Sonntag, 28. September 2014

Belästigungen 16/2014: Von den Freuden des Kefirs, den die Muße küßt

Es gibt Zeiten, da bricht die Faulheit mit einer solchen Vehemenz über einen herein, daß es regelrecht beängstigend sein könnte (wenn man nicht viel zu faul wäre, um sich zu ängstigen). Da schafft sie es, den Menschen zu lähmen und in seinen Sessel hineinzulegen wie einen Liter Kefir, den man ohne größeren Aufwand nicht mehr aus den Polstern herauskriegt. Um solche Wirkungsmacht zu entfalten, bedient sich die Faulheit perfider Strategien und fieser Werkzeuge in der realen Außenwelt.
Zum Beispiel: hat man an einem beliebigen Tag das angeborene Programm an Prokrastinationsbemühungen (umständliches Kaffeekochen, sporadisches Geschirrspülen, ergebnisloses Aus-dem-Fenster-Starren, langwierige Verabschiedung der Übernachtungsgästin, zweckloses Herumzappen zwischen identischen Radiosendern, Herunterleiern tausender Witzbild- und Sinnsprucheinträge auf Facebook, Löschen einer knappen Million Spammails mit dem Betreff „Get slim fast!“ usw. usf.) einen ganzen Vormittag lang absolviert und sieht sich nun von diversen Abgabeterminen genötigt, doch mal eine einigermaßen aufrechte innere Haltung einzunehmen, um Buchstaben zu Wörtern und womöglich einem kompletten, druckbaren Text zusammenzukleben. Und just in diesem Augenblick gibt die Faulheit der Festplatte den Befehl „Platz!“, woraufhin diese pfeilgrad und gehorsam platzt. Der Bildschirm verdunkelt sich, und wiederholte Versuche, ihm wieder Helligkeit und ein geordnetes Aussehen einzubleuen, enden ebenso erfolglos wie das allabendliche Experiment, die Sonne mit intensiven Beschwörungen dazu zu bringen, ein paar Stunden später unterzugehen.

Das ist blöd, läßt sich aber nicht ändern. Vielleicht, meint man, ist dem Ding ja bloß zu heiß, also wartet man, blättert derweil in der Zeitung und erfährt, ein Kieler Soziologieprofessor namens Prahl habe darauf hingewiesen, daß das Recht auf Faulheit in modernen Gesellschaften viel zu sehr vernachlässigt wird. Diese nämlich sei die Grundlage aller Kreativität, welche folglich von dem ideologischen Zwang, um jeden Preis aktiv zu sein, bedroht werde. Da hat er recht! denkt man, und schon liegt man im Sessel wie Kefir und ist zu faul, um auch nur die Zeitung in der Hand zu halten. Es ist ein brutales Duell, das sich da abspielt. Um ihren Zwang zum Dauerrödeln und -wuseln auszuüben, hat die böse Ideologie die Elektronik erfunden, die den Menschen auf Trab hält, und sei es nur durch das pausenlose Abspielen von „Bing!“-Tönen und das auffordernde Flackern der Webseiten, die bedient werden müssen. Das funktioniert mit einer gnadenlosen Effektivität, wie man sie früher nur in der Welt der Hifi-Freaks kannte, die stundenlang vor Geräten saßen, an die man heutzutage Räder schrauben würde, um sich damit in den Stau auf dem Mittleren Ring zu stellen, und an Klirrfaktoren, Abtastelementen, Antiskatingskalen und Equalizerschiebreglern (oder irgendsowas) herumjustierten, damit sie demonstrieren konnten, wie phantastisch eine Rex-Gildo-LP klingen kann. Kaum aber ist die natürliche innere Sperre gegen jede Form sinnloser Tätigkeit gebrochen und will man sich einreihen ins Heer der Ameisensklaven, kommt die Faulheit daher und macht die Geräte kaputt und läßt zu allem Überfluß auch noch EC-Karten verschwinden, so daß man sich nicht mal mehr die Zeit mit ersatzweisem Konsum von überflüssigen Produkten vertreiben kann (und wenn ein ganz Vorwitziger meint, er könne mit altmodischem Bargeld kontern, schiebt sie eben einen tagelangen Schnürlregen daher).

Man muß ihr dankbar sein; man sollte selbst den Computergangstern dankbar sein, die einem für tausende Euros wohldesignte Schrotthaufen andrehen, die nach drei oder vier Jahren zuverlässig und geplant den Geist aufgeben und die Texte, Bilder, Notizen, Töne, Gedanken, Erinnerungen, Telephonnummern, Adressen, die Arbeit und den Schmarrn und die Schmarrnarbeit ganzer Tage, Wochen, bei entsprechend laschem Backupverhalten womöglich eines ganzen Lebens mit sich in den Abgrund reißen und höchstens ein paar unbrauchbare Schnipsel, Brösel und Fragmente hinterlassen, aus denen sich nie mehr die letzte Mail an die Exgeliebte, das Erinnerungsphoto vom letztjährigen Sonnwendfeuer oder die Folge der Reihe „Belästigungen“ zusammensetzen läßt, die eigentlich an dieser Stelle stehen sollte. Man muß ihnen dankbar sein, weil nach Überwindung des momentanen Schocks nichts so ausgeglichen, ruhig und zufrieden macht wie zwei, drei Tage lang im Sessel zu flacken wie ein Liter Kefir, dem Regen beim Regnen und der Zeit beim Kriechen zuzuschauen.
Oder zwischendurch, so man sich aufraffen kann, wahllos ein altes Buch aus dem Regal zu ziehen und mit etwas aktivem Glück den famosen Klassiker „Das Recht auf Faulheit“ von Paul Lafargue zu erwischen, 1966 neu herausgegeben von dem kürzlich verstorbenen Iring Fetscher, der im Vorwort schreibt, die „kleine Streitschrift“ möge „heute einigermaßen veraltet erscheinen, wird doch selbst in Deutschland nur noch wenig über extremen Fleiß geklagt“.

Das Deutschland, von dem Fetscher da erzählt, denke ich, das hätte ich gerne mal besucht, ho ho. Aber vielleicht war seine Beobachtung gar nicht so arg abwegig, schließlich: besaß damals nachweislich niemand einen Computer, nicht mal einen Taschenrechner; Telephone hatten gemütliche Wählscheiben, Tablets waren aus Papier, in Stoff gebunden, und was man Arbeit nannte, bestand (von gewissen Berufsgruppen abgesehen) darin, daß man zwischen den Brotzeiten irgendwo stand oder saß, gemütlich an etwas herumwerkelte und nebenbei lustig plauderte.

Die Faulenzerei tritt übrigens auch unter dem Decknamen Muße auf und muß sich als solche von kapitalistischen Eiferern als „Müßiggang“ geißeln lassen, mit dem alle Laster ihren Anfang nähmen. Aber das stört sie nicht weiter; eines nicht fernen Tages wird sie mit dem Kapitalismus das gleiche machen, was sie jetzt schon regelmäßig mit Computern und Telephonen macht. Und dann: wird sie uns küssen und in Kefir verwandeln.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.