Sonntag, 24. August 2014

Belästigungen 15/2014: Randbemerkungen zum größten Skandal der Welt

Ich habe heute meinen alten Kater beerdigt. Es war ein langes, langsames Sterben, das er hinter sich bringen mußte; und während ich das schreibe, wird mir wieder einmal klar, daß Sprache für gewisse Dinge in den Randbereichen der Welt nicht geeignet ist. Denn selbstverständlich hat er nichts hinter sich gebracht, weil er nicht mehr ist und deshalb auch nichts hinter sich haben kann. Eher hat etwas ihn hinter sich gebracht, aber auch dafür müßte er noch sein. Es ist gleich.
Es mag pietätlos wirken, aber während man am Sterbebett eines alten Katers sitzt und nichts tun kann außer warten, gehen einem mancherlei Dinge durch den Kopf, und da hat man auch mal wieder Zeit, die Zeitungen durchzublättern, die man sonst achtlos in den Müll wirft, weil einem das Gebrumsel und Gebrabbel der neoliberalen Journalistendarsteller den Nerv tötet und die gute Laune zersetzt.
So erreicht mich pfeilgrad eine Meldung von Bischof Tutu, von dem man lange nichts gehört hat, weil … na ja, wer will schon was von einem Bischof hören? Bischof Tutu jedenfalls, so wird gemeldet, habe „Sterbehilfe für Sterbenskranke“ befürwortet. Und da fällt mir pfeilgrad eine frühere Bekannte ein, die mir einst erklärt hat, man müsse Menschen, die nur noch nutzlos herumliegen, „abspritzen“ und sie werde sich, wenn sie eines Tages nur noch nutzlos herumliege, auf jeden Fall „abspritzen“ lassen. Ich kann mich an mein Entsetzen erinnern, und ich weiß noch, wie lange ich zu verstehen versucht habe, wieso ich so entsetzt war.
Ich hatte mit einigen Menschen zu tun, die gestorben sind, und habe einige Gespräche geführt, in denen es um das Sterbenwollen ging. Eine hochbetagte ehemalige Nachbarin, die dreimal zum Sterben im Krankenhaus war, meinte, man könne sich gar nicht vorstellen, wie schwer das sei, das Sterben. Dann hat sie tief geseufzt, ihre Einkaufstasche genommen und ist die Treppe hinaufgerumpelt wie eh und je, und eines Tages ist sie doch noch gestorben.
Ich bin der Ansicht, daß in der ganzen Erdgeschichte noch nie ein Lebewesen und auch kein Mensch sterben wollte; denn um etwas zu wollen, muß man wissen, was es ist, und das weiß niemand. Dennoch war noch nie so viel vom Sterbenwollen die Rede wie in den letzten Jahren. Das ist wahrscheinlich eine weitere düstere Blüte an dem üblen Strauch, auf dem auch die milliardenfache industrielle Tötung von Tieren (und ihre Entsorgung in Fastfoodmülltonnen), eine abgründig entfesselte kapitalistische Apparatemedizin, ein europaweiter Handel mit aus lebendigen Menschen herausgeschlachteten „Spenderorganen“ und diverse andere Dinge blühen, die sich ein Hieronymus Bosch kaum ausdenken hätte können – aber sicherlich wollen, denn was ihn und die Betrachter seiner Bilder so fasziniert(e), ist genau dies: die Scheu und der Horror vor dem, was Menschen (nicht selten durchaus guten Willens) einander antun können, und vor der letzten Grenze, dem gewaltsamen, unwiderruflichen Hinausbefördern aus der Welt, dessen Unwiderruflichkeit Religionen, Philosophien und Epidemien von esoterischem Firlefanz geboren hat, weil es der größte Skandal der Welt überhaupt ist.
