Freitag, 24. Oktober 2014

Frisch gepreßt #319: Ed Sheeran "X"


Dem Autor dieser Zeilen ist eine gewisse Monomanie zu eigen, die gelegentliches Einschreiten erforderlich macht. Zum Beispiel wenn ein neues Album von einer seiner bevorzugten Brachial-Radau-Romantik-Proleten-Combos erscheint (in diesem Falle: die zweifellos großartige, aber nicht jedermann und Mami und Papi zumutbare Band Howler): dann bringt er es fertig, Wochen und Monate, ja einen ganzen Sommer lang nichts anderes mehr zu hören und aufzulegen, und zwar in einer derart dringlichen Vehemenz und missionarischen Lautstärke, dass irgendwann die Nachbarn das Überfallkommando alarmieren und er selbst mit flatternden Augenlidern und zerfransten Ohren nicht mehr weiß, wer und wo er ist und warum.
Dann kühlt er sich ein bisschen runter, und schon geht’s wieder weiter. Und dann muß man einschreiten, weil solcherart Kulturgenuss der ledernsten Seele und ihrem sozialen Umfeld nicht zuträglich ist. Man könnte ihm erklären, dass es auch noch andere Musik gibt, zum Beispiel einen britischen Singer/Songwriter, der mit vierzehn sein erstes Album aufnahm und jetzt, mit dreiundzwanzig und seinem neuen Album dreiundzwanzig Millionen Herzen von Vierzehnjährigen brechen wird. Man könnte hinzufügen, dass der Bursche in der Castingshow „The Voice Of Germany“ aufgetreten ist, daraufhin einen Top-ten-Hit hatte, bei der Schlussfeier der Olympischen Spiele 2012 mit Leuten von Pink Floyd und Genesis „Wish You Were Here“ gespielt hat, Stevie Wonder sehr mag und ein Lied über ein Legohaus und ein anderes für einen Hobbit-Film geschrieben hat. Dann wird der Autor dieser Zeilen ein Gesicht machen wie ein Garagentor bei einem Hagelsturm und ein Mantra anstimmen, um das Erscheinen der neuen Platten von Morrissey und den Manic Street Preachers zu beschleunigen.
Man könnte ihm aber auch erzählen, dass der junge Mann gar nicht so blöd ist, schon als Kind Van Morrison und alte Stax-Platten (und zwar die richtigen) geliebt hat, zwar noch im schlimmsten Liebeskummer enorm freundlich klingt, aber gelegentlich zwei Satteltaschen voller Soul an seine Stimmbänder schnallt, dass er vorzüglich, wenn auch nicht so dreckig wie einst Jamie T., zur Akustikgitarre rappen kann, von Sex, Suff und Drogen singt, ohne dass Mami und Papi das überhaupt mitkriegen, dass er ab und an regelrecht zornig werden kann, erstaunlich witzige Texte schreibt und seine Stevie-Wonder-Obsession dankenswerterweise weitgehend auf die Phase beschränkt, als der noch gut und fast cool war.
Dann klappt der Autor dieser Zeilen (er ist ja ein höflicher Mensch) das Garagentor vielleicht wieder zu und erklärt sich bereit, mal reinzuhören in den vermeintlichen Mainstream-Weichspülkram, um sich (er ist ja ein kritischer Geist) in knappen Worten zu äußern, die die Zielgruppe an der Supermarkt- und Tankstellenkasse sowieso nicht kratzen. Geben wir ihm ein paar Minuten (zwinker).
Es könnte nämlich durchaus sein, dass er hängenbleibt, nach dem schmusig-nüchtern-melancholischen „One“ hineinrutscht in „I’m A Mess“ und das unergründlich interessant und spannend findet, wie sich da und hernach zusehends die Grenzen auflösen zwischen richtig coolen Rap-Couplets, sommerlich dahinschwebenden Rhythmen, Teenie-WG-Problematiken und Sehnsuchtssingen, zwischen Autoradio, Club und Eisdiele, zwischen merkwürdig angenehmem Kommerzgesums, entwaffnend kitschfreien Lebensweisheiten zu ewig brennenden Themen wie Weinen („Even My Dad Does Sometimes“), Liebeskummer, sehnsüchtigen Erinnerungen sowie Urlaub am Mittelmeer und Seitensprüngen auf abseitige Felder, auf die sich die Backstreet Boys bei aller Reife in zehn Jahren noch nicht wagen werden.
Dann wird er sich vielleicht ein bisschen schämen, und sicherlich fällt ihm dies und das Abfällige ein, mehr generell und allgemein kulturkritisch, aber das haben wir ja geahnt, und warten wir’s erst mal ab. Ich glaube nämlich, er lächelt schon ganz freundlich, der Autor dieser Zeilen …

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Dienstag, 21. Oktober 2014

Frisch gepreßt 318: Chrissie Hynde "Stockholm"


Popmusikmänner haben, falls sie nicht früh genug sterben, um zu „Ikonen“ zu werden, zwei Möglichkeiten, ihr späteres Berufsleben zuzubringen: Entweder sie erreichen rechtzeitig den „Olymp“ und können sich die folgenden Jahrzehnte darauf beschränken, ab und zu mal ein Konzert anzukündigen und abzuspulen oder (vgl. Prince) bei Unlust auch nicht; die zahlenden Massen interessiert das ebenso wenig wie die Schreiber, die bei jedem solchen „Lebenszeichen“ die alte Bullshitkiste unter dem Tisch hervorziehen und die Ikonizität der Ikone ikonisieren. Oder, falls sie zu Zeiten ihrer Blüte nicht über die zweite Liga hinausgekommen sind: Sie touren unablässig, machen ab und zu sogar neue Platten und lassen sich dafür nichts anderes mehr ins Stammbuch schreiben als daß sie „noch nicht zum alten Eisen zählen“ und „kein bißchen weise“ seien, das aber ständig und in jeder kleinen Ankündigung (größere, gar eine echte Berichterstattung gibt es sowieso nicht mehr).
Bei Frauen ist das etwas anders, zumindest in modernen Zeiten, wo alternde Diven nur Diven bleiben dürfen, wenn sie nicht altern, sondern sich in Madonnamanier langsam, aber sicher in eine Art Muskelzwieback verwandeln, von dem man nicht sagen könnte, ob sein Haltbarkeitsdatum seit fünf oder vierzig Jahren abgelaufen ist. Ein normaler Mensch darf eine Popmusikfrau nicht sein, schon gar nicht wenn sie irgendwann mal eine Ikone war.
Eine solche war Chrissie Hynde ohne Zweifel, und – wir wollen nichts beschönigen – daran hat sie sauber hart gearbeitet: erst als eigentlich schon etwas betagte (also: volljährige) Mittelfeldspielerin der Londoner Punkszene, wohin sie 1973 aus Cleveland emigriert war und wo sie in Malcolm McLarens „Sex“-Laden aushalf, Johnny Rotten und Sid Vicious heiraten wollte und bei der chaotischen Sammelbewegung namens London SS mitwirkte, aus der The Damned, The Clash und Johnny Moped hervorgingen. Als daraus für sie so recht nichts werden mochte und die Punk-Titanic 1977 am Eisberg Kommerz kenterte, wechselte sie aufs Oberdeck, schnappte sich mit Ray Davies (The Kinks) einen echten Rockstar, mit dem sie fortan Bett und Proberaum teilte, aus ein paar Halbwelthalunken mit Profierfahrung ihre eigene Band zusammenstellte – und plötzlich schallte die coolste Frauenstimme aller Zeiten diesseits von Patti Smith und Debbie Harry aus allen Radios der Welt: Die ersten drei Singles – „Stop Your Sobbing“ (eine Kinks-Nummer), „Brass In Pocket“ und „Talk Of The Town“ wurden Hits (und Teil jenes Millepromilles aller Popaufnahmen, die tatsächlich zeitlos blieben).
Das war ein Seiltanz, der nicht lange gut ging: Die Hälfte der Band haute sich mit Drogen kaputt und starb, es folgten Hits und Flops, dauernde Umbesetzungen, läßliche bis peinliche Duette und dies und das, und ein großer Teil der Welt hätte Chrissie Hynde in den 80ern, 90ern, Nuller- und Zehnerjahren bereitwillig vergessen, wenn sie nicht immer mal wieder irgendwo plötzlich aufgetaucht wäre (und sei es nur auf einer Vegetarierdemo) und vor allem eines geschafft hätte, was ansonsten nur unverwüstliche Brathendl wie Ronnie Wood hinkriegen: Sie alterte in Würde und ewigjugendlicher Frische zugleich und sah einfach immer gleich aus, bis heute. 2013 wählte sie der Guardian unter die 50 bestgekleideten Frauen über 50 (sie trägt meist Jeans und T-Shirt).
Daß sie die ganze Zeit über (35 Jahre, fucking hell!) immer zumindest angeblich nicht mehr als Teil einer Rockband war, trug dazu bei: Es ist dieses Gang-Ding, das den Rock ’n’ Roll so faszinierend macht (eine Weisheit, die z. B. Mick Jagger in den 80ern fahrlässig über Bord warf); die verschworene Bande von Outlaws ohne Allüren, in die sich jeder Mensch Ende 30 (oder spätestens beim ersten Klassentreffen) zurücksehnt. Und jetzt also „startet“ Chrissie Hynde mit fast 63 eine „Solokarriere“, und was soll man davon halten?
Viel, sehr viel sogar: Die Platte klingt mehr nach den echten, alten Pretenders von 1979, nach ihrer Frische, Unbekümmertheit, ihrem seiltänzerischen Groove, ihrer Coolness als fast alles, was seither unter diesem Namen erschienen ist. Und damit ist sie – auch sie – zeitlos: Wer „Dark Sunglasses“ hören kann, ohne es die nächsten zwei Stunden vor sich hinzupfeifen, dem fehlt was. Und wären „House Of Cards“, „Sweet Nuthin’“, „Adding The Blue“, „You Or No One“ damals erschienen, wären sie die nächsten Hit gewesen und durch alle Sommerstraßen aller Städte der westlichen Welt geschallt.
„Ich war nie Solokünstlerin und wollte nie Solokünstlerin sein. Ich spiele gerne in einer Band. Aber was ist schon ein Name? Interessanterweise gibt es auf diesem Album mehr Zusammenarbeit als auf den letzten Pretenders-Sachen – viel mehr“, sagt Frau Hynde.
Vielleicht wär’s Zeit, mal wieder eine Band zu gründen, nach 35 Jahren?


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Belästigungen 19/2014: Hände hoch! Jacken weg! Hier kommt die „Shariah Police“-Police!

Ich hege keine spezielle Sympathie für Menschen, die irgendeine Religion zum Prinzip ihrer Lebensgestaltung machen, weil dabei im besten Falle eine zwanghafte Selbstkasteiung samt neurotischem Triebstau und missionarischen Bekehrungspredigten sowie im schlimmsten Fall ein Kreuzzug mit Millionen Toten herauskommt. Abgesehen davon kann man mir erzählen, was man will – ich glaube den Schmarrn einfach nicht, und wenn ihn jemand anderer gerne glauben mag, dann soll er das in seinem Privatbereich nach Herzenslust tun, aber nicht von mir verlangen, daß ich irgendwas davon mehr als respektiere.
Andererseits haben diese Leute manchmal schon recht lustige Ideen. Zum Beispiel die „fünf Männekes“ (Selbstbeschreibung), die neulich in orangeroten Jäckchen mit der Aufschrift „Shariah Police“ durch Wuppertal spazierten und vor Diskotheken und Spielhallen Jugendliche, die ihnen dem optischen Eindruck nach „muslimisch“ erschienen (ein hübsches Thema für eine Rassismusdiskussion, aber dieses Faß bleibt heute mal geschlossen), dazu ermahnten, sich gefälligst eine gottgefällige Lebensweise zuzulegen, anstatt sich Trunk-, Spiel- und sonstigen westlich-degenerierten Süchten hinzugeben.
Da sollte man eigentlich tosenden Applaus erwarten, insbesondere aus dem Lager der sogenannt christlichen Moralapostel, die ansonsten kaum je müde werden, derlei Ausschweifungen als Grund und Wurzel allen Übels anzuprangern. Aber nein, in diesem Fall handelte es sich nun mal um „Salafisten“, also Angehörige einer Art islamischer CSU, deren Bestreben wahlweise Weltherrschaft oder Weltuntergang sein soll und deren Wuppertaler Wortführer früher mal Feuerwehrmann war, bis sein gottgefällig wuchernder Kinnbart nicht mehr in eine Atemmaske hineinpaßte.
Und deshalb sind Deutschlands Ordnungsfanatiker von dem harmlosen Jux der „Shariah Police“ nicht etwa milde amüsiert angetan, sondern stürzten sich umgehend in einen medialen Amoklauf. „Vergleichbare Vorfälle hat es bisher nicht gegeben“, tönte ein Polizist, der offenbar noch nie von den diversen „Bürgerwehren“, Nazibanden und Privatarmeen gehört hat, die nachts im fernen deutschen Osten gerne mal um einiges gründlicher aufräumen und es nicht immer beim bloßen „Klatschen“ fremdartig scheinender Nichtarier belassen.
Die echten Polizisten, die die „Shariah Police“ bei ihrem schändlichen Tun ertappten, erstatteten Anzeige wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz (welches das kollektive Tragen „uniformähnlicher Kleidung“ untersagt, was für Oktoberfestbesucher auch eine recht interessante Information sein könnte). Der Bundesjustizminister tobte, es handle sich um einen „Anschlag auf unser freies Lebensmodell“, und „eine illegale Paralleljustiz werden wir nicht dulden“, was in mir den vagen Wunsch weckte, dieses „freie Lebensmodell“ mal ein bißchen eingehender zu diskutieren und dabei vielleicht auch zu erfahren, welche Urteile die „Paralleljustiz“ der fünf Männekes gefällt hat.
Volker Kauder wiederum forderte umgehend ein Verbot der „vermeintlichen Tugendwächter“ (sagte allerdings nicht dazu, wie das gehen soll). Und der Innenminister war ebenfalls früh genug wach, um in die „Bildzeitung“ hineinzuröhren: „Niemand darf sich anmaßen, den guten Namen der deutschen Polizei zu mißbrauchen!“ Daß die deutsche Polizei neuerdings den guten Namen „Police“ trägt, war mir bislang nicht bekannt. Aber immerhin verstehen wir nun möglicherweise, weshalb die „Paralleljustiz“ der Nazimörder Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe so lange unbehelligt „Lebensmodelle“ vernichten durfte: weil sie schlau genug waren, sich nicht „Nationalsozialistische Untergrund-Police“ zu nennen.
Und dann kam noch der NRW-Innenminister daher, ließ die orangeroten Westen „sicherstellen“, um die ungeheure Bedrohung zu bannen, die von derlei Textilien ausgeht, und dazu verlauten, es sei „eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, wenn sich jemand Polizeihoheiten anmaßt“. Wachdienste wie die notorischen „Schwarzen Sheriffs“ oder der „Ordnungsdienst“ in Fußballstadien, den der Herr Minister so gerne lobt, dürften so etwas nicht unbedingt mit Freuden hören.
Es ist aber auch ein simples Mißverständnis: Es ist nicht und war noch nie Aufgabe (und schon gar nicht „Hoheit“) der Polizei, Menschen auf den rechten Weg zu führen und irgendwelche sündigen Umtriebe zu verhindern. Sie ist noch nicht mal dazu da, (zum Beispiel) einem Betrunkenen davon abzuhalten, mit dem Radl heimzufahren. Sondern sie muß den Betrunkenen dabei erwischen, in eine Klinik verschaffen, ihm Blut abzapfen lassen und damit den Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung beweisen. Ginge es um „Sicherheit und Ordnung“, wäre es der Polizei nicht nur erlaubt, sondern sie wäre sogar verpflichtet, den offensichtlich sich selbst und andere gefährdenden Betrunkenen danach wieder heimzufahren.
Das darf sie aber nicht. Weil das Zeit kostet, in der sich neue Ordnungswidrigkeiten ahnden und Einnahmen generieren lassen, mit denen der Staat Schulen, Museen und Straßen bauen lassen und Polizisten bezahlen kann, ohne dafür die Millionäre zur Steuerkasse bitten zu müssen. Und deshalb ist die salafistische „Shariah Police“ tatsächlich eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“, und zwar eine größere als Nazibanden und Bürgerwehren: weil ihr Wirken eventuell das Aufkommen an Geldstrafen verringern könnte. Weil, anders gesagt, sich strafbar macht, wer Ordnungswidrigkeiten verhindert.
Ja, die Welt ist manchmal wirr. Daß erst ein paar salafistische Männekes daherkommen müssen, um ein paar simple Zusammenhänge zu verdeutlichen, ist Teil dieser Wirrnis. Und drum manchmal schon ganz hilfreich.


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Montag, 13. Oktober 2014

Belästigungen 18/2014: Vom Hitler, von Putin, von Hysterie und Raserei und einem möglichen Mittel dagegen

Daß der Hitler nicht der Hellste war, zeigen unter anderem seine Begründungen für die deutschen Überfälle auf andere Länder: Hätte er beispielsweise darauf hingewiesen, daß Polen 1939 von einem homophoben Despoten regiert wurde, der separatistische Rebellen in einem Nachbarland (der Tschechei) unterstützte und einen Teil davon sogar völkerrechtswidrig annektiert hatte, während er selbst fürsorglich bemüht war, dieses Nachbarland enger an den Westen zu binden, und es in der Führung seiner Partei und anderer Organisationen von Schwulen nur so wimmelte, – wer weiß, wer weiß. Statt dessen faselte der deutsche Führer wirres Zeug von „Arrondierung“ und „Ernährung“ und ließ SS-Leute in Maskerade einen deutschen Radiosender überfallen, um in holprigem Polnisch angebliche Kriegserklärungen zu brabbeln.
So geht das, wenn man nicht medienkompetent ist. Allerdings standen dem Hitler mit seinen paar notdürftig gleichgeschalteten Plärrpostillen ja gar nicht die Kompetenzmedien zur Verfügung, die man heute kennt, schon gar nicht in dieser Breite und inhaltlichen Tiefe: Die pseudo-neocon-verdoofte „Welt“ („Harte Haltung gegen Putin“) will notfalls „den Bündnisfall ausrufen“, der Boulevard schäumt („Putin: Schlimmer Wehrmacht-Vergleich“, „Putin: Sein Teufels-Plan“, „Wer hält Putin auf?“), die früher mal angeblich liberale „Süddeutsche“ („Jetzt oder nie“) greint: „Putins Ton wird immer schärfer“, der „Spiegel“ („Ende der Feigheit“) brüllt: „Stoppt Putin jetzt!“ (wohl in der Hoffnung auf einen ähnlichen Effekt, wie ihn einst die „National-Zeitung“ mit der wortgleichen Hetze gegen Rudi Dutschke erreichte), die „Zeit“ („Härte zeigen! Militärische Präsenz in Osteuropa deutlich erhöhen!“) salbadert in typischer Diktion: „Wie weit lassen wir Putin zu weit gehen?“, der „Tagesspiegel“ rät zum Kampf („Genug gesprochen!“), die FAZ will „Stärke zeigen“, und im grün-mittelständischen Witzblatt „taz“ schwelgen die Kommentatoren seit Wochen in Kriegs- und Schlachtenmasturbationen, ganz zu schweigen vom Fernsehen, wo zum Beispiel das ZDF seine Anti-Putin-Propaganda unverdrossen mit falschen Bildern untermauert, um einen russischen Einmarsch in der Ukraine zu beweisen.
Zwar flog dieser Schwindel noch schneller auf als dem Hitler sein Sender-Gleiwitz-Schabernack, aber kümmert das im nachhinein, wenn die Botschaft erst mal in den Köpfen ist, noch jemanden? Fragt heute noch jemand nach dem „Tonkin-Zwischenfall“, jenem gleichwertigen (wenn auch nicht ganz so dilettantischen) Schwindel, mit dem die USA einst ihren Krieg gegen Nordvietnam begründeten? Fragt noch jemand nach dem von den deutschen Ministern Scharping und Fischer zum Anlaß für den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen Jugoslawien zusammengelogenen „Hufeisenplan“? Interessiert sich noch wer dafür, daß es die „Massenvernichtungswaffen“ nie gab, die als Vorwand für den bereits vor dem 11. September 2001 geplanten, ebenso völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak herhalten mußten? Fragt irgend jemand noch mal nach, in wessen Auftrag am 20. Februar 2014 in Kiew Scharfschützen aus einem von der „Opposition“ besetzten Hotel auf Demonstranten und Polizisten auf dem Majdan schossen? Gibt es irgendwelche unabhängigen Informationen oder Erkenntnisse darüber, wer am 17. Juli über der Ostukraine ein malaysisches Flugzeug abgeschossen hat und warum? Wird danach in ein paar Wochen noch jemand fragen?
Ich habe nur eine ungefähre Ahnung, was sich da abspielt. Und ich mag nicht konsequent zu Ende denken, weshalb diverse Oligarchen in der Ukraine, in Polen und im Baltikum in einem vielstimmigen Panikchor von einer „massiven Invasion“ bis zu „begrenzten Nuklearschlägen“ alle möglichen Teufel an die Wand schmieren, die angeblich der russische Problembär auf sie losgehetzt hat oder in baldigster Bälde loszuhetzen plant. Es will mir aber so scheinen, als wären in dem ganzen Tohuwabohu hysterischer Hochköchelei nur extrem wenige Beteiligte bemüht, einen zumindest halbkühlen Kopf zu bewahren, und die sitzen derzeit nicht unbedingt in Washington oder Berlin – und schon gar nicht in Kiew, wo ein gewählter Stadtrat mit einer „Sozial-nationalen Versammlung“ für „die Befreiung der weißen Rasse“ kämpft, die „harte Bestrafung sexueller Perversionen und aller Kontakte zwischen Rassen, die zur Auslöschung des weißen Mannes führen“ fordert und eine der beiden Regierungsparteien das Land „von der jüdischen Mafia aus Moskau“ befreien möchte.
Ich habe bei Gelegenheit schon mal darauf hingewiesen, daß der Kapitalismus kein System ist, sondern ein Prozeß, der zwangsläufig irgendwann auf ein Gerangel um das hinausläuft, was bei James Bond so schön grimmig-verstiegen „Weltherrschaft“ hieß und heutzutage mit dem seriöseren Begriff „Weltmacht“ ebenso trefflich bezeichnet wird. Wer eins und eins zusammenrechnen kann, weiß, daß dagegen weder „Sanktionen“ noch Verhandlungen noch Militärberater noch Waffenlieferungen noch das machtrauschige Gefasel präsidialer Pastoren noch Mahnwachen, Demos und geteilte Facebookseiten etwas ausrichten können.
