Montag, 24. Juni 2013

Belästigungen #412: Vermischte Neuigkeiten zum Dilemma der Körperöffnungen


Daß der menschliche Körper Öffnungen hat, ist an sich eine segensreiche Fügung, das muß man nicht extra betonen: es wäre ein Elend, wenn eine ganze Biergartenbesatzung hungertriefend und durstzerknittert vor Schenke und Auslage stünde und die Schweinshaxen nicht mal riechen könnte, geschweige denn hinunterspülen, weil sich die Evolution den Jux gemacht hätte, Nase, Mund und Restkörper als in sich geschlossenes System zu konzipieren.
Indes will es gelernt sein, mit der Semipermeabilität des eigenen Echtwelt-Avatars umzugehen. Das klassische Beispiel für sozusagen intuitive Souveränität wäre die legendäre Zeitungsmeldung, derzufolge ein blinder Inder (der vielleicht ein Chinese oder Alabamer war, aus poetischen Gründen aber ein Inder sein sollte) sich einst in den Kopf schoß, um seiner elenden Existenz ein Ende mit Hoffnung auf Wiedergeburt als Pandabär oder Milliardär zu bereiten. Leider oder zum Glück führte der Schuß nicht zum Exitus, sondern quasi eine hirnchirurgische Operation durch: Nach kurzer Bewußtlosigkeit erwachte der vormals blinde Suizidant, konnte plötzlich sehen und wurde vollends irrsinnig angesichts einer Welt, die seine schlimmsten Vorstellungen exponentiell übertraf.
Indes war in diesem Fall die Körperöffnung, in die da etwas drang und Wirksamkeit entfaltete, ja gewaltsam erst entstanden; ein Sonderfall mithin. Interessanter, weil alltäglicher ist, was Menschen ganz ohne Schnitt-, Schuß-, Stich- und sonstige Werkzeuge in ihren Körper hinein bugsieren, oft offenbar ganz ohne es zu bemerken. Damit meine ich nicht die hirnzersetzenden „Informations“-Gifte, die Springerverlag, Fernseh, Plakatwände und illustriertenbelesene Zufallsbekanntschaften tagtäglich in unser Hirn hineindüngen, wenn wir nicht rechtzeitig das Weite suchen, sondern Handfestes.
Z. B. wurde neulich in der Aachener Uniklinik ein 24jähriger Afghane (der diesmal wirklich ein solcher war) behandelt, in dessen Kopf sich ein zehn Zentimeter langer Bleistift befand. Leider sind die gängigen Mitteilungswege in solchen Fällen immer recht ungenau, und so erfahren wir nur, der Mann sei „offenbar im Kindesalter“ auf das Schreibwerkzeug „gestürzt“. Wie so was vonstatten geht, wüßten wir gerne genauer. Schließlich kann es jedem von uns beim Radlfahren passieren, daß er mal auf etwas stürzt – und sei es nur ein Haufen Bauschutt. Fünfzehn Jahre später bei der tomographischen Klärung des chronischen Gefühls von Schwermut und mentaler Last festzustellen, daß man die ganze Zeit mit einem Pflasterstein im Hirn herumgelaufen ist, wäre eine höchst sonderliche Erfahrung.
Daß die Aachener Ärzte laut Nachrichtenagentur den erwähnten Bleistift „in einer aufwendigen Operation ersetzt“ haben sollen, macht die Sache noch bedenklicher – durch was? fragen wir und denken an die viel beredete Schere im Kopf von Schreiberlingen, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn es die Herrschenden bei ihren Bemühungen, die Welt zu verwerten und zu vernichten, gar zu frech treiben und man eigentlich mal kritisch darüber berichten müßte. Schnippel schnippel wird daraus ein flammendes Jubelplädoyer für Wachstum und Deregulierung. Ein Mann mit einem Bleistift in der Birne könnte in solchen Fällen moralzermürbend wirken; vielleicht deshalb mußte das Ding heraus.
Spaßiger ist eine neue Mode, von der aus Spanien und Portugal berichtet wird: Dort stopft sich die weibliche Jugend neuerdings mit Wodka getränkte Tampons in die Vagina, wovon sie via Schleimhaut in nullkommanichts bombig berauscht wird, ohne daß bei Mundgeruchskontrollen ein verräterischer Schnapsdunst auffiele. Jede sechste Befragte zwischen achtzehn und neunundzwanzig, so erfahren wir von der wie üblich „besorgten“ Ärzteschaft, hat schon mal mit einem solchen „Tampodka“ „experimentiert“. Die Vorstellung, wie es etwa einem Herrn Brüderle gelingt, seinen Zustand ganztägig zu halten, ohne viertelstündlich mit einer Rieslingpulle an der sechstoberen Körperöffnung photographiert zu werden, drängt sich geradezu auf, soll hier indes aus geschmackshygienischen Gründen nicht näher erörtert werden.
Statt dessen möchte ich ein Gespräch, das ich unlängst mit befreundeten Angehörigen derselben Generation zum Themenbereich Liebe und Sex führte, zum Anlaß nehmen, die iberische Methode der effektiven Nutzung von Körperöffnungen für konsequent zu halten: Da nämlich wurde unter ihres- und seinesgleichen eine neuartige Prüderie und Spießigkeit beklagt, die darauf zurückgehe, daß im Dauerhagel von Formatierungsbefehlen (zu dünn, zu dick, zu groß, zu klein, zu lang, zu kurz, zu hell, zu dunkel oder sonstwie unproportioniert bzw. verwachsen) kein Mensch mehr seinen Körper für wettbewerbsfähig halte, was dazu führe, daß kein Mensch sich mehr traue, ihn auch nur vor dem Spiegel zu entkleiden, von souveränem Umgang und Freude an dem, was man damit machen kann, gar nicht erst zu reden.
Eine ganze Generation, die in Jeans und Schlabberpulli zum Baden geht, die nur noch Sex hat, um sich zu beweisen oder soziale Vorteile zu erlangen, die dazu aber das Licht ausmacht oder, falls das nicht geht, den Schlabberpulli und die Socken anbehält – diese Vorstellung ist so erbärmlich, daß man sich am liebsten Augen, Ohren, Nase, Mund, Nabel und die in solchem Umfeld höchstens vulgär zu benennenden weiteren Öffnungen mit Tampodkas und entsprechender Gerätschaft befüllen möchte, um nichts mehr davon mitzukriegen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin In München, diese Folge in Heft 12 vom 13. Juni 2013.

Samstag, 22. Juni 2013

Beim Schreiben eines Romans (10)



„Du hast sie doch gesehen? Wie weit war sie weg?“
„Ein paar Meter.“
„Okay, du hast gespielt.“
„Wie: gespielt?“
„Männer.“
„Du hast nichts gesehen, weil du so damit beschäftigt warst, ihr vorzuspielen, daß du sie nicht siehst. Wenn du sie gesehen, also: richtig angeschaut hättest, hätte sie bemerkt, daß du sie bemerkt hast und siehst. Dann hätte sie dir nicht geglaubt, daß dich dein ‚neues Leben‘ so erfüllt, daß du sie gar nicht mehr erkennst.“
„Männer, Männer, Männer.“
„Und jetzt meinst du, sie wird eifersüchtig, weil dir dein ‚neues Leben‘ so viel mehr bedeutet als sie.“
„Ich weiß nicht.“
„Du weißt heute aber nicht viel.“


Samstag, 15. Juni 2013

Frisch gepreßt: Bullfrog (s/t)


Manche Sachen verschwinden im Strudel der Zeiten so vollständig, daß, wenn sie plötzlich wieder auftauchen, man sich verblüfft fragt, wo sie die ganzen 35 Jahre waren. Wie diese Band, diese phantastische Band, die wir damals im Theatron … Nein, da holen wir jetzt weiter aus.
Was das für ein Sommer war, ab Mai: dreißig Grad, Geschichtsstunde über den Vietnamkrieg, der gerade ein Jahr her ist; Diskussionen über Atomkraftwerke, fremde Planeten, rätselhafte Mädchen und die Fußball-EM – ganz Giesing hallt nachts von den entsetzten Schreien über Hoeneß’ verschossenen Elfmeter; nach den Pfingstferien hitzefrei bis Ende Juli, jeden Tag. 99 Pfennig für einen Liter Eis im verlassenen Schulhof, ein Bier in der schwülen Dämmerung, leichter Schwindel beim Fußballspielen, wie schwebend; lachen bis die Sonne untergeht, fast Mitternacht, plötzlich Stille zum Flüstern, paar Pfützen um den Wasserhahn im Pfarrgarten, mit gelben Rändern vom Blütenstaub; oder ist das Wüstensand, wie die Bildzeitung mit rotem Kopf meldet? Das ganze Viertel stöhnt vor Hitze, die Wohnungstüren offen, Durchzug, wieder zweiunddreißig Grad, es hört nicht auf. Wetterleuchten beim Einschlafen; die Ferien nähern sich unendlich langsam, Schulausflug ins Isartal, Science-Fiction-Heftchen im Michaelibad, giftgrünes Wassereis zwischen den Fingern beim Heimradeln, Flaschendrehen in der Heuwiese, und ewig, ewig Sonne ohne Zeit.
Einer erzählt: im Theatron spielen Bands, umsonst. U-Bahn am Marienplatz kurz vor halb zwei: voll bis zur Türkante, ein Meer von Jeans und Haaren; am Olympiazentrum robbt die Schlange dahin, beim Schwimmbad ein Blick nach unten: wow! Massen! Wolken von Haschisch, entspannter Fusionsound aus der schwarzen P.A.; keine Bühne, nur ein Steinrund am Wasser, in der Mitte geteilt von ein paar Gitterständern; hinten die Coolen, rauchen, halten Gitarren, Soundcheck; ein Frisbee über der Menge; einer ist besoffen, mit Lederhut und Sonnenbrille, alle lieben ihn.
Dann Sound, der entsteht wie aus dem Moment; zwei Mädchen in Indienhemden, barfuß auf dem Betonstein, mit Schlangenarmen. Ein klebriger Haufen Melonenkerne am Stein, jemand mit besonders langen Haaren und lila Batikspirale kämpft sich mit einem zusammengenagelten Bauchladen durch die Ränge, verkauft das 76. Blatt, „die Stadtzeitung für München“, ein anderer verteilt Blätter mit den Texten der Band.
Umbaupause; nebenan ein Zungenkuß, Rauch, Wind; der Kopf wird leer und füllt sich; noch eine Band, die vorbeiplätschert in aufgeregt flüsternder Vorfreude, denn dann kommen sie, die Bluesrockvagabunden aus der Landkommune, auf die alle warten: Bullfrog. Kommen aber nicht; die Sonne hinter dem Stadion plötzlich von bleigrauen Wolken verschattet, der Wind wird zum Sturm, der die Plastikplane über der Bühne zaust. Aufbruch, mit lustig wirrem Kopf in der U-Bahn, abends wird die eigene Band gegründet, die nie auftritt, weil niemand weiß, wie das geht.
Ein neuer Sommer; wieder pilgern alle ins Theatron zu Bullfrog, die es mittlerweile sogar auf Platte gibt; und wieder wuchtet ein Gewitter alles weg, bevor es losgeht. Immerhin: Der Dürre mit den halbmeterlangen Haaren, der da hinten steht, achselzuckend, die Gitarre um den Hals, die er vergeblich stimmt; das, weiß einer, ist Sebastian Leitner. Den Rest des Sommers bleibt die Platte: „I came from the sky“, krächzt Gerd Hoch, geschlossene Augen, wippende Köpfe, Träume von Susi und Monika.
Die Wege trennen sich, es werden immer mehr; Bands auch: Ramses, Breakfast, Harlis, Cry Freedom, Guru Guru; dann wieder Bullfrog, die diesmal tatsächlich spielen, im Sturm, im Hagel, der sich in der Plane sammelt und übers Schlagzeug ergießt, was niemand merkt und keinen stört; alles ist eins in der Musik, alle spüren: Das ist der Höhepunkt, danach alles zu Ende, der Friede, die Ewigkeit, Ausschließlichkeit, Einigkeit, das Schweben.
Neue Geheimnisse, Chaos und Wirrnis, Jahre und Jahre, alles verweht, und plötzlich ist Bullfrog wieder da, auf CD nur, weil inzwischen zur Hälfte tot. Das milde Lächeln über die kindischen Träume, die wolkigen Bilder gerinnt beim Hören zur Fassungslosigkeit: Menschenskind, wie GUT die waren! Das reißt einen mit und weg, hinüber und hinauf und zurück in die Welt, in der es alles, was seitdem passiert ist und inszeniert wurde an lächerlich buntem Tralala, nie gegeben hat, und da steht man wieder vor der Box von Sebastian Leitner, durchflutet von seiner Gitarre, aus der Liebe, Wut und Sehnsucht brüllen, ewig, während der Sturm tobt und die Welt ertrinkt.
Kann das verstehen, wer nicht dabei war? Versuchen, es lohnt sich!

