Mittwoch, 26. Oktober 2016

Belästigungen 20/2016: Von Beziehungen (ohne Sex), Nichtbeziehungen (mit Sex) und ein paar anderen „Begriffen“

Z hat mir neulich erzählt, sie führe jetzt eine „Nichtbeziehung“. Das sei zeitgemäß und trendig, außerdem habe sie sich das nicht unbedingt ausgesucht, und selbstverständlich führe sie diese Nichtbeziehung mit R, mit wem denn sonst.
Z ist seit ungefähr zehn Jahren, seit der letzten Schulklasse, mit R … nun ja, zusammen oder halt jetzt „nichtzusammen“; was sind solche Begriffe schon wert, „verheiratet“ heißt ja heute auch ganz was anderes als vor zwanzig Jahren, von „verlobt“ zu schweigen. Verlobt waren Z und R übrigens auch schon mal. Ich gestehe gerne, daß ich maßgeblich daran beteiligt war, ihnen (oder sagen wir: Z) diesen Schmarrn wieder auszureden. Eben wegen der Bedeutung der Begriffe, unter anderem.
Jetzt führen Z und R also eine Nichtbeziehung, was damit zu tun haben könnte, daß sie seit sechs Monaten nicht mehr zusammenwohnen, weil die Wohnung im Lauf der Jahre immer teurer geworden ist, die Arbeit von Z und R aber nicht. Eine ähnliche Situation gab es schon einmal, damals „mußte“ R nach Essen ziehen, wodurch aus der Beziehung eine „Fernbeziehung“ wurde, die beide an den Rand des Nervenzusammenbruchs brachte, weil die dauernde Telephoniererei neben den horrenden Kosten nur dazu führte, daß sie sich immer weiter entfernten, wie das der Telephoniererei halt so eigen ist: der eine äußert eine Information, der andere deutet mangels Augenkontakt etwas hinein (notfalls: „Du liebst mich nicht mehr!“, „Du verschweigst mir was!“ oder „Du hast was mit einer/m anderen!“), dann seufzt, schweigt, gurrt und tutzibutzit man so lange herum, bis die/der verliebteste Verliebteste sich vor lauter Überdruß irgendwas beliebiges Fleischliches herbeiwünscht, was man ohne Tutzibutzi anfassen kann.
Nun wohnt Z wieder bei ihrer Mutter (die mit ihrem Vater eine mutmaßliche „Nichtbeziehung“ führt) im äußersten Münchner Westen, R in einer WG im äußersten Münchner Osten, was Begegnungen und gemeinsam verbrachte „Quality time“ im Rahmen eines im modernen Sinne einigermaßen geregelten Berufslebens (Z macht circa zwanzig unbezahlte Überstunden pro Woche, R ist „frei“, arbeitet also technisch betrachtet rund um die Uhr) einigermaßen erschwert. Sie treffen sich alle ein, zwei Wochen, haben Sex oder nicht, besprechen ein paar Dinge, gehen hin und wieder essen. Das, hat R beschlossen, sei keine Beziehung, sondern eine Nichtbeziehung, die immerhin den Vorteil habe, daß man im Falle eines Falles sich nicht groß trennen müsse, weil man ja gar nicht zusammen sei, und viel problemloser als in einer Beziehung „Freunde bleiben“ könne.
Mir leuchtet das irgendwie ein. Wir, erkläre ich Z, führen ja im Grunde auch seit Jahren eine Nichtbeziehung: Wir telephonieren, smsen, facebooken, treffen uns ab und zu, haben hin und wieder Sex, betrinken uns und reden über alles, was uns beschäftigt. Aber Z hat wie meist sofort den passenden Zeitungsartikel parat, in dem erklärt wird, Nichtbeziehungen seien etwas ganz Schlimmes, weil man sie eben gar nicht groß beenden und daher auch keine „Verantwortung“ übernehmen müsse. O ja, sage ich, das ist bei „echten“ Beziehungen selbstverständlich ganz anders, schließlich dauere so eine Scheidung im Durchschnitt zehn Minuten, und die könne man auch nicht nach Lust und Laune erwirken, sondern nur wenn … na ja, man eben keine Lust mehr hat auf das Grinsgesicht mit Mundgeruch, das einem da seit Jahren schweigend am Frühstückstisch gegenübersitzt, oder wenn beim geringsten Ärger oder nach sechs Monaten ohne Sex eine der allüberall lauernden Beziehungshyänen daherkreucht und die/den einst Angebete(n) in eine Neubausiedlung samt Kind, Auto und Sky-Abo entführt. Da übernehme man schon eine gewaltige Verantwortung! Eine Nichtbeziehung wie die unsere hingegen sei völlig unverbindlich, weshalb wir uns auch nach jeder unserer seltenen, aber vehementen Streitereien höchstens ein paar Tage später mit dem schlechtesten Gewissen und der schlimmsten Reue der Welt versöhnt und gemeinsam über unsere Blödheit gelacht haben.
