Dienstag, 9. April 2019

Sonntag, 17. März 2019

Frisch gepreßt #433: Thomas Franz "Jetzt geht's mir besser"


Naiv zu sein bedarf es wenig, und wer naiv ist, ist … nun ja, nicht direkt König, obwohl auch unter dem Herrschpersonal eine gewisse Naivität bisweilen verbreitet ist; man denke nur an den märchenhaften Kaiser, der in einem Anzug aus unsicht- und -greifbarem Textil durch sein Reich marschierte. Allerdings wurde der dadurch nicht froh.
Bei Thomas Franz darf man das zumindest vermuten. Anders als jene Kronenfigur oder etwa Don Quichotte braucht der weder Ornat noch Rüstung, um gegen die Bosheit und Müpfigkeit der Weltenläufe anzugehen, weil er Musik hat. Und zwar eine, aus der die Naivität heraustropft wie ein Nektar von süßem Laudanum, der noch den grollendsten Berserker zur sanft lämmernden Frohgestalt wandelt.
Das ist der Thomas: Der hat Musik, weil er sie macht. Normalerweise steht der Thomas alleine auf der Bühne, mit seiner Gitarre um den Hals oder einem Keybördchen auf den Knien, und wenn man ihn so sieht, fällt einem plötzlich ein, was es bedeutet, auf der Bühne zu stehen, ohne auf die üblichen, in Jahrzehnten zum Grundbestand des typischen Künstlerverhaltens kristallisierten Posen und Moves zurückgreifen zu können. Der steht bzw. sitzt da und stellt sich den Menschen und der Welt, mit seiner Musik, die auch nichts Routiniertes, Abgeklärtes, Falsches oder Gares hat, sondern so aus ihm hervorklingt, wie wir alle sind: neugierig, erfahrungslos, unvorbereitet spontan nachdenklich, immer wieder getroffen und auch mal gewatscht von den Fährnissen des Lebens, die oft harmlos wirken, es aber gerade dann nicht sind.
Zum Beispiel der Alltag im Raumschiff: Da sieht es scheiße aus, weil keiner putzt, nicht mal die Fenster kann man aufmachen, mangels Atmosphäre, und das ist ein bisserl traurig, aber halt auch irgendwie rührend. Oder wenn es beim Friseur zu dem Malheur kommt, daß selbiger mittendrin gemeuchelt wird und man mit halber Frisur in die Welt soll. Oder wenn man den Hamster im Meer baden möchte, eh nur bis zu den Waden, und kurz nicht aufpaßt und die Welle kommt und ihn erfaßt und mitnimmt ins tiefe Blau … da wird es dann richtig traurig – bis man aus der Woge von Schuld und Sühnen auftaucht und sich wieder ans Meer setzt und erkennt: Der Hamster schwebt im blauen Raum, lebt im blauen Traum, und das ist schön. Schön wie die Musik, schön in der Musik.
Der Thomas wird auch mal sauer, wenn ein sogenannter alter Kumpel im BMW vom Papa vorbeiröhrt und sich voll toll fühlt und der Thomas nicht weiß, was er dazu sagen soll vor Empörung. Aber meistens hat er Mitgefühl, mit den Tieren vom Versagerzoo, mit dem schüchternen Vulkan, selbst mit dem Mann mit dem wachsenden Tattoo, sogar mit dem Dummkopf Hans Müller, der dem Freund ins Poesiealbum geschrieben hat, er werde einen Besen fressen, wenn er ihn dereinst nicht mehr erkennt. Und tolle Ideen hat er außerdem, zum Beispiel wenn das mit dem Date zum Eisessen irgendwie nicht hinhaut, weil er nicht der Traumboy der Angeschmachteten ist: Dann schickt er den Eisbecher eben mit der Post. Und wenn alles nicht mehr geht, packt er zum Finale die Punkband aus und stellt sich vor, daß allen anderen genauso alles danebengeht wie ihm. Dann geht‘s ihm besser.
Musikalisch kann und probiert der Thomas sehr viel. Auf dem Album ist von der Gitarre wenig zu hören, dafür viele lustige Geräusche, Beats, Rap, nostalgiefrei nostalgische NdW-Anklänge, Tupfer von Ska, progressive Sequenzen, balladiöses Schweben und vor allem die rührende und zugleich begeisternde, entwaffnende und überwältigende Naivität, die ihn erfüllt und zum Superhelden macht, aber eher zu Supergoof als Superman. Gebt ihm eine Erdnuß, holdrioh!, und er zeigt euch, daß man nicht groß und böse sein muß, ja gar nicht sein darf, wenn man es schaffen will, mit der Welt fertigzuwerden und hinterher froh lächelnd im Gras zu sitzen.
So meint der Titel ihn und uns: Kann schon sein, daß es regnet. Kann schon sein, daß der Postbote wieder nur Rechnungen dabeihat. Das ist ja nicht das Leben. Das spielt vielmehr in der Musik, und es ist ein Spiel, und wenn wir mitspielen, geht‘s uns besser.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 14. März 2019

Belästigungen 1/2019: Bumfdawk und Dickoxon? Kein Priblen! (aber wehe, man kriegt mal ein Paket ...)

Verständigung ist in Zeiten moderner Kommunikation bestenfalls Glückssache, normalerweise indes mit dem Versuch vergleichbar, sich mittels einer Nagelfeile durch einen Urwald mit vorbildlich dichtem Unterholz zu schlagen. Harmlose Beispiele hierfür fallen täglich in jedem Haushalt an. Zum Beispiel smste mir neulich eine Freundin, die Einhaltung unserer verabredeten Verabredung sei „kein Priblen“, was ebensowenig ein großes Problem war wie die unmittelbar folgende Mitteilung einer anderen Freundin, sie habe dringend mal wieder Lust, „aufeinander Bier“.
Durch solche Fehlerlein kommt das Hirn ja ebenso leicht hindurch wie durch ein Wort wie „Bäslgntiuegn“ (habe ich gehört), weil es schon beim Lesen berücksichtigt, daß Schrift, Wort und Sprache für 99 Prozent der Menschheit so was sind wie die Feinheiten der Quantenphysik für einen Kindergartenbamsler, und deswegen die interne Korrektur-App auf Automatik läuft. Ähnliches gilt für die Flut von hochinformativen Mails, die stündlich in meinen E-Briefkasten geschwemmt werden und dringend empfehlen, einen Link anzuklicken, um fürderhin stundenlange Höchstleistungen im Bett vollbringen und die weibliche Bevölkerung des Erdballs in einen Dauerzustand von „Shock & Awe“ (remember?) zu versetzen.
Dieser Schmarrn nämlich kommt von Servern, die zwar vertrauenswürdig klingende Namen wie ficobaul, jinxknar, uartglob, ambaloll, shulopec, dickoxon und bumfdawk tragen, immer aber mit dem Zusatz „.icu“. Selbiges „ICU“ wiederum steht abkürzend wahlweise für „Intensivstation“ oder die Christliche Universität Tokyo, und wer täte sich in Sachen Sexualpotenz ausgerechnet von diesen Institutionen Rat holen?
Schwieriger wird es, wenn man mal wieder die Nachlässigkeit begangen hat, sich zu Weihnachten oder überhaupt per Paket beschenken oder jedenfalls beliefern zu lassen. Da kriegt man dann eine Glückwunschkarte an die Haustür gebappt, auf der verzeichnet ist, wo man das Paket abholen kann. In der zuständigen Postfiliale steht, wer nicht gleich zur freundlichen Dame am Schalter rennt und sich wundert, weshalb dort nicht die übliche Tausenderschlange seit vorgestern wartet und murrt, vor einer handbeschriebenen Tafel, auf der darauf hingewiesen wird, daß Paketabholungen „erst ab 3. Januar“ (durchgestrichen) bzw. „demnächst“ (durchgestrichen) bzw. „auf absehbare Zeit nicht möglich“ sind.
Auch kein Priblen, schließlich gibt es ein Internet und dort eine Seite der angeblich verantwortlichen Firma DHL, wo man, nachdem man sich vergeblich durch dutzende Irrwege geklickt und per Google den Link für eine Zweitzustellungsbeantragung ausbaldowert hat, diese ausfüllen kann. Sodann spielt man das lustige Captcha-Spiel mit Hydranten, Ampeln, Fahrrädern usw., besiegt den Algorithmus nach nur sieben Runden (!) – und erfährt, das eingegebene Datum des Erstzustellungsversuchs („bei dem Sie nicht angetroffen wurden“) sei „ungültig“. Das kann, wer mag, wiederholen, so oft er will: Sackgasse. Der Silvestertag des Jahres 2018 hat für die Firma DHL offenbar nicht stattgefunden (der 2. Januar übrigens auch nicht).
Jetzt wird‘s schwieriger, denn jetzt muß richtig kommuniziert werden. Kaum eine Stunde später hat die Suche nach einem Kontaktformular (das es wahrscheinlich nicht gibt, jedenfalls auf keiner der mit dem Stichwort „Kontakt“ oder irgendwie sonst zugänglichen Seiten) eine Telephonnummer (für „Pressekontakt“) in Nordrhein-Westfalen erbracht. Hurra, freut man sich: mit einem Menschen sprechen! Darf man aber erst mal nicht, sondern muß einer fröhlich dudelnden Maschine diverse Stichwörter (Reklamation, DHL-Paket, ein paar mal laut und deutlich „ja!“ oder „J-A!“) aufsagen. Und hat dann endlich eine „Mitarbeiterin“ am Telephon, die sich pflichtschuldig vorstellt (ihr Name sei Lisch oder Lesch oder Läsch oder Lösch oder Lüsch oder irgendwie so ähnlich) und nach dem Begehr fragt.
Zur Erklärung des Problems kommt man jedoch nicht. Die Mitarbeiterin erklärt vielmehr, man solle das Paket eben abholen. Geht nicht, sagt man und zitiert von der Hinweistafel: „logistische Gründe“. Dann, erfährt man, gebe es „keine Möglichkeit“. Doch, die gebe es, sagt man. Eine Zweitzustellung, sagt sie, sei bei Paketen, die nicht abgeholt werden können, grundsätzlich ausgeschlossen. Ob das Paket denn dann vernichtet oder anderweitig verwertet werde, fragt man. Da hält sie kurz inne, tippt etwas, weist dann auf das Formular im Internet hin sowie darauf, daß man ihr schon zuhören müsse. Das Formular kenne man, sagt man und kommt nun doch zum Ausreden, aber wieder vergeblich: Ein Datum eines Erstzustellungsversuchs müsse gar nicht eingegeben werden, meint die Dame. Doch, das müsse es, wendet man ein, woraufhin sie sagt, dann solle man eben tun, was man für richtig halte, sie beende hiermit das Gespräch. Was sie auch tut.
Ich weiß: Kabarettisten und Kolumnisten ist es aus guten Gründen streng verboten, sich über Bahn, Post und sonstige ehemals staatliche Einrichtungen zu ereifern, die zum Zwecke der Geldumverteilung von unten nach oben enteignet und gierigen Investoren zugeschachert wurden. Drum weise ich deutlich darauf hin, daß es einer sofort (per Zufall unter der gleichen Nummer) konsultierten zweiten Mitarbeiterin binnen weniger Minuten gelang, das Problem zu verstehen, den (offenbar bereits von einer knappen Million Menschen reklamierten) Funktionsfehler zu bestätigen und einen Zweitzustellungsversuch (ohne Gewähr) zu beantragen.
Wenn man nun noch bedenkt (oder sich vorzustellen versucht), unter welchen Bedingungen und für welchen „Lohn“ Frau Lisch/Lesch/Lösch und ihre namenlosen Kollegen einen Großteil ihrer unwiederbringlichen Lebenszeit damit zubringen müssen, hilflosen Opfern der konzerntypischen Kommunikationsverhinderungsstrategie nicht verraten zu dürfen, weshalb es nur einen Weg gibt, mit diesem Konzern „Kontakt“ aufzunehmen – nämlich die Beschwichtigungsabteilung ganz unten im Tiefkeller, also sie –, wenn man das alles bedenkt, kriegt man große Lust, den Profiteuren des ganzen Blödwahnsinns die wenigen Sachen, die sie sich noch nicht unter den Nagel gerissen und in „Service“-Müll verwandelt haben, auch noch zu schenken. Und zwar per Paket.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 10. März 2019

Frisch gepreßt #432: Udo Lindenberg "Zeitmaschine"


Popmusik ist suizidgefährdet. Ach was, gefährdet – sie ist dabei (und bei diesem Versuch schon sehr weit fortgeschritten), Selbstmord zu begehen bzw. den Freitod zu suchen, je nachdem, wie man dieses ultimative, (in diesem Falle: höchstwahrscheinlich, ansonsten unbedingt) irreversible Vorgehen moralisch einschätzt. Nämlich ist jede rebellische, romantische, subversive, provokante und sonstwie (oder nicht) relevante Geste, die sie in den knapp hundert Jahren ihrer Wirkungsgeschichte in die Welt setzte, nicht etwa als solche in die (unzuverlässige und verwehende) Erinnerung eingegangen, wie sie das bis etwa 1991 zu tun schienen.
Sondern sie ist nach wie vor da, elektrodigital vor jenen Ver- und Zerfallsprozessen geschützt, die die menschliche Kultur über Jahrtausende erst zu einer solchen werden ließen, weil jede Wiederholung an ein nicht mehr vorhandenes, möglicherweise längst vergessenes Original anknüpfen konnte – oder an gar nichts, weil es das Original vielleicht noch gar nicht gab. Das läuft auf dasselbe hinaus.
Das heißt: Was immer jemand heute popmusikalisch tut, ist Wiederholung, Zitat, frei- oder unfreiwillig ironisch, gewollter oder ungewollter Kommentar, Fußnote, Anspielung, Hommage, Persiflage, dideldum irgendwas, aber niemals „neu“. Was egal war, solange die Variation auf etwas verwies, was man nicht unmittelbar identisch danebenlegen konnte. Das kann man im digitalen Zeitalter immer.
Und das heißt: daß es eine Geste, die popmusikalisch (d. h. u. a. auch und vor allem: „neu“) im alten (!) Sinne ist, nicht mehr geben kann. Was nicht als Kulturpessimismus mißverstanden werden sollte. Schließlich ist das (oder ein) Wesen der Kunst Schönheit, und Schönheit ist einerseits unvergänglich und war andererseits nie das entscheidende Wesen der Popmusik, die wiederum selbst insgesamt weniger Kunstform oder Genre, sondern eine Geste war, wirkungshistorisch verortbar wie (sagen wir) expressionistische Malerei und Nouvelle-Vague-Filme. Freilich kann auch heute jemand expressionistisch malen, einen NV-Film drehen. Aber nur mit der eingebauten Intention der Wiederholung.
Ende des theoretischen Teils, Übersetzung in die Praxis: Man kann sich, wenn man mag, diese und nächste Woche damit vertreiben, neue Alben von (Achtung! reiner Zufall) zum Beispiel Pam Pam Ida, Pascow oder den Türen anzuhören. Oder Joe Jackson oder sonst was oder alles zusammen. Oder Graveyard Bashers, Whiskey Shivers, Metal Inquisitor, Lucky Bastards oder irgend so was, was den derivativen Ansatz des Tuns schon im Titel trägt. Oder mal wieder Udo Lindenberg hervorkramen, die Zentralfigur der deutschen Popmusik ungefähr von Anfang bis Ende, in der sich alles sammelt, was an Schönheit, Provokation, Peinlichkeit und historischer Stringenz in eine Popmusik hineingehen und aus ihr herausgequetscht werden kann. Udo war von Anfang an Abklatsch und zugleich völlig neu, Rebell und Kasperl, Einzelgänger und Gesamtverkörperung, auch Schmelztiegel aller möglichen guten und falschen Gesten.
Er stürmte 1969 in ein Feld hinein, das Deutsche bis dahin höchstens mit schützenden Überschuhen vorsichtig betapst hatten, quasselte und nölte Zeug, das mal blendend witzig, mal völlig daneben war (aber immer irgendwie „neu“), verlor den Faden, grub zwecks Wiederfindung in der tiefsten Vergangenheit, wanzte sich ran und zog (nur symbolisch!) den Hut, suchte und fand dies und das und ließ es wieder fallen, je nach Lust und Laune, Langeweile oder Verzweiflung. Irgendwann fing er an, sich selbst zu zitieren, kopieren, persiflieren, verlieren. Ungefähr: Ende des letzten Jahrtausends. Oder meinetwegen ab Album 14 oder 17 von 36 oder 47.
Seitdem schüttet das Land den zerwitterten alten Knorr mit Ehrungen, Gedenktafeln, Medaillen und Firlefanz zu, holt ihn als Zeugen, als Staffage, als Beleg eigener Wichtigkeit und Türöffner und Paten aus dem Loch. Und seitdem ist es ziemlich egal, wann und wie etwas von Udo Lindenberg erschienen ist – die „Zeitmaschine“ zum Beispiel 1998. Und 2019, möglicherweise „remastered“, aber ohne hör-, spür-, sichtbare Veränderungen, also im Grunde identisch und zeitlos, dem Titel gemäß/getreu. Könnte auch 1979 gewesen sein; nämlich: ein (schweinischer) Text von Brecht, einer von Karel Gott, einer von Ideal, viel Ströer Bros., etwas Orchester, Freundeskreis-Hip-Hop-Pudding, eine Dance/House-Sängerin als Gast auf einem Bert-Kaempfert-Song … alles irgendwie wirr und nett, schön und seltsam, vielleicht deshalb ohne Zeit und Ort und damals so ziemlich das Erfolgloseste, was er je probiert hatte.
Kann sein, daß die Popmusik Suizid begeht. Bei Udo Lindenberg stirbt sie höchstens irgendwann an Altersschwäche, und das macht nichts, wenn unter dem Riesendenkmal, das er ist und zugleich nie war und sein wird, gelegentlich hübsche Krümel wie diese hervorbröseln.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 5. März 2019

Belästigungen 25/2018: Evolution 2.0: vom Gebrabbel zum Chatkommentar (und was daran gut sein könnte)