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint (so gut wie) vierzehntägig im Stadtmagazin In München.

Freitag, 14. Juni 2013

Periphere Notate (5): Kontennui

Das neue Leben, das A. begonnen hatte, begann sich nach drei Wochen wie das alte anzufühlen. Erstaunt überprüfte A. seine Kontoauszüge, stellte fest, daß tatsächlich auch seine Daueraufträge weiterliefen, und beschloß, das Gefühl daran festzumachen. So, dachte er, blieb immerhin etwas, wenn auch wenig.

Montag, 10. Juni 2013

Belästigungen #411: Man könnte das eine Borderline-Kolumne nennen


Eine Freundin, der ich neulich einen großen Berg der hier veröffentlichten Kolumnen übergab, damit sie sie vor der Neuauflage als Sammelbuch auf Relevanz und Zumutbarkeit prüfe, meinte hinterher, ich sei ja ein ganz schöner Choleriker, wenn ich mich immer so aufrege, und so kenne sie mich gar nicht.
Das, meinte ich, mich höchstens milde aufregend, könne überhaupt nicht sein, schließlich werde der Choleriker im allgemeinen als willensstark und entschlossen beschrieben – vgl. etwa einen durchschnittlichen BWL-Börsennazi –, was auf mich nur in den seltensten Fällen halbwegs zutreffe. Dann, sagte sie nach einigem Wälzen im inneren Lexikon der Küchenpsychologie, handle es sich wohl um hyperaktive Melancholie mit einem Zug ins Depressive; andererseits kenne sie mich auch als notorisch exzessiven Sanguiniker an der Grenze zum pathologisch-hysterischem Übermut mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, und mein Phlegma sei durch den Zustand meines Schreibtischs und den mangelnden Schnitt meiner Rosenstöcke und Obstbäume ausreichend belegt.
Sowieso indes seien derartige Kategorien überholt und in meinen Texten wie in meinem Verhalten An- oder mindestens Vorzeichen für derart viele psychosoziale, neurotische, affektive, Verhaltens-, Belastungs-, Persönlichkeits- und andere Störungen zu identifizieren, daß es sich bei mir wohl um einen Borderline-Patienten handeln müsse.
Hier wurde ich neugierig, weil mich exotische Diagnosen ohne Beeinträchtigung des Wohlbefindens zuverlässig begeistern, schon angesichts der Möglichkeiten, die sie im Alltagsleben bieten („Was heißt hier rote Ampel! Was heißt hier bezahlen! Ich bin Borderliner!“). In der Tat konnte ich einige der laut Fachleuten mit dieser Krankheit verbundenen Symptome an mir diagnostizieren: Das „Bemühen, ein Verlassenwerden zu vermeiden“ befällt mich fast immer, wenn ich verliebt bin, ebenso wie in diesem Lebensbereich das „Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen“ relativ zuverlässig Geltung hat. Die „Impulsivität beim Geldausgeben“ bezog sich schon in meiner Kindheit auf grelle, sinnlose, aber geile Spielzeuge (von Matchbox-Streakers und -Rola-matics bis zum Mini-iPad), ebenso fällt es mir notorisch schwer, die „Impulsivität in der Sexualität“ durch eine auf Jahre angelegte Planung von Partnerinnen, Orten, Terminen, Stellungen und diversen Durchführungsvorschriften zu ersetzen. „Unangemessene freudige Erregung“ (Feierabendbier!), „übermäßig niedergeschlagene Stimmungslage“ (Schafskälte!), „Empfindlichkeit gegenüber Kritik“ (Arschlöcher!), „Neigung zum Substanzmißbrauch“ (Theresienwiese!), „chronisches Gefühl von Leere“ (Hunger! Fernsehen!), „unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren“ (Heimniederlage!), „Gereiztheit bei übersteigertem Aktivitätsniveau“ (Redaktionsschluß!) – all das kenne ich aus nicht unbedingt leidvoller, aber irgendwie konkreter Erfahrung.