Da wird Z nachdenklich und kritzelt ein paar nicht zu deutende Graphen in den Zeitschriftenartikel hinein, wie sie das immer macht, wenn sie nachdenklich wird. Vielleicht, meint sie nach einer Weile, habe sie dann nicht mit R, sondern mit mir eine Beziehung und mit R keine Nichtbeziehung, sondern eher gar nichts, außer hin und wieder so ein … Dings, irgendwie.
Vielleicht, halte ich dagegen, habe sie mit R eine Beziehung und mit mir, so wie ich mit J und C und F und P und J und so weiter eine Beziehung habe, wie sie ja auch mit O und M und N und L, und vielleicht habe all das mit Sex und Zusammenwohnen und dem ganzen Quatsch überhaupt nichts zu tun, sondern überhaupt einzig und allein mit der Verantwortung, die man automatisch für Menschen übernimmt, die man mag und braucht und liebt, während man „eine Beziehung führen“ und heiraten und Kinder kriegen und sich dann wieder verpissen mit jedem beliebigen Menschen auf dieser Welt könne, nach Lust und Laune und vollkommen unverbindlich.
Und dann … rufen wir R an und sagen, er solle seine blöde Arbeit ein anderes Mal machen, und gehen uns betrinken und lachen die ganze Nacht, und am nächsten Nachmittag ruft mich Z an und erzählt, R habe sie gefragt, ob sie nicht doch wieder eine Beziehung mit ihm will, und sie habe gesagt, das sei schwierig, weil sie ja schon mit mir und O und M und N und L und der halben restlichen Welt eine Beziehung habe und das erst mal überdenken und definieren müsse, und jetzt sei er mal wieder stinksauer, aber das dauere ja bei ihm zum Glück immer nur zwei Tage.
Und ich denke mir, daß die Welt ohne Begriffe schon auch ganz lustig wäre. Aber vielleicht nicht ganz sooo lustig.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 17. Oktober 2016

Frisch gepreßt #376: Van der Graaf Generator "Do Not Disturb"


Wenn man drei Wochen lang toujours das (wegen des langen Vorlaufs nach wie vor und weiterhin) neue Album von De La Soul gehört hat, ist der Bullshit-detector in einem Maß geschärft, das für musikalische Schwächlinge lebensgefährlich ist: Freilich ist der Hunger nach neuen Beats, Tracks, Songs, Texten nach wie vor da und akut, aber kaum bis nicht befriedigend, schon gar nicht gewohnt orgasmisch zu stillen, egal was man hineinschüttet in den Musikverdauungsapparat:
Skylar Grey (zwei passable Tracks), Banks (coole Lyrics, sonst wenig); das Ausweichen aufs entgegengesetzte Terrain der spätnachgeborenen Emos und Coreluschen führt höchstens zu Boston Manor (möchten gerne Attack In Black sein, haben aber keine gute Idee), dann weicht man dem vorbeiwalzenden Aufmarsch der Indieopas und -omas aus (Feeder, Deacon Blue, Pixies, Lovebugs und weitere 80/90er-Mischpoke) aus und landet bei den herbstüblichen Mischungen aus Düster und Depri (Emma Ruth Rundle: zu viele heruntergestimmte Saiten, zu wenig Herz, zu viel Sehnsucht nach Anna Calvi) und ganz neuen Männern, die ganz alte Sachen zusammengrooven (Hiss Golden Messenger: fünf Tracks lang famos, dann wird’s fad, was genauso sein könnte, wenn man das Doppelalbum von hinten laufen läßt).
Und dann, weitere zehn Platten weiter, bricht die phonographische Bulimie (nicht fragen: wie man das Zeug aus den Ohren wieder hinauskriegt, wollt ihr gar nicht wissen) schlagartig ab und verwandelt sich mit einem Blick in den rosagefiederten Wolkenwahnsinn, in den der abendliche Planet Erde oktoberlich früh hineinkippt, in Sehnsucht: nach Wahnsinn, Wahnwitz, Irrsinn, ernsthaftem, aber völlig verstiegenem Anspruch, nach einer Schönheit, die nur aus Übertreibung und Abseitigkeit erblühen kann.
Nach, kurz gesagt: ähm. Progressive Rock? Aber wann hat man das letzte Progressive-Rock-Album gehört, das allgemeinverträglich, charmant, verrückt, schön und verspielt zugleich war? das nicht zur olympisch-akademischen Rekordorgie mit verklemmt-verschränkt-athletischem Overkill zu vieler rasender Kickdrums und gehirnzerfräsender Gitarrenschreddereien, gesichtslosem Operngesang, überhabenem Pathosgeschwaufe und pickeligem Nerd-Habitus ausartete? 1974? Trübsal.
Aber ach! Es ist die Saison der flammenden Sonnenuntergänge, und unter einem solchen kommt Kamerad Peter Hammill dahergeschlendert wie der irische Vampir Cassidy in „Preacher“ (dem er in seiner coolen Spindeldürre mit seinen bald 68 Jahren immer noch ähnelt) und schmeißt das neue Album seiner Band auf den Tisch, die sich bei ihrer Gründung 1967 (!) nach einer Maschine benannte, mit der man ungeheure Spannungen erzeugen kann (wer nie Physikunterricht hatte: Da stehen selbst meterlange Metalmatten zu Berge!), und damit den passendsten Namen wählte für das vielleicht spannendste musikalische Kollektiv aller Zeiten.
Aber das wissen Eingeweihte sowieso. John Lydon, Marc Almond, Graham Coxon, Bruce Dickinson, Luca Prodan, Mark E. Smith, John Frusciante, Julian Cope (man denke sich zu jedem dieser Namen außer Cope ein Ausrufezeichen in Klammern dazu) und unzählige andere, meistenteils obskure, aber äußerst interessante Künstler haben VDGG als den oder einen ihrer wichtigsten Einflüsse, als Idole bzw. Helden genannt – unvorstellbar, wie die Popmusik der letzten vierzig Jahre ohne sie aussähe.
Gut, und weil Peter so freundlich lächelt, legen wir die neue Platte auf und finden uns schon wieder in „Preacher“, in einer Showdownszene unter flammendem Sonnenuntergang, die sich alsbald wandelt in das dringlich brodelnde, hinreißend schimmernde, feurig glühende Chaos, diesen Seiltanz aus Wollen, Können, Müssen, Versuchen, Scheitern und Gelingen, dieses brechtianisch dräuende Fegefeuer, das für Julian Cope der Grund war, VDGG aus dem gerne inhaltlich betulich bis missionarisch fließenden Prog-Rock-Kanon herauszuheben.
O ja, solche Musik mag, auch wenn z. B. der flotte, ansteckend engagierte Spätsechzigerrocksong „Forever Falling“, die kokelnd-hymnische Unterweltballade „Room 1210“ und das tiefblau bowie-eske „Almost The Words“ anfangs anderes vermuten lassen, bisweilen anstrengend sein (und es empfiehlt sich nicht, einen solchen Brocken wie „(Oh No I Must Have Said) Yes“ zum „letzten“ Glas Wein nach dem ersten Rendezvous aufzulegen – außer man hat eine S/M-Neigung, die weit über diverse Grauschattierungen hinausgeht). Aber sie ist auch, was 99,9 Prozent der ansonsten veröffentlichten Musik nicht ist: riskant, wagemutig, wahnsinnig, schön, manchmal ungeheuer schön, und spannend. So spannend, daß selbst meterlange Matten zuverlässig zu Berge stehen.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 10. Oktober 2016

Belästigungen 19/2016: Ein paar grundlegende Fragen (und ein Ätschibätschi) für den goldenen Restsommer

Neulich war an dieser Stelle die Rede von den Ferien und ihrer Eignung, ja geradezu Prädestination zum Lernen – wobei es eben darauf ankomme, was man lerne und daß dies im Zweifelsfall zuallererst das Naturgesetz ist, daß Arbeit etwas Lästiges ist, dem man so weit wie nur möglich aus dem Weg gehen sollte.