Die Evolution vollzieht sich manchmal unbemerkt, und nicht selten werden ihre Erfolge verleugnet, abgestritten, in Frage gestellt oder lächerlich gemacht. Zum Beispiel die Geschichte mit der schriftlichen elektronischen Kommunikation: Von der heißt es, sie sei schuld an so ziemlich jedem Übel, mit dem wir uns heutzutage herumschlagen müssen, von der Filterblase bis zur Fake News, vom Netzjunkie bis zum Genderwahn, vom Haßsprech bis zum Pegida-Aufmarsch. Zur Klärung von Mißverständnissen, Meinungsverschiedenheiten und diversen anderen Problemen sei das persönliche Gespräch daher in jedem Falle vorzuziehen, am besten unter vier Augen, höflich und besonnen.
Welch ein Unsinn das ist, weiß jeder, der schon mal zur Schule gegangen ist und vom Lehrer oder Direktor zu einem persönlichen Gespräch bestellt wurde, unter vier Augen, höflich und besonnen: Da wurde man bestenfalls vergattert, runter- und niedergemacht, diszipliniert und mußte die Klappe halten, und selbst wenn man das nicht gemußt hätte, wäre einem die entscheidende, geistreiche Antwort sowieso erst beim nächtlichen Sinnieren oder am nächsten Morgen beim Aufwachen eingefallen.
Als jemand, der schon seine allerallererste spätkindliche Kurzbeziehung auf schriftlichem Wege (mit einem Briefchen im selbstgebastelten Couvert) einleitete, weiß ich ziemlich genau, wovon ich spreche – wäre das Techtelmechtel in diesem Modus fortgeführt worden, hätte es vielleicht länger gehalten als die paar Wochen, in denen es in unbedarften, unbeholfenen Plapperplauderversuchen kenterte und unterging.
So geht das immer, den ganzen Tag, das ganze Leben lang: Menschen reden ineinander hinein, aneinander vorbei, umeinander herum, und jeder einzelne davon meint, bei der wahllosen Ausstoßung von Geräuschfetzen handle es sich um Kommunikation. Hingegen prangert der Chor der Kulturpessimisten am Äußern von Gedanken in sozialen Netzwerken vor allem deren Unbedachtheit und Spontaneität an. Jeder Tipp- oder Grammatikfehler sei ein deutliches Zeichen, daß sich da mal wieder jemand „was gedacht“, aber nicht die Mühe gemacht habe, es so zu ordnen, daß es einer Öffentlichkeit zumutbar sei. So werde alles mißverstanden, und am Ende komme es zu Umsturz, Pogrom und Bürgerkrieg.
Man könnte darauf hinweisen, daß ein ganzes Drittes Reich und zwei Weltkriege ohne Facebook und Whatsapp – und vielleicht nur so – zustandekamen. Daß sich der Wirtschaftsfaschismus vor allem deswegen so unauslöschlich in den Köpfen der mittlerweile dritten oder vierten Generation von tumben Ameisenmenschen einnisten und festschrauben konnte, weil seine Ideologie hauptsächlich in TV-Plapperrunden und nur äußerst selten im schriftlichen Austausch verbreitet wurde (und wenn, dann in Zeitungskommentaren, die ähnlich irr dahergefaselt waren wie das Zeug, das Merz & Co. in Kameras skandierten). Daß das mündliche Gespräch, mag es noch so geistreich sein, weder Fußnoten noch Lektorat zuläßt und deshalb nur mit größter Vorsicht zitiert werden sollte, weil sich im Zweifelsfall selbst der geschickteste Redner und Argumentator Minuten nach seiner Äußerung nicht mehr an deren Wortlaut erinnern kann. Wer ein bißchen in Aufzeichnungen klassischer Bundestagsdebatten herumblättert, wird feststellen, daß die faschistische Schmähung von Parlamenten als „Quatschbuden“ an der Realität peinlicherweise nicht weit vorbeigeht – wobei zu bedenken ist, dass bereits die Mitschriften redigiert und geschönt sind.
In Wirklichkeit ist das persönliche Gespräch, das Menschen deswegen immer suchen, wenn ihnen die Argumente ausgehen oder sie nicht in der Lage sind, sie überzeugend zu formulieren, vor allem Machtmittel und Waffe. Der Boß, dem das Humankapital zu aufmüpfig wird, bittet es einzeln ins Chefbüro. Der Mann, dem das Weib intellektuell über die Hutschnur wächst, haut auf den Tisch und „stellt“ etwas „klar“. Umgekehrt geht im Brüllchoral der noch so gutmeinenden Masse jegliche Logik, Evidenz und Dialektik umstandslos unter.
Teilnehmer von Meditationskursen, Schweigeexerzitien und ähnlichen Unternehmungen melden erstaunliche Erfahrungen: Wer absichtlich über längere Zeit darauf verzichtet, sich mündlich zu äußern, fängt bereits nach wenigen Tagen an, eine Tätigkeit auszuüben, die dem modernen Menschen für gewöhnlich völlig fremd ist: denken. Nach einigen Wochen ohne Gebrabbel beginnen sich die Gedanken sogar zu ordnen. Gleichzeitig wächst der Drang, sich lautstark mitzuteilen, bis er kaum noch zu unterdrücken ist. Dann aber läßt er ziemlich rapide nach und verschwindet schließlich ganz, während andererseits Dinge, die vordem durch den Kopf schwirrten und zuckten wie Stroh in einer Windhose, deutlich, klar und folgerichtig in Erscheinung treten.
Wer sich fragt, wie in früheren Zeiten, als Kommunikation größtenteils schriftlich ablief, so etwas wie eine Literatur entstehen konnte, während heute eine Armada von Verlagen halbjährlich Hekatomben von windigem Müllgeseier in Buchdeckel binden und kurz darauf zu Tapetengrundierung zermanschen läßt, wer sich fragt, wieso die „Autoren“ dieser Quatschklötze neunzig Prozent ihrer Lebens- und fast hundert Prozent ihrer sogenannten Arbeitszeit in Talkshows, Podiumsdiskussionen und Interviews zubringen, dem könnte die Erkenntnis dämmern, daß der Umstieg vom Plaudern zum Chatkommentar tatsächlich ein Fortschritt sein dürfte – obwohl oder gerade weil der größte Teil auch dieser Äußerungsformen sinnloser Unfug ist. Immerhin kann man das notfalls nachlesen, nachweisen und dann aufgrund von Gründen vorsätzlich löschen.
Der Winter ist eine gute Zeit, sich zu besinnen. Vielleicht wäre es förderlich, diesen Winter mal dafür zu nutzen, den Mund zu halten, Leuten, die den Mund nicht halten können, aus dem Weg zu gehen und statt dessen alles, was uns in den Sinn kommt, so lange zu bebrüten, bis daraus ein Gedanke entschlüpft, der einen Facebook-Kommentar wert ist. Wer weiß, wie viele sinnlose Debatten wir uns dann im kommenden Sommer sparen können, um selbigen mit viel schöneren Dingen zu füllen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 1. März 2019

Belästigungen 24/2018: Achtung, hier kommt ein missionarischer Gedankenfluß! (und bricht rechtzeitig ab)

Der Winter ist eine paradoxe Veranstaltung. Massen von möpselnden, miefenden, murrigen und knurrigen Menschenwesen pressen sich zu Zeiten, in denen das Tageslicht noch nicht mal daran denkt, sich anzuschalten, in seuchige U-Bahn-Züge hinein, um sich an … na ja, nicht Orte, eher: Stellen schießen zu lassen, wo sie sich mit Massen von möpselnden, miefenden, murrigen und knurrigen Menschen in Gebäude hineinpressen können, um … Tätigkeiten zu verrichten, Gegenstände in die Hand zu nehmen und woanders wieder hinzustellen, Papier und Magnetspeicher mit Zeichen vollzukritzeln und zu -müllen, sich damit zu stressen, ihre Gestreßtheit zu demonstrieren, und zu stöhnen, wie gern sie jetzt und überhaupt ganz was anderes täten.
Nach der vorgeschriebenen Zeit, in der sie dies tun „müssen“, eilen sie durch erneut dunkle Straßen, pressen sich erneut in U-Bahnzüge, rasen durch neonlichtverseuchte Warenhallen und stopfen Taschen mit diversen Gemengen aus Weizenmehl, Industriefett und Zucker voll, überfluten derweil unablässig ihr Hirn mit legasthenischen Pseudomeldungen aus den zugewucherten Randbezirken der Matrix, absolvieren nach Vertilgung der mikrowellengesottenen Gemenge eine Einheit chemisch induzierten Schlaf, aus dem sie sich von elektronischen Alarmgeräuschen prügeln lassen, um … genau dasselbe wieder zu tun, Tag für Tag.
Derweil lächelt die Sonne in den wenigen Stunden, die ihr der Fürst der Finsternis zugesteht, trüb und unbeachtet leicht melancholisch vor sich hin, weil niemand sie sehen will. In den leeren Kneipen vertreiben sich einsame Kellner angemessen graugesichtig die leere Zeit mit den gleichen legasthenischen Pseudomeldungen oder zählen die Fässer, in denen die wertvolle Frucht in Jahrtausenden perfektionierter Braukunst traurig darauf wartet, daß jemand sie genießt.
Kann aber niemand; die Tage sind zu kurz, es muß geschuftet, bestellt, gekauft, geschleppt, gestapelt, rotiert, geliefert und entsorgt werden, Massen von Zeugs und noch exponentiell größere Massen von Zeugs, wenn das „Fest“ naht, das angeblich dazu dienen soll, der Geburt eines Erlösers zu gedenken, der mit seiner Erlösungstätigkeit ganz offensichtlich grandios gescheitert ist. Da steigert sich die Raserei dann zur apokalyptischen Hysterie, brennen künstliche Tannen, kotzt man die Kanalisation mit überflüssigen Lebensmitteln voll, foltert sich mit Blockflöten, und wenn zwischendurch der Kragen mal energisch platzt, löscht man im Handstreich ganze Familien aus und sehnt Mitte Dezember den Mai herbei, in dem einem verbreiteten Mythos zufolge alles ganz anders und neu werden soll. Die Mehrheit indes verliert die Geduld, preßt sich in fliegende U-Bahn-Imitationen und läßt sich in Gegenden schießen, die ausschauen wie der Hinterhof eines Megasupermarkts, wo aber immerhin die Sonne brennt und Tante Agathe einen nicht findet.
Warum das alles so ist und angeblich („Realität“!) „nun mal“ so sein muß, weiß niemand. Nicht der Igel, der derweil friedlich unter seinem Laubhaufen schlummert und im Traum ein wunderschönes Jahr an sich vorbeiziehen läßt. Nicht der Hase, der das gleiche in seiner Erdhöhle tut. Nicht der Baum, der sein gebrauchtes Laub dem Igel schenkt, sich ins Wurzelwerk mummelt und ausgefallene Astwuchsmuster für den nächsten Frühling ersinnt. Und sowieso nicht der Mensch.
Der nämlich müßte seiner verschütteten Natur gemäß folgendes tun: nichts. Das heißt: gemütlich im Bett herumgammeln, die Vorräte aus dem langen Sommer verspeisen, sich lustige, nachdenkliche, wichtige und blödsinnige Geschichten erzählen, sich wärmen, streicheln, lieben und im Arm halten, hin und wieder den Ofen anschüren und ein Buch aus dem Regal ziehen oder neue Musik auflegen und sich abends um den Zapfhahn versammeln, um in größerer Gesellschaft das gleiche zu tun und dann zufrieden berauscht wieder unter die Decke zu kriechen, sich von der Spätvormittagssonne notdürftig wachkitzeln zu lassen und … genau dasselbe wieder zu tun, Tag für Tag. Bis irgendwann der Krokus sprießt und die Vögel zwitschernd melden, daß die Wiesen warm und trocken genug sind, um dort herumzulümmeln.
Wieso das von den Massen von möpselnden, miefenden, murrigen und knurrigen Menschenwesen da draußen niemand tut, weiß auch ich nicht. Ich vermute jedoch, daß sich diese Spezies, die einst mindestens so anmutig, bescheiden und zufrieden den Erdball bevölkerte wie Igel, Hase, Baum und alle anderen Zeitgenossen, erst durch die trotzige Verweigerung des Winterschlafs in die gegenwärtig vorliegende, von keinem Erlöser mehr erlösbare Masse von möpselnden, miefenden, murrigen und knurrigen Erscheinungen verwandelt hat. Daß sie sich unterbewußt für den eigenen Zustand und ihr unwürdiges Gerödel und Gewese schämt und es deswegen in den Untergrund und hinter dicke Mauern verlegt hat (oder ist schon mal ein Igel auf die Idee gekommen, U-Bahnen, Aufenthaltsräume – welch absurde Bezeichnung für Räume, in denen sich niemals ein Lebesewesen freiwillig aufhielte, abgesehen von Schimmelpilz und Kakerlake, und die auch nur notgedrungen und weil dort Menschen sind – und Profit-Center zu bauen?). Und daß dieser Zwangslauf der Degeneration dazu führen wird, daß in nicht allzu ferner Zeit alles mögliche auf dem Erdball herumkreuchen und -fleuchen wird (möglicherweise sogar ein paar selbstfahrende Autos), aber garantiert kein Menschenwesen mehr.
„Du darfst nicht vergessen“, mahnt die Liebste, „heute noch deine Kolumne zu schreiben!“
Oh, huch. Da bricht er ab, der missionarische Gedankenfluß, das Eichkätzchen auf dem Fensterbrett kichert spöttisch, und der Spiegel zeigt ein weiteres Exemplar der o. g. Spezies. Das jedoch gelobt, sich zu bessern und unmittelbar nach dem Punkt am Ende dieses Satzes damit anzufangen. Gute Winternacht!

