchternen Sachlichkeit erfahrungsgelenkter Feststellung mittels deren Durchdringung und Ausblendung eine neue Naivität als Offenheit für das ab- und jenseits der Spur sich Ereignende erstehen zu lassen, die wiederum ergründend wirken kann, ist der Ausgangspunkt der regressiven Spirale des Scheiterns (z. B. Kafka, aber das gehört nicht hierher).
Stecken wir das Feld so weit wie möglich ab: „Mein Leben beginnt mit der Kriegserklärung“, schrieb Ödön Horváth zwischen den Weltkriegen über seinen dreizehnjährigen Erfahrungszustand als Blickpunkt auf die folgende Gegenwart. 1946 antwortet Karl Valentin: „Das war noch eine goldene Zeit bis 1914–- dann is’ der Saustall losgangen.“ Die „Gegensensation“ zur nicht von Erinnerung gedeckten, ja sich von dieser befreien wollenden Euphorie des solcherart zur Permanenz gerinnen sollenden Aufbruchs ist die Melancholie. Beides – die sinnlich-gegenständliche Erlebnisweise des Kindes, dem sich im gegenwärtigen Nichts das Alles der Welt offenbart, und das erfahrungsbedingte Verschwinden in großen Abstraktionen, das in allem das Nichts erkennt – vermengt sich im „Seinszustand“ der Jugend und im Spiel.
Hier kommt die Gegenwart. Schauen wir mal.

Mittwoch, 15. Juni 2016

WM-Tagebuch 2006 - 02 Die Ananas und der Affe

Mittwoch, 7. Juni 2006: Wieder und wieder erbricht die Weltmaschine das Lackgesicht von Michael Ballack; da sie als Gegenstück nur das Konzept Schweinsteiger zu bieten hat, wird verzweifelt das Urbild des Bären beschworen, der ungreifbar durch die ins Dunkel verschwimmende Ortsortung taucht und sie mit Schafskadavern neu absteckt.
„Die bringen ihre Schafe selber um“, sagt der Freund, „und dann verlangen sie ein Fünzigerl Eintritt zum Begaffen. Der Mensch erkauft sich die mittelbare Ansicht des Ungeheuren.“
Und ich ziehe die Faces aus dem Regal, wo sie fast zwanzig Jahre unberührt schliefen, um durch Rock ’n’ Roll eine Unbestimmtheit zu erzeugen, die unerhört wirkt. „Früher, sackerment, da gab’s halt noch echte Kerle. Die gibt’s heute nicht mehr.“ (Franz Beckenbauer, 20. Jahrhundert)
„Die sind schmutzig“, sagt der Freund, in dessen Gesicht sich das Bubengrinsen von Rod Stewart und Ronnie Wood spiegelt. „In ihren Augen qualmt die Glut der Verzweiflung über die Unveränderlichkeit des Niedrigen, doch sie kapitulieren nicht.“
„Nein“, sage ich, „weil: Das Niedrige ist der Lack auf der Abgründigkeit des Schönen. Kratzfest, aber nur von außen, ätsch.“
„Unfug!“ sagt der Freund, wie: „Heureka!“
Im ersten Sonnenstrahl seit – wann? – tänzelt drüben in der Apianstraße der Kaminkehrer Tré Polk über den First; „Three Button Hand Me Down“ zerbröselt zu antimodernem Musikgeröll, das sich mit Stewarts triumphierendem „Ha!“ zur Lawine sammelt. Zwei Finger, zwei Bier.
Auf der großen Wiese am Flaucher findet sich von den vielen, vielen Stamm- und Zufallsmitspielern nicht einer ein. Sitzen die alle schon vor den Leinwänden, gemeinsam bebend vor Amüsierungszorn? Zu dritt stolpern wir unter dem erwachenden Frühlingshimmel durchs runzlige Gras, staunen über die unbewegte Leere, die Höhe der Bäume, lachen über die Kapriolen des Balls, „footlose and fancy free“.

(siehe die Anmerkung zur vorhergehenden Folge)


Dienstag, 14. Juni 2016

(Ten Years after:) WM-Tagebuch 2006 - 01 Regen, schwarzweiß

Freitag, 2. Juni 2006: Während mit einem Krawallorkan von Reklame und Kollateralhysterie der WM-Circus durchs Land zieht, noch bevor vom angeblichen Kern der Sache mehr zu sehen ist als die hirndumpfe und beinlahme Stoppelei der deutschen Mannschaft gegen Japan (die als Phosphen nach einer Fernsehhalbzeit bleibt und, wenn man sie in ein Symbol destillieren könnte, den Zustand der Abwesenheit von Spiel und der dazu führenden Disposition ideal wiedergäbe), schmeißt sich in jeden Gedankengang der pathetische Zitatwitz, es sei „kalt geworden in Deutschland“. Aber beim morgendlichen Studium der Namen von fünfundzwanzig frischgekürten Eisheiligen (der gestrige Tag gehört Simeon, dessen Heiligkeit ihren Grund darin fand, daß er sich zur Empörung der reformwilligen Trierer Bevölkerung sieben Jahre lang im Turm der Porta Nigra einschloß), gerinnt der feldgraue Himmel zur Metapher, kommt mir die Häufung von „Wasserschlachten“ bei der WM 1974 in den Sinn, und ein Nachmittag letzten Oktober im Mainzer Wohnzimmer von Ror Wolf, einer Art Siebziger-Jahre-Museum, dessen Kompilator sympathisch und gelassen mißlaunig in eine vermutete Nebelkugel vor seinen Augen starrte, wenn das Gespräch auf die sich anbahnende totalisierte Monsterveranstaltung kam; und gegenüber an der Wand (war das da wirklich, oder imaginiere ich es jetzt hin?) das Schwarzweißbild von Jürgen Grabowski, das über den deutschen Fußball wenig und alles sagt: Er ist eine ernste Sache und findet bei Regen statt.

Das Tagebuch der Fußballweltmeisterschaft 2006 entstand im Auftrag des Münchner Literaturhauses und wurde als Gemeinschaftsprojekt mit anderen Autoren fortlaufend auf dessen Webseite veröffentlicht. Meine Beiträge werden im Spätsommer 2016 bearbeitet in einem Buch mit anderen Erzählungen erscheinen.   

Mittwoch, 8. Juni 2016

Belästigungen 11/2016: Wie man mit einem Blatt Papier das Universum der düsteren Einsamkeit zum Platzen bringt

Daß das bestimmende Gefühl des modernen Lebens die Einsamkeit ist, wirkt auf den ersten Blick etwas paradox, schließlich gab es nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ein solches Gerödel von angeblicher Kommunikation, von sogenannten Kontakten, trällernden Events und öffentlichem Rumsbums. Aber dann kommen zum Beispiel ein paar Eisheilige daher und schleudern einen in den Winter zurück, und man sitzt an schwarzgrauen Fenstern und starrt hinaus in eine Düsternis, die sich ins Unendliche zu dehnen scheint. Und man ist: einsam.
Daß der moderne Mensch so impertinent einsam sich zumindest fühlt, mag auch daran liegen, daß er kein samtiges, schützendes Himmelszelt mehr über sich weiß, unter dem sich die Welt und er als Mittelpunkt eines beschaulichen Weltenraums gemütlich dahindreht. Vielmehr ist das Universum ein unfaßbar gewaltiges geworden, gefühlt unendlich und mindestens grenzenlos. Der nächste Nachbar ist nicht mehr ein gütiger älterer Herr mit Rauschebart, der mit treusorgendem Auge über die Fährnisse des Erdballs wacht, sondern ein höchstens denkbarer Alien, der irgendwo in der Andromedagalaxis herumschwirrt und, wenn er sein Fernglas auf die Erde richtet, dort eine zweieinhalb Millionen Jahre alte, menschenleere Ursuppenidylle erblickt, die er unter „Kurioses“ ablegt.
Aber der moderne Mensch braucht den Blick gar nicht zum Himmel zu richten. Auch seine ganz irdische Existenz ist durch und durch erfüllt von Einsamkeit. Das fängt in der Tagesstätte an, wo man ihn abliefert, weil Mama und Papa arbeiten müssen, um weiterhin existieren zu dürfen. Das geht in der Schule weiter, wo man ihn von Schulstunde null an darauf drillt, sich von fiesen Rivalen umringt zu sehen, die ihm den Job, den er später mal braucht, um weiter existieren zu dürfen, wegnehmen wollen. Dann muß er, weil er sonst nicht arbeiten darf, auch noch auf eine Hochschule, wo er wiederum gegen sämtliche Konkurrenten um den besten Feinschliff zum Humankapitalmenschenmaterial ringt. Und schließlich darf er dann endlich arbeiten (was er im günstigsten Fall inzwischen tatsächlich als „dürfen“ empfindet) und stellt fest, daß es auch dort nur so wimmelt von „Wettbewerbern“, die notfalls im selben Zimmer sitzen.
Zu Hause und in der Welt, die ihm sowieso nur per Fernseh und Fernreise als leichtverdauliches Fertiggericht mit bitterem Nachgeschmack vorgesetzt wird, ist's nicht anders: Da wird er bombardiert mit Fiktionsgeschichten über Einzelkämpfer mit Schußwaffe beziehungsweise Singmikrophon,, mit Nachrichten über Explosionen, Krisen, Krieg und Terror in einer globalen Wüste von Elend und Einsamkeit. Wo ausnahmsweise niemand kämpft, geht die Welt kollateral zugrunde, wirbeln Müllstrudel in radioaktiven Ozeanen, verfällt und verfault all das, was als virtuelle Simulation auf dem Freizeitbildschirm flimmert. Deprimiert stellt der moderne Mensch fest, daß dagegen nichts zu machen ist: Gewerkschaften und Parteien, die einst mit solidarischem Auftrumpfen sein Arbeitselend zu lindern versuchten, gibt es nicht mehr, und für jeden Joghurtdeckel, den er zur Rettung einer längst vergangenen Natur in den Container trennt, haut jemand eine Autobahn, einen Blechbetonklotz oder eine Giftfabrik ins kaputte Grün oder knallt eine Reklamegala in den TV-Kanal, bei deren Gesamtaufwand es wurst ist, ob die prekarisierten Putzleute hinterher hunderttausend oder eine Million leere Plastikbehälter zusammenkehren. So sucht er warme Heimeligkeit am Ofen einer gemeinsamen Überzeugung, hegt brav und eifrig vorgestanzte „Meinungen“ über Putin, arbeitsscheues Gesindel und den Islam und wählt von allen Parteien, die seine Ausbeutung und Entwürdigung vorantreiben, ausgerechnet die, die dabei am vehementesten vorgehen, weil sie ihm als Entschädigung immerhin einen heimelig-warmen Platz an der Sonne der völkischen Nation versprechen.
Weil er den einsamen Parcours durch das Mahlwerk von Konkurrenz und Fitwerdungszwang irgendwann nicht mehr aushält, braucht der moderne Mensch eine Begleitung für eine genormte Zweiermodellkiste in einem genormten Wohnbehältnis, die er sich am besten per Internetlogarithmus zuteilen läßt und die auf jeden Fall mit seinen Existenzumständen und -bedingungen wechselseitig kompatibel sein muß. Mit der fährt er in ein genormtes Fernreiseresort, kauft ein Auto, zeugt ein Kind, stellt fest, daß er davon insgesamt noch einsamer geworden ist, trennt sich folglich einvernehmlich und probiert das gleiche mit einer neuen Existenzabschnittsbegleitung, auf die die nächste folgt, und so weiter, bis er endlich nicht mehr mithalten kann mit dem fitteren Nachwuchs, an Maschinen angeschlossen wird und den dringenden Drang verspürt, die allumfassende Produktions- und Verwertungsmaschine von dem unnützen Anhängsel, als das er sich betrachten muß, zu befreien, um dem weiteren Aufschwung nicht im Weg zu stehen. Auch dieser letzte Akt ist ein einsames Geschäft, notfalls schalten sich die Geräte von selbst ab, und was übrig bleibt, sind ein paar warenmäßig handelbare Innereien.
Auf solch trübe Gedanken gerät man, wenn die Eisheiligen mal wieder besonders vehement auftrumpfen, sich von der Viererbande zur veritablen Big Band verstärken und schon das mittägliche Aufstehen aus dem Bettlager zur niederschmetternden Kraftanstrengung machen. Wenn man nicht mal anständig frustfressen kann, weil die Küche wegen eines unerwartet eingetretenen Feiertags nur noch eine Zitrone bereithält, die vor Überdruß verschimmelt ist.
Aber dann kitzelt ein verirrter Sonnenstrahl das Hirn, und plötzlich blitzt da etwas auf: Man muß das alles ja nicht, man kann es ja lassen, einiges davon sogar verhindern, vor allem die Einsamkeit und dann alles weitere. Und hin und wieder genügt dafür ein Lächeln, ein Lachen, ein Achselzucken, eine Umarmung, ein Traum und die Erkenntnis, daß es das meiste von dem bedrohlich dräuenden Zwangselend in Wirklichkeit gar nicht gibt.
Und wenn dann von droben über dem Himmel die dunkle, düstere Fastunendlichkeit dahergrollt und einem die Faxen auszutreiben trachtet, dann hilft dagegen eine ganz simple Rechenaufgabe: Man braucht bloß ein Blatt Papier ungefähr hundertmal falten, schon ist es dicker als das gesamte Universum. Wie, das geht gar nicht? Das hätte ein mittelalterlicher Schulmeister über Facebook, McDonald's, die Mondlandung und die Atombombe auch gesagt!
Vielleicht probieren wir's einfach mal. Zumindest geht es: in Gedanken, da geht alles. Ätsch.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 2. Juni 2016

Belästigungen 10/2016: Mit dem Segway (ohne Ziege) in den Abgrund der Satire

Niemand wird derzeit so ausgiebig und impertinent gebetsmühlenhaft zitiert wie Kurt Tucholsky oder vielmehr sein steinalter, in eine protztrumpfende rhetorische Frage gepackter Poesiealbumspruch von der Satire, die angeblich „alles“ darf. Das haben wir schon in der Schule gelernt, umgehend ausprobiert und mittels verschärfter Verweise und ähnlicher Drangsalierungen feststellen müssen, daß man lieber nicht alles, was man in der Schule lernt, in die Tat umsetzt, zumindest nicht wenn es um den Direktor oder die Deutschlehrerin geht.
Nun wissen wir alle, daß der alte Tucho nicht der Hellste und mit eher rudimentärem Witz (im Sinne von Scharfsinn) begabt war. Weil selbstverständlich die Satire ebensowenig „alles“ darf wie, sagen wir mal, die Landwirtschaft (um ein unverfängliches Beispiel zu wählen; wie wir ebenfalls alle wissen und täglich leidvoll erfahren, behaupten Regierungen und Leitmedien in diesem Lande seit einigen Jahrzehnten, „die Wirtschaft“ dürfe sehr wohl „alles“ und müsse das auch – aber darum soll es heute mal nicht gehen). Wenn zum Beispiel jemand herginge und dem bayerischen Ministerpräsidenten ein Küchenmesser in den Bauch rammte, um hinterher zu behaupten, es handle sich um Satire, wären wir uns sicherlich einig: Das darf der nicht!
Das Beispiel ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick wirkt. Um das zu erklären, sollten wir uns erst einmal klarmachen, was Satire eigentlich ist. Früher war das leicht: Da setzte man einer beliebigen öffentlichen Person eine lange Nase auf und ließ sie komisch durch die Gegend hampeln, oder man übertrieb die Blödheit gewisser kultureller, politischer oder sonstwelcher Erscheinungen so sehr, daß selbst ihre ärgsten Verfechter um ein verschämtes Grinsen nicht herumkamen, – schon hatte man eine Satire, die sich notfalls darin erschöpfte, Kinofilmtitel zu verblödeln oder Depperlversionen von aktuellen Pophits zu veröffentlichen.
Heute ist das nicht mehr so leicht. Übertreiben kann man kaum noch was, wie ein Blick auf die Mächtigen der Gegenwart zeigt: Kein Wunder, daß Urban Priol zwei Tage lang unter mentalem Muskelkater leidet, wenn er sich mal wieder verzweifelt müht, die Kanzlerin noch lächerlicher darzustellen, als sie selber ist, und selbst der geniale Helmut Schleich wirkt als Franz Josef Strauß bisweilen vernünftiger und irdischer als das Original, obwohl das noch Zeiten entstammt, in denen jemand wie Sigmar Gabriel sogar in der SPD höchstens eine Anstellung als funktionsuntauglicher, weil nur zu Übungszwecken dienender Hydrant gefunden hätte. Wer auch nur versucht, die Spitzenfiguren der Neo-FDP (die das „P“ durch ein „A“ ersetzt und die Buchstaben ein bisserl verwürfelt hat) oder gar den amtierenden Bundespräsidenten (oder seine beiden Vorgänger) satirisch zu überhöhen, gerät in die Gefahr der Selbstkompostierung.
So kam es zu dem merkwürdigen Phänomen, daß Satire heutzutage nur noch dann zum Lachen ist (vor Entsetzen), wenn sie ganz nüchtern von Tatsachen berichtet, recherchiert und belegt, prüft und folgert, wie das früher mal Journalisten taten. Die dürfen das heute nicht mehr – wir leben nun mal in Zeiten, in denen selbst ARTE-Dokumentationen kurzfristig abgesetzt werden, wenn der anfangs (wie heute üblich) durchaus und durch und durch voreingenommene Journalist im Lauf der Arbeit an seiner Geschichte feststellt, daß die von den transatlantischen Kriegstreibern ubiquitär über ihre Propagandablättchen SZ, Zeit, FAZ, Welt und BILD und die Fernseheinheitsfront verbreitete Version nicht ganz oder vielmehr überhaupt nicht stimmt. Was, der Putin ist gar nicht schuld?! Dann wird das auf keinen Fall gesendet!