Indes befürchte ich, daß vor allem ungeduldige Leser (d. h.: die jüngeren) über die Überschrift und ihre gerechte Empörung – „Bitte was? Lernen in den Ferien!? Blas mir den Schuh auf!“ – nicht hinausgekommen sind und grollend beschlossen haben, diese Seite hinkünftig zu überblättern, um nicht noch mehr solchen Schmarrn vorgesetzt zu kriegen.
Aber, liebe Kinder, gebt mir noch eine Chance, nun, da ihr sowieso der Ferien enthoben seid und wieder auf Tafeln, Overheadprojektionen und Bildschirme glotzen müßt, anstatt gelangweilte Erwachsene wie mich an Isar- und Seestränden mit sprachlich wie inhaltlich höchst reizvollen Einlassungen zu den Themenbereichen Sexualleben, alkoholische und andere Selbst- und Kollektivpflasterung, Grundverblödung der Elterngeneration und dem aktuellen Ausstoß an Hip-Hop-Novitäten zu infotainen. Nämlich ist Lernen an sich wirklich nicht von Übel, selbst wenn es einem im faden Klassenzimmerkarzer mit Ätschibätschi-Ausblick auf den goldenen Restsommer so erscheinen mag.
Ihr dürft euch nur nicht alles erzählen lassen, und gewisse Dinge schon überhaupt nicht, sondern die richtigen Fragen stellen. Wenn zum Beispiel die „Wirtschaftslehrer“ daherkommen und euch ihren Stuß vom heiligen Markt auftischen, der alles fein regelt und die Welt stetig verbessert und verschönert, dann dürft ihr ruhig mal zurückfragen, wieso die Welt dann immer schlimmer, schneller, häßlicher und kaputter wird und immer mehr Menschen hungern, krank werden, sich gegenseitig umbringen. Ob Wettbewerb wirklich ein Naturgesetz und Kooperation, Rücksicht, Bescheidenheit kuriose Ausnahmen sind. Fragt sie, wieso Wissenschaftler wissen, daß zunehmende Ungleichheit die Wurzel aller gesellschaftlichen und vieler medizinischer Übel ist, und wieso sie, wo sie das doch auch längst wissen könnten, das Gegenteil predigen, ohne den geringsten Beleg oder auch nur ein Indiz dafür zu haben, daß an ihren Behauptungen was dran sein könnte.
Fragt sie mal nach Begriffen wie Ausbeutung, Burnout, Umweltzerstörung, den Grenzen des Wachstums. Fragt sie, wieso ihr eure Lebenszeit, die doch das einzige ist, was ihr tatsächlich habt und was euch natürlicherweise zusteht, gegen Geld eintauschen sollt und ob ihr für dieses Geld vielleicht neue Zeit kaufen könnt. Laßt euch die psychologischen Strukturen freiwilliger Knechtschaft und die Unterschiede zur Sklaverei erklären. Oder fragt sie, weshalb ihr eure schulfreie Zeit damit zubringen sollt, in sogenannten „Praktika“ ganz normale Arbeit zu leisten, damit Geld zu erzeugen, von diesem Geld aber selbst nicht mal den üblichen kleinen Teil abzukriegen. Werft ihnen Namen wie Marx, Keynes und Adam Smith entgegen und fragt sie, ob sie schon mal eine Zeile von denen gelesen haben und wieso nicht.