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #431: Marylin Monroe "The Marilyn Monroe Collection 1949-62"


Ich hatte mal einen Freund, der war in gewisser Weise so typisch für das längst im Gentrifikationsbrei versunkene Viertel, in dem wir damals aufwuchsen, daß man eigentlich mal von ihm erzählen sollte. Auch weil die Zeit, in der wir am meisten Zeit miteinander verbrachten (oder sagen wir: vertrödelten), in einen Winter fiel, der diesem relativ ähnlich war: Es schneite, oft tagelang, die Tage waren grau wie die Betonfassade des Häuserblocks, in dem er mit seiner Mutter eine Eineinhalbzimmerwohnung bewohnte, und wir taten kaum mehr als auf leeren, verschneiten Straßen und in Hinterhöfen herumlaufen, uns manchmal gefährlichen, meistens verbotenen Unfug ausdenken und mit romantischem Sinn für die Unbewohnbarkeit der Welt, in der wir unser Leben fristen sollten, Sachen kaputtmachen.
Zwischendurch saßen wir bei ihm auf dem Klappsofa, tranken Tee oder warmes Bier (seine Mutter, die die meisten Tage im Bett verbrachte, hatte irgendwas mit dem Magen), besprachen wichtige Themen (sexueller Natur), von denen er meistens mehr wußte als ich (ich war zwölf, er war vierzehn und hatte wegen erwiesener Schwererziehbarkeit einige Zeit in einem gemischten Internat in Gars am Inn verbracht) und hörten Musik. Das heißt: Wir hörten seine einzige, im Kaufhaus KEPA geklaute Kassette, ein damals noch recht aktuelles Slade-Album, von dem ich mehr wußte als er. Er schwärmte derweil von seiner (angeblichen) Freundin im Internat und (weil darüber nicht viel mehr als zwei Sätze zu sagen waren, die indes auch bei der zehnten Wiederholung spannend blieben) von einer US-amerikanischen Schauspielerin und Sängerin, für die er eine unerklärliche Vorliebe hegte – unerklärlich vor allem deswegen, weil er sie nur von einem Photo und keinen ihrer Filme und Songs kannte (es gab weder Fernseher noch Plattenspieler, und im Radio hörten wir aus Prinzip nur „Club 16“, wo so etwas nicht gespielt wurde).
Später flog er ordnungsgemäß von der Schule (was ich dank Glück, Schüchternheit und guten Zufallsleistungen vermied), nahm viele Rauschmittel (weil er eingesehen hatte, daß man die unbewohnbare Welt nicht so gänzlich kaputtschlagen konnte, wie das nötig gewesen wäre) und verlegte seinen Hauptwohnsitz in den Englischen Garten. Jahre nach unserem letzten gemeinsam vertrödelten Nachmittag (ich sollte ihm helfen, die Nachprüfung zu bestehen, statt dessen spielten wir auf einem Betonviereck an der Forggenseestraße Fußball) liefen wir uns wieder über den Weg und sprachen, als uns die Geschichten (sexueller Natur) ausgingen, über die US-amerikanische Schauspielerin und Sängerin, deren Filme wir inzwischen hin und wieder gesehen hatten. Und ich verstand immer noch nicht, was er an der etwas biederen, schwarzweißen Tante mit Betonfrisur fand, die ihre angebliche Erotik unter Foltermiedern und Spießerkleidern versteckte und angeblich mal was mit einem noch viel biedereren Präsidenten gehabt hatte. Und sowieso längst tot war.
Jetzt, noch mal viele Jahre später, verstehe ich es. Weil jetzt wieder Winter ist, ein weicher, weißgrauer Winter, dessen dreivierteldunkle Tage man am besten damit verbringt, im Bett herumzuliegen, milde Rauschmittel zu nehmen (leichten Tee und schweren Wein) und sich mit schwarzweißen Filmen und nicht remasterbaren Aufnahmen längst vergangener Zeiten zu erinnern, die man nie erlebt hat. In denen ein biederer Präsident fast einen Atomkrieg angefangen hätte. In denen man Foltermieder vielleicht doch nicht ganz irrtümlich für erotisch hielt, ebenso wie eine Stimme, die die Seele so (scheinbar) unbeschwert streichelt, daß sie sich unschüchtern in den Unterleib kuschelt.
Dann hört man das pelzweich schwebende „Kiss“ und denkt nicht mehr daran, welch unerträglich zickiges Plastikgeschnalze ein anderer Künstler später diesem fundamentalen Vorgang widmete. Und das ebenso honigschmelzende „Do It Again“ (und denkt an etwas völlig anderes als das – zugegeben leicht melancholische – Fun-Gehopse, an das man bei dem gleichnamigen Beach-Boys-Song denkt). Und das zu Recht berühmte „I Wanna Be Loved“ (und denkt an Johnny Thunders, der das so leider nie singen konnte). Und 33 weitere, manchmal blödsinnig frohsinnige, oft traumhaft träumerische Songs (sowie den heute so nicht mehr denkbaren und deswegen legendären Geburtstagsgruß an den biederen Atomkriegspräsidenten).
Und dann denkt man auch nicht (mehr) daran, daß Norma Jean Baker alias Marilyn Monroe einen Großteil ihrer 36 Lebensjahre in einem von Glamour und obszönem Reichtum nicht zu dämpfenden, wenn nicht erzeugten Elend zubrachte, das wir damals bei aller Unbewohnbarkeit der Welt nicht kannten und das erst in heutigen neoliberalen Zeiten wieder Alltag geworden ist. Was ihrem Leben und ihrer Musik vielleicht eine Aktualität und Bedeutung verleiht, die wir erst noch ergründen müssen. Vielleicht tun wir das mal, alter Freund, wo immer du auch sein magst.

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Freitag, 22. Februar 2019

Frisch gepreßt #430: Selling "On Reflection"


Bisweilen kommen einem seltsame Erinnerungen in den Sinn. Zum Beispiel daß wir im anbrechenden Winter 1980, als der Himmel fahl und bleischwer und seit Wochen sonnenlos über Giesing hing und die leeren, von toten Baumgerippen gesäumten Straßen und Wege mit Wolkenstaub besalzt dalagen, in das wir einsame Stiefelspuren prägten, … daß wir da alle Piraten und Indianer werden wollten. Das ist erst mal nichts besonderes: Der Winter ist streng genommen Faschingszeit, und jedes Kind will irgendwann Pirat und/oder Indianer werden. Wir waren aber keine richtigen Kinder mehr, sondern fast erwachsen, und die Sache war keine Maskerade, sondern Ernst, Weltsicht und Manie, ausgelöst durch das Auftauchen der Band Bow Wow Wow, deren hysterisch überdrehte dreizehnjährige Sängerin Annabella Lwin das so ziemlich unwahrscheinlichste Role Model der hartgekochten Post-Punk-Generation wurde, das man sich nur vorstellen kann.
Wieso mir das einfällt? Weil mir beim Stöbern im Strandgut des Musiksommers 2018 die vor Monaten unbeachtet erschienene Box mit dem Gesamtwerk von Bow Wow Wow in die digitalen Finger gerutscht ist. Und weil der Winter oft seltsame Blüten (ausschließlich im übertragenen Sinne) treibt, was Musik angeht. Angemessener war damals sicherlich das, was wir kurz zuvor noch mit der gleichen Sturheit und Ausschließlichkeit gehört hatten: der depressionslastige Klangbeton des Post-Punk von Gang of Four bis Joy Division. Der schuf allerdings durch akute Überfütterung das dringende Bedürfnis nach dem absoluten Gegenteil, und das fanden wir in den erotisch flirrenden Südseetrommeleskapaden von Bow Wow Wow.
Und so geht das oft, und hier ein weiteres Beispiel, mit dem wir unserem Thema näherkommen: Einige Jahre zuvor war die Beschäftigung mit verstiegenem Prog-Rock obligatorisch, und zwar regelrecht akademisch. Da brachte man ganze Wintertage und -nächte damit zu, Soli von Rick Wakeman und Keith Emerson, Kompositionsstrukturen zwanzigminütiger Sinfonien von Yes, ELP und Genesis, assoziativ-akzidentale, mit metareligiösen Suchphantasien aufgeladene Lyrizismen von Jon Anderson und Peter Gabriel weniger zu genießen (das ging schon auch) als zu analysieren. Das damals erlösende Gegengift hieß Tangerine Dream und war tatsächlich das absolute Gegenteil: durch und durch synthetisch, körperlos fließend, schwebend, mäandernd, aus sich selbst und dem Nichts heraus entstehend und evolvierend, frei von Brüchen und menschlichen „Ideen“. Diese Musik verlieh dem Winter, in dem der Himmel fahl, bleischwer und sonnenlos über Giesing hing und die leeren, von toten Baumgerippen gesäumten Straßen und Wege mit Wolkenstaub besalzt dalagen, einen futuristischen Schimmer und leerte den Kopf so vollständig, daß er zum Universum wurde, jenseits von Zeit und Raum, substanzlos und ewig.
Damit schließt sich ein Kreis. Diesmal nämlich trifft der Winter auf ein Gemenge aus Sandbergen von Hip-Hop-Sinnflut, analytisch-reflexiver Arbeit an Beats und Reimsplittern und dem absichtsvoll aufdringlich dröhnenden Selbstsuche- und Melodieozean, den die Buzzcocks und ihr Anfang Dezember verstorbener Kopf Pete Shelley hinterließen (größtenteils kurz vor Bow Wow Wow übrigens). Das Bedürfnis nach dem Tangerine-Dream-Effekt, das daraus entsteht, wird irgendwann so dringend, daß das Album „On Reflection“ (der Titel ist in diesem Zusammenhang durchaus ironisch zu verstehen) wie ein Komet am Horizont erscheint.
Nicht sofort: Der eckig-sperrige Opener „Qprism“ ist eine Art Restmülltonne für die sublimierten Überbleibsel der menschgeistigen Bürokratie. Das Raumschiff startet mit „Dicker‘s Dream“, und spätestens nach zwei Minuten, wenn der stratosphärische Beat anschwillt, ist man der materiellen Welt so fern, daß „Ferne“ als Begriff selbst bedeutungslos geworden ist. Nach 8:37 ist man gänzlich drüben. Hin und wieder treiben dann gespenstische Fossilien unergründlicher Phänomene vorbei, die man bestaunt, während man weiterflirrt, lichtgeschwind und reglos. Am Ende öffnet sich ein Wurmloch, und plopp! ist man wieder hier und da, aber ein anderer.
Ach so, das Duo Selling (auch der Name ist in diesem Sinne ironisch zu verstehen) besteht aus Gold Panda und Jas Shaw von Simian Mobile Disco, was ihrem Album zweifellos (Techno/Elektro-)musikhistorische und kommerzielle Bedeutung verleiht, aber wen kümmert so etwas in solchen Momenten und Wintern?