Es weiß eben niemand. Die das Ende selbst herbeiführen, umwehte in meiner Vorstellung auch stets eine changierende Aura. Was könnte lächerlicher sein als der aufrechte Nazioffizier, den man mit einer Pistole und der Empfehlung, selbst die Konsequenzen aus seinem Scheitern zu ziehen, im Büro einschließt und der den blödsinnigen Befehl dann auch noch ausführt? Und ich erinnere mich, wie der große (und unlängst gestorbene) Horst Tomayer bei der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes für Bestürzung und Empörung sorgte, indem er in seiner Grabrede stur darauf beharrte, wenn man Familie und Freunde habe, hänge man sich nicht an einen Baum; das tue man einfach nicht. Ich frage mich bis heute, ob er recht hatte und ob sich nicht darin das ganze Problem widerspiegelt: Ob es nicht, wo es um den Tod geht, immer um die Überlebenden geht? Weil die Toten ja nicht mehr sind und daher nichts mehr hinter sich, vor sich, neben sich und um sich haben?
Das gälte dann nicht nur für Abschied, Trauer, das geduldige Hinnehmen von Leid und Unausweichlichkeit und so weiter, sondern eben auch für die sogenannte Sterbehilfe, der man unterstellen könnte, sie sei darauf ausgerichtet, Unnützes schneller aus der Welt zu schaffen, nicht mehr Arbeitsfähige, die nutzlos herumliegen und die man aufwendig versorgen müßte, zu beseitigen. Das Perfideste an diesem Gedanken wäre, daß ähnlich wie beim Arbeitszwang, der heute längst kein Zwang mehr sein muß, weil ihn die meisten komplett verinnerlicht haben, die Verantwortung auf den einzelnen überginge: Das Bedürfnis, eingedenk der eigenen Nutzlosigkeit lieber sterben zu wollen, träte als ebenso dringender und „natürlicher“ Wunsch auf wie jener, sich in einer Fabrik oder einem Büro ausbeuten zu lassen, anstatt nutzlos herumzuliegen, wie es das eigentliche natürliche Bedürfnis sämtlicher vernünftigen Lebewesen ist.
Wenn sich die Euthanasie solcherart durch kapitalistischen Massendrill im individuellen Unterbewußtsein einnistet und jede dritte Plapperdiskussion um die Nazivokabel „lebenswert“ kreist (und eben deren Gegenteil: das, was nicht mehr „wert“ ist, zu leben), sollte man vielleicht mal wieder bedenken, daß das Leben kein Geschenk ist, das man zurückgeben kann, keine Episode, keine Krankheit, kein Ausflug, kein irgendwas, woneben es anderes gäbe. Sondern: das Einzige als solches.
Freilich kenne ich das Gegenargument: Man wolle Leiden verkürzen etc. Auch das überzeugt mich nicht. Niemand sollte leiden müssen. Dafür stellt die Natur (ob absichtlich oder aus Versehen) ein großes Arsenal an Betäubungs- und sonstigen Mitteln zur Verfügung, deren Gebrauch dem Menschen jedoch von Wirtschaftsmacht und Medizinindustrie verboten wird. Ein anderes Thema.
Mein Kater übrigens ist annähernd hundert Prozent seines Lebens nutzlos herumgelegen und hatte daran sichtlich Freude. Am Ende hatte er, immerhin, Geduld. Adios, mein Guter, Friede sei mit dir.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Dienstag, 12. August 2014

Belästigungen 14/2014: Com in poco de Hahno mit de Sprudeltanco! (Jipii! Jipii!)

Neulich war an dieser Stelle vom Wasser die Rede, was ein schönes Thema ist, auch für Leserbriefschreiber, die nun wettern (!), ich hätte mit meinen trotzigen Prangerungen wider die Regenlosigkeit als eine Art „Mind over Matter“-Medium psychokinetisch dafür gesorgt, daß es nun fast nur noch regnet.
Was sich die Leute vorstellen! Ich weise darauf hin, daß mein durchaus Geistesverwandter Donald Duck dereinst zwar krude verschmückt in der Prärie herumgehüpft ist und mit dem Choral „Jipii, jipii! Com in poco de locho mit de wassertanco!“ für einen regelrecht flußsprengenden Guß gesorgt hat. Indes ist einschränkend hinzuzufügen, daß dahinter eine durchaus typische Melange aus technischem Wunderklimbim und esoterischem Humbug steckte (und zwar mag es vorkommen, daß ich, wenn ich mich unbeobachtet wähne, meine Wiese mit Nackttänzen bespiele und dabei durchaus seltsame Verse skandiere, aber die meteorolgische Wirkung solchen Tuns hält sich in engen Grenzen).
Nein, Wasser aus dem Himmelshahn kommt, wie es kommt, und gerne kommt es Anfang Juli; jedenfalls verzeichnet das Tagebuch des Fünfzehnjährigen, der ich in gewissen Momenten noch bin, aus jenem Juli Einträge wie „Es regnete und regnete“ sowie „Dauerregen“. Perennial aber ist das Klagen des Menschen über zuviel beziehungsweise zuwenig Naß von oben, drum wollen wir’s dabei bewenden lassen – am liebsten wäre ihm halt, es wäre das Wetter wirklich ein Hahn, den er aufdrehen und zudrehen könnte, wie es ihm beliebt.
Am Wasser übrigens läßt sich ganz gut auch der jeweils aktuelle Stand des kapitalistischen Weltverformungsprozesses ablesen. Eine wichtige Funktion dessen ist es, auf der einen Seite „Angebote“ und Privilegien zu schaffen, indem auf der anderen Seite etwas gestrichen, gekürzt, eingeschränkt und abgeschafft wird. Zur Illustration dieser Binsenweisheit erreicht mich via einen Freund in Irland die kuriose Kunde, daß die dortige Monetengentry um Zuge der Umwandlung von Städten in Luxusquartiere mit Verwahrstationen für Menschenmaterial und Humankapital außenrum sich neuerdings einen dritten Wasserhahn ins Haus montieren lassen können, aus dem Mineralwasser hervorsprudelt (und zwar, dies steht zu vermuten, aus den Reservoirs des Nestlé-Konzerns, der zu diesem Zweck seit längerem bemüht ist, sich die Eigentumsrechte an den entsprechenden Quellen auf der ganzen Welt zu beschaffen).
Das geht freilich nicht umsonst, und bezahlen müssen wie immer die anderen. Drum hat die irische Regierung im Auftrag der „Troika“ (die dafür zu sorgen hat, daß die Spekulanten und Banken ihr während der „Krise“ verzocktes Geld zurückkriegen) das Unternehmen „Irish Water“ gegründet und es damit beauftragt, sich erst einmal für 20.000 Euro ein chices Logo schnitzen zu lassen und dann 1,2 Millionen Wasseruhren zu installieren, damit man dem niederen Volk, das sich bekanntermaßen zügellos braust, die frisch eingeführten Wassergebühren abknöpfen und damit noch mehr Mineralwasserhähne in Luxustempel hineinschrauben kann. Und weil irisches Trinkwasser sowieso recht teuer ist – die jahrhundertealten Leitungen sind nämlich dermaßen marode, daß fast die Hälfte davon im Boden versickert (und anderswo wieder austritt, vermutlich vorzüglich dort, wo Nestlè-Pumpen stehen). 500 Euro pro Haushalt kostet das (es handelt sich um Hi-Tech-Uhren, mit denen man über Funk den Hahn abdrehen kann, wenn jemand nicht blecht), und berappen tut das nicht etwa „Irish Water“, sondern der Gebührenzahler.
Indes ist der Ire, wiewohl durch Rauchverbot und diverse Antikrisen- und andere Verelendungsmaßnahmen versuchsweise gezähmt, immer noch ein notorisch ruppiger Kerl, der seine über die Jahrhunderte erkämpften Menschenrechte nicht so ohne weiteres auf den Müllhaufen der Geschichte kippen läßt. Drum stehen die Behörden nun vor dem Problem, daß allüberall im Land Bürgerinitiativen und schneidige Einzelkämpfer die Zählgeräte demolieren, ramponieren, ruinieren, abmontieren oder deren Einbau gleich von vornherein verhindern, indem sie die damit beauftragten Tagelöhnertrupps verscheuchen. Daß die UNO die Entsendung von Blauhelmen erwäge, damit das H2O-Gerangel nicht zum Bürgerkrieg ausartet, ist vorläufig nur ein Pubgerücht.
Wie man derlei Renitenz schon im Ansatz verhindert, demonstrieren mal wieder die sowieso für proletarische Solidarität nicht eben notorischen Amis, und zwar vorbildhaft in Detroit, der ehemaligen „Motor City“, die einst dutzende Millionen Autos in die Welt pumpte und nun, da niemand mehr Autos aus Detroit möchte, zum Restghetto für jene verkommen ist, die zu alt, zu krank oder zu arm sind, um der Megaruine zu entfliehen und sich anderswo ausbeuten zu lassen. Denen dreht die Verwaltung das Wasser einfach generell ab, weil sie sowieso nicht zahlen können und man das Geld, das man weniger Armen an Steuern rausleiert, für ferngesteuerte Tötungsflugmaschinen und anderen Klimbim braucht. Sollen sie (um ein Zitat einer klassischen französischen Herrschdame abzuwandeln) bei Nestlé anfragen, wenn sie Durst haben.
Übrigens stand ich neulich an der Kasse eines Supermarkts im (wie man so verräterisch sagt) „sozial schwachen“ Münchner Norden – und vor mir zehn Menschen mit jeweils einem oder zwei Sixpacks Plastikflaschenwasser. Und da frage ich mich jetzt schon mit einem leicht unguten Kribbeln im Hinterkopf, ob da nicht was im Gange ist, was damit zusammenhängen könnte, daß der dortige Grundwasserspiegel in den letzten eineinhalb Jahren um eineinhalb Meter gesunken ist … Wenn da mal nicht demnächst jemand den Gewitterhahn aufdreht und, während wir dem Biergarten entfleuchen, ätschend unter der Sprudeldusche steht – your turn, Verschwörungstheoretiker!



Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.