Freitag, 30. Juni 2017

Belästigungen 07/2017: Guten Tag, Herr Regenschirm! Hätten Sie gerne eine Welt?

Ich kann mich an mein erstes Matchbox-Auto erinnern (Rolls Royce Phantom V). Ich kann mich an meine erste eigene Single erinnern (The Beatles, „Get Back“), die erste LP („Beggars Banquet“), an meinen ersten Schultag („Schau links, schau rechts, schau gradeaus, dann kommst du sicher gut nach Haus“), den ersten Füller (Pelikan), den ersten Banknachbarn („Mein Name ist Oliver, wollen wir Freunde sein?“), an meinen ersten Kuß (schwarzer Lippenstift in Benediktbeuern!), das erste Radl (mit Stützrädern und Spielkartenmotor).
Ich weiß noch, wie meine erste abonnierte Zeitschrift hieß („Teddy – Lesen und spielend lernen“), meine erste Freundin (wird nicht verraten), auf welcher Linie ich das erste Mal Trambahn gefahren bin (1, passenderweise), welches Thema in meiner ersten Unterrichtsstunde im Gymnasium behandelt wurde (Schulstrafen), wofür ich meinen ersten Verweis bekam (einen Schubser im Turnunterricht), wie mein erstes „richtiges“ Fußballspiel ausging (1:9 gegen Neuperlach), wie die erste Band hieß, die ich auf einer Bühne sah (Subject Esq.).
Aber komischerweise habe ich keinerlei Erinnerung an meinen ersten Regenschirm. Um ehrlich zu sein und etwas weiter auszuholen: Ich kann mich so richtig an überhaupt keinen Regenschirm erinnern, zumindest an keinen eigenen (an einen fremden schon: Der gehörte einem Buben im Hort, war aus durchsichtigem Plastik und so cool, daß ich ihn vor Neid kaputtmachen mußte). Ist es möglich, daß ich mir noch nie einen Regenschirm gekauft habe?
Das ist sehr gut möglich. Regenschirme sind eigensinnige Weltbewohner, die es nie längere Zeit an einem Ort hält. Man findet sie kaum in Privaträumen (Ausnahmen wie der Schirm, der Spitzwegs „Armen Poeten“ davor schützt, vom undichten Dach durchnäßt zu werden, bestätigen die Regel und wirken gerade deshalb kurios); gerne beziehen sie vorübergehend Quartier in Begegnungsstätten wie Kneipen, am liebsten aber sind sie unterwegs. Wenn ein Tram-, S-, Eisenbahn- oder sonstiger Zug ohne einen einzigen Regenschirm als Passagier durch die Gegend fährt, hat es mit Sicherheit seit Wochen nicht geregnet und wird dies auch noch wochenlang nicht tun.
Da ähnelt der Schirm dem Menschen, dessen Entwicklung zum Kulturwesen einst damit begann, daß er seßhaft wurde und – eben – die Gegend um sich herum kultivierte. Im Lauf der Zeit erblühten solcherart Anwesen, Dörfer, Städte und Ballungszentren, bis der Mensch eines Tages beschloß, es sei nun wieder genug mit der Kultur und es müsse etwas Neues her.
Fortan wurde nicht mehr gehegt und gepflegt, sondern weiterentwickelt; schließlich lehrte die Lehre von der Evolution, daß nichts, was es gibt, vollkommen oder auch nur vollständig ist, sondern immer lediglich ein Zwischenschritt, eine Haltestelle sozusagen, durch die der rasende Schnellzug der Entwicklung jedoch ohne anzuhalten hindurchbraust, bis er endlich … nein, ein Ende gibt es nicht, alles strebt ewig weiter nach vorn und oben.
Logisch, daß es auch mit der Seßhaftigkeit bald vorbei war. Stillstand, lehrte man nun in den Unterrichtungsanstalten, sei der absolute Horror, es müsse sich etwas und am besten alles bewegen, und zwar fort. Fortschritt und Fortbewegung wurden die hehren Ideale einer neuen Ideologie, die dem Menschen nicht mehr erlaubte, sich hinzusetzen und wohlzufühlen. Vielmehr wurde er mobilisiert und dynamisiert, und statt Kirchen, Burgen, Palästen und andere für die Ewigkeit gedachte Wohnstätten für Körper und Geister baute man nun Autos, Bahnen, Flugzeuge, Raketen, mit denen man alles mögliche konnte, aber auf keinen Fall: bleiben. „Indem man den Prozeß des Werdens betonte“, schrieb der Philosoph Jürgen Dahl, „kam der Sinn für das Gewordene zu einem Teil abhanden.“ Selbst sogenannte Konservative interessierte irgendwann nur noch, „was hinten rauskommt“ (H. Kohl) und nicht mehr das Gewordene, das sie vorne reinsteckten in die Fortschrittsmaschine, als die sie den Planeten betrachteten.
Im Zuge dieser Umwälzungen kamen – bezeichnenderweise etwa zur gleichen Zeit wie Dampfmaschine und Eisenbahn – die Regenschirme in die Welt, die es zwar schon länger gab, die aber bis dahin niemand so recht mochte, weil sie als „französisch“ und weibisch galten und wahrscheinlich wegen ihrer Unstetigkeit und mangelnden Treue inbesondere der relativ lange und stur seßhaften Landbevölkerung unheimlich waren. Nun setzten sie sich durch, milliardenfach, und bevölkerten die Welt bald ebenso dicht wie der neue Typ Mensch, der Homo promovens, der den Homo sapiens abgelöst hat und unablässig damit beschäftigt ist, sich fortzubewegen und fortzuschreiten, im täglichen Existieren und Wirtschaften wie im weltgeschichtlichen Entwicklungsprozeß, der nie enden und nie zum Stillstand kommen darf.
Seltsame Vorstellung: daß eines nicht so fernen Tages, wenn der Mensch die Erde für sich selbst unbewohnbar gemacht hat und ausgestorben ist, noch eine ganze Zeit lang vollautomatische Autos, Züge, Schiffe und Flugzeuge durch die Gegend eilen werden, in denen ausschließlich Regenschirme herumstehen und -liegen (und ein paar Fliegen brummseln und Käfer krabbeln), unbekannten Zwischenstationen entgegeneilen und sich möglicherweise im stillen wünschen, es möge doch mal eine Evolution anbrechen und sie befähigen, irgendwo auszusteigen, sich ein bißchen umzuschauen, möglicherweise seßhaft zu werden und eine Kultur einzuleiten.
Wie ich auf einen solchen Schmarrn komme? Auch daran kann ich mich erinnern: weil mein letzter Regenschirm gerade nach Karlsruhe eingefahren ist und ich, vor dem Bahnhof stehend, mich kurz und nebenbei frage, wo er wohl als nächstes hinreist, ohne mich.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 29. Juni 2017

Belästigungen 06/2017: Mit dem Steckerleispapier in den Andromedanebel (und nicht mehr zurück)

Früher, als wir klein waren, steckten uns die Erwachsenen manchmal ein Zehnerl zu, wegen einer guten Schulaufgabe oder weil wir dringend zum Friseur gehen sollten oder einfach so, weil sie uns mochten. Zum Friseur ging damit niemand, weil ein Zehnerl dafür schon damals nicht gereicht hätte. Statt dessen stürmten wir zum Giesinger Bahnhof, wo die dicke Frau in ihrem Standerl Steckerleis verkaufte und ein hellgelber Klotz, der in Alupapier gewickelt war und entfernt nach Vanille schmeckte, genau ein Zehnerl kostete.
Das Alupapier, das man selten in einem Stück vom Eis bekam, war zu nichts zu gebrauchen, also warfen wir es einfach irgendwohin. Eines Tages indes ermahnte mich ein Erwachsener, das tue man nicht, weil dann der Straßenkehrer das ganze weggeworfene Alupapier mühsam zusammenkehren müsse und überhaupt alles immer schmutziger werde. Das leuchtete mir ein: Eine Welt, in der der Straßenkehrer keine Arbeit mehr hat, sondern friedlich in der Wiese liegen und philosophieren kann, erschien mir durchaus schöner als die unsere.
Daraus wurde aber nichts, wie wir feststellten, wenn wir bisweilen aus unserem Viertel und der Stadt weg in die Landschaft hinausgekarrt wurden: Da lag überall Dreck herum, und offensichtlich gab es am Starnberger See und in der Pupplinger Au auch keinen Straßenkehrer, weil der Dreck immer mehr wurde und die Landschaft langsam, wie es ein Erwachsener trefflich ausdrückte, in eine Kloake verwandelte. Allerdings handelte es sich bei dem Dreck größtenteils nicht um Steckerleispapier, sondern um Autowracks, alte Reifen, blecherne Benzinkanister und Fässer, Schrotteile und alles mögliche Undefinierbare.
Das stand der Natur gar nicht gut, und drum wurde stante pede ein „Naturschutz“ erfunden, der Abhilfe schaffen und den Urzustand wieder herstellen sollte. Der Erfolg hielt sich in Grenzen. Zwar sprach bald jedermann vom Naturschutz, selbst die Regierung, die allgemeiner Ansicht zufolge vor allem dafür zuständig war, daß Fortschritt und Aufschwung ungehindert schreiten und schwingen konnten und die Arbeiterklasse nicht aufmüpfig wurde. Aber die Berge an Dreck und Müll wuchsen unaufhörlich, weil die Industrie immer neue Möglichkeiten fand, Dreck und Müll in die Welt zu bringen: Lebensmittel gab es plötzlich nicht mehr in braunen Papiertüten, sondern in praktischen Plastikhüllen, wie es überhaupt alles nur noch in Plastik gab und das meiste sowieso aus Plastik bestand.
Wenn ehedem ein Möbel nichts mehr taugte, wurde es zerlegt und mit den Brettern etwas Neues gebaut oder der Ofen beheizt; die Nägel zog man raus und klopfte sie mit dem Hammer gerade. Nun gab es Möbel, die überhaupt keine Nägel mehr enthielten, sondern nur seltsame Ösen und Nieten, die zu nichts mehr zu gebrauchen waren, wenn die Möbel nach ein paar Jahren schief wurden, auseinanderfielen und als Dreck und Müll in der Natur landeten, weil sie auch nicht mehr aus Holz waren, sondern aus Plastik, Sägespänen, Asbest und Formaldehyd.
Da fragte der naive Michi im Schulunterricht, wo man uns beibrachte, daß man möglichst wenig Plastik kaufen soll, wieso man die Herstellung von Dreck und Müll nicht einfach verbiete, und erfuhr: Verbote seien nie gut, weil es so was nur im Kommunismus gebe, und man müsse vielmehr an die Vernunft der Menschen appellieren und Anreize schaffen, weil man damit zugleich die Wirtschaft ankurbeln könne.
Nachdem man einige Zeit Naturschutz betrieben, an die Vernunft appelliert, Anreize geschaffen und die Wirtschaft angekurbelt hatte und die Berge von Müll und Dreck weiter gewachsen waren, stellte man fest, daß es eine Natur inzwischen nicht mehr gab, aber immerhin noch eine Umwelt, also die Welt um die wuchernden Siedlungen, Industriegebiete und Mülldreckberge herum. Also sprach man nun von „Umweltschutz“, appellierte an die Vernunft, schuf Anreize, und weil ein paar Radikale fanden, es sei vielleicht gar nicht so gut, die Wirtschaft noch weiter anzukurbeln, wurden sie von Bundeskanzler Schmidt als „Umweltidioten“ und von einem fortschrittsgläubigen Raketentechniker mit dem vielsagenden Namen Krafft A. Ehricke, der nebenbei Feuilletons über die Entwicklung der Menschheit in Springerzeitungen hineintippen durfte, als „Kohlrabiheilige“ beschimpft.
Der Krafft nämlich war, wie damals viele, überzeugt, die Menschheit müsse den gesamten Weltraum erobern und seine Rohstoffe ausbeuten, weil die Erde sowieso überbevölkert und nur so das oberste Ziel der menschlichen Spezies zu erreichen sei: weiteres und absolut unbegrenztes Wachstum sicherzustellen. Daran hatte er bereits seit 1942 in Peenemünde für seinen Führer gearbeitet, dessen Wachstum aber bekanntlich nicht einmal ins Sonnensystem vorgedrungen, sondern bereits in Stalingrad zum Erliegen gekommen war.
Der naive Michi war damals zwar von Science Fiction begeistert, aber die Vorstellung, (zum Beispiel) hundert Millionen hungernde Afrikaner ins Weltall zu katapultieren, damit sie eines Tages im Andromedanebel Wienerwaldfilialen und Atomkraftwerke errichten, um die Wirtschaft anzukurbeln, erschien mir irgendwie unromantisch und ziemlich doof. Zumal die Müll- und Dreckberge weiterhin ungehemmt wuchsen. Inzwischen wurden die in Plastik geschweißten Lebensmittel praktisch nur noch fertig verkauft und bestanden selbst aus Müll und Dreck, den man achtlos in die Gegend pfefferte, weil irgendwas mit „Recycling“ draufgedruckt war. Verbieten mochte immer noch niemand was, weil, wie es inzwischen hieß, „der Markt“ das schon selber regle. Das tat er: Fastfoodketten holzten die Regenwälder ab, um noch mehr Platz für lebendes Rindfleisch zu haben, und produzierten mit einem Bruchteil ihrer Milliardenprofite umweltbewußte Aufklärungsfilme über die Abholzung der Regenwälder, die man hamburgermampfenden Schulkindern zeigte, auf daß auch sie umweltbewußt würden.
Weil der „Umweltschutz“ offensichtlich überhaupt nichts, sondern höchstens das Gegenteil bewirkte, fand man dann ein neues Motto und wollte nunmehr das Klima schützen. Dazu richtete man ein kompliziertes System von Konferenzen und Gipfeltreffen ein, zu denen Horden von Entscheidungsträgern und Experten mit unzähligen Flugzeugen und Autos geflogen und gekarrt wurden und dabei Unmassen von Gasen ausstießen, die allgemeiner Überzeugung zufolge das Klima schädigten. Logischerweise sah man davon ab, sinnlose Flüge und Autofahrten und sonstige Ausstoßereien von Gasen zu verbieten, und einigte sich darauf, an die Vernunft zu appellieren, Anreize zu schaffen und solcherart die Wirtschaft anzukurbeln.
Heute wiederum nehmen nur noch ein paar Ahnungslose das Wort „Klimaschutz“ in den Mund, weil inzwischen klar ist, daß der Mensch das Klima ebenso wenig „schützen“ kann wie zuvor Natur und Umwelt. Vielmehr ist man sich nun einig, daß wir im „Anthropozän“ bzw. „Kapitalozän“ leben, in einem neuen Erdzeitalter also, in dem der gesamte Erdball bis ins kleinste Fitzelchen so total und absolut vom Menschen und seinem Dreckmüll durchdrungen und zugrundegerichtet ist, daß es nur noch darum gehen kann, den Laden einigermaßen am Laufen zu halten, damit er uns nicht sofort um die Ohren fliegt.
Wie das genau gehen soll: weiß noch niemand. Andromeda ist weit, Krafft A. Ehricke tot, Straßenkehrer gibt es nur noch sehr vereinzelt (weil benzinbetriebene Blasgeräte ungleich mehr Krach machen und Gas ausstoßen, also praktischer sind), und das Standerl am Giesinger Bahnhof ist längst verschwunden. Schade, sonst täte ich mir jetzt gerne dort ein Eis kaufen und der dicken Verkäuferin das Alupapier zurückgeben. Sie könnte es ja aufheben und mein nächstes Eis wieder damit einwickeln.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.