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 20. Februar 2019

Belästigungen 23/2018: Die Ausweitung der Verkehrskampfzone (auch eine Sommerbilanz)

Die Stadt München läßt sich von ihren amtlichen und nichtamtlichen Reklameabteilungen seit einiger Zeit gerne als „Hauptstadt des Radfahrens“ bezeichnen. Klar, denkt der unbedarfte Tourist nach ausgiebigem Genuß des aus südlicheren Gefilden mitgebrachten Adolf-Hitler-Weins: Radfahren ist Bewegung, da gibt es eine gewisse Tradition!
Zum Glück jedoch ist von der damals gemeinten Bewegung im Münchner Alltag so richtig virulent nur noch die Unterscheidung zwischen „lebenswert“ und „lebensunwert“. Radeln wiederum ist zumindest grundsätzlich keiner faschistischen Ideologie verdächtig, also ist gegen eine solche Bezeichnung zumindest grundsätzlich wenig einzuwenden.
Indes erweist die Sommerbilanz: daß ich auf dem Weg von meiner Haustür zu meinem bevorzugten Badeplatz in Thalkirchen (Zählung vom 23. August) an 32 Verkehrsampeln vorbeikomme, die die Blut- und Lebensadern der ganz Bayern durchfressenden Autokrebsgeschwulst vor allzu vielen unbefugten Eingriffen schützen. Das heißt: ich komme nicht daran vorbei, weil diese Ampeln samt und sonders so geschaltet sind, daß man als Radfahrer an jeder einzelnen davon anhalten muß, um für geraume Zeit eine leere Kreuzung und die Fressen der aktuellen Parlamentspappkameradenkandidaten des Autokrebses zu betrachten.
Das führt zu erwart- und sicherlich auch berechenbaren Aufweichungen der Verkehrsdisziplin: Nach einer gewissen Toleranzzeit (die in etwa einer traditionellen Ampelphase entspricht) fahren und gehen Radler und Fußgänger scharenweise einfach los. Stört ja eigentlich keinen. Nicht die Polizei, die sich ansonsten damit herumlangweilen müßte, grimmige Maschinengewehre spazierenzutragen und einen „Terror“ abzuwehren, den es gar nicht gibt. Und erst recht nicht die Stadt München, der es die solcherart abgezockten Bußgelder ermöglichen, auf eine angemessene Besteuerung der Autogeschwulst zu verzichten.
Die wiederum stört es am wenigsten. Die investiert einen Bruchteil der eingesparten Milliarden in weitere Ampeln und stellt die demütigenden Leuchtgeräte rund um ihr Brutbiotop am nördlichen mittleren Ring auf, damit dort auch sonn- und feiertags und nachts die Pilgerströme zum Tempel der modernen Weltreligion strömen können und zufällig Vorbeiradelnde ohne Interesse am BMW-Kult alle zwanzig Meter ein hübsches rotes Licht und photographierende Asiaten betrachten dürfen.
Stören tut es nur die Radler selbst, und deshalb rüsten sie auf. Und sie diversifizieren: Neulich raste uns auf der Autokrebsader, die quer durch den Englischen Garten pumpt und normalerweise zum Glück nur von Bussen, Polizeistreifen, Liefer-LKWS und ähnlichen Exemplaren genützt wird, ein Kindertretroller mit darauf befestigtem Börsenheini entgegen, dessen Höllentempo uns nur so lange verblüffte, bis wir das Nummernschild am hinteren Ende sahen. Ob das überhaupt erlaubt sei, fragte meine Begleiterin irritiert, während der Hund um unsere Beine herum einen Veitstanz aufführte, der ausnahmsweise nichts mit Lebensfreude zu tun hatte. Ich wußte keine Antwort, weil meine Kenntnisse in Sachen Verbote nicht mal dafür ausreichen, ungefähr zu erläutern, welche Rauschmittel man aktuell in welcher Menge erwerben, mitführen beziehungsweise konsumieren darf. Was den motorisierten Verkehr angeht, vermute ich schon länger, daß im Grunde alles erlaubt ist, was das Wachstum ankurbelt.
Drum schraubt man neuerdings an jedes ehemals friedliche Fortbewegungsgerät außer der Luftmatratze Motoren dran, elektrische meistens, die angeblich „nachhaltig“ sind, aber mit diesem Schmarrn wollen wir uns heute mal nicht befassen. Ein Effekt dieser Aufrüstung ist, daß die In- oder vielmehr Aufsassen der Maschinen schneller beim Baden sind als ich, weil sie in den Genuß der ansonsten Autos vorbehaltenen grünen Welle kommen. Nachteil: Der Mensch muß ja nicht nur zum Baden und wieder heim, sondern hunderttausend weitere Ziele erreichen, und außerdem kriegt er (wahrscheinlich wegen eines evolutionären Gendefekts) vom anstrengungslosen Herumschwirren sofort Lust auf noch mehr anstrengungsloses Herumschwirren.
So verwandeln sich nun auch Radwege, Bürgersteige, Fußgängerzonen, Trampelpfade und notfalls die gesamte Landschaft in die Kriegs- und Kampfzonen, die „unsere“ Straßen längst sind. Orientierungslose Greise auf tonnenschweren E-Bikes suchen vergeblich die Bremse, kollidieren mit den behelmten Piloten der Kinder-LKWs, mit denen das Elitepack schaukelnd und schlingernd seinen Nachwuchs vom Bioladen zur „Kita“ gondelt. Dazwischen springen, irren, hüpfen, taumeln und purzeln überforderte Normalmenschen mit ihrem Alltagsgepäck herum, landen im Rinnstein, krachen in Glascontainer und falsch (oder richtig, das ist kein großer Unterschied) parkierte herkömmliche Riesenautos hinein, laufen gegen Bäume, stürzen in Flüsse und Bäche.
Von den Tieren wollen wir gar nicht sprechen. Das herbstliche „Hä! Hä! Hä!“ der Krähen (die bekanntermaßen in Sachen Intelligenz dem homo sapiens weit überlegen sind, was man zum Beispiel daran sieht, daß sie weder Autos noch Fernseher noch Lohnarbeit erfunden haben) ist vielleicht hämisches Gelächter über das selbstmörderische Tohuwabohu da drunten. Oder sogar diese ansonsten gelassenen und kontemplativen Viecher sind so entsetzt von dem Wahnsinn, den der Mensch da mal wieder anzettelt, daß es ihnen elaboriertere Sprachäußerungen verschlagen hat.
Man könnte befürchten, daß demnächst auch die Fußgänger anfangen, sich für den Fortbewegungswettbewerb zu rüsten, mit Düsentriebwerken oder atomaren Elektrostiefeln. Man könnte hoffen, daß der heranziehende Winter dem wüsten Gemetzel einen Dämpfer verpaßt und die Erholungspause in den beheizten vier Wänden zu Einkehr und Besinnung führt.
Aber wie beim Menschen üblich, ist auch diese Hoffnung höchstwahrscheinlich vergeblich.

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Mittwoch, 13. Februar 2019

Frisch gepreßt #429: itoldyouiwouldeatyou "Oh Dearism"


Da drüben an der Ecke steht der stinkige alte Kulturkonservativist und erzählt mal wieder jedem, der vorbeikommt und Ohren hat, daß in der Pop- und sowieso der Rockmusik alles längst gesagt und vorbei und mehr als imitierende Repetition schon deswegen nicht mehr möglich ist, weil der Zahl der – eben – Möglichkeiten von der Natur weite, aber unüberwindliche Grenzen gesetzt sind. Ist ja auch gut so, sagt sein Faulpelz von Assistent, der seit dreißig Jahren jedes Lebenszeichen seiner damals bevorzugten Indie-, Alternative- und Sonstwas-Helden chronistenpflichtig verzeichnet und vermerkt und alles andere höchstens epigonal einsortieren bzw. ausblenden kann oder mag. Denn, sagt er, über manch eine „Entwicklung“ hüllen sich völlig zu Recht filternde Schleier des Vergessens.
Da immerhin sind wir uns einig. Emo zum Beispiel, kann sich jemand erinnern? Eine ganze Welle von Buben in knielangen Hosen, die aussahen wie karikierte Heilige in Mangaversionen biblischer Tragödien und sich ein Universum von Melodie, Stringenz und poetischer Verdichtung entfernt Lunge und Seele aus dem dürren Leib krähten, um der Welt mitzuteilen, daß ihr Mädel böse und weg und mit jemand anderem zusammen ist. Klar, die Erinnerung ist ungerecht, aber im wesentlichen war‘s das doch, was uns, angefangen wahrscheinlich mit dem schönen, Äonen nicht und von niemandem mehr gehörten Album „Dark Days Coming“ von 3, diese ganze Genregeneration hinterlassen hat. Liegt im Giftkeller, sicher versperrt mit der beruhigenden Gewißheit: Auf so eine dumme Idee kommt niemand mehr oder frühestens im Jahr 2100, wenn der letzte überlebende Zeitzeuge keiner mehr ist.
Ha! Und dann kommt mal wieder der Sailer daher, der sich bekanntermaßen zuerst immer die neuen Platten anhört, die sonst keiner hören will, die aber irgendwas an seinem mutierten Interesseorgan anrühren. Zum Beispiel mit einem rätselhaft schönen Cover und einem Titel wie „Oh Dearism“, den man intuitiv-ästhetisch versteht und doch nicht begreift – schon deswegen, weil er ein Zitat ist (Adam Curtis, bitte googeln!), aus dem sich ein weites Gespinst von Gedankengängen entfaltet, die das seltene Kunststück fertigbringen, ein Leuchten ins Gehirn zu zaubern.
Und dieser Sailer kommt dann mit einer Band daher, von der man sich zufällige Zehnsekundenschnipsel anhören könnte, ohne sie wiederzuerkennen, von denen aber jeder einzelne faszinierende Assoziationen (jeweilige Gipfelhöhepunkte von Progrock, Punkrock, hymnischem Stadionpop u. v. m.) auslöst. Da muß man einfach weiterhören, alles hören, und wenn man das tut, von Anfang dieses grandiosen, grandios ausufernden Albums an bis zum letzten Ton, dann ist man durch einen Mahlstrom der Begeisterung gedreht ein neuer Mensch geworden. Es ist im Grunde, zumindest per Behauptung, tatsächlich Emo, was diese junge Band aus London veranstaltet, aber es ist erstens so reich an Ästen, die in alle Richtungen wachsen, daß der Begriff ins Leere fällt. Es ist zweitens so gut, so unfaßbar schön und gut, daß Begriffe sowieso nicht hinreichen. Es ist drittens so gewaltig, ein solcher Planet von Kleinigkeiten, Details, Melodien, Rhythmen, Tempi, Gefühlen, Bildern, von denen nicht das winzigste fehl am Platz oder störend wirkt, daß man sich beim Hören derart biedere Gedanken gar nicht machen kann.
Okay, auch Joey Ashworth, Sänger und irgendwie Kopf der Band, weiß, was Emo soll, aber selbst eine Zeile wie „I was better when I was a baby / I only cried when I was tired or hungry“ (aus der unbeschreiblich schönen Single „Young Americans“) klingt aus seinem Mund nicht wehleidig, sondern poetisch, und das ist sie ja genau betrachtet auch. Über was Ashworth schreit, weint, die meiste Zeit aber singt, ist mehr mehr mehr, politisch, soziologisch, psychologisch im besten Sinne „progressiv“, anrührend, mitreißend, gehirnfunkend, geistreich, nachvollziehbar, anregend, ein Kosmos der Ideen und Gedanken, die andere akademisch in Leder binden ließen, die er aber per Emotion direkt ins Herz schießt. Und dazu: Melodien! Melodien! Songs! traumhafte Harmonien! Wut, Liebe, Begeisterung!
Wenn es je eine Platte gab, die den Schreiber dieser Zeilen beim Hören nicht nur mit ihrer Schönheit umgerissen, sondern zugleich klüger gemacht hat, in der er versunken ist wie in einem Ozean purer Empfindung, dann ist es diese. Wenn es je eine gab, die er dem Kulturkonservativisten und seinem hartleibigen Assi nicht nur ans Herz legen, sondern am liebsten per Rezept verordnen möchte – und dem Rest der Welt dazu – dann ist es ebenfalls: diese. Heureka Halleluja.

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Montag, 4. Februar 2019

Belästigungen 22/2018: Vom Borderline-Narzißmus unserer elektrischen Lebensgefährten

Der Herbst, vor allem der späte (in dem man selbst in Zeiten der Erderwärmung nicht mehr jeden Tag in die Isar hüpfen kann), ist eine seltsame Zeit. Da kommen Sachen zurück, an die man längst oder überhaupt keinen Gedanken mehr verschwendet hat. Damit meine ich (heute mal) nicht das angedrohte Comeback des möglicherweise schlimmsten Wirtschaftsfaschisten der 90er und Nuller-Jahre, der die letzte Zeit als Vorsitzender der notorischen „Atlantik-Brücke“ und Lobby-Pusher diverser Geldzentrifugen bis hin zum Weltvampir BlackRock (dessen deutschem Aufsichtsrat er vorsteht) damit zubrachte, unter anderem den deutschen Steuerzahlern dutzende Milliarden abzusaugen, und nun via Vorsitz der Größtpartei – für die er einst den Kampfbegriff „Deutsche Leitkultur“ ersann – sein soziales Vernichtungswerk zu vollenden trachtet.
Nein, für solch unerfreuliche Echo-Pömpeleien aus „Christiansen“-Zeiten hat ein empfindsamer Mensch zumindest im Herbst weder Nerv noch Zeit. Zumal er davon sowieso wenig mitkriegt, weil ihm eine vordem vollkommen unbekannte Organisation namens „PŸUR“ das zum Konsum der Nachfolgeformate selbiger Propagandaschau nötige Signal im Rahmen der offenbar staatlich beschlossenen „Volldigitalisierung“ abgeschaltet hat und der Fernseher nur noch das zeigt, was auch beim Blick in den Herbsthimmel das Bild erfüllt.
Dies berichtet dem seit Jahren fernsehabstinenten Berichterstatter die verzweifelte Freundin A, die hinzufügt, sie wisse noch nicht mal, wie man diese Organisation eigentlich ausspricht, und schon gar nicht, wer sie ermächtigt hat und wo sie überhaupt herkommt. Im Internet nachschauen könne sie nicht, weil ihr Computer, der monatelang vergeblich darauf wartete, daß sie vom Baden zurückkommt und ihn doch mal einschaltet, beim ersten solchen Versuch nur noch ein sanft blinkendes Fragezeichen zeigte und bei weiterem Nachbohren meldete, beim Wiederherstellen des ursprünglichen Aktivierungszustands sei „das Problem -69842“ aufgetreten.
Ganz anders C, der zur Verständigung mit der Außenwelt neuerdings auf sein rumpelndes, rauschendes und hin und wieder gewittrig donnerndes Festnetztelephon (ein Begriff, unter dem meine Oma etwas vollkommen anderes oder nichts verstanden hätte) zurückgreifen muß, weil das sauteure Smartphone (dito) nur noch seltsame Symbole anzeigt und gleichzeitig das Heimnetzwerk in eine Endlosschleife von gescheiterten Verbindungsaufbauarbeiten gefallen ist. Da sei wohl wenig zu machen, habe ihm ein „Experte“ mitgeteilt, weil es zur Reparatur eines nicht funktionierenden Netzwerks dringend eines funktionierenden Netzwerks bedürfe. Oder so ähnlich.
T wiederum, dessen „schwere Ausnahmefehler“ einst auch deswegen Stammtischthema waren, weil sie regelmäßig zu Wutanfällen und schließlich via Möbelzerstörung zur Scheidung und folgenden vorübergehenden Totalvereinsamung vor nicht mehr reagierenden Bildschirmen führte, trägt neuerdings eine Apple-Watch spazieren, von der niemand weiß, was er eigentlich damit anstellt. Das heißt: trug. Nämlich ließ er sich gedankenlos auf ein Softwareupdate ein, das kurz darauf vom Mutterkonzern zurückgezogen wurde, leider aber schon irreparablen Schaden angerichtet hatte, weshalb die Watch ausgetauscht werden muß, was aber dauert, weil er so viele Leidensgenossen hat.
OLED-Displays, Notch-Funktionalitäten, GUID-Partitionen, Triple-Kamera-Einheiten, WD6400BEVT-22A0RT0-Containermedien, Sealed-Sender-Signale, Waymo-Steuersysteme, Google-Doodles, Wordpress-Integrationen, Selective Sync Options, Pixeldichte-Erkennung, Travel-Mug-HealthKits, RSS-Feeds, WearSpaceNoiseCancelling … alles bricht zur Zeit ständig ab oder zusammen, wird gehackt oder von innen zersetzt. Die Smart-Home-Kaffeemaschine glotzt den ganzen Tag Basketball, das Mailprogramm schickt sich selbst Drohbotschaften mit Bitcoin-Forderungen, während in sämtlichen Ecken der verkabelten Wohnung alle möglichen Geräte mit vergeblichen Neustarts und Reformatierungen beschäftigt sind. Der Radio berichtet, ein Programm zur automatischen Kündigung mißliebiger Mitarbeiter habe als ersten den Mitarbeiter automatisch entlassen, der das Programm programmiert hatte. Dann meldet auch noch das automatisierte Tageshoroskop: „Heute erkennen Sie sehr genau, was sie fühlen sich von sich, aber auch Ihren Mitmenschen erwarten.“ Gaga akut!
Und nie – das ist das verbindende Merkmal des gesamtelektronischen Nervenzusammenbruchs, in den die Welt offenbar geraten ist – nie sind die Gadgets, Teile, Apps, Units und Programme selber schuld. Immer ist ihnen angeblich irgendwas von außen zugefügt oder angetan oder angefügt oder zugetan worden, von nicht benennbaren Geistern oder uns selbst oder notfalls russischen Hackern, die uns ja schließlich auch den derzeitigen US-Präsidentendarsteller aufgehalst haben.
Das wirft einen Verdacht auf, den (ungefragt per Spam) ein „Doktor der Philosophie und Life Coach“ verstärkt: „Der Narzißt“, berichtet er, „glaubt mit schlechtem Zugang zu seinem Selbst seine Gefühle immer von außen verursacht und empfindet dafür folglich auch keine Verantwortung“. Das kennt fast jeder aus Zeiten der Schwerstpubertät, und daß gleichzeitig das Festplattendienstprogramm meldet, es könne eine beschädigte Partition nicht reparieren, weil es selbst Teil dieser Partition sei, unterstreicht den Verdacht. Rasche Stimmungswechsel aufgrund solcherart gestörter Selbstwahrnehmung sprechen ebenso für das zusätzliche Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wie suizidale Handlungen, Selbstverletzungsverhalten, chronische Gefühle von Leere (zum Beispiel nach der Löschung einer Festplatte) und zwanghafte Versuche, ein Verlassenwerden zu vermeiden (wer schon mal sechzehn Stunden vor einem zickenden Laptop saß, weiß, was ich meine).
Warum es gerade im Herbst vermehrt zu so was kommt? Wir können es nur vermuten oder Analogien zum eigenen Weltschmerz unter trüben Himmeln ziehen. Die Elektropsychologie ist ein Gebiet, das noch wenig erforscht wird. Der Freistaat Bayern zum Beispiel pumpt zwar 20 Millionen Euro in den Ausbau eines „Zentrums für künstliche Intelligenz“, das aber vorrangig BMW beim Bauen menschenloser Autos helfen und über einen „Neurobiotik-Simulator“ das Hirnmodell einer Maus nachbilden soll.
Allerdings: auch das könnte eine Gewichtung sein, an der kein organisches Lebewesen beteiligt war, sondern nur ein schwermütiger Algorithmus. Der möglicherweise auch den eingangs erwähnten Merz wieder in die Welt gepufft und sich anschließend vor Gram selbst gelöscht hat.

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Samstag, 2. Februar 2019

Frisch gepreßt #428: The Rolling Stones "Beggars Banquet"


Was für eine hübsche (auto)biographische Koinzidenz: Während die erste (wichtige) Platte meines Lebens (heißt: zwei Platten, siehe das letzte Heft) noch Tag um Tag den Tag in ein Wunderland klirrbunter Erinnerungen taucht, schwuppt nach dem „Weißen Album“ der Beatles das unfreiwillig ebenfalls zumindest kerzenwachsweiße Album der Rolling Stones daher – und die Aufarbeitung des historischen Materials könnte unterschiedlicher nicht sein.
Aber erst mal ein bisserl (Auto)bio: Im Winter 1968/69 war – abgesehen vom Doors-Debut und wochenweisen Leihgaben (Monkees und Beach Boys) das Beatles-Album die einzige Musik in meinem Leben, die erste als „eigen“ empfundene sowieso. Aber selbst „Revolution 9“ lackierte sich nach wochenlangem Dauerdrehen mit einer Schicht von Repetitivität (und wurde auswendig, wenn auch rein phonetisch mitgesungen). Das erwachte Popbewußtsein hungerte nach mehr – und stürzte im Frühjahr 1969 den damals fünfjährigen Autor in zwei Dilemmata: Zunächst mußte aufgrund begrenzten Budgets nach Besuchen der Spielwarenhandlung Obletter und des Musikfachgeschäfts Lindberg (mit telephonzentralenähnlicher Abhörabteilung) zwischen Akustik (Platte) und Optik/Haptik (Matchboxauto) entschieden werden. Was relativ leicht fiel (Popbewußtsein!).
Dann folgte die schwierigere Wahl, die bis heute nicht auf ewig entschieden ist und Züge einer harmlosen Form von Schizophrenie trägt: Zwar ruderten damals auch die Beatles irgendwie zurück zu (ihren) Wurzeln, aber die Stones taten das nach dem Psychedelic-Schnickschnack des „Summer of Love“ mit einer solchen Vehemenz, daß man sich ab da entscheiden mußte: dies oder das! (Es kam zu Scheidungen und zersplitterten Freundeskreisen.)
Mein Herz schwankte und schwankt, aber zu mindestens 51 Prozent gehört es den Rolling Stones, die sich so einen „Schmarrn“ (in den Ohren des Fünf- bis Zwanzigjährigen) wie „Julia“, „Long Long Long“ und „Good Night“ sparten und dafür im Innenklappcover als wilde Halbkriminelle auf der dekadentesten Gelage-Nachparty zu sehen waren, die man sich nur vorstellen konnte – im gewaltschwangeren Dreivierteldunkel, das auch Songs wie „Sympathy For The Devil“, „Street Fighting Man“, „Stray Cat Blues“, „Parachute Woman“ und selbst „Salt Of The Earth“ verschattete. Kaum Zweifel: Die Beatles wollten spielen, die Stones umstürzen, was auch immer.
Es gibt nicht viele Musikaufnahmen, die nach fünfzig Jahren weder etwas von ihrer Brisanz, Dynamik, Effektivität, Abenteuerlichkeit, Frische, Energie und Brillanz verloren noch einen völlig anderen Charakter angenommen haben. „Beggars Banquet“ ist eine davon: Legt man die Platte heute auf, hebt sich augenblicklich der Vorhang, und 2018 verwandelt sich in das epochale, monströse Jahr 1968 (in dessen Dezember sie erschien) und seine diabolisch chaotische Nachgeburt 1969 (als idealisiertes Phantasiegemälde, das sie übrigens damals schon waren). Da ist kein Ton auch nur um einen Baumring „gealtert“, und was davon und wie angeblich 2018 „remastered“ wurde, überlassen wir den Hi-Fi-Freaks. Für alle übrigen Erdbewohner gilt: Dieses Album allein rechtfertigt die Anschaffung eines Vinylplattenspielers und der lautesten Lautsprecherboxen der Welt.
Die Dualität zwischen Popkönigen und Outlaws spiegelt sich heute übrigens auch oder vor allem in der erwähnten Aufarbeitung: Die Beatles waren damals (zerstritten und juristisch verstrickt, aber dennoch) Herren ihrer eigenen Schöpfung. Die Rolling Stones sperrte man ins Gefängnis, klaute ihnen die Songs und gab ihnen die Rechte daran bis heute nicht zurück. Deswegen ist diese „Anniversary Edition“ im Grunde ein Witz: Als „Bonustrack“ gibt es „Sympathy For The Devil“ in mono, als „Bonusmaterial“ das damals von Decca untersagte Toilettencover und eine Flexidisc mit Mick-Jagger-Radio-Telefon-Bla. Sonst nichts. Was andererseits auch nicht nötig und eigentlich symbolisch ziemlich treffend ist (und alles übrige haben der Nerd und der biographisch Betroffene ja sowieso längst auf hundert Bootlegs).

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Mittwoch, 30. Januar 2019

Frisch gepreßt #427: The Beatles „The Beatles (Super Deluxe Edition)“


1968. Ein normaler Beatles-Januar, der sechste: „Hello Goodbye“ führt die UK-Charts an, die Band eröffnet die Zentrale ihres Apple-Konzerns in Marylebone. Zwölf Monate später werden fast alle existierenden Ehen, Partnerschaften und die Band selbst geschieden, gescheitert, geplatzt sein.
Ticker: Im Januar nehmen die Beatles „Lady Madonna“ und Songs für ein Album mit dem Arbeitstitel „Get Back“ auf. Am 16. Februar fliegen John und George nach Indien, um Maharishi Mahesh zu besuchen, Ringo und Paul folgen. Der bärtige Guru schenkt George zum 25. eine Weltkarte aus Plastik. Derweil wird unter Fanprotesten der Liverpooler Cavern-Club geschlossen.
Ringo kehrt als erster zurück, um mit Elizabeth Taylor und Richard Burton die Premiere von „In 80 Tagen um die Welt“ zu feiern. Paul und Jane Asher folgen 14 Tage später, als „Lady Madonna“ Platz eins erreicht. Am 12. April sind alle wieder in London – enttäuscht vom Guru, der angeblich Mia Farrow begrapscht hat. Am 20. April bittet Apple per Anzeige um Demobänder, um die Einsender zu Millionären zu machen. Tags darauf wird bekannt: Die Beatles haben die Prüfungen der „Akademie für Transzendentale Meditation“ nicht bestanden.
Am 30. Mai beginnen im Abbey-Road-Studio zwei die Aufnahmen für ein unbetiteltes Album mit dem programmatischen Song „Revolution“ (1 und 9). Gast im Studio ist ein neues Gesicht: Yoko Ono. Die Arbeit gestaltet sich schwierig, weil alle vier mit einem Berg Songs ankommen und von Produzent George Martin verlangen, jeder einzelne müsse veröffentlicht werden. Sogar Ringo hat Sachen dabei, von denen es aber nur „This Is Some Friendly“ als „Don’t Pass Me By“ aufs Album schafft.
Erstmals sind Gastmusiker wie Eric Clapton (auf Harrisons „While My Guitar Gently Weeps“) dabei, erstmals singt eine Frau (Yoko Ono auf „The Continuing Story Of Bungalow Bill“), erstmals nehmen alle getrennt voneinander Songs auf, teilweise ohne die anderen zu informieren, in drei Studios gleichzeitig. Anfang August erwischt Ringo Paul dabei, wie er selbst Drums aufnimmt, und erklärt seinen sofortigen Ausstieg.
Das stört die Aufnahmen nicht sonderlich. Ohnehin waren Ringo und George schon Anfang Juni eine Woche ferngeblieben, um in den USA für Ravi Shankars Film „Raga“ vor der Kamera zu stehen. Als die australische BBC am 11. Juni die Aufnahmen filmt, ist nur Paul da und nimmt „Blackbird“ auf. John besucht derweil (erstmals öffentlich mit Yoko) die Theaterbearbeitung seines Buchs „In His Own Write“, George produziert Jackie Lomax. Ende Juni sind fünf Songs einigermaßen fertig.
365 weiße Luftballons verkünden am 1. Juli die Eröffnung der Ausstellung „You Are Here (To Yoko From John Lennon, With Love)“ in Mayfair. John verkauft seinen „psychedelisch“ lackierten Rolls Royce, eine Woche später sein Haus, die BBC sendet erste Ausschnitte aus „Yellow Submarine“. Während die Beatles eine über 27minütige Version von „Helter Skelter“ einspielen, trennt sich Jane Asher per TV von Paul. Eine Woche später schließt die Apple-Boutique und verschenkt ihr Inventar. Paul nützt den leeren Laden, indem er die Titel der nächsten Single aufs Schaufenster schmiert: „Hey Jude“ und „Revolution“. Am 22. August reicht Cynthia Lennon die Scheidung ein. Die bei den Sessions stets anwesende Yoko ist unübersehbar schwanger. Am 30. August erscheint „Hey Jude“, verkauft sich in drei Tagen über eine Million mal und bleibt bis Ende der Aufnahmen auf Platz eins der UK-Charts.
Als Ringo am 5. September wieder ein Beatle wird, findet er sein Schlagzeug mit einem Berg Blumen überschüttet. Erste Session mit Aushilfsproduzent Chris Thomas (George Martin ist in Urlaub): 17 Versionen von „Helter Skelter“. Am 13. Oktober spielt John „Julia“ als 32. und letzten Song ein, der Mix zieht sich noch Tage hin. Währenddessen entsteht gleich noch die Musik zu „Yellow Submarine“.
Am 18. Oktober werden John und Yoko wegen Drogen verhaftet und tags darauf auf Kaution entlassen. Zwei Tage nach der Ankündigung, sein Kind komme im Februar zur Welt, ist John geschieden; am 31. Oktober zieht Linda Eastman mit Tochter bei Paul ein. Im Queen Charlotte’s Hospital, wo John auf dem Boden übernachtet, „produzieren“ Yoko und er „Unfinished Music No.1 – Two Virgins“, das am 11. November erscheint. Zehn Tage später nimmt John die letzten Herztöne seines sterbenden Sohns auf. Kaum jemand kriegt mit, daß Ringo und George eigene Musikverlage gründen.
„The Beatles“ kommt am 22. Oktober 1968 in die Läden, mit 30 Tracks das erste und bis heute DAS klassische Doppelalbum der Popgeschichte. Jetzt: umfaßt es 107 Tracks auf sechs CDs und ist vielleicht das einzige Album, das durch den Deluxe-Wahn keinen Deut weniger grandios wird, sondern eher ein noch trefflicheres Abbild jener wilden, wirren Zeiten bietet (ebenso wie das beigelegte Poster, das gerne Quadratkilometerformat haben dürfte).

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Montag, 28. Januar 2019

Frisch gepreßt #425: Fucked Up "Dose Your Dreams"


Hardcore ist ein höchst eigentümliches Genre. Es entstand Ende der 70er Jahre und beruhte auf der (mutmaßlich irrigen) Annahme, die Unbeholfen- und -gehobeltheit, die den Bands der dritten bis fünften Punkrockliga mangels künstlerischer und handwerklicher Mittel mehr oder weniger zwangsläufig unterlaufen war, sei in Wirklichkeit ein Stilmittel oder müsse zumindest unbedingt zu einem solchen erhoben werden. Man verzichtete folglich auf alles, was den Verdacht eines Strebens nach Schönheit oder Anspruch, nach Verfeinerung, Tiefe und Ambivalenz erregen hätte können, und konzentrierte alle Kraft und Energie darauf, das nackte Geräuschgerüst so massiv, laut, grimmig, brutal und primitiv wie nur möglich in die Welt zu wuchten.
Das Ergebnis war manchmal beeindruckend brillant (etwa auf den ersten beiden Alben der UK Subs), oft peinlich bis lächerlich und grundsätzlich witzlos. Hardcore zeigte den Zustand der verrotteten, kurz vor der endgültigen Explosion stehenden Welt und Gesellschaft ungefiltert eins zu eins: Statt Atombomben melodisch zu beklagen, zündete man sie.
Jedes Genre hat seine Grenzen, und da es sich bei Hardcore um ein Genre handelte, dessen Grenzen per Grundannahme so eng, stramm und eisern festgezurrt waren, daß kein Haar darüber hinausragen durfte, drehte sich die Sache bald ziemlich im Kreis, so ungefähr wie ein Propeller, dessen Rotoren durch die Beschleunigung immer kürzer werden und sich deswegen immer schneller drehen. Jeder über „Schramm!“ hinausgehende Gitarrenton, jede rhythmische Synkope, jede vokale Äußerung, die sich von einer kehlkopfkrebskranken Luftschutzsirene unterschied, wies den Urheber als Ketzer aus, der umgehend ins Reich der Popmusik verstoßen wurde. Spätestens Mitte der 80er war Hardcore im wesentlichen eine stetig wachsende Ansammlung auch optisch identischer wandelnder Mülltonnen, deren ununterscheidbare akustischen Ausstoßungen, auf Samplerreihen wie „Killed By Death“ dokumentiert, die Hirnlähmung abbilden, die sie zugleich erzeugen.
Das ist inzwischen völlig anders, zumindest punktuell, zumindest bei Fucked Up, deren Name auf den ersten Blick so klischeemäßig wirkt, daß die Ironiefahne, die dahinter herauslappt, nicht zu übersehen ist. Fucked Up gelten als Hardcoreband, der „Gesang“ von Damian „Pink Eyes“ Abraham scheint (!) die Einordnung zu bestätigen, aber alles andere (und letztlich auch das) ist das exakte Gegenteil (auch von sich selbst). Das fängt an bei Künstlernamen wie 10.000 Marbles, Concentration Camp/Gulag, Mustard Gas, Young Governor und, ähem, Mr Jo, die an eine historiopsychotisch entgleiste Phantasie von Cpt. Beefheart denken lassen. Und es endet noch lange nicht bei dem Anspruch, auf dem neuen Album eine Rockoper zu inszenieren, die den Helden ihrer letzten Rockoper („David Comes To Life“, 2012), der zufällig so heißt wie der musikalisch nicht beteiligte Chefdenker David Eliade, durch eine Welt aus Gier, Konsumismus und Social-Media-Wahn begleitet, auf der Suche nach der Fähigkeit zu träumen, strukturell angelehnt an die 18 Kapitel von James Joyce‘ „Ulysses“ und vertont mit einem Riesenaufgebot an Instrumenten, Gästen, Arrangements, Brüchen, Zwischenspielen, Anleihen aus so ziemlich jeder coolen Richtung von Doo-wop bis Krautrock.
Und das soll Hardcore sein? Irgendwie schon, anders verstanden, als Ultraradikalität, was die stilistischen und sonstigen Mittel angeht – um alles, was gängig und gewöhnlich ist, machen Fucked Up seit jeher einen galaxisweiten Bogen. Man höre als zufälliges Beispiel mal ihren „Song“ „Looking For Gold“ von 2004: 16 Minuten, 18 Gitarren, drei Minuten Schlagzeugsolo und sechs Minuten Pfeifen. Aber die Frage, was es ist, läßt sich eigentlich nur mit dem Gegenteil von allem beantworten. Und das ist vollkommen egal.
Derartige Ansprüche gehen leicht mal in die Hose und sind in der Geschichte der populären Musik fast immer in die Hose gegangen. Und das ist das eigentlich Erstaunliche, was dieses Album über alle Kuriosität hinaus zur echten Sensation macht: Hier geht NICHTS in die Hose, kein Song, keine Passage, keine Zeile, kein Ton. Schon nach den ersten vier Tracks des Doppelalbums ist selbst dem tumbsten Hörer klar: Hier werde ich nicht verarscht oder überfordert, sondern mitgerissen in ein tobendes Destillat feinster Ohrwürmer und Instant-Klassiker, die mich den Rest meines Lebens begleiten und begeistern werden.
Dies ist dabei aber ein Album, das so randvoll ist mit Geschichten, Rätseln, Doppel- bis Fünffachdeutigkeiten, mit Poesie und Genie, daß es über die grandiose Musik hinaus Stoff für tatsächlich ein ganzes Leben bietet. Stellen wir es ins Regal mit den größten Doppelalben aller Zeiten, irgendwo zwischen „The Beatles“, „London Calling“, „Exile On Main Street“, „Warehouse: Songs & Stories“ und so weiter, ziehen wir es immer wieder raus und legen es auf und danken wem auch immer, daß er uns einst die UK Subs geschenkt hat, ohne die – so absurd das klingt – es „Dose Your Dreams“ wahrscheinlich nicht gäbe.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Belästigungen 21/2018: Der Mensch muß „los“! Und dann … ist er weg (wie alles andere auch)

Wir leben in mobilen Zeiten. Das bringt manchmal bizarre Auswüchse hervor. Zum Beispiel tendieren in meinem Wohnbereich Schlüssel, Telephone, Tabakbeutel, Kaffeelöffel, Haarspangen (nicht meine!) und andere Kleinteile dazu, plötzlich in Aufbruchsstimmung zu geraten und sich auf den Weg zu machen. Sucht man sie, sind sie … na ja, mutmaßlich irgendwo dort, wo man halt gerade so hinfährt, weil man da ein Praktikum machen oder Fitneßtätigkeiten betreiben kann. Gibt man die Suche erschöpft auf und kauft oder bestellt Ersatz, trudeln sie plötzlich wieder ein und tun so, als wär nichts gewesen.
Aber da sich dieses Phänomen auf meinen Wohnbereich beschränkt, hat es auf die allgemeine Weltlage weniger Einfluß. Wesentlicher ist, was die dafür zuständigen Damen und Herren für unsere Zukunft so vorhaben und zum Teil schon in die Tat umsetzen.
Die Zukunft, sagte einst Karl Valentin (so ungefähr), war früher auch besser. Der Papst sagt: Wichtig sei es, „Zukunft zu schaffen“. Die kommt nämlich nicht einfach so aus Kalendern und Uhren heraus! Gleichzeitig (während mir der Radio diesen Bullshit ans Ohr klebt) strömen laut Nachrichten 95 Prozent aller Regierungschefs der Welt zur UN-Vollversammlung nach New York, und man fragt sich, wann die Gelegenheit für einen James-Bond-mäßigen Schurken, der die Weltherrschaft anstrebt, je günstiger war: Der müßte seine Schergen ja praktisch nur noch hineintrommeln in die verwaisten Regierungspaläste, und schon könnte er genau die Zukunft schaffen, die seinesgleichen seit Goldfinger, Largo und Blomfeld erträumen.
Andererseits: Wie sollen Schergen von Großbösewichten heutzutage und erst recht im nahen Übermorgen irgendwo hinkommen? Wenn sie nicht an der ersten Straßenecke in ein selbstfahrendes Teslamobil hineinkrachen, das gerade einer feiernden Teenagermeute ausgewichen ist, hagelt und wimmelt es an der nächsten Straßenecke (eine Postfiliale!) nur so von Amazon-Lieferdrohnen, die dringend benötigte weitere Drohnen in die Bestellhaushalte hineinliefern müssen, aber nicht können, weil die dortig einwohnenden Besteller jobtätig sind und daher mobil (also ähnlich unterwegs wie meine Tabakbeutel und Briefkastenschlüssel).
Dann rumpelt eine Herde autonomer Lieferwagen daher, die zwar (wie der experimentelle Hersteller vermutet) „Verkehrszeichen und Ampeln erkennen können“, mit erratisch herumtobenden Hunden und einem plötzlich einsetzenden Gewitter aber heillos überfordert sind und sowieso ebenso niemanden antreffen wie die Lieferdrohnen, also wieder zurückfahren, irgendwohin.
Hinzu kommt: der normale Autoverkehr, der bis zum plötzlichen Zusammenbruch der Erdölwirtschaft noch mindestens zehn Jahre lang anschwellen, röhren und die Städte verstopfen wird – zumal die einzelnen Autos in den letzten zwanzig Jahren um jeweils zehn Kubikmeter Volumen, eineinhalb Tonnen Gewicht und dreihundert PS Terrorstärke gewachsen sind, dafür aber statt einstmals drei bis fünf nur noch je einen Insassen transportieren. Hinzu kommen Logistikpanzer, die das Zeug, das in die Lieferdrohnen und autonomen Lieferwagen hineingestopft und in der Gegend herumturbuliert wird, von Stadt zu Stadt karren. Hinzu kommen am Ende dann auch noch Ministerpräsident „Bavaria One“ und sein Autoförderungskabinett, die nach drei Frühstücksweißbier mit ihren Lufttaxis in die Staatskanzlei zu jetten beabsichtigen, aber im wahnwitzigen Gewitter der oben erwähnten Fahr-, Drohn- und Luftzeuge nur noch wild herumeiern können.
Wenn einer davon unmittelbar nach der Notlandung von einem selbstfahrenden Rasenmäher (womöglich entlaufen) zerschreddert wird, haben wir die nächste Regierungskrise am Hals und die CSU kommt am Ende nur noch auf 28 Prozent Wählerstimmen, weil der Rest … unterwegs ist.
Hinzu kommen … nein, kommen nicht. Zwar haben inzwischen Millionen von Privatdrohnen die vordem Vögeln und Insekten zukommende zivilisatorische Aufgabe übernommen, sich von Flugzeugturbinen zerfetzen und an Autoscheinwerfern plattfetzen zu lassen. Vögel und Insekten ruhen sich nun aber nicht etwa aus, sondern sind trotzdem weg, weil ihr einst so heiliger Luftraum zum wimmelnden „Standort“ (H. Kohl und Nachfolger) oder vielmehr zum tödlichen Wimmelbild (A. Mitgutsch und Nachfolger) entartet ist.
Mitten durch das Gesamtchaos von autonomen Flug-, Fahr-, Schweb- und Schwirrzeugen schießen (Gott sei Dank zum Großteil in Tunnelröhren) die einst unter dem romantischen Namen „Eisenbahn“ firmierenden Transportdosen, mit denen lebende Menschenwesen von einem Ort, Job bzw. Praktikum zum nächsten geballert werden, um dort Geld zu erzeugen und abzuliefern, nachdem sie einen Schlafplatz ergattert und die nächstliegenden Abgabestellen für Nahrungssurrogat und Koffein gefunden haben.
Wozu sie das tun, wozu das alles insgesamt und überhaupt gut sein soll, ist ein welthistorisches Rätsel – angeblich wollen die erwähnten Menschendarsteller unter anderem „sich verwirklichen“, was aber Bullshit ist, weil nachweislich noch nie einer von ihnen „wirklich“ geworden ist. Sie vegetieren ein paar Jahrzehnte, schaffen sich Fertigkeiten drauf, die die Kapitalmaschine am Laufen halten, während sie in der Gegend herumrotieren und herumgeschossen werden, und sind dann wieder weg.
Zurück bleiben: verstreute, in wenigen Jahrzehnten selbst zerfallende oder unlesbar werdende Datenträger mit Milliarden Bildern und Dokumenten, die das Gewese dieser Halbwesen festhalten sollten, aber niemanden je mehr interessieren werden (selbst wenn er sie entschlüsseln könnte). Und zurück bleiben: Schlüssel, Telephone, Tabakbeutel, Kaffeelöffel, Haarspangen und andere Kleinteile, die irgendwann von meinem Küchentisch verschwunden und leider zu spät wieder aufgetaucht sind.
Keine leichte Aufgabe für außerirdische Historiker, diesen Kuddelmuddel zu entschlüsseln. Aber immerhin haben sie was zu tun und müssen nicht gleich wieder „los“.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.