Deshalb hat diese Funktion heute die Satire übernommen: Was früher in der Zeitung stand, erfährt man heute nur noch aus der „Anstalt“ (und der gute Herbert Feuerstein alies Alfred E. Neumann sähe sich heute mit Fragen konfrontiert, die ihn in tiefsten Depressionen versinken ließen). Was wiederum auch an dem Glücksfall liegen mag, daß nicht wenige der derzeit beliebtesten Satiriker im Grunde nichts anderes sind als ausgebildete Journalisten, die es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, im Chor der eingeschworenen Trottel mitzublöken. Und weil es heutzutage auch nicht mehr en vogue ist, gegen die schlimmsten Ausschreitungen und Verbrechen der wirtschaftsfaschistischen Allmacht wenigstens mal wirksam zu protestieren, von der althergebrachten Tradition des Tyrannenmords ganz zu schweigen, ist absehbar, daß irgendwann auch diese unpopuläre Aufgabe die Satiriker übernehmen müssen.
Andererseits darf die Satire selbstverständlich auch nicht verleumden. Es wäre keine Satire gewesen, mitten in den (von keiner Satire zu überbietenden) FDP-Wahlkampf 2002 („Projekt 18“!) mit der Mitteilung hineinzuplatzen, Guido Westerwelle sei schwul – schon weil daran weder etwas auszusetzen noch „lustig“ ist. Und es ist keine Satire, zu behaupten, der als Volksverhetzer vorbestrafte türkische Staatspräsident Erdogan orientiere sich sexuell eher Richtung Ziegenstall, weil das – solange es nicht zu strafrechtlich relevanten Vorgängen kommt – ebenfalls niemanden etwas angeht.
Hingegen ist es sehr wohl Satire und erlaubt, im Rahmen eines parodistischen germanistisch-juristischen Seminars darauf hinzuweisen, welche ausländischen Staatsführer man unter den derzeit herrschenden Sprachregelungen und Konventionen wie sehr schmähen darf – um damit aufzuzeigen, wem unsere Regierenden in den Arsch hineinkriechen, damit er ihnen weiterhin syrische Flüchtlinge von der EU-Grenze wegschießt, und wem sie nicht in den Arsch hineinkriechen, weil „den Menschen“ ins Hirn gehämmert werden muß, daß es sich bei ihm um den dringend zu beseitigenden Absolutbösewicht, Neu-Hitler und natürlichen Kriegsgegner handelt. Lustig ist das indes nicht, eher traurig, daß es sein muß.
Und worüber lachen wir dann? Trösten wir uns damit, daß die besten (und makabersten) Satiren immer noch die Welt und das Leben selbst schreiben. Zum Beispiel wollte der Rechtsanwalt Garry Hoy einst einer Gruppe von Studenten beweisen, daß die Verglasung im 223 Meter hohen Toronto-Dominion Centre absolut unzerbrechlich ist, und warf sich zu diesem Zweck mit solcher Vehemenz gegen ein Fenster, daß der Rahmen aus seiner Verankerung brach und Hoy samt der intakten Scheibe in den Tod stürzte. Selbigen fand der Inhaber der Firma Segway, Jimi Heselden, indem er mit einem seiner oberlächerlichen Zweiradgefährte über eine Klippe direktemang in einen Abgrund düste.
So spielt das Leben. Es mag wünschenswert erscheinen, die derzeitigen Weltherrschaftsanstreber und ihre willigen Propagandisten möchten in den Abgrund ihrer eigenen Perfidie stürzen. Aber was ist schon ein Wunsch gegen eine gute Satire?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.