Ja, und nun? Habe ich eine Chance, dem Schicksal von Gustl Mollath zu entgehen? Das ist durchaus kein Witz, denn wie wir wissen, ist im wirtschaftsfaschistischen Gesellschaftsprozeß für nicht perfekt funktionierende Menschmaschinen ein Platz höchstens dort vorgesehen, wo man sie zwangsweise umbauen oder notfalls unter Aufsicht verwahren kann, damit sie nicht zum Infektionsherd werden. Und immer wieder hört und liest man von Menschen, die, einmal auffällig geworden, den Mühlen psychiatrischer Zermanschung nicht mehr entfliehen. Als ich dann noch einer anderen Freundin von den jüngsten Erkenntnissen zur Planung des Oktoberfestattentats durch den BND erzählte und die meinte, ich sei ja ein Paranoiker, war der Ofen aus. „Laß niemanden rein!“ flehte ich die Diagnostikfreundin an, als es an der Tür läutete. „Es könnten die Herren des Morgengrauens sein, mich zu haschen, auf daß ich dir ewiglich entzogen sei!“
Amüsiert blickte sie von ihrer Lektüre auf und sagte: „Ein cholerisch-sanguinisch-melancholisch-phlegmatischer depressiv-neurotisch-hysterischer Borderline-Narzißt mit Paranoia und Dichterwahn? Das ist jetzt aber paradox!“ Dann blätterte sie ein bißchen und zitierte aus der zerlumpten Ausgabe von Kierkegaards „Philosophischen Brocken“: „Das Paradox ist die Leidenschaft des Gedankens, und ein Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mäßiger Patron. Aber die höchste Potenz jeder Leidenschaft ist immer, ihren eigenen Untergang zu wollen.“
Demnach, schloß ich einklingend, sei die eingangs vermutete Cholerie nichts anderes als die Leidenschaft des Empfindens einer Außenwelt, die bisweilen schlichtweg unerträglich ist – durchwimmelt von Dummköpfen, Idioten, tumben Toren, Schreihälsen, Falschdenkern, Selbstüberschätzern, penetranten Schwätzern, Nachbarn, Nazis, Claqueuren, Drangsalierern, Hausierern, Rattenfängern, Holzköpfen und Waschweibern. Was aber, wenn auch hier der Wille zum Untergang wirkt und ich mich eines Tages totschreibe an ihnen oder dem Wahnsinn verfalle?
Ach was, sagte sie. Wahnsinnig sei ich doch längst, daher sei es ratsamsten, all den Symptomen – vom Feierabendbier bis zur sexuellen Impulsivität – hemmungslos zu huldigen. Mit einem milden Lächeln ließ sie das (Schafskälte!) heiße Badewasser ein. Ich bekam davon jedoch zunächst nichts mit, weil ich beim Recherchieren von Borderline-Symptomen im Internet zufällig auf ein „Matchbox-Car-Wiki“ mit Abbildungen sämtlicher Streaker und Rola-matics gestoßen war.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin "In München", diese Folge am 29. Mai 2013.