Vielleicht fragen wir uns statt dessen mal, wieso ausgerechnet das schöne Land Bayern (dem Größenwahn des Großen Vorsitzenden Strauß sel. zum Trotz) noch nie ernsthaft auf die Idee verfallen ist, sich zur „Weltmacht“ aufzuschwingen. Könnte es sein, daß eine andere Art von Rausch, aus der man sich elfeinhalb Monate lang mühselig wieder herauskatern muß, zu dieser Zurückhaltung zumindest beigetragen hat? Wäre es vielleicht eine Idee, sämtliche derzeitigen Konfliktparteien und ihre diversen Peripherien, Einsatzzentralen und Trabanten nicht mit Waffen, sondern mit Fässern, Zelten und Blaskapellen zu beliefern?
Das Grundproblem läßt sich so nicht lösen, freilich. Aber in wie weite Ferne dieses Grundproblem rutschen kann, wenn die Birne dröhnt, der Magen surrt und die Glieder knarren, weiß jeder, der schon mal einen seriösen Wiesnbesuch hinter sich gebracht hat, und manchmal ist das Unmittelbare eben näherliegend als hehre Philosophie (und ob die Welt überhaupt zu retten ist, diskutieren wir dann ein andermal).

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Sonntag, 5. Oktober 2014

Belästigungen 17/2014: Zu spät! Zu spät! Zu spät! (eine Perlenkette vorherbstlicher Abschweifungen)

Menschen sind immer zu spät dran. Kaum stürmt Mitte August der alljährliche Vorherbst bzw. Viertelwinter, den jeder seit den ersten Sommerferien seines Leben kennt, mit gewohnt überraschender Vehemenz daher, hat der Mensch auch schon die Liste mit den ganzen Seen und Flüssen, in denen er heuer unbedingt mal baden mag, fertiggestellt. Blubb, denkt er sich, hm, wird schon wieder schöner.
Kaum hat sich der Mensch dann daran gewöhnt, daß nun wohl eher die Saison der Radltouren angebrochen ist, und sein altes Klappergestell endlich doch mal zum Richten gebracht, fängt es zu schneien an, und da fällt ihm ein, daß er seit dem ersten Frühlingsblinzeln jeden zweiten Tag gedacht hat: Heuer bin ich schlau und trage jeden zweiten Tag (also morgen) so viel herumliegendes Brennholz ins Haus, daß ich im Herbst nichts bestellen muß. Daß er aufgrund dieses tröstlichen Gedankens und der allgemein betäubenden Wirkung der diversen Sommerverrichtungen und weil er den wie immer unverrichtet gebliebenen Vorsätzen im Sturmgebläue des Nachsommers angemessen nachtrauern muß(te), das mit dem Bestellen ebenfalls vergessen hat und nun der Keller leer ist und die Holzpreise sich saisonbedingt verdreifacht haben, versteht sich irgendwann um die Weihnachtszeit herum von selbst.
So geht es ihm mit allem, dem Menschen. Der Vogel sieht, wie ein Wurm unvorsichtigerweise seinen Hintern aus dem Boden reckt, und ehe er noch denken kann: „Oho! Den werde ich mir bei nächster Gelegenheit schnappen!“, ist der Wurm schon ins Gekröse verleibt und der Zufallsblick auf die nächste vorwitzige Made gerichtet. Der Mensch hingegen schreibt sich allerhöchstens einen Alibitermin auf, den er Anfang Januar beim Übertragen der Geburtstage in den neuen Kalender wiederfindet, mit einem nostalgischen Weh im Oberbauch und dem Gedanken „Ach ja! Diesmal aber ganz bestimmt!“ bedenkt und wieder vergißt.
So geht das Leben dahin als Perlenkette verpaßter, vergessener, versiebter und verschobener „Dann“- und „Nächste Woche“-Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen, die einem pfeilgrad in den Sinn kommen, wenn man erfährt, daß sie wegziehen, heiraten oder gestorben sind. Und dieser Mechanismus ist dermaßen ins genetische Grundprofil des Homo sapiens eingeprägt, daß er sich kollektivpolitisch ebenso vehement durchsetzt. Zum Beispiel wenn der sogenannte christliche Westen wähnt, er könne die Folgen seiner Versuche, den vorderen Orient durch zügellose Massaker und Zerstörungsfeldzüge dem heiligen Schoß seiner Kirche (die den Beinamen „Wirtschaft“ trägt) einzuverleiben wie der Vogel sich den Wurm, wiedergutmachen oder aus der Welt schaffen, indem er tausend Jahre später Panzer, Raketen und Maschinengewehre dorthin exportiert.
Oder zum noch umfassenderen Beispiel indem er just in dem Augenblick, wo ihm klar wird, daß er allen Warnungen zum Trotz seine eigene Lebensumwelt dermaßen zerspreißelt und vernichtet hat, daß nichts mehr zu retten ist, „Klimakonferenzen“ veranstaltet, zu denen Blablagesandte sämtlicher Weltgegenden mit Düsenjets eingeflogen werden, und sich einen Plastikaufkleber mit der Weissagung der Cree („Erst wenn der letzte Baum …“) auf den Kofferraum bappt.
Wahrscheinlich ist das alles halb so schlimm. Wahrscheinlich sollte man sich mit der Erkenntnis abfinden, daß alles immer eh und sowieso zu spät ist, kommt und auffällt. Aber auch das ist ein menschliches Naturgesetz: Im augustischen Vorherbst verschwimmt der innere Blick, löst sich von der Gegenwart, streift ziel- und zwecklos durchs Gestrüpp des Vergessenen und Unangeknüpften. Und weil das wohl jedem so geht und jeder sich dann wehmütig an eine romantische Begegnung vor drei, fünf, vielen Jahren erinnert, als deren Fossil immer noch ein Telephonnummernzettelchen an der verstaubten Pinwand hängt oder eine Uralt-SMS im viertletzten Handy herumschwebt, – wahrscheinlich deswegen packt einen periodisch der Wahn, die Welt retten zu müssen: Weil sie sich derweil und seitdem so gründlich und total und unbemerkt verändert hat, daß man sich nicht mehr darin zu Hause fühlt.
Wo ist die Kneipe hin, wo man damals den verträumten Blick der wundersüßen Braunhaarigen eingefangen hat, die man unbedingt bei nächster Gelegenheit wieder suchen und finden wollte, um fürderhin in Liebe und Glück zu leben? Worum ging es in dem Buch, das man vor ewigen Zeiten aufgeschlagen auf Seite 142 neben das Sofa gelegt hat und beim spätsommerregenbedingten Wohnungsputz unter einem Staubteppich wiederfindet? Egal, es gibt dringendere und drängendere Menschheitsprobleme! Verbringen wir lieber den Nachmittag damit, Petitionen zu unterzeichnen und Kettenmails an Bundeskanzlerinnen zu versenden!
Ich weiß: All diesen Gedankengängen entspringt und entsprießt nichts als ein bläuliches Wölkchen der Erkenntnis, das gleich wieder zerstiebt und neuen Wichtigkeiten Platz macht, die aufgeschoben und verdrängt werden müssen. Aber genau deshalb bitte ich um Vergebung, daß ich heute all die wichtigen Dinge, von denen man mir mit der Bitte und Aufmerksamkeit und Engagement berichtet, vergessen muß, um den inneren Blick verschwimmen zu lassen und eine Telephonnummer zu wählen, von der ich gar nicht weiß, ob es sie noch gibt, und eine Uralt-SMS zu beantworten, bevor das viertletzte zum fünftletzten Handy wird und die Absenderin wegzieht, heiratet oder stirbt und ihren verträumten Blick für immer mit sich nimmt …

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