Fragt sie dann am besten auch gleich, was der Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung ist, zwischen Bildung und Zertifizierung und zwischen Wissen, Können, „Qualifikation“ und Abrichtung zur Brauchbarkeit. Und warum ihr so dermaßen darauf versessen sein sollt, euch immer mehr und immer schneller eine „Bildung“ zertifizieren zu lassen, wo doch diese „Bildung“ seit dreißig Jahren einen regelrechten Boom erlebt und immer mehr Leute immer „gebildeter“ und „qualifizierter“ sind, während gleichzeitig die Dummheit galaktische Ausmaße annimmt und der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen der deutschen Bevölkerung unablässig schrumpft. Und wieso dieser Anteil schrumpft. Und wieso man unter „Bildung“ immer nur spezifisch spezialisierte Arbeitsvorgänge und Techniken versteht, die jeder Computer ohne weiteres genauso gut kann oder bald können wird, während es in tausend Jahren noch keinen Computer geben wird, der „unqualifizierte“ Tätigkeiten wie Poesie, Musik, Schneiderei und Landwirtschaft auch nur passabel nachäffen kann. Wieso Konzerne früher ihr Menschenmaterial selbst ausbilden mußten und das heute unter dem Etikett „Studium“ auf Staatskosten erledigen lassen. Und weshalb man ein Milliardenvermögen erben kann, ohne die geringste „Qualifikation“ vorzuweisen, und dafür nicht mal Steuern bezahlen muß – laßt euch da aber nicht den Bullshit verzapfen, das Milliardenvermögen sei schon mal versteuert worden und dürfe deswegen nicht noch mal besteuert werden. Schließlich habt ihr (bzw. eure Eltern) das Geld, mit dem ihr zum Beispiel Zigaretten kauft, ja auch schon mal versteuert, und trotzdem beschwert sich kein Lobbyist dieser Welt über Tabak-, Mehrwert- und andere Nochmalsteuern.
Ihr könntet dann auch noch fragen, wie überhaupt jemand auf die Idee kommen kann, Geld oder Grund und Boden sein Eigentum zu nennen, wo das eine doch ein Tauschmittel und das andere Teil eines Planeten ist, der grundsätzlich niemandem gehören kann und auch noch nie gehört hat. Und wieso sich irgend jemand das Recht herausnimmt, anderen etwas wegzunehmen oder vorzuenthalten, das diese anderen dringend brauchen. Und so weiter und so fort – der folgerichtigen Logik des menschlichen Denkens sind kaum Grenzen gesetzt, wenn man sich den metareligiösen Kleister erst mal aus den Augen gewischt hat.
Wenn ihr euch dann die ratlosen Gesichter, die verqueren Windungen und peinlichen Drucksereien eurer „Wirtschaftslehrer“ lange genug angeschaut habt, dann spendet ihnen Trost. Erzählt ihnen, daß sie nicht die ersten sind, die von der real existierenden Wirtschaft nicht die geringste Ahnung haben, hat doch schon die vor ziemlich genau 223 Jahren guillotinierte österreichische Franzosenkönigin Marie Antoinette auf die Klage, das Volk habe nicht genug Brot, geantwortet: „Dann sollen sie halt Kuchen essen.“
Und wenn ihr das säuerlich versöhnte Grinsen ebenfalls lange genug betrachtet habt, dann trumpft ihr mit eurer Bildung auf: Nix Kuchen! „Brioche“ hat sie gesagt, und das ist auch nichts recht viel anderes als Brot! Und außerdem hat sie das überhaupt nie gesagt! Sondern kolportiert hat das Zitat der „Zurück zur Natur!“-Philosoph Rousseau, als Marie Antoinette gerade mal neun Jahre alt war. Und dann fragt ihr den Herrn Lehrer ganz zum Schluß, ob er eigentlich an den Weihnachtsmann glaubt (der übrigens keine Erfindung von Coca-Cola ist).
Und während er darüber nachsinnt, schleicht ihr euch hinaus in den goldenen Restsommer und kümmert euch um wichtigere Sachen. Ätschibätschi!

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 6. Oktober 2016

Frisch gepreßt #375: Warpaint "Heads Up"


Es ist so eine Sache mit den „next big things“: Jeder will es werden, aber keiner mag es gewesen sein, weil es nämlich kaum etwas Älteres und Ranzigeres gibt als das „next big thing“ vom letzten (oder notfalls diesem) Sommer. Mitleid gebührt den Trendverkündern, die sich auf ein „next big thing“ einigen und festlegen und das dann durchziehen müssen, weil schließlich das, was mal ein „next big thing“ war, nicht plötzlich irrelevant werden kann. Dann hat man so etwas womöglich ein Leben lang am Hals und wird es nicht mehr los, außer es löst sich von selbst auf. Dem „next big thing“ folgt für gewöhnlich ein zweites Album, das sich sehr bald ganz unten in den Ramschkisten einnistet (oder kann sich noch jemand an „... But The Little Girls Understand“ und „Room On Fire“ erinnern?), dann kommt ein Comeback nach dem anderen, das jeweils kurz „puff!“ macht. Vor allem aber kann sich ab dem zweiten Album niemand mehr erinnern, wieso das mal das „next big thing“ sein sollte. Das fällt einem mit leichter Wehmut nach zehn oder zwanzig Jahren angesichts der Anniversary Edition wieder ein. Vorausgesetzt, es kommt kein „Comeback“ dazwischen.
Warpaint, vier Damen aus Los Angeles, hatten da ein Stück Glück: Sie waren tatsächlich mal ein „next big thing“ (2009 mit ihrem Debütalbum „The Fool“), aber das bekam damals niemand so richtig mit, und so konnte es geschehen, daß sie 2014 anläßlich des zweiten Albums (mit dem smarten Pseudodebüttitel „Warpaint“) noch mal zum „next big thing“ erklärt wurden und auf einer Woge von Wichtigkeitsbehauptungen durch die Medien surften. Und sie waren clever genug, bald darauf in Nischen und Nebenzimmern zu verschwinden, mal hier eine Kollaboration, mal dort ein Soloprojekt – der Name Warpaint blieb so frisch genug, um niemandem bei den Ohren herauszuhängen.
Album Nummer drei zeigt eindrücklich die Probleme, die es aufwirft, als „next big thing“ ein „next big thing“ abliefern zu müssen, und wie man sie lösen kann: Es beginnt mit „Whiteout“ recht unspektakulär – der Track, der sicher nicht zufällig nach der weißen Flüssigkeit benannt ist, mit der man in Zeiten vor Bildschirmschrift und Löschtaste Tippfehler übertünchte, ist schon vorbei, ehe man bemerkt, daß er einen irgendwie an Sommerendhits aus den späten 70ern erinnert. „By Your Side“ öffnet dann einen großen Hallraum, in dem Fetzen vager Melodien und Geräuschbrösel herumschwirren wie Herbstlaub in einem verlassenen Swimming-pool, zusammengehalten nur von einem steten, ziemlich (gewollt) käsigen Beat mit antiker Klatschmaschine. Das, denkt man, kann doch irgendwie nicht funktionieren und gutgehen. Aber das tut es dann doch: Mit der Single „New Song“ kommt plötzlich ein so richtig genialdoofer Ohrwurm mit Tanzzwang daher, der noch dem verstocktesten Melancholiker das Herz erweicht und es schweben läßt wie eine Flocke rosa Zuckerwatte über dem Lüftungsschacht.
Und danach stimmen dann auch die Beats, und obwohl die Harmonien und Melodien weiterhin fragmentiert und vage bleiben, ist das Gesamtbild stimmig und rund wie eine Nebellandschaft von Caspar David Friedrich, durch die eine einsame Eisenbahn ihre unbeirrbar gerade Bahn zieht. Wann immer einem das Album aus der Aufmerksamkeit zu gleiten droht, kommt ein kompakter und dennoch nicht auf ein Signal oder einen Chorus reduzierbarer Track wie „So Good“ daher, der bei aller Ungreifbarkeit und experimenteller Unschärfe bis ins Detail so perfekt erscheint wie eine neapolitanische Korallenkamee. Und dann geht es mit „Don't Wanna“ wieder in den Nebel der gelassenen Melancholie, aber nun weiß man sich sicher: Das Wechselbad hat eine verläßliche Mitte der Stabilität. Da kann auch mal der gitarrenballadeske Anfang von „Don't Let Go“ in einen psychedelischen Lavastrom mit Led-Zeppelin-Anklängen ausufern – insgesamt fügt und integriert sich alles wie Steinbröckchen in den Ringen des Saturn.
Nein, „Heads Up“ ist kein „next big thing“, aber das vielleicht bildmächtigste, suggestivste, widersprüchlichste, stimmigste und stimmungsreichste Herbstalbum, das es zumindest in diesem Jahr geben kann. Ob wir nächstes Jahr oder in zehn Jahren noch verstehen, wieso es das war (oder noch ist), spielt dabei (und überhaupt) keine Rolle.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.