Dienstag, 17. Dezember 2013

Belästigungen #424: When we were young nobody died (ein Winteridyll)


Das Jahr neigt sich, und vor uns neigt sich das Land der Kante zu, an der das Wasser jetzt ruht, nachdem es einen Herbst lang leise flüsternd sich erinnert hat an die Stimmen der Menschen, die sommers hier lagerten und ihre Tage verdämmerten.
„Wie lang das her ist“, flüstert L, und sie klingt wie das Wasser.
Der Blick nähert sich dem Gras, auf dessen Spitzen sandkorngroße Kristalle von reinem Weiß das Gewese, das zu wärmeren Zeiten zwischen und auf den Halmen stattfindet, simulieren, indem sie zufällig eingefangene Sonnennadeln tanzen lassen. Unser Atem bildet abwechselnde Wolken, die aussehen wie Sprechblasen ohne Buchstaben.
„Nicht so lang“, sage ich, „paar Wochen?“
„Ewig“, sagt L.
Weil das Wasser schweigt, summen wir ein Lied: „With a start he was awoken /
From the middle of a dream /
He’s making movies in his head /
That never will be seen /
He’s holding Oscars in his hands /
And kissing beauty queens /
What might have been /
What might have been.“
Der Himmel leuchtet ultramarin, so grell und perfekt und unendlich, daß man sich wünscht, er hätte ein paar Falten oder Kratzer. Vögel stürzen sich in unwirklich weiter Ferne durch den Raum, und das Wasser schweigt.
„Ab wo wird der Himmel schwarz?“ fragt L und kneift die Augen zusammen.
„Überall“, sage ich. „Du mußt nur einen Punkt fixieren, genau einen Punkt.“ Dann, denke ich, siehst du, daß das Blau eine Illusion ist, die durch Streuung entsteht.
„Es gibt keinen Punkt“, sagt L und lacht in ihre Sprechblase hinein.
„Doch“, sage ich, und dann fixieren wir einen Punkt, der plötzlich schwarz wird, und je mehr der Blick hineinsinkt, desto größer und schwärzer wird er, während alles um ihn herum verschwindet. Endlich ist alles schwarz, und wir staunen, wie hell Schwarz sein kann.
„Astronauten, die auf die Erde herunterblicken, ändern ihre Einstellung zur Welt und zum Leben“, sagt L, die das in einem Film gesehen hat. „Sie werden bewußter, haben mehr Demut und Achtung, weil sie die großen Zusammenhänge verstehen.“
Das klingt so überzeugend, daß es falsch sein muß. Ich sage nichts, weil L das ebenso gut versteht.
„Andererseits“, sagt sie, „sähe dieses Jahr aus großer Entfernung aus wie ein kurzes, verschwommenes Huschen. Das ganze Leben, aus noch größerer Entfernung, wäre eine schnelle Folge von verschwommenem Huschen. Wie soll man Demut spüren ohne Einzelheiten?“
„Vom Weltall aus“, sage ich, „wirkt alles natürlich. Die schrecklichste Fabrik, der fürchterlichste Komplex von Atomanlagen bekommt etwas Erhabenes, Stilles, Ewiges, Ehrfurchtgebietendes. Das ist die Demut, die man in der Weltuntergangszeit braucht: Die Gewißheit, daß die Vernichtung göttlich und schön ist.“
Jemand ruft in der Ferne nach seinem Hund: „Hierher!“ Ich stelle mir vor, er könnte auch etwas anderes rufen. „Ultramarin!“ zum Beispiel. Dem Hund wäre das egal.
„Wie heißen diese komischen Blumen, die seit ein paar Jahren in allen Fenstern stehen?“ fragt L und löscht ihre halbgerauchte Zigarette an reinweißen Kristallen, die leise zischend vergehen.
„Schmetterlingsorchidee“, sage ich.
„Genau. Ich hab’ gehört, daß es davon vor ein paar Jahren nur ganz wenige gab. Inzwischen leben ungefähr zehn Milliarden von ihnen auf der Erde. In jedem Supermarkt, auf jedem Fensterbrett steht eine. Es gibt mehr Schmetterlingsorchideen als Menschen.“
„Vom Weltraum aus wird man davon nichts sehen“, sage ich.
„Vom Weltraum aus sieht man gar nichts“, sagt L, „nicht mal den See, der könnte auf einen Schlag verschwinden und durch einen Supermarkt voller Schmetterlingsorchideen ersetzt werden, kein demütiger Astronaut würde was bemerken.“
„Das ist der Fluch der Größe, Weite und Ferne“, sage ich, und L schlägt mir lachend ihren Handschuh auf den Kopf. „Du Scheißidiot“, kichert sie, „jetzt ist das Bild geplatzt. Ja, ein Astronaut sieht auch nicht, wie das Fußballspiel ausgeht. Daß Reichtum ein Verbrechen ist. Und wie du hier immer rumlümmelst und dieser Blonden nachglotzt.“
Der anbrechende Nachmittag macht ein Geräusch wie Schaum. Wir horchen an unseren Bierflaschen.
„Wir sollten nur im Winter Bier trinken, bei minus fünf Grad“, sagt L. „Das ist so geil, wenn es eiskalt im Bauch ankommt.“
„Und was machen wir im Sommer?“
„Im Sommer schießen wir uns ins Weltall und bewerfen die Erde mit Schmetterlingsorchideen und Fabriken. Vielleicht bemerken die da drunten was.“
Mittlerweile hat sich der Himmel verändert, ist jetzt von einem bleiernen Blaugrau, in dem sich alles entfernt und seine Zeit verliert. Über dem See treibt ein fast unsichtbar dünner Nebel, vielleicht von unseren Sprechblasen.
„Ich bin zu müde zum Gehen“, sagt L. „Bleiben wir einfach hier.“
„Das denkt sich das Jahr auch“, sage ich, „aber dann wäre es verloren, wie wir.“
Das Wasser schweigt. Im Frühling wird es wieder flüstern.
Wir stellen unsere leeren Flaschen auf eine Bank, von wo sie jemand mitnehmen wird, der vielleicht weiß, daß Reichtum ein Verbrechen ist, weshalb seine Demut von anderer Art ist als die des Astronauten, der ihn nicht bemerkt, während er von Gott und seiner Schöpfung quatscht.
Und dann gehen wir, unserer Wärme entgegen. Und einem neuen Jahr, das noch länger sein wird, noch unendlicher, noch ewiger.
„Bäh“, sagt eine Krähe, die uns von einem kahlen Nußbaum aus mißmutig betrachtet, vielleicht weil sie etwas ahnt, was wir nicht wissen wollen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Freitag, 13. Dezember 2013

Frisch gepreßt #303: M.I.A. "Matangi"



Es ist eine wilde, wirre Welt, in der immer alles gleichzeitig passiert und das zu neunzig Prozent unbewußte Bewußtsein einem Hagel von Signalen, Zeichen und deren gleichzeitiger Deutung und Auslegung ausgesetzt ist.
Wer sein Leben mit rebelliöser bis relevantoider Popmusik gestaltet, weil Sex, Drogen und schönes Herbstwetter ohne Popmusik keinen Sinn haben, bei dem ist dieser Hagel ein alles umfassender Tornado. Es klirrt, scheppert, dröhnt, rummst, brüllt, säuselt, zupft und wabert, und vergeblich sucht man nach Ordnungen oder Ordnungssystemen, bis man endlich kapiert, wie’s geht: Hineinfallenlassen in den Ozean der Geräusche und Zufallsbotschaften, untertauchen, schwimmen, treiben.
Man könnte mal eruieren, wie viele Aufnahmen von „wichtigen“ Künstlern der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in den letzten Wochen und Monaten neu erschienen sind. Also zum Beispiel: acht oder zwölf Pseudobootlegs von den Rolling Stones (das Hyde-Park-Konzert gleich zweimal in sogenannten „Formaten“), 63 neue BBC-Aufnahmen von den Beatles – wie lange braucht ein durchschnittlich behirntes Menschenwesen, um in diese Lawine von Mitteilungsdran einen Sinn hinein oder aus ihr herauszuhören?
So erklärt sich die Relevantoidität und der Reiz einer, nein: mehrerer Kunstrichtungen, die, anstatt zu filtern (wie das früher Radio-DJs zu tun pflegten, ehe man sie zu ferngesteuerten One-Liner-Aufsagern mit kommerziell programmierten Playlists degradierte), alles in einen Mixer (!) fließen- und es dem Zufall überlassen, was davon übrigbleibt. So gerät der Hörer des neuen Eminem-Albums neben vielen Selbstbezüglichkeiten und ungefähr je 20 Co-Produzenten und Gastauftritten im Vorbeirauschen in den Genuß von Dingen, mit denen er wahrscheinlich nie etwas zu tun haben wollte: „Life’s Been Good“ von Joe Walsh (Papa fragen!), „Time Of The Season“ von den Zombies und „Game Of Love“ von Wayne Fontana (Oma fragen!), „Ode To Billie Joe“ von Lou Donaldson (Geschichtslehrer oder Cypress Hill fragen!), „The Stroke“ von Billy Squier (am besten gar nicht fragen!) und sowieso Naughty By Nature, Beastie Boys etc. pp. – you name it, you got it, irgendwie.
Bei Mathangi Arulpragasam ist das ähnlich, aber auch ganz anders; ein Blick auf ihren Wikipedieeintrag macht klar: Dieser Vulkan an Klang, Stil, Politik, Mode, Botschaft, Psychologie, Aktivität und Ausdruck ist zu viel für einen Geist. Da muß nun doch ein Filter her, oder müßte, weil andererseits: Hey, es geht um Musik! Welche juristischen Streitereien wegen eines gestreckten Mittelfingers Miss Arulpragasam mit der National Football League ausficht und ob sie wirklich, wie die „Village Voice“ mal meinte, „ein veritabler Strudel von Diskurs zu höchstwahrscheinlich unlösbaren Fragen bezüglich Authentizität, Postkolonialismus und Dilettantismus“ ist – hach, müssen wir diesen Authentizitätsstrudel wirklich so lange aufbacken, bis nur noch Quark drin ist?
Ich erinnere mich dunkel, daß wir diese Diskussionen schon geführt haben, und zwar damals, als The Clash 1980 über die USA hereinbrachen und ein diffuses Gesamtgefühl von Aufbruch, Revolte, Verwirrung, einer Explosion widersprüchlicher und dadurch eventuell letztlich irrelevanter Zeichen erzeugten. Da hatten Soziologen und postmoderne Theoriewiederkäuer was zu tun; aber letztlich war’s egal: Das Gefühl war geil.
Und ich weiß, man wird mich auslachen und meine Einpackung in eine Zwangsjacke fordern, aber: „Matangi“ versetzt mich in dieselbe diffuse Gesamtstimmung wie „Sandinista!“ (mit modernen Klangmitteln – andererseits: etwas Moderneres als „Sandinista!“ wird es vielleicht nie geben), und wenn das sinnlos, verlogen, unauthentisch, plakativ, bigott, anbiedernd, kontraproduktiv, philisterhaft, hohl, scheinheilig und letztlich bloß ein bunter Sturm von Nichts ist – egal. Es ist geil; es ist wild und wirr, und alles passiert gleichzeitig. Es ist also: die Welt.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 4. Dezember 2013

Belästigungen #423: Mann beißt Hund, Hund erschießt Jäger (und das war nur der Anfang …)


Das Boulevardheftchen „Der Spiegel“ kam neulich seiner Verpflichtung als „vierte Macht“ nach und zeigte auf seiner Internetseite Photos eines spanischen Toreros, dem gerade ein Stier das Horn ins Kinn hinein- und beim Mund wieder hinausrammt. Worin der Informationsgehalt dieser Veröffentlichung liegt, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich (und den „Spiegel“-Leuten wahrscheinlich total egal); dazu muß man schon genauer hinschauen und stellt dann aber fest, daß der (im wahrsten Sinne des Wortes) betreffende Bulle da nicht etwa blindwütig in der Gegend herumhornt, wie man das „panischen“ Tieren gerne mal nachsagt – nein, was hier geschieht, ist ein Akt höchster Kampfkunst, der die Älteren unter uns eher an die Fernsehserie „Kung Fu“ erinnert.
Und hier liegt die Information, die der „Beitrag“ vermittelt: Obacht, Mensch! Der nämlich, der Homo sapiens als Art insgesamt, geht seit ein paar Jahrhunderten davon aus, daß ihm die Erde samt Gekreuch und Gefleuch untertan ist und er damit machen darf, was er will. Seit vor ein paar Jahrzehnten die Stricknadelnikoläuse in die Parlamente einzogen, um sich dort zügig in Wachstumsfaschisten ohne konfessionelle bzw. gewerkschaftliche Bindung („die neuen Liberalen“) zu verwandeln, hat ihn zwar eine Art schlechtes Gewissen befallen, weshalb er nun kaum mehr einen Satz äußern kann, in dem nicht die Blödvokabel „nachhaltig“ vorkommt, und im übrigen aber lauthals beteuert, er tue das alles ja nicht für sich, sondern für „die Wirtschaft“. Was im Gegensatz zum Sadistenpapa mit dem Lederriemen zumindest ein Teil zumindest der „neuen Liberalen“ wahrscheinlich sogar noch glaubt.
Das ist aber wurst: „Nachhaltig“ (und zwar ganz besonders „nachhaltig“!) ist auch ein Atomkrieg (der aber wahrscheinlich nicht solche Verheerungen angerichtet hätte wie die ganz normale „Wirtschaft“ der letzten vierzig Jahre), auf „grünes Wachstum“ folgt unweigerlich die herbstliche Welke, „erneuerbare Energien“ gibt es nicht, und kaputt ist kaputt – der Planet in diesem Fall.
Daß der nicht dem Menschen allein gehört (und erst recht nicht seinen Kindern, die noch gar nicht geboren sind – was für eine irre Idee!), darauf kommt man als Mensch nicht so leicht; und glauben tut es der Mensch vielleicht noch am ehesten, wenn ihm vor laufender Sensationskamera ein Horn aus dem Schlund ragt und er als eine Art (noch) lebender Kleiderständerbehang an einem Stier dranhängt, dem keineswegs plötzlich der Kragen geplatzt ist, sondern der offensichtlich ziemlich lange überlegt, trainiert und geprobt hat für diesen ebenso individuell vergeltenden wie insgesamt symbolischen Stunt.
Was haben wir uns früher immer beömmelt, wenn die Sensationsverkäufer in der sensationslosen Zeit zum tausendsten Mal mit ihrem üblichen „Mann beißt Hund“-Karneval dahergekommen sind. Ist schon jemandem aufgefallen, daß das gar nicht mehr so oft passiert und daß die gegenteilige Kategorie „Hund erschießt Jäger“ neuerdings galoppierend überhandnimmt?
Berichtet wurde zum Beispiel (das ich, wie den Großteil der folgenden, Helmut Höge verdanke) in letzter Zeit von einem Saarbrücker Eichkatzerl, das gezielt Spaziergänger anfällt, kratzt und beißt, von zwei Eseln, die einen Mann von seinem offenbar zu lauten und zu stinkigen Motorrad rissen und förmlich zerfetzten, von Krähen, die ahnungslos Flanierenden Löcher in die Köpfe hacken, vom europäischen Welsfisch, der sich gesamtgewerkschaftlich organisiert, um kontinentweit Badegästen Stücke aus dem Hintern zu zwicken, vom weißrussischen Biber, der einen Angler ansprang und totbiß, weil der ihn photographieren wollte.
Ein kurzer Blick ins Internet zeigt: Einstmals harmlose Viecher, die die Zumutungen des Menschen klaglos ertrugen, selbst wenn er sie zu Milliarden schlachtete, um die Mülltonnen seiner Fastfoodabgabestellen und Supermärkte zu füllen, werden zunehmend rabiat. Milchkühe töten zufällig vorbeikommende Wanderer, Schweine fressen ihren eigenen Bauern auf, Elefanten und Tiger trampeln ihre Pfleger zu Brei beziehungsweise reißen sie in Stücke, Hirsche verfolgen Mountainbiker, und im thüringischen Gettersdorf schnappte sich neulich ein Bussard den Arm eines Mannes und krallte seine Krallen so fest hinein, daß die Feuerwehr das Tier in stundenlanger Feinarbeit aus dem Fleisch lösen mußte. Organisierte Terrorangriffe werden auch von Ponys, Rebhühnern, Hamstern, Schwalben, Ziegen, Hornissen, Schafen, Schwänen, Känguruhs und Kraken berichtet.
Immerhin: Obwohl zum Beispiel Bäume grundsätzlich in der Lage sind, sich über weite Strecken hinweg zu verständigen und ihre Blätter vorsorglich mit einem bitteren Alkaloid vollzupumpen, wenn hungrige Laubesser nahen, verhält sich die Pflanzenwelt vorläufig noch duldsam, was die Zumutungen der Menschenbrut angeht. Höchstens von ein paar Pilzen weiß man, daß sie immer giftiger werden und die interkontinentale Transportlogistik der Garten- und Landschaftsverschandelungskonzerne nutzen, um auch weit jenseits ihres eigentlichen Einzugsgebiets die Notaufnahmen mit sich in Koliken krümmenden Kleinfamilien zu füllen. Es ist aber noch nicht bekanntgeworden, daß sich zum Beispiel der niederbayerische Mais zusammentäte, um gezielt die Schneidwerke von Mähdreschern zu demolieren, oder sich durch die Mutation zum detonierfähigen Monstermais für jahrzehntelange gentechnische Entartung revanchiert. Warten wir ab, was auf diesem Gebiet noch auf uns zukommt.
Einstweilen bleibt festzustellen: Offensichtlich hat die Fauna dieses Planeten langsam die Nase voll von uns. Vielleicht sollten wir uns ihr gegenüber in den paar Jahrzehnten, die uns noch bleiben, einer gewissen Höflichkeit bemüßigen? Vorläufig nämlich sind die Viecher immer noch bei weitem in der Überzahl; und da mein guter alter Kater heute verdächtig stierartig glotzt, werde ich mit gutem Beispiel vorangehen und den Rest des Tages nutzen, um ihm ausgiebig zu huldigen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Freitag, 29. November 2013

Frisch gepreßt #181: Bauhaus "Go Away White"



Es gab einmal eine Zeit, da war Dracula nicht die ausgelutschte Blutlutschgestalt, als die er durch tausende langweilige Viertelgruselfilme und Kitschromane stiefelt, angebliche Jungfrauen erbleichen und sich selbst endlich einen Holzscheit ins Brustgehäuse hämmern läßt, immer mit irgendwelchen angeblichen erotischen Symbolen und Metaphern als Hintergrundtapete. Nein, da war Dracula ein Lebensmodell für tausende Großstadt-Jungmenschen, die sich in Kellerclubs versammelten, mit weißgepuderten Gesichtern, schwarzen Vogelnestern auf der Birne und in lange Third-Hand-Mäntel gehüllt eigentümliche tanzähnliche Bewegungen durchführten und ansonsten in Denkmalpose am Tresen standen, Bier tranken und per Zehn-Minuten-nach-dem-Suizid-Gesichtsausdruck ausdrückten, was für ein Untergang alles war.
Es gab einmal eine Zeit, da war Bauhaus nicht das Wort, das beim typisch deutschen Kulturspießer so ungefähr alles zusammenrepräsentiert, was sich in seinem Synapsensieb an Small-Talk-Rückständen zur Themenschnittmenge Architektur/Design/Moderne angesuppt hat. Nein, da war Bauhaus der seltsam weltekle Krach, der in den Kellerläden der Draculas dröhnte und jugendkulturabgrenzungsmäßig den Vorteil hatte, daß ihn selbst die ärgsten Spätpunks für ödeblöde hielten und der Rest der Welt keinen Schimmer hatte, was daran Musik sein sollte.
Nein, im Ernst – die Band um den oberdraculösen Jammersänger Peter Murphy für Firlefanz zu halten, das war damals wirklich ziemlich leicht. Das kaum geprobte, in immerhin cooler Scheiß-drauf-Manier heruntergeklumperte Goten-Getöne, das sie auf Schallplatten pressen ließen, und das Gemenge aus Posen, Faschingsmaskerade, Zitaten, Großgesten und Wichtiggetue, das sie von 1979 bis 1983 veranstalteten, roch immer sehr künstlich und hohl, sah besser aus, als es klang, und war verglichen mit Konkurrenten wie (den frühen) Adam & The Antz, The Cure und Japan entschieden zweitklassig und derivativ – ihr größter Hit war nicht umsonst ein Bowie-Cover, „Ziggy Stardust“, noch dazu in einer eher einfallslosen Rumpelbumpel-Kupferversion. Irgendwann waren Bauhaus dann weg, und was als Erinnerung blieb, war äußerst überwiegend optischer Natur, höchstens.
Wenn sich eine solche Band nach vielen sicherlich irgendwie ehrbaren, aber kommerziell nicht eben millionenträchtigen Solo- und anderen Projekten wieder vereint, liegt der Gedanke an den Klingelbeutel nicht fern; schließlich sind die damaligen Draculas inzwischen meistenteils sozialversicherungspflichtig tätig und kaufen am liebsten das, was sie irgendwie an die gute alte Zeit erinnert, als alles das passierte, wovon sie heute noch gerne renommieren und wunschträumen. Aber schon die Vorankündigung, das Album sei in 18 Tagen in der sonnigen Kleinstadt Ojai an der kalifornischen Küste entstanden, enthalte ausschließlich First Takes und sei der definitive Abschiedsgruß der Band (ohne Welttournee und all das), klang doch ziemlich wagemutig. Und dann bleibt einem beim Hören vor Staunen der Mund offen: Freilich, „echte“ Songs schreiben haben Bauhaus nicht gelernt (Gott sei Dank), ihre Riffs scheppern wie rostiger Schrott, und gespielt ist das alles immer noch mit einer brutalen Scheiß-drauf-Attitüde; aber die wirkt jetzt auf einmal saucool. Schon die ersten zwei Songs knallen dermaßen primitiv, zynisch und spaßig, als hätte David Bowie mit den Stooges ein hypermodernes Dance-Rock-Album aufnehmen wollen. Mit „Undone“ feiert das Pathos der 80er ein Comeback – hätten die damals wirklich so geklungen, wünschten wir sie uns sofort zurück, und bei „Endless Summer Of The Damned“ kann man nicht mehr anders als konstatieren, daß man da das beste Bowie-Album seit 27 Jahren hört (mit dem kleinen Nebengedanken, daß man sich so wie das hier wahrscheinlich Tin Machine vorgestellt hat, bevor man sie hörte). Da wird experimentiert, probiert und frei assoziiert, ohne Konzept und Grenzen, spannend, erfrischend, charmant, perfekt futurmodern und erfüllt von pulsierender Aufbruchsstimmung. Spätestens die trümmermelancholische, wild mäandernde, salzseeweite Ballade „Saved“ verlangt nach einer Entscheidung: Entweder man verweigert sich und hält das alles weiterhin für unnützen Blödsinn ohne „Tiefe“, „Wertigkeit“, instrumentale „Viruosität“ und moralische Aufbauwirkung (und was man Musik noch so alles zuschreiben mag), oder man öffnet die Ohren und das Herz und läßt sich hineinsinken in eine große, unwiderstehliche Leere, an deren triumphalem Ende die Erkenntnis dämmert, daß Bands manchmal 30 Jahre brauchen, um herauszufinden, was sie wollen und was sie sind. Und wenn sie’s dann wissen, schmeißen sie’s hin und sind wieder weg. Ist das cool oder was?

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Diese Folge erschien im Februar 2008.



Mittwoch, 20. November 2013

Frisch gepreßt: Das Weiße Pferd "Inland Empire"



„Wenn du heute gehst, nimm mit die Nacht“: Ein Mann ist aus der Wüste gekommen, geritten auf einem weißen Pferd, das man aus weiter Ferne zwischen den Kakteen und Agaven nahen sah, schwankend irgendwie, was aber vielleicht auch an der kochenden Luft liegen mag, die in Bodennähe die Sicht trübt, weshalb die Menschen hier dazu neigen, nach oben ins Weltall zu blicken, von dem sie sich seit Jahrhunderten, seit sie wissen, daß es da oben ein Weltall gibt, fragen, wieso es blau ist.
„Der Tag kommt von hinten“, sagt der Mann. Vielleicht.
Der Mann ist in der Wüste Joe Strummer begegnet; das ist lange her, und es gibt nichts davon zu erzählen, weil nichts passiert ist. Es passiert ja eigentlich nie etwas, wenn Menschen in der Wüste einander begegnen. Doch, manchmal: Musik oder etwas ähnliches, was verfliegt, wenn sich der Blick von der blauen Magie des Weltalls herab senkt und festzuhalten versucht, was in der kochenden Luft nicht festzuhalten ist.
Der Mann ist unterwegs ins Inland Empire, ein Land, das es nicht mehr gibt, weil dort jetzt Menschen wimmeln und Produkte und Smog erzeugen, damit sie Häuser bauen können, mit Fenstern, die man zumachen kann, damit der Smog nicht hineinkommt. Früher gab es hier Orangenbäume, von Horizont zu Horizont fast nichts als Orangenbäume, ohne Produkte, Smog und fast auch ohne Menschen, und damals gab es vielleicht auch Musik, die aber niemand je gehört hat. Bis heute.
Vielleicht ist Inland Empire aber ein anderer Ort, zum Beispiel die ehemalige Insel San Fernando an der spanischen Südküste, die keine Insel mehr ist und die in die Geschichte einging, weil sie sich 1810, als Napoleon ganz Spanien und Europa erobert hatte, dennoch zu kapitulieren weigerte – der Anfang vom Ende der napoleonischen Herrschaft. Vielleicht wurde San Fernando, nach dessen Observatorium man heute noch in ganz Spanien die Uhren stellt, damit zum Vorbild für ein gallisches Dorf, das jeder kennt und keiner je gefunden hat, weil es nicht zu finden ist, nur in der Phantasie, die sich gegen die Besatzung durch Produkte, Smog und wimmelnde Menschen wehrt.
Auch das Inland Empire, von dem hier die Rede ist, ist nicht zu finden, weil es nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat. Es ist (immer) ein anderer Ort oder kein Ort. John Lennon sang davon: „It’s my mind, and there’s no time when I’m alone.“ Stephen Sondheim ließ davon singen in der „West Side Story“: „Peace and quiet and open air wait for us somewhere.
We'll find a new way of living. We'll find a way of forgiving. Somewhere.“ David Lynch erzählt davon in seinem Film „Inland Empire“, den niemand je verstanden hat: von dem „Universum, das wir alle im Hirn haben“.
Davon erzählt auch der Mann, der auf seinem weißen Pferd aus der Wüste kam und von wir vielleicht kurz erwähnen könnten, daß er mal Sänger bei einer Band war, die „berühmt“ wurde, weil eines ihrer Mitglieder später bei Franz Ferdinand spielte und einen so etwas gerne mal unabsichtlich „berühmt“ macht, weil Musikjournalisten was zu schreiben brauchen, um nicht über Musik schreiben zu müssen.
Oder nein, wir erwähnen es einfach mal nicht. Wir lassen den Mann lieber selbst erzählen, lassen es aus ihm erzählen, das Universum, das wir alle im Hirn haben, während um ihn herum die Gitarren, Ukulelen, Geigen, Trommeln und Saxophone ein Land bilden, das Inland Empire heißen könnte. Dort lassen wir uns nieder im Sand und in der kochenden Luft, richten den Blick ins blaue Universum und vermeinen, da sei vielleicht doch etwas passiert mit Joe Strummer, ein Teil von ihm vielleicht hineingeschlüpft in den Mann auf dem weißen Pferd, damals, als Joe so lange ins blaue Universum gestarrt hat, bis es ihn eingesaugt hat.
„Mein Name ist große Freiheit, und ich war schon immer hier“, sagt der Mann. Vielleicht.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.