Freitag, 22. Dezember 2017

Belästigungen 23/2017: Gemein: Schweinsbraten öffentlich geschlachtet (ohne schlechtes Gewissen)!

Als Mensch, der kein Fleisch ißt, hat man es manchmal nicht leicht. Das heißt: Man hat es selbstverständlich schon leichter als die Menschen, die Fleisch essen, weil man gesünder, friedlicher und ohne das dräuende schlechte Gewissen lebt, das viele Fleischesser mit sich herumschleppen, die deswegen auch bei jeder Gelegenheit betonen und beteuern, sie wollten ab jetzt oder ganz bald auch endlich kein oder jedenfalls viel weniger Fleisch essen, wegen der Umwelt und den armen Tieren und weil das doch alles ein Wahnsinn sei, diese industrielle Massenhaltung und so.
Das bleibt einem erspart, allerdings nicht ein anderes schlechtes Gewissen, das einen zwangsläufig überkommt, wenn man all diese Schwüre und Beschwörungen über sich ergehen lassen muß, immer verbunden mit dem zerknirschten Geständnis, man sei halt noch nicht ganz so weit und könne sich hin und wieder (was in solchen Fällen heißt: immer) einfach nicht beherrschen, wenn einem Wammerl, Ripperl, Lüngerl, Sülzerl, Würstl, Backhendl oder Omas wunderbarer Schweinsbraten vorgesetzt werde.
Man könnte diesen Menschentyp den Überzeugungs-Beinahe-Vegetarier nennen: Tagtäglich studiert er Zeitungsartikel und glotzt Fernsehsendungen, in denen ihm erklärt wird, was für ein gigantischer Skandal die Fleischproduktion und -fresserei ist, geht in sich und gelobt ganz arg Besserung, bis ihm vom vielen Geloben und Selbstzerknirschen der Trotzkragen platzt. Dann pfeift er auf die Halden von Bio- und sonstiger Gutmenschnahrung im Kühlschrank, zieht los und stopft sich Hamburger und Currywurst in die Wampe, kippt einen Schnaps hinterher und stimmt im Überschwang der Seligkeit Tiraden auf die blöden Körnerfresser und Kohlrabiapostel an, die ihm seinen Lebensgenuß vergällen wollen. Die sollen gefälligst ihr Tofugematsche nicht „Wurst“ nennen, weil wir ihnen sonst aufs Dach steigen, und wenn schon, denn schon!
Am nächsten Tag schleichen die armen Sünder dann wieder schwer bratenverkatert durch die Gänge der Biosupermärkte, legen Kürbis, Pastinake und Urkorn in den Korb und informieren sich eifrig über die Unterschiede zwischen Quinoa und Chia. Und so geht das immer weiter, ein Teufelskreis der abwechselnden Selbstkasteiung und Entgrenzung, dessen Anblick so mitleiderregend ist, daß man ihnen am liebsten sagen täte, sie sollten sich doch nach Herzenslust ihr Schweinernes hineinhauen, damit man wenigstens die abwechselnd schuldbewußten und hochmütigen Gesichter nicht mehr anschauen muß.
Es ist eine seltsame Geschichte mit dem Menschen und seinem Fleisch, das ihm so irre gut schmeckt, zumindest wenn es kein Gesicht hat und nicht mehr als süßes Tier erkennbar ist, von dem er aber gleichzeitig weiß, daß es einmal ein Gesicht und ein Leben und alles mögliche hatte, was er auch hat. Zum Beispiel hat mir noch nie jemand schlüssig erklären können, weshalb man ein Schwein selbst als Ferkelkind jederzeit verzehren kann, einen rein äußerlich (zumindest im gebratenen Zustand) sehr ähnlichen Hund jedoch keinesfalls. Oder eine Katze: freilich, die ist putzig, pelzig und possierlich, aber gilt das für Kaninchen etwa nicht?
Dann kommt die Sache mit dem Schlachten ins Spiel, das offenbar ein derart obszöner Vorgang ist, daß niemand was damit zu tun haben will (außer er leidet an komplett durchgeknalltem Midlife-Machismus und frißt sein Tier am liebsten roh, wenn nicht lebendig). Wieso können empfindliche Gemüter, wenn sie Zeuge der Tötung eines Huhns werden, die daraus produzierte Hühnersuppe nicht mehr genießen (oder frühestens drei Tage später)?
Zufällig meldet gerade heute die Boulevardpresse einen ungeheuerlichen Vorgang: Ein Metzger in einem Schweizer Dorf hatte angekündigt, er wolle „dem Publikum sein traditionelles Handwerk nahebringen“ und werde zu diesem Zweck auf offener Straße zwei Säue schlachten. Offenbar war sein Dorf nicht einstimmig gewillt, sich so etwas nahebringen zu lassen: Der örtliche Pfarrer protestierte ebenso wie Tierschützer, denen jedoch nicht etwa der Schutz der Tiere am Herzen lag, sondern vielmehr das Seelenheil der Fleischesser – nämlich wurde nicht der Mord an zwei fröhlichen Zeitgenossinnen bemängelt, sondern dessen öffentliche Aufführung. „Öffentlich darf eine solche Gewalt nicht gezeigt werden“, mahnte der Pfarrer. In Drohbriefen mußte sich der wackere Fleischhandwerksmann gar sagen lassen, er sei auch nicht besser als das Terroristengeschwerl vom IS, das ebenfalls öffentlich töte.
Immerhin „einige Dutzend Zuschauer“ wollten dann doch sehen, wie die „Schlachtung samt Zerteilung vollzogen“ wurde. Photographieren und Filmen durften sie allerdings nicht. Am Ende wären die grausen Clips als Selfie mit Darm o. ä. auf Instagram gelandet – nicht auszudenken, welche Auswirkungen das auf die Eßmoral gehabt hätte, als man sich hinterher in einem Festzelt versammelte, um schlachtfrische Blut- und Leberwürste zu verzehren. Aber glotzen, Blut spritzen sehen und ein letztes Gurgeln hören wollte man halt doch, vorher.
Zufällig fand sich in demselben Boulevardblatt die folgende „Meldung“: „Worüber unterhielten sich Vater und Mutter, der Sohn und seine Ehefrau in dem BMW X3? Waren sie vergnügt, oder fielen in dem schweren SUV laute Worte? Was hatten die vier Familienmitglieder vor, wenn sie ihr Ziel in Rosenheim erreicht haben würden? Was führte schließlich zu dem schweren Unfall auf der Autobahn A8 in der Nähe von Irschenberg? Auskunft wird nur der Vater geben können, wenn er von seinen schweren Verletzungen genesen ist. Denn die drei anderen Insassen des Autos sind tot – gestorben am Sonntagnachmittag an einem Baum, gegen den der BMW gekracht ist.“
Ich ahne, daß irgendwo in diesem widerwärtig schmalzig-seimigen Salm ein Indiz verborgen ist, um die Mixtur aus Verdrängung und Verfettung, Todesangst und Mordlust, Gaff- und Freßgier zu erklären, die den modernen Menschen nicht nur am Eßtisch plagt. Aber darüber weiter nachzudenken, fiele mir schwerer als eine rohe Rinderniere zu verzehren.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 14. Dezember 2017

Im Regal: Werner Fuld "Das Buch der verbotenen Bücher. Universalgeschichte des Verfolgten und Verfemten von der Antike bis heute"

Unter den vielen sinnlosen Betätigungen menschlicher Autoritäten ist das Verbieten von Schrift-, Ton- und Bildträgern vielleicht die sinnloseste. Wer erinnert sich nicht an den Reiz idiotischer Erotik, primitiver Krimibrutalität, grellbunter Comics, martialischer Militär-Science-fiction, den all diese (und andere) Sumpfblüten des Bücherregals einzig dem Umstand verdankten, daß die Eltern sie als Schund, Schmutz, als Quellen unausweichlicher Manipulation und Verblödung gebrandmarkt und die Lektüre, oft schon das bloße Herausziehen untersagt hatten? Die Frage, wie das Zeug überhaupt ins Haus gekommen war, stellte sich nicht, erforscht mußte es werden, und immer war das Ergebnis Ernüchterung: Von Spillane bis Perry Rhodan, von Hansrudi Waescher bis Henry Miller erwies sich fast alles als unlesbar, schlecht, mindestens langweilig, aber das änderte nichts am Reiz; der blieb und führte dazu, daß das Zeug später „Kult“ wurde, als zerfleddertes Original für ungeheure Summen gehandelt, in Plastikfolie konserviert gelagert, nachgedruckt in Werkausgaben mit Kommentar und Expertise.
Dort im Regal stand, zumindest bei uns, übrigens auch das Werk des vielleicht schlechtesten deutschen Schriftstellers aller Zeiten, das indes (im Gegensatz zu manchem Akim-Comic) nie seit seinem Erscheinen „richtig“ verboten war, jedoch unter Aufbietung aller Mittel der Buchkunst – Lederrücken, Eichenholzimitat, Goldschnitt sowie (o Ironie der bösen Absicht!) Schwabacher „Judenletter“ – so monströs häßlich gestaltet, daß einen die Lust auf auch nur kursorische Lektüre schon beim Anfassen verließ.
Mit Hitlers Schwarte ist die Sache eine etwas verschlungene, versucht doch etwa der bayerische Staat in Form seines Finanzministeriums als selbsternannter Inhaber der „Nutzungsrechte“ derzeit wieder einmal, eine der vielen „Studien“- beziehungsweise „Dokumentations“- und jedenfalls Geldmacherei-Ausgaben gerichtlich zu verhindern, was auf den ersten Blick angesichts der ubiquitären Verfügbarkeit so lächerlich erscheint, wie es ist. Sollen sie ihn doch lesen oder zu lesen versuchen, den Schund, möchte man spontan rufen und den Fall damit für erledigt halten; aber so ist das mit den Verboten und der Zensur: Sind sie einmal in der Welt, strahlt ihr Glorienschein auch von nachträglichen Erlaubnissen unbeschattet weiter.
Daß der Hitler damit in derselben Kiste landet wie Nabokov, Proust, Flaubert, ist ein weiterer Dreh der Ironieschraube, die mehr Windungen hat als der längste Stahlstift im Kasten des Mechanikers. Es scheint so gut wie nichts zu geben, was nicht irgendwann einmal von Pädagogen, Herrschern, Religionsfanatikern und anderen Dumm- und Wirrköpfen jeder Coleur, von Besorgten und Bösen, Aufrechten und Verlogenen verboten worden wäre, meist aus einer Gemengelage von Motiven heraus, die schwer zu entwirren ist; und es wäre all dies in seiner offensichtlichen Peinlichkeit, Paradoxie und Hilflosigkeit ein treffliches Feld des Amusements, wenn nicht so viel Blut, Elend, Wahn und Grauen daran klebte, wenn nicht neben den Büchern oft genug auch deren Autoren und notfalls Besitzer und Leser auf Scheiterhaufen gelandet oder wenigstens gefoltert, verjagt, drangsaliert, ruiniert worden wären.
Aber amüsieren tut sie einen halt doch, diese Geschichte, weil sie gar so überreich ist an Irr- und unfreiwilligem Witz, der damit, daß es die meisten verbotenen Bücher ohne Verbot längst nicht einmal mehr als ferne Erinnerung gäbe, erst beginnt und noch lange nicht mit dem Versuch der Nazis endete, eine ganze Schrift (siehe oben) zu verbieten. Dazwischen tummeln sich: Autoren, die ihre Werke aus Reue, Einsicht, Vorsicht oder übertriebenem Hang zur Selbststilisierung vernichteten (um wie Franz Kafka aus der Welt zu verschwinden oder wie Margaret Mitchell überhaupt erst in sie einzutreten), Fürsten, die Boten durch die Welt schickten, um sämtliche verfügbare Pornographie einzusammeln, sie sorgsammlerisch verwahrten und zugleich strengst verpönten, eine katholische Kirche, die jahrhundertelang dermaßen vehement am Indizieren war (und ist), daß sie sogar das Lesen der Bibel verbot und man sich fragt, wann die Leute überhaupt noch Zeit fanden, ihre Gottesdienste abzuhalten (daß sie Kant für schädlich hielten, Hitler jedoch nicht, ist nur angesichts der Masse verwunderlich). Oft ist kaum noch nachzuvollziehen, was die Verbieter ritt: Ovid rätselte selbst, weshalb ihn Augustus ans Schwarze Meer verbannte, aber alle seine Schriften anstandslos veröffentlichen ließ. Und dem wunderbaren italienischen Großzyniker Dino Segre alias Pittigrilli wäre es sicherlich noch nach seiner Bekehrung eine Epistel wert gewesen, wenn er miterlebt hätte, daß sein famoser Roman „Kokain“ nicht nur von den Nazis und ihren Erben verboten wurde (weil er geeignet sei, „die Phantasie junger Menschen in ungesunder Weise sexuell zu erregen“, wie es 1954 hieß, wobei man gerne wüßte, was darunter zu verstehen ist), sondern 1988 mal wieder auf dem „Index für jugendgefährdende Schriften“ landete – und zwar nicht etwa weil das Buch nur so staubt vor verbotenen Betäubungsmitteln, sondern unter Berufung auf das Urteil von 1933 und folgende Passage: „Er nahm mich, stehend, gegen eine Tür gedrängt, wie man einen Schmetterling durchbohrt.“ (Im Original: „come si trafigge una farfalla“ – wogegen die italienischen Faschisten nichts einzuwenden hatten.)
Ob Welt- oder Selbstbilder wanken (von Galilei bis hin zum Exbeziehungsgeschwiemel eines Maxim Biller), Jugend oder Staat gefährdet sind, Erregung jedweder Art, von Erektion bis Massenwahn, zu befürchten steht oder (wie im 18. Jahrhundert in China) Hirnschaden durch mindere stilistische Qualität – Gründe zum Verbieten, Ächten und „Hinrichten“ von Büchern finden sich immer, und wenn man mal anfängt, ist der Furor schwer zu bremsen. Werner Fuld, der uns einst per Bestseller erklärte, „warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen“, müht sich in einem gewaltigen historischen Bogen unter Aspekten wie „Politiker und Propheten“, „Unmoral und Diktatur“ und „Persönlich und privat“ um Ordnung und Erklärung, sitzt dabei aber passagenweise der selbsterfundenen „Bildungslüge“ auf und ergeht sich in Aufzählungen, die außer Ermüdung wenig bringen und auch mal über die Wahrheit hinwegfegen (wenn er etwa nahelegt, die Dominikaner hätten im Mittelalter Hexen verbrannt). Wo er ins Detail geht und panoramisch blickt, ist sein Buch spannend, lehrreich und schön zu lesen, trotz vielen kleinen Fehlern (etwa der völligen Ignoranz gegenüber der unterschiedlichen Bedeutung der Wörter „mehrfach“ und „mehrmals“). Vor allem aber ist es eine reiche Quelle von Absurdem, Skurrilem und Haarsträubendem. So trug etwa die erste Liste, die Grundlage der Bücherverbrennungen im Mai 1933 wurde, den Titel „Schöne Literatur“ und war mit dem Hinweis versehen, ob die bösen Bände „alle ausgemerzt werden müssen, hängt davon ab, wie weit die Lücken durch gute Neuanschaffungen gefüllt werden“ – da schrieben die volkstreuen Dichter wohl nicht schnell genug. Gerne liest man auch von der Bücherverbrennung in Düsseldorf 1965, von der Ungleichbehandlung teurer und billiger Ausgaben desselben Buchs (weil „Pornographie zur Masturbation anrege und dadurch die Leistungsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung geschwächt werde“, nicht jedoch die anderer Klassen), vom Bürgermeister des Städtchens Burgdorf, der Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ vorantrieb, indem er „Schweinkram“ wie das Buch „Bikini“ (in dem es jedoch nicht um knappe Badekleidung, sondern um Atombomben ging) aus der Stadtbibliothek entfernen ließ, und vom US-Bücherhasser Anthony Comstock (1844-1915), der sich der Vernichtung von 160 Tonnen bedruckten Papiers rühmte (weniger allerdings die etwas präpotente Anmerkung, jemand „hätte ihm beizeiten alle Knochen brechen sollen“).
Eine Gänsehaut befällt einen allerdings bei dem Furor, mit dem Fuld im 10. Kapitel über die DDR und ihre Literatur herfällt („was in der DDR veröffentlicht wurde, verdient diesen Namen nicht“). Das ist bei aller Legitimität auch der bösesten Kritik so unangemessen und peinlich, daß man befürchten muß, da habe etwas von den erwähnten chinesischen Zensoren auf den Autor abgefärbt.

geschrieben Ende Januar 2012 für KONKRET

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Belästigungen 22/2017: Natur, Kultur und Kürbisbrust (und noch ein paar so Sachen)

Neulich radelte ich an einem Reklameplakat für den Münchner Tierpark vorbei. Darauf zu sehen: eine Giraffe, hübsch sympathisch dreinblickend, und der Spruch „Papa, schau mal … ein Zebra!“
Da wurde mir die Krise erst bewußt. Eine kurze Recherche ergab, daß die heutige Jugend von der Natur so gut wie gar nichts mehr versteht. Die gestrige übrigens auch nicht unbedingt, mit galoppierend fortschreitender Tendenz: Nur ein Drittel der Sechst- bis Neuntkläßler weiß, wo die Sonne aufgeht, nur ein Viertel, daß sie Ende Juni am längsten scheint (die übrigen kriegen sie vermutlich sowieso nie zu sehen). Im Wald (den sie wohl nur aus Reklameplakaten im Supermarkt kennen), glauben die Kleinen, wachsen neben Äpfeln und Birnen vor allem Ananas, Mango und Banane. Den Größeren wiederum waren schon vor fünfzehn Jahren Pokemon-Monster vertrauter als irgendein Viech, das in ihrer Umgebung (sagen wir: hundert Meter) kreucht und fleucht.
Man nennt das (und vieles weitere) heute „Nature Deficit Disorder“ und macht sich Sorgen (oder nicht „man“, sondern ein paar schrullige Typen, die die Welt außerhalb der Bildschirme für interessanter und wichtiger halten als Börsenkurse, Wettbewerbsdrillspielchen und lebenslanges Training in Ausbeutbarkeit). Freilich: ein Kind, das sechzehntausend Apps kennt, aber nicht den Unterschied zwischen Zebra und Giraffe, ist ein armes Kind. Dem muß man helfen!
Die Erkenntnis ist nicht neu. Schon zu Zeiten meiner frühen Kindheit mühte sich die Erwachsenheit, besorgt über und aufgerüttelt durch unser fast monomanisches Interesse an italienischen Rennautos, Fußballspielern und (etwas später) utopischen Rißzeichnungen von Perry-Rhodan-Raumschiffen, uns beizubringen, wie eine Giraffe aussieht, ein Zebra, ein Löwe, ein Wolf und ein Elefant. Dazu schleppte man die Brut gerne in den Tierpark, wohin man nicht mal Donald-Duck-Hefte mitnehmen durfte (auch nicht mit dem Argument, da gehe es schließlich um Enten und Gänse).
Hingegen schwieg man schulischerseits (außer im Singunterricht) weitgehend von Amsel, Drossel, Fink und Star, gar Zaunkönig, Girlitz, Stieglitz usf. Pah, schien der Lehrplan zu sagen, bis ihr groß seid, ist das Kroppzeug sowieso ausgestorben! Außerdem kennen wir es selber nicht, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, neue Fahrwege für Rennautos zu bauen und Rißzeichnungen für Raumschiffe zu erstellen! Lernt gefälligst, daß Wasser eine Oberflächenspannung hat und bei hundert Grad zu Dampf wird, daß ein Motor durch Benzinexplosionen in Gang gehalten wird und das blaue Blechschild mit dem weißen Auto bedeutet, daß man hier nicht radeln darf! Was ihr über die Natur wissen müßt, erfahrt ihr per Käfig in Hellabrunn und sonntagvormittags von Dr. Grzimek.
Zusätzlich gedämpft wurde mein Interesse an der Natur, als ein sehr bärtiger Bekannter, ein Pionier der damals langsam sich wöllenden Grünen Partei (die übrigens rein gar nichts mit der heutigen Partei der Grünen zu tun hat; die hieß damals noch FDP, während es die heutige FDP damals gar nicht gab, weil noch niemand auf die Idee gekommen war, in der radikalen Marktdiktatur ein erstrebenswertes politisches Ziel zu sehen), – jedenfalls erklärte mir der Proto-Oköpax, eine Natur gebe es auf der Welt oder zumindest in Europa generell nicht mehr, das sei alles durch und durch Kultur.
Da fragte ich mich, was das nun sei, und erfuhr, daß man zu Zeiten der Nazis die urwüchsige deutsche Kultur (den kraftstrotzenden, Pflugschar und Streitaxt schulternden germanischen Stahlschädel und seine kürbisbrüstige Pomeranze mit dem gebärfreudigen Brauereiroßarsch) der verhaßten Zivilisation entgegengestellt hatte (hauptverdächtig: die verjudete Feingeisterei der dünnblütigen Intellektuellen). Andererseits sollte ausgerechnet der Goebbels gesagt (oder vielmehr: seinen literarischen Vor- und Mitdenker Hanns – gesprochen Hannnnnnß – Johst zitiert) haben, wenn er das Wort „Kultur“ höre, entsichere er seinen Revolver. (Erneut zitiert fand ich das Zitat dann bei Boris Vian, ironisch, aber egal.) Jedenfalls: von Natur keine Rede! So wurde mir schon als Bams zumindest halbklar, daß folglich auch der Tierpark alles andere als Natur zeigte, sondern vielmehr: Kultur.
Wie passend, daß ich das eingangs zitierte Tierparkplakat auf einem bunkerartigen Kleingebäude entdeckte, das von (vermutlich nicht der wirklich erwachsenen Generation zugehörigen) Graffitikünstlern bunt gestaltet war. Da stand um das Giraffenbild herum zwischen zielführendem Pfeilgewölk in modisch verschnörkelter Schrift, wie man die kulturisierte Natur richtig nach Begriffen sortiert: „Reich – Division – Klasse – Ordnung – Familie – Genius (sic) – Spezie (sic!)“.
Da scheinen sie auf, die Werte der deutschen Kultur: Reich! Ordnung! Familie! (Die „Klasse“ verweist vermutlich ideell nicht auf selbigen Kampf, sondern auf die Schule.) Nebenbei und ungehört zwitschert der notorische Störenfried dazwischen, in den letzten dreißig Jahren seien in selbigem Deutschland drei Viertel aller Insekten (gemessen als wirtschaftskonforme „Gesamtmasse“) ausgestorben und die meisten Vogelarten zumindest so selten geworden, daß eine normale städtisch-humanoide Arbeitsameise sie im Lauf ihres Lebens mit Sicherheit nicht ein einziges Mal in echt zu Gesicht bekommt. Was kümmert uns das? Immerhin wissen wir, daß eine Giraffe kein Zebra ist!
Auch mir, ich gestehe es, geht gelegentlich das Messer in der Hosentasche auf angesichts dessen, was sich in Deutschland „Kultur“ schimpft, was herausstinkt aus Fernsehgullis, Bierzelten und Knallheften an Dumpfgestampfe, Blödgeschwall, grellem Mist und biederem Odel, was an Reklamekunst und Kunstreklame zwischen die Autobahnen hineintrompetet wird, was häppchenschmatzende Krawattenheinis auf „Messen“ als „Literatur“ feiern, als wäre der primitive, in Schnellkursen an „Instituten“ zusammengeklopfte Schmonz mehr als schwarz betupftes Altpapier.
Andererseits frage ich mich aber, wozu der heutige Nachwuchs, der in einer Umgebung nachwächst, wo selbst im grünsten Grünstreifen nur noch fünf EU-genormte Pflanzenarten vegetieren und zehn Sorten Tierchen zwischen Industrieschornstein und Autobahnterror ihre traurigen Kreise drehen, – wozu der heutige Nachwuchs in einer solchen Welt wissen soll, wie man all das Zeug, das es früher mal gab, früher mal nannte? Wenn er das Glück hat, in einen Tierpark geführt zu werden, darf er immerhin ahnen, daß es schön war und daß selbst der traurige Rest, der davon noch übrig ist, schön ist, ganz egal, wie er heißt.
Und dann aber husch! zurück ins wirkliche Leben: vor den Bildschirm.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 9. Dezember 2017

Frisch gepreßt #402: Zugezogen Maskulin "Alle gegen alle"


Wir leben in großen Zeiten wirrer Analysen: Ein ganzes Land, ach was: ein ganzer Kontinent, ein Halbplanet fragt sich, weshalb in seinen Parlamentspalästen plötzlich Horden von geschniegelten bis rüpeligen Nazis und anderen rechtsextremen Grimmgesichtern und Brüllfratzen drinsitzen. Fragt sich aber nicht, wieso es/er die Banden erst so lange durch die mediale Bekanntmachungsklappermühle von Talk und News gedreht hat, bis sie als manifeste Wirklichkeit aus dem Beton und Asphalt seiner Straßen erstanden, und sie dann auch noch selbst da hineingewählt hat. Fragt sich auch nicht, was an den endlos wiedergekäuten Hohlargumenten so zeitgemäß und attraktiv sein könnte, daß sie mittlerweile aus allen übrigen Parteizentralen so blechern schrill herausschallen, daß das „Original“ dasteht wie eine Fichte im Brombeergestrüpp und dort links drüben, wo mal Vernunft, Debatte, Streit und eben Analyse ihren Ort hatten, eine gigantische Wüste gähnt.
Gesiegt hat die Dekonstruktion. Deren letztes Plätschern umspült den Einzelmenschen, der durch seine Biographie von Erstellung und Konsum rödelt und inzwischen so oft „Kapitalismus“ gesagt hat, daß er auch „Wurst“ sagen könnte. Wie ist er da gelandet, diesseits seiner/aller Träume? „Mein Zimmer war eng, klein und muffig. Punk war tot und das Lego verstaubt. Durch die Straßen dröhnte die Stille, und dann kam da dieser Sound.“ Gemeint ist: der blechmaskierte Brutalo-Rap der frühen Nuller, dessen Urzgurz-Stimmklang und Trotzbub-Attitüde in Grim104 und Testo lange nach Anstoß und Erweckung nachhallen – wie im Namen (vgl. „Südberlin Maskulin“, Fler/Godsilla 2008).
Aber die Faust im Kopf ist aufgegangen, hat sich gespreizt zu mindestens fünf Zeigefingern, dem Rührei-Hirn ist eine Sarkasmusdrüse gewachsen: „Ohne Staat und Kollektiv, wie schlägt man da die Zeit tot? Beisenherz, Dagi Bee, Snapchat, Psaiko.Dino“ und „Was sagt ihr zu 'Kollegah trägt Versace'? Schreibt's uns in die Kommentare. Dafür gingen meine Großeltern '89 auf die Straße.“ Sie hätten daheimbleiben können; die Wege des Geldes sind nur kürzer geworden. „Alles ist zum Kotzen, Mittelmaß wohin man sieht. Na ja, mit etwas Glück sterb' ich bald in einem Krieg.“
Ach ja, beim Kotzen schleicht sich erfahrungsgemäß der Moralische in den Hinterkopf, die Larmoyanz schaltet das Rücklicht ein, mit dem die Chimäre der gelogenen Chance kichernd davonbraust. Da kann man sich raushalten aus dem kollektiv wissenden Nicken der ausgeplapperten Influencer und Redaktionspraktikanten, eine Linie ziehen und sagen: Klar, aber nun ist's auch wieder genug.
„Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, doch wir haben vorgeblättert: Auf den nächsten Seiten wird das Scheißbuch leider auch nicht besser.“ Lächelt schon jemand? Lieber nicht: „Denn wenn ich sympathisch lächele und ihr Selfies mit mir macht, rast in mir mein Planet weiter finster durch die Nacht.“ Jetzt aber doch, gelt?
Es ist nicht immer die beste Option, dem Dröhnen der geistigen Stille etwas anderes entgegenzusetzen als wahre Stille, nämlich: noch mehr Dröhnen als umgekipptes Zerrbild des Faselns, der wirren Analysen, die auf beiden Augen blind bleiben, weil der Mund so weit auf ist. Aber manchmal hilft nichts anderes als das: Die Ironie so dick mit Stahl ummanteln, daß der Tumbkopf mitbrüllt und (sowieso) nicht merkt, was er da brüllt. Die anderen sind ja auch nicht besser, hauen sich nur anderes Zeug rein, machen was „mit Kunst“ und ersetzen in der Forderung „Wenn du hier rappen willst, laß' mich erst mal deinen Stammbaum sehen“ ein kleines Wort durch ein anderes.
Die Wüste ist weit, ja. 41 Minuten Zugezogen Maskulin reichen nicht aus, um in ihr sichtbarer zu werden als ein abstürzender Funksatellit aus vergessenen Modernzeiten. Sind u. U. auch ein paar Minuten zu viel, wenn die Zeigefinger aufdringlich werden. Aber hinterher folgt die Stille, und die schaltet zum Rücklicht die Frontscheinwerfer ein und bringt zumindest schon mal Helligkeit ins Dunkel: „In mir ist die Steinzeit und der Krieg und die Geilheit und der Trieb. Und die Angst, daß das irgendeiner sieht.“ Da sind die Zeiten schon kleiner, und vielleicht fangen wir zur Abwechslung mal wieder das Denken an. Und das Streiten.

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Dienstag, 5. Dezember 2017

Belästigungen 21/2017: Wo ein Und hingehört und wo ein Oder und wieso dann erst mal alles kleiner werden muß

Auf einem der Plakate, die zur Teilnahme an der unlängst absolvierten Wahlfarce aufforderten (erstaunlich erfolgreich übrigens, wenn man bedenkt, wie sinn- und zwecklos es für das Wahlvieh ist, sich für eine der identischen Verwaltungsorganisationen der Marktdiktatur zu entscheiden – aber das lassen wir mangels Anlaß heute mal, vorerst), – auf einem dieser Plakate, die nun, lange Wochen später, immer noch in Fetzen, Teilen und Trümmerschrott und hier und da (in unbewohnbaren Zonen unserer grundsätzlich trotz Gentrifizierungskrieg, Eventgebimse und Verkehrsterror immer noch recht schönen Stadt, etwa an den tödlichsten Abschnitten des Mittleren Rings) sogar intakt herumstehen und das Panorama (noch mehr) verunzieren …
Uff, wie komme ich aus diesem Gedankenfluß-Schachtelsatz hinaus? Gar nicht. Also noch mal neu: Auf einem dieser Plakate stand zu lesen, zwischen Wirtschaft und Umwelt gehöre „kein Oder“.
Da möchte man glatt eine grüne Partei gründen, um endlich klarzustellen und zu -machen, daß nirgendwo so dringend ein Oder hineingehört wie zwischen diese beiden Begriffe. Und zwar ein mächtiges, dringendes und drängendes Oder, breit und reißend wie der Oderfluß, der jeden Winter über Ufer und Dämme schwemmt und diversen Politikerdarstellern eine günstige Gelegenheit verschafft, sich als Weltenretter und Großorganisatoren zu inszenieren … Puh, der nächste Schachtelsatz! Jedenfalls tritt besagter Oderfluß gerade deshalb über seine Ufer, weil zwischen Wirtschaft und Umwelt niemand ein Oder hineinrammt, sondern immer nur ein Und, das nichts anderes bedeutet als „statt“.
Leider hat eine solche („grüne“) Partei schon mal jemand gegründet, um eben das – die Entfernung oder mindestens Fernhaltung aus der Umwelt und jedenfalls strengste Disziplinierung der Wirtschaft – zu erreichen. Und es ist so gründlich danebengegangen wie jeder andere Versuch, der alternativlosen Marktdiktatur eine „Alternative“ entgegenzusetzen, die in einer vernünftigen Welt keine Alternative sein dürfte, sondern zwingende Notwendigkeit sein müßte. Das alternativste, was die Marktdiktatur gerade noch zuläßt, ist eine linke Partei, die verspricht, die schlimmsten Folgen von deren Raubzügen ein bisserl abzumildern, wenn man es ihr erlaubt. Man erlaubt es ihr aber selbstverständlich nicht, wäre ja noch schöner.
Auf einem anderen Plakat stand (und steht, am Mittleren Ring), die AfD halte, was die CSU verspricht. Das ist wahrscheinlich richtig. Die CSU hält aber auch, was die CSU verspricht; ebenso tut das die CDU, die SPD, und es tun die Grünen. Die FDP sowieso, weil sie den Schmarrn schließlich einst in den 80er Jahren mit ihrem „Lambsdorff-Papier“ als gesamtgesellschaftliche Ideologie und Staatsreligion durchgesetzt hat: Wirtschaft, so lautet seitdem der Konsens, ist gleich Wachstum; es sei und werde deshalb Wachstum ist gleich Wirtschaft statt Umwelt.
Weil nun mal Herbst ist, wenn Wahlen sind, spricht das die Menschen offenbar an. Da stehen sie unter melancholisch ihr Laub herabweinenden Baumgerippen, bemitleiden gerupfte Vogelinvaliden und abgemagerte Eichkätzchen, die zwischen SUVs herumhumpeln und ein paar verstreute gebrannte Wiesnmandeln zusammenkratzen, blinzeln sehnend ins wolkengrau gefilterte Sonnenlicht, das an stetig schrumpfenden Tagen immer früher hinter den Wolkenkratzern am westlichen Stadtrand verdämmert, und wünschen sich herbei: ein Wachstum!
Weil es dann wieder schön wird! Weil dann im Dezember nicht nur der Oderfluß schwillt, sondern auch die Industrie brummt, die Sonne grellt und der Mensch bei fünfundzwanzig Grad zwar nicht im Biergarten sitzt, sondern am Leiharbeitsplatz, aber immerhin sich vorstellen kann, daß er dort jetzt sitzen könnte, anstatt nach getaner Wachstumsankurbelung durch Nieselregen und Nebelschleier zum ÖPNV-Modul zu hetzen, um rechtzeitig vor dem Fernseher zu sitzen, wenn die Pizza heiß ist und die Talkshow beginnt, in der ihm erklärt wird, wieso zwischen Wirtschaft und Umwelt kein Oder gehört, sondern ein schallendes UND, das STATT heißt.
Dabei ist Schrumpfen doch so was Schönes. Fragen Sie mal Ihre Hartz-4-Nachbarin, die zwischen zwei Sechsstundensessions auf dem Sofa mit Pralinenschachtel und Chipstüte immer mal die grellbunte Selbstertüchtigungsuniform anlegt und zehn Minuten lang ächzend und puffend das Erdreich im Englischen Garten verdichtet, um am Sanktnimmerleinstag auszuschauen wie die Promi-Zumsel auf dem Illustriertentitel an der Supermarktkasse, die grad mal wieder drei Zentner runtergespeckt hat. Oder fragen Sie die Katalanen, die Schotten, Wallonen, diverse Indianerstämme, Franken, Schwaben und vernünftige Altbayern, die genug haben von unaufhaltsam anschwellenden Großstaatenverbünden, in denen die nominelle Demokratie nur noch darin besteht, daß sie massenweise irgendwelche identischen Massenparteien ankreuzeln dürfen, die versprechen, das zu halten, was andere identische Massenparteien versprechen („Bayern stark für Deutschland“ oder andere hohlsinnige Schwachköpfigkeiten).
Wenn wir aus der unlängst absolvierten Wahlfarce und dem Herbst (und ein paar anderen Gegebenheiten) etwas lernen können, dann das: Klein ist gut, groß ist Mist. Masse, Macht und Manipulation sind blöd; Zwiegespräch, Ruhe und ein überschaubarer Horizont sind, ähem, die Vorstufe zum Paradies, und Schachtelsätze lassen wir weg. Und wenn uns dann noch mal jemand ein Protzplakat mit „Wirtschaft“ und „Umwelt“ vors Fenster stellt, dann schicken wir ihn an die Oder, zum Sandsäckeschichten. Weil dahinten nämlich schon der Dezember naht.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 1. Dezember 2017

Im Regal: Jürgen Teipel "Ich weiß nicht"


Es gibt ein paar typische Elemente, die einem das Lesen „moderner“ oder sagen wir: zeitgenössischer Literatur schon auf den ersten Seiten verleiden können, und das ist ganz unabhängig davon, ob der Autor behauptet, diese „Stilmittel“ absichtlich einzusetzen oder nicht: Ein Ich-Erzähler, der sich sofort, unumwunden und ohne Andeutung einer doppelbödigen Strategie als sprachlich restlos unbedarfter, phantasielos stammelnder Volltrottel zu erkennen gibt und dessen enervierende, mittlerweile durch Überbeanspruchung fürchterlich langweilige Angewohnheit, wirklich jeden winzigen Nebensatz durch einen Punkt abzutrennen, einem das Gefühl gibt, sich beim Lesen in ein körnerpickendes Wackelkopfhuhn zu verwandeln – das sind zwei solche Elemente, die man wohlwollend als „teipelsche“ bezeichnen könnte, weil der Autor dieses „Romans“ (der es netto auf höchstens 80 Seiten bringt) durch „Verschwende deine Jugend“ bekannt wurde, den 2001 stapelweise verkauften „Doku-Roman“ über ein paar Darsteller der Neuen deutschen Welle, und auch dieses Buch so klingt, als hätte er ein Treseninterview direkt vom Diktiergerät abgetippt – allerdings ein recht lustloses, bei dem der Befragte sich in jedem dritten Satz mit einem „eben“ oder „jedenfalls“ aufraffen muß, alten Quark noch mal aufzurühren, und sich nicht die geringste Mühe macht, mehr als vage anzudeuten, um was es überhaupt geht.
Das kann sich der Leser erst nach und nach ungefähr zusammenreimen: Ein paar Leute fahren zu einem Technofestival in Mexico City, legen da auf und machen so rum, und immer ist alles irgendwie „nett“ und „schön“ und „interessant“ – man sollte meinen, so was lese sich wenigstens während einer S-Bahnfahrt locker herunter, aber das vereitelt die sprachliche und gedankliche Armut des Textes, die einen nach jedem Kapitel verzweifelt zu einem Gegenmittel (einem wirklichen Schriftsteller, der erzählen will und Nebensätze bilden kann) greifen läßt, um nicht infolge literarischen Unterzuckers ins Koma zu fallen.
Kehrt man dann zu den drei eigenschaftslosen Pappkameraden und ihrem belanglosen Gewese und esoterisch angezuckerten Gerede zurück, stellt man fest, daß man praktisch alles Gelesene vergessen hat, und irgendwann stört einen das aber auch nicht mehr, empfände man ein Zurückblättern als Zeitverschwendung. Also: möglichst schnell durch bis zum immerhin schlüssigen Finale ("Kommt runter!") und ab ins Altpapier mit dem Ding, woraufhin man eingedenk der traditionellen „Heiligkeit“ von Büchern in Gedanken einen flammenden Appell an Deutschlands Verleger formuliert, sich doch endlich auf ihren Beruf zu besinnen und zumindest den Anspruch zu haben, nicht potentiell verkäuflichen Mist (entstanden, so ist zu vermuten, als auf den zugkräftigen Namen ausgerichtete Auftragsarbeit mit Abgabetermin, aber ohne jegliches Lektorat und ähnliches), sondern richtige Literatur zu veröffentlichen, um lesewilligen Menschen den Umgang mit neuem Druckzeug nicht restlos zu verleiden.
Denn wenn es das ist, was als „junge Literatur“ verkauft wird, versteht man auch die angeblich so virulente Lesemüdigkeit der nachwachsenden Generationen: Unterhaltsamer, bunter, lebendiger als das ist noch das billigste Online-Game.

geschrieben Ende Juli 2010 für KONKRET

Im Regal: Airen "Strobo" & "I Am Airen Man"


In Martin Amis’ Roman „The Information“ hat ein Schriftsteller die skurrile Idee, die Geschichte der Literatur als eine „der fortschreitenden Erniedrigung“zu betrachten: Mit dem sozialen/moralischen Abstieg der Romanfiguren (von Göttern über gestürzte Könige und besiegte Helden bis hin zum „Abschaum“) würden auch deren Verrichtungen („Plots“) banaler und nichtiger; gleichzeitig schreite die Kosmologie unaufhaltsam fort, vertreibe den Menschen aus dem Zentrum der Welt und lasse alles immer größer erscheinen (von Homers Bronzehimmel bis hin zur Unendlichkeit multipler Universen). Nötig sei folglich eine Verkleinerung, hin zum „Universum des bloßen Auges“.
Auf diesem Weg könnte uns die Blogliteratur ein Stück vorangebracht haben, allerdings führt sie auch hinein ins Universum, nein: den Sumpf des bloßen Plapperns, exemplarisch vorführbar an ihrem per Plagiatsskandal zum solchen gewordenen derzeitigen Hauptprotagonisten Airen: Dessen Erstling „Strobo“ besteht aus titelgemäßen Momentaufnahmen aus der Berliner Party-, Sex- und Selbstvernichtungsszene; es kommt garantiert nichts vor, was der Erzähler nicht (in unterschiedlichen Stadien der Betäubung) erlebt hat, und alles ist erzählt wie in einem Tagebuch, das man nur für sich schreibt – diese Unmittelbarkeit macht den Reiz des Textes aus, aber auch seine schwere Zugänglichkeit, weil Personen und Vorgänge in keiner Weise erklärt oder analysiert werden; sie tauchen einfach auf und sind wieder weg.
Was passiert, kennt man aus den einschlägigen Vorlagen und -gängern von Bukowski bis Christiane F.: Airen haut sich Birne und Körper voll, geht tanzen, schwurbeln und ficken, findet das Leben anflugweise scheiße und schwärmt zwischendurch in unfreiwillig komischer Reklamemanier von den Vorzügen des Techno. Ein Roman kann das nicht werden, weil alles immer gleich bleibt und in öder Dauerwiederholung auch schnell ermüdet, aber es fallen ein paar hübsche Episoden ab, in denen fast was von dem Witz aufblitzt, der etwa Thomas Kapielskis Suffodysseen so brillant macht. Leider fehlt es Airen an Ahnung von und Begabung zur Literatur, so daß die guten Momente nur zufällig gelingen und die dicke Suppe unironischer Angeberposen und -prosa („Ja, das flasht mich retro.“) alles ertränkt.
Aber „Strobo“, 2009 erstmals erschienen, ist skandalbedingt ein Erfolg, drum mußte nachgelegt werden. In „I Am Airen Man“ (dessen saudummer Titel zumindest bewirkt, daß Black Sabbaths „Iron Man“-Riff während der Lektüre im Kopf für rhythmische Unterhaltung sorgt) rödelt der Erzählerautor weiter in seiner Bedröhnungstretmühle herum, diesmal in Mexiko (wohin offenbar – vgl. Jürgen Teipel – die gesamte Technoelite fliehen mußte, um nicht in Duisburg zu landen). Leider waren beim Zweitling nicht fünf Jahre Zeit, sondern nur eines, um ein Büchlein zusammenzutippen, dem es daher an den zufälligen Höhepunkten des Vorgängers weitestgehend mangelt. So sind die knapp zwei Stunden, die man damit verbringt, letztlich ebenso verschwendete Zeit wie die, von der erzählt wird.

geschrieben Anfang August 2010 für Konkret

Im Regal: Christian Kracht "New Wave. Ein Kompendium 1999-2006

Darf man einen Menschen, den man nicht kennt, mit dem man nie ein Wort gesprochen, von dem man nur ein paar Texte gelesen hat, die ganz bestimmt und hoffentlich nicht zu seinen besten zählen, – darf man so jemanden einfach als dumm bezeichnen? Ich tue das jetzt mal: Ich halte Christian Kracht für einen furchtbar dummen Menschen. Einen, der in der Welt herumflitzt wie ein verbogener Brummkreisel, aber nirgends etwas erfährt. Einen, der wahrscheinlich wahnsinnig viele coole Bücher gelesen (oder durchgeblättert) hat, die er gerne selber geschrieben hätte (was er deshalb in einigen Fällen auch versucht). Einen, der sich für die schönste, klügste, wichtigste und individuellste Individualperson an jedem beliebigen Ort und überall hält und sich dabei in eine Aura von Ennui-Melancholie zu hüllen sucht wie in einen mannsgroßen Luftballon. Einen, der schreibt, als putzte und feilte er (die Augenbrauen knapp unter dem Scheitel, die Mundwinkel knapp über dem Knöpfkragen) alle fünf Minuten an seinem Gänsekiel herum, damit er auch schön glänzt und ihm keine Schande macht, wenn ihn ein zufällig hereinschneiender Bewunderer auf dem Stehpult ruhen sieht; einen aber, dem das Deutsche, seine Fein- und selbst manche grammatischen Grobheiten (vom Konjunktiv bis zur Metapher und zurück) so wenig bekannt sind wie mir die Einzelheiten der finnischen Dichtkunst des 14. Jahrhunderts.
Christian Kracht, von dem Kritiker manchmal vermuten, er schreibe „präzise“, „klar“ und „deutlich“ (gemeint ist vielleicht seine Vorliebe für grunddeutsche Adjektive wie „herrlich“ und „wunderbar“, für Bäche, die „wild strömen“, Pappeln, die „hoch aufragen“, für dies und das und jenes, das jeweils mit „schwarz“, „weiß“, „rot“, „gelb“, „grün“ oder eben „ganz herrlich“ erschöpfend dargestellt ist; versucht er hingegen, etwas genauer zu beschreiben, endet das unweigerlich in geradezu absurder Unbeholfenheit: Da werden dann „Figuren mit großer Anmut aus dem Holz gehauen“, oder es wird behauptet, „Pfefferkörner auf Salzhügeln“ seien mit „achtlos verteilten Felsen besprenkelt“, und das Ganze sei Afghanistan); – dieser Herr Kracht hat in sein Archiv gegriffen (dessen Gegenpart im Marktwainschen Haushalt aus Weidenzweigen geflochten war) und einige liegengebliebene oder schon mal gedruckte Texte hervorbefördert, sie zu einem „Kompendium“ zusammenbrimborisiert, diesem (das ein solches selbstverständlich nicht ist) einen abwegigen, aber plakativen Titel verpaßt (der, ich gestehe es, auch mich neugierig gemacht hat) und dem Verlag eine unkonventionelle, coole Aufmachung aufgetragen. Und wir kriegen solcherart ein Buch mit ein paar Reisereportagen (die an jedem beliebigen Ort der Welt spielen könnten und so gierig ins Terrain des Kitsches hineinragen, daß einem anständigen Autor beim Schreiben schlecht geworden wäre, nicht erst wenn er deutsche Hippies der frühen Siebziger als „langhaarige Soldaten der Liebe und des Friedens“ bezeichnet), einem unerträglich langen, höhepunktfreien Boris-Vian-Abklatsch, dem zur Parodie jeglicher Anflug von Lustigkeit und Witz (nebst einem Anlaß) fehlt, einem „Gespräch“ mit dem Ex-Popautor und heutigem WamS-Schreiber Bessing, ein paar belanglosen Briefwechseln. Und noch ein paar Sachen. Man wird darüber reden, „Polylux“ wird sicherlich ebenso sich äußern wie „TTT“ und „Aspekte“, und kaufen wird man’s eh. Der eine oder andere wird mal wieder anmerken, daß Krachts Worthaufen nichts enthalten und ausstrahlen als belangloses Gelaber und völlige Leere; der eine oder andere wird dagegenhalten, das sei ja gerade „der Punkt“: Daß einer so was macht, sei doch „bezeichnend“ und mache es „relevant“. Man könnte feststellen, daß das Unfug ist und die „Relevanz“ nur daher rührt, daß er es öffentlich tut. Das aber ist ein Problem der Verlage und der Medien.
Lesen jedoch braucht das Zeug niemand; es macht (abgesehen von den vielen Stilblüten) weder Spaß noch Erkenntnisgewinn, sondern faden Einton und Überdruß, und so landet das Buch besser vorher als nachher dort, wo es hergekommen ist: im Weidengeflecht oder einem seiner modernen Verwandten.

geschrieben Anfang Januar 2007 für KONKRET

Donnerstag, 30. November 2017

Frisch gepreßt #401: The Darkness "Pinewood Smile"


Mein Horoskop sagt: „Offenheit bringt Sie weiter! Zeigen Sie sich Ihren Liebsten, wie Sie wirklich sind!“ Nun, meine Liebsten, dann sei's gesagt: Ich LIEBE The Darkness.
Habt ihr auch mal getan, vor vierzehn Jahren einen halben Sommer lang und halbironisch? Ja, das ist der Unterschied: ich nicht. Wenn sämtliche Spatzen etwas von den Dächern zwitschern, tritt mein natürlicher Verweigerungsmechanismus in Kraft und läßt mich das Bezwitscherte mindestens mißtrauisch beäugen. Damals: habe ich gar nicht richtig hingehört.
Aber dann, im Herbst 2005, kam das zweite Album, und da zwitscherte niemand mehr. Ich hingegen saß mit dem Kopfhörer auf den Ohren vor einem Häuschen auf einem italienischen Hügel, mühte mich durch zwei durchschnittliche Rocksongs (einer davon: die erste Single, typischer Industriepatzer!) und geriet dann erst langsam, schließlich eruptiv so völlig aus dem Häuschen, daß ich tagelang für andere Musik und generelle menschliche Kommunikation nicht mehr ansprechbar war. Der spinnt! hieß es. Aber ja! So etwas wie „Hazel Eyes“, „Dinner Lady Arms“, „English Country Garden“ hatte ich noch nie gehört!
Oder doch, viele Jahre zuvor: bei Sparks in ihrer Wahnsinnsphase (vor Moroder und Mack) und vor allem bei Queen in ihren wahnsinnigsten Phasen („Sheer Heart Attack“, „A Night At The Opera“ und „Jazz“, lustigerweise vor Mack). Produzent da wie hier: Roy Thomas Baker! Diese stratosphärensprengenden Wirbel(s)türme von unfaßbaren Melodien, dieses Flammenmeer von Sexgitarren, dieses Unwetter aus Donnertrommeln, diese Falsett-Seiltänze, dieser Exzeß von Flamboyanz, dieser „Das geht noch viel überkandidelter!“-Anspruch, der Grenzen nur als Ausgangspunkte akzeptierte – welch ein Irrwitz, welch ein Gottesbeweis für die Wirkungsmacht der Popmusik, die aus dem Lächerlichsten das Größte machen konnte!
Man (außer mir) bog sich vor Lachen, wenn man überhaupt noch hinhörte. Daß und wie der ganze Laden nach diesem „teuersten Peniswitz der Welt“ (ein Kritiker) in einem Chaos von Suff, Kokain, Irrenhäusern und diversen Ablegerbands auseinanderflog, war konsequent und beispielhaft; selbst darin strahlte noch die Würde des traurigen Narren.
Reunions machen mich immer skeptisch, aber da das bei The Darkness (ab 2012) ohne Rummel und Spatzengezwitscher abging und sich niemand so recht interessieren wollte, war ich doch neugierig. Und wurde belohnt: „Hot Cakes“ und „Last Of Our Kind“ rummsten und bleckten fast genauso narrisch wie dazumal der einsame Gipfel, auf dem Justin Hawkins mit geschmolzenem Hirn seinen Haarausfall beweint hatte.
Und drum bleibe ich dabei und werde, wenn niemand hinschaut, mir auch diesmal Phasen gönnen, in denen ich das Erwachsenwerden strikt verweigere, statt dessen in imaginären Glitzerbuntfummeln auf Plateausohlen durch eine Phantasiewelt hüpfe, in der jenseits der Schamgrenze das Reich der durchgeknallten Genialität beginnt, in der man Gitarren so dermaßen karnevalistisch exaltiert spielen darf, wie man das als „ernsthafter“ Rockmusiker niemals dürfte (und dann erst recht!), in der man sich zum „Japanese Prisoner Of Love“ und zu „Buccaneers Of Hispaniola“ stylt und dazu derart aberwitzige Melodiegirlanden bauscht, daß die größten Komponisten der Popgeschichte erblassen.
Ich werde ein Auge zudrücken, weil die (Halb-)Balladen „Why Don't The Beautiful Cry?“ und „Lay Down With Me, Barbara“ nicht ganz genug (Wahn-)Witz haben (na ja, zweitere dann doch!), und ich werde, hysterisch lachend, die Faust schwingen, immer wissend, daß jeder Triumph (etwa das Ende des Gitarrensolos in „Japanese Prisoner“) straight in den Abgrund führt, in dem man trotzig weiterarrangiert und mit herausgestreckter Zunge das abseitigste Finale der Welt inszeniert.
O ja, ich LIEBE The Darkness. Und ich wäre bereit, für dieses Album (auf dem übrigens Rufus Tiger Taylor am Schlagzeug sitzt, der Sohn von Queen-Trommler Roger Taylor) – und „One Way Ticket To Hell … And Back“ sowie die erwähnten Sparks- und Queen-Platten – fünf Sechstel der gesamten Pop- und Rockgeschichte auf den Flohmarkt zu tragen. Phasenweise, an solchen Tagen, in solchen Wochen. Ich werde das Harlekinskostüm tragen, in den Höllenschlund tanzen, lächelnde Tränen vergießen und mit den Sternen leuchten. Lacht ruhig, ihr Unwürdigen! Ihr wißt ja nicht, was euch entgeht!

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 28. November 2017

Frisch gepreßt #400: Slade "Alive!"


Es soll auf diesem Planeten Menschen geben, die dieses Album nicht besitzen, obwohl es nun schon zum (gefühlt und in diversesten Ausgaben) 45. Mal erscheint, 45 Jahre nach dem ersten Erscheinen, mit dem damals eine Manie-Lawine losbrach, wie sie die Welt seit den ganz frühen Tagen der Beatles nicht mehr erlebt hatte.
Es soll Leute geben, die Slade überhaupt nicht kennen. Oder höchstens von einem Weihnachtsparty-Ungetüm namens „My Oh My“, das … nein, von dem wir heute mal einfach nicht sprechen wollen. Nachhilfe: Slade (Noddy Holder, Jimmy Lea, Dave Hill, Don Powell – als einzige bekannte Hitband außer den Beatles nie umbesetzt) hatten 1971, 1972, 1973 und 1974 so viele Top-3-Singles wie keine Band der Menschheitsgeschichte (außer den Beatles), und zwar nur in Großbritannien – ihr Versuch, 1975/76 die USA zu knacken, darf als kläglichstes Scheitern der Pophistorie gelten.
Aber was sind schon Hits, auch wenn es Dutzende sind? Vor allem waren Slade die lauteste, wildeste, bunteste, verrückteste Band womöglich aller Zeiten, Vorbilder für die Sex Pistols und Oasis, die ultimative, nie mehr zu toppende Party-Rock-'n'-Roll-Bande, das Dampfrohr auf dem Kessel der Glamrock-Generation, das schillernde Nebelhorn im Duster der 70er, das jeden Club, Saal, jede noch so große Halle binnen Sekunden in ein tobendes Inferno verwandelte, vollkommen ohne (wie das später üblich wurde) ihr Publikum zu dominieren, zu unterwerfen oder mit Showbrimborium zu blenden.
Dabei waren Slade, gängigen Einschätzungen zuwider, alles andere als blöd, auch nicht primitiv, nicht mal simpel. Sie hatten ihr Handwerk gelernt, schon als Prä-Teenager seit den frühen 60ern, hatten sich als Tanzband und Skinhead-Truppe versucht, auf ihrem ersten Album u. a. Steppenwolf, Frank Zappa, The Move und die Beatles gecovert, aber festgestellt, daß sie selber viel bessere Songs schreiben konnten – Songs von einer strukturellen Dichte und lärmsonischen Textur, wie sie nie wieder jemand imitieren konnte. Dabei half ihr Freund/Manager Chas Chandler, einst Animals-Bassist und Jimi-Hendrix-Entdecker, der sie für die (musikalisch/spielerisch) beste Musikgruppe aller Zeiten hielt (vielleicht mit Recht) und ihnen riet, alle Verstärker (also: drei) nicht nebeneinander laufen zu lassen, sondern zusammenzustöpseln und so eine organische Wand von Klang zu schaffen, die ohrenbetäubend und zugleich unfaßbar lebendig war.
Mehr als das i-Tüpfelchen: Sie konnten auch leise, ganz leise sogar, möglicherweise besser als ultralaut, obwohl das ihr Markenzeichen war. „Slade Alive“ beginnt mit einer zwingend groovenden, dabei fast quälend behutsamen Version von Ten Years Afters „Hear Me Calling“, die nur punktuell (beinahe) explodiert. Und zwar enthält es mit „Get Down And Get With It“ den ersten (von damals drei, die anderen beiden fehlen) Hit in Düsenjäger-Brachialität (das Unisono-Klatschen und -Stampfen klappte deswegen so gut, weil die Platte zwar live – ohne irgendwelche Overdubs –, aber vor einer Handvoll Kumpels im Studio eingespielt wurde), aber auch das hinreißende „Darling Be Home Soon“ (Original: The Lovin' Spoonful), das zeitweise so knisternd still wird, daß Noddy Holders versehentlicher Rülpser (es gab, wie üblich, viel Bier) wie ein erlösender Blitz wirkt.
Der Höhepunkt aber ist und bleibt das abschließende „Born To Be Wild“ in einer unwiderstehlich dröhnenden, alles umreißenden Version, die die Urheber Steppenwolf für alle Zeiten erbleichen ließ, vom einleitenden Monsterriff bis zum infernalischen Finale, bei dem man sich stellenweise tatsächlich als Zeuge des Danteschen Weltuntergangs wähnt, allerdings frenetisch fröhlich, außer sich vor Begeisterung. Und vor allem: ist der Zuhörer bis heute eben nicht Zeuge, sondern mittendrin im kochenden Auge des Zyklons.
Es gibt, auch nach Jahrzehnten, kaum ein (in jeder Hinsicht) besseres Rock-Livealbum als dieses, mit dem für Slade alles anfing und irgendwie schon den Gipfel erreicht hatte. Kaum? Kein einziges, nirgendwo und nie. Es wird vielleicht nie eines geben, und wenn doch: Sagt uns bescheid, aber bitte laut, damit wir euch hören.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 27. November 2017

Belästigungen 20/2017: Von Büchern, Drogen und der Glückseligkeit der „Finanzmärkte“

Jede Epoche der Menschengeschichte, so mag es dem Freizeithistoriker scheinen, hat ihre eigenen Drogen und Kulturtechniken. Zum Beispiel war es vor nicht allzu langer Zeit (nicht nur) in unseren Breiten durchaus üblich, tiefgängige und fundierte Literatur zu gesellschaftlichen Problemen, Fehlentwicklungen und Skandalen zu lesen, zu diskutieren und daraus sogenannte Handlungskonzepte abzuleiten. Das heißt: sich zu überlegen, was man am besten dagegen tut, daß die Welt in Einzelheiten und insgesamt nicht so eingerichtet ist und läuft, wie sie das sollte, damit es möglichst vielen Leuten gut geht.
Heute spielen solche Fragen und Antworten keine Rolle mehr, weil das Wohlbefinden gewöhnlicher Menschen nicht mehr von Bedeutung ist. Wem es heute gutgehen soll und muß und wessen Lust und Laune deshalb das grundlegende und einzige Maß aller Dinge ist, hat man uns jahrzehntelang so gründlich eingehämmert, daß wir es quasi als Instinkt verinnerlicht haben: Es sind die „Finanzmärkte“. Wenn der Sommer ein schöner war, dann ärgert und grämt es uns nicht mehr, daß wir und der überwiegende Teil der Bevölkerung nichts davon gehabt haben, weil wir ihn vor allem damit verbringen mußten, in Betonkisten herumzuwerkeln, um Futter für die „Finanzmärkte“ heranzuschaffen. Sondern wir fragen: Was hat der Sommer den „Finanzmärkten“ gebracht? Sind sie einigermaßen zufrieden? Dito bei Kriegen, Grippewellen, Terroranschlägen, Naturkatastrophen und jeder einzelnen Wahlfarce, mit der ein marktradikaler Pappkamerad wegen Abnutzung durch einen anderen ersetzt wird oder auch nicht.
Welch ein Aufatmen geht dann durchs Land, wenn Radio, Fernsehen und Zeitungen melden, die „Finanzmärkte“ zeigten sich „belebt“, „erholt“ und „freundlich“, sie reagierten positiv auf sich abzeichnende und bereits abgelaufene „Entwicklungen“, und wenn dann noch dafür gesorgt ist, daß die regierende Großkoalition aus marktradikalen Eliteparteien nicht nur wie gewohnt mit der milde lächelnden Pseudomutti (oder notfalls ihrem Ersatzfroschgockel, der allerdings alles dafür tut, das zu verhindern) an der Spitze weiterregieren kann und eliteseits darf, dann sind alle zufrieden. Alle heißt: die „Finanzmärkte“. Und wir auch, weil es die „Finanzmärkte“ sind.
Deswegen stirbt die Kulturtechnik des Lesens und Durchdenkens fundierter, durchdachter Literatur aus und wird ersetzt durch das epileptisch-zufällige Herumwischen in Knallmeldungen über rasierte Hühner, zerstückelte Ehefrauen und andere saure Gurken, die das Resthirn irgendwie beschäftigt halten und die vormals wesentlichen gesellschaftlichen Vorgänge komplett ausblenden. Die Bücher indes gibt es zwar noch, aber sie liegen in Pappkartons mit der Aufschrift „zu verschenken“ vor den Eingängen von Häusern herum, in denen nicht mehr diskutiert, sondern nur noch konsumiert und ein kurzes Erholungs-Power-Napchen absolviert wird, ehe das Werkeln zum Wohle der „Finanzmärkte“ weitergeht.
Kontemplativen Flaneuren wie mir, die sich diesen Prozeß mit milde wütender Wehmut von außen anschauen, bleibt die verantwortungsvolle Aufgabe überlassen, die Marx-Gesamt- und Einzelausgaben, die bunten edition-suhrkamp-Bändchen und aufbrecherischen Pamphlete aus verwehten, hoffnungsfrohen Zeiten einzusammeln, bevor sie sich mit Regenwasser und Hundepisse vollsaugen, sie einzulagern wie kleine Gläschen mit Sinnmarmelade, von denen man weiß, daß sie wahrscheinlich nie wieder jemand hervorziehen und öffnen wird, weil die Evolution unaufhaltsam voranschreitet und das rudimentäre Hirn des westeuropäischen Menschen in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr in der Lage sein wird, überhaupt zu begreifen, daß die alles bestimmende Diktatur der „Finanzmärkte“ nicht naturgegeben und ganz und gar nicht „alternativlos“, sondern eine absichtsvoll herbeigeführte soziale Krebswucherung ist, der man mit Therapien zu Leibe rücken sollte, bevor der Exitus unabwendbar ist.
Ebenso ist es mit den Drogen. Das „Dritte Reich“ etwa war ohne Aufputschmittel ebensowenig denkbar wie das nachfolgende „Wirtschaftswunder“, dessen Opfer hinterher mit Valium beziehungsweise Heroin ruhiggestellt werden mußten. Und den bunten Wahn der Flower-Power-Pop-Op-Frischwärts-Reklame konnte man nur ertragen, wenn man sich mit harzigen Kräutern eine wohlige Gleichgültigkeit andampfte, während man dann, als die „Finanzmärkte“ ihre Terrorherrschaft einleiteten und fröhliche Konsumhippies zu aggressiven Börsenathleten mutierten, ohne Kokain schlagartig vergaß, wieso man mit aller Kraft ein derart blödes Leben anstrebte.
Heute, wo der jahrtausendelang trostvolle Hanf genetisch dermaßen optimiert ist, daß eine homöopathische Dosis genügt, um sich ein ein dreitägiges Hirnkoma zu ballern, in dem nichts mehr geschieht außer Schokolade und daß die Zeit vergeht (langsam), erkennen wir sozusagen „ernüchtert“, daß selbst das Kiffen zum Leistungswettbewerb degeneriert ist. Die logische Konsequenz trägt den Namen Ritalin und wird dem für die „Finanzmärkte“ nötigen Nachwuchs generationendeckend eingepumpt, auf daß er sich ausbeutungstauglich zurichten lasse, ohne abgelenkt zu werden, aufzubegehren oder outzudroppen.
Ritalin funktioniert ungefähr so wie eine Gehirnamputation, bei der eine einzige Windung zurückbleibt, die genau eine einzige Funktion hat: funktionieren. Für den modernen Sklaven der „Finanzmärkte“ heißt das: relativ unsinnige und seinem eigenen Menschsein (oder -werden) zuwiderlaufende Funktionsregeln und Verfahrensvorschriften in sein monokompatibles Verhaltenssteuerungszentrum hineinpressen, Prüfungen bestehen, die beweisen, daß er funktionieren kann, und dann eben für den Rest seiner irdischen Existenz funktionieren: wachstumsrelevante Tätigkeiten verrichten, die nicht ihm, sondern den „Finanzmärkten“ zugutekommen, bis eines Tages alles Nachrüsten und Weiter„bilden“ nichts mehr hilft und er krummbuckelig und ausgelaugt in die Altersarmut rangiert wird, für die er bitteschön in Eigenverantwortung Vorsorge zu tragen hat, weil es sich die „Finanzmärkte“ nicht leisten können und wollen, ihr Menschenmaterial nach dessen Ausbeutung durchzufüttern.
Das erträgt von Natur aus niemand, ohne sich zum Beispiel von dem Gedanken ablenken zu lassen, daß die Welt und das Universum irgendwann mal nicht den „Finanzmärkten“ gehörten, sondern allen Lebe- und sonstigen Wesen, die darin leben und wesen, und daß das im Grunde immer noch so ist oder sein sollte, daß es eigentlich ganz einfach wäre, dafür zu sorgen, daß es wieder so ist, und daß außerdem die Sonne scheint und der TSV 1860 spielt und der Biergarten zum letzten gemütlichen Herumlumpen des Jahres (oder des Lebens, wer weiß?) einlädt und dies und das und jenes und und und.
Mancher erinnert sich dunkel, in einer der vor den Hauseingängen herumliegenden Schwarten gelesen oder irgendwie davon gehört zu haben, Religion sei Opium für das Volk. Heute sind Religion und „Opium“ quasi identisch und eins: Unter den Bedingungen der real existierenden Marktdiktatur kann auf die Dauer nur überleben, wer sich mit Ritalin dopt, und der Ritalinjunkie braucht die Marktdiktatur, weil er in einer freien Gesellschaft durchdrehen und wie ein Rekordauto auf gerader Strecke in die Leere (und irgendwann gegen eine Wand) rasen würde. So: rast er in eine längst abgesteckte, verkaufte und zugunsten der „Finanzmärkte“ durchgeplante „Zukunft“.
Wir anderen, die da nicht mittun wollen/können/dürfen, machen es uns in den Büchergebirgen gemütlich, drehen uns ein homöopathisches Rohr und warten geduldig auf den Tag, an dem die anderen feststellen, daß das alles überhaupt nichts bringt und keine Freude macht, und fragen, ob es nicht vielleicht auch ganz anders geht. Und daß dieser Tag mit jeder einzelnen Ritalinisierung eines Junghirns in weitere Ferne rückt und vielleicht überhaupt nie mehr kommt, ist schade, aber, dem alten Kifferwitz gemäß, auch irgendwie egal.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 24. November 2017

Frisch gepreßt #399: Sparks "Hippopotamus"


Darf ich einleitend erwähnen, daß ich momentan (Donnerstag, kurz vor Mitternacht) in einem mindestens zehn Jahre alten Morrissey-T-Shirt (die „Formel-eins“-Kollektion) eineinhalb Meter neben meinem Lieblingszapfhahn sitze (Hintergrundmusik: „Centerfold“ von der J. Geils Band)? Doch, das spielt eine Rolle (das in Klammern nicht).
Weil: es gibt da eine Geschichte. Da ist Morrissey (ohne Zweifel der stil- und geschmackssicherste, belesenste und behörteste, nerdmäßig gebildetste und möglicherweise eloquenteste Populärmusiker des 20. und 21. Jahrhunderts; mag jemand streiten?) aus Manchester, England und überhaupt dem europäischen Kontinent weggezogen ins tiefste Kalifornien, hat sich dort ein Haus gekauft und gewartet.
Gewartet? fragt der Nicht-Nerd. Worauf denn?
Sagen wir: auf seine Nachbarn. Nämlich hatte er das Häuschen nur gekauft und war nach Kalifornien nur gezogen, weil dorten in unmittelbarer (sagen wir: kalifornisch unmittelbarer, also in einer halben Stunde mit der Corvette erreichbarer) Nähe Ron und Russell Mael wohn(t)en. Sparks.
Sparks? Sagt heute kaum noch jemandem was. Sagte damals (ein tieferes „damals“) auch kaum jemandem was. Nur Eingeweihten. Die hörten das dritte Sparks-Album „Kimono My House“ (hi hi) zu Glam- und Punkrock- und anderen Zeiten am Stück hintereinander, Abende lang, vielleicht kurz unterbrochen vom vierten („Propaganda“), ekstatisch und hysterisch kichernd, begeistert, vom Nachhall im Zwischenhirn noch vormittags an der Supermarktkasse schwuchtelig zuckend und swingend, noch mal: be-gei-stert. Ein Jahrhundertalbum. Morrissey war einer dieser seltsamen Menschen. Ich auch.
Jetzt aber: war Morrissey zwar in Kalifornien, hatte aber keinen Führerschein, folglich auch keine Corvette, dazumal (und sowieso) kein Mobiltelephon, ließ also komplizierteste Anbahnungen anlaufen mit dem einen lebenserfüllenden Ziel: Ron und Russell oder Ron oder Russell ins Haus zu kriegen und ein Schälchen Tee mit ihm/ihnen zu leeren, devot zu konversieren und solcherart einen Ziegel in den Turm des biographischen Fanplans zu mauern.
Nun aber: ist Morrissey abseits der Bühne notorisch krankhaft schüchtern. Als tatsächlich eines Tages ein (oder zwei) Mael(s) an seine Tür klopfte(n), ließ er ihn/sie einlassen, versteckte sich aber, als eine Art Vase maskiert, in einer Ecke des Wohnzimmers und hörte schwärmend zu, was der zufällig anwesende Journalist mit dem/n Mael(s) so plauderte. Selbst bekam er kein Wort heraus.
Da gibt es nichts zu lachen. Schüchternheit mag nicht das nächstliegende Asset eines Popstars sein, wurzelt aber in einer höchst bewundernswerten Bescheidenheit, die zu verdanken weiß. „Kimono My House“ ist und bleibt, sprechen wir es ehrlich aus, eine der grandiosesten Pop-Platten aller Zeiten (und zum Beweis ist der Evergreen „This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us“ der mit Abstand schwächste Song darauf), „Propaganda“ kommt kurz dahinter, dann – vielleicht – vier oder fünf Morrissey-Alben.
Ja, und jetzt? Fragen wir uns, was danach passiert ist. Weil es ja noch zig bis Zillionen (oder zwei- bis dreiundzwanzig) Sparks-Alben gibt, die größtenteils wenig bis minus null taugen und nur deswegen im Plattenschrank (oder auf der Festplatte) verstauben, weil halt „Sparks“ draufsteht und zum Beispiel auch kein guter Christ ein Kruzifix aus der Kirche hinauswürfe, nur weil es greislig ist.
Die Geschichte ist hier (fast) zu Ende. Es gibt schon wieder ein neues Sparks-Album, und selbstverständlich ist es nicht so niederschmetternd, himmelsprengend wie „Kimono My House“ und „Propaganda“. Aber es ist wagemutig, elegant, abenteuerlich, sexy, hinreißend und ein Stück jenseits von allem, was Nachgewachsene in den letzten dreißig Jahren an Popmusik produziert haben – das meiste davon klingt im Vergleich wie ein Blatt von der Klopapierrolle: schon irgendwie angenehm, vielleicht sogar duftig und erfreulich, aber … Es gibt übrigens außer Morrissey, Eminem und The Darkness keine (moderne) Musik, die Sparks nicht müde, lau, langweilig und scheiße finden.
Morrissey hat Sparks (bitte IMMER: ohne „The“!) damals zum Meltdown-Festival nach London eingeladen (oder vermutlich einladen lassen), wo sie „Kimono My House“ am Stück gespielt haben, badend in der Begeisterung von Menschen, die zu jung waren, um zu ahnen, daß es etwas Derartiges gab und geben konnte. Und mir hat mal ein Wirt der legendären Musikkneipe „Domicile“ in der Leopoldstraße erklärt, wieso er einen relativ neuen Flügel auf der Bühne stehen hatte: 1974 oder 1975 habe ein wilder Haufen namens Sparks da gespielt und das alte, ziemlich historische Tasteninstrument im Überschwang des Moments so gründlich zerhackt, zerspreißelt und zersplittert, daß die (o große Popzeiten!) fünfstellige Gage einbehalten und lebenslanges Lokalverbot erteilt wurde. Einer habe einen Hitlerbart gesportet, der andere alle fünf Bedienungen gleichzeitig auf dem Billardtisch flachgelegt, bei offener Tür.
Eine der wenigen Reliquien, die ich besitze, ist eine halbe Klaviertaste, die ich damals beim (verschämten) Abbauen meines Gitarrenverstärkers fand. Ich huldige ihr gelegentlich. Und ihr, die ihr euch fragt, was das hier alles soll: kauft bitte dieses und mindestens zwei weitere Sparks Alben (siehe oben). Weil es wenige Sachen gibt, die diese fade Welt so wenig verdient hat wie Sparks. Und kaum etwas, was ihr und ihrer Popmusik dringender fehlen könnte.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 23. November 2017

Belästigungen 19/2017: Hi hi hi! Ha ha ha! (ein Universalhoroskop für ein glückliches Leben)

Man muß nicht an Horoskope glauben, um bisweilen einen gewissen Nutzen aus den wahllos in der Gegend herum medisierten Lebensweisheiten, Tagesratschlägen und Gemeinplätzen zu ziehen, die Orientierungslosen in Zeiten der Orientierungslosigkeit eine gewisse Orientierung versprechen. An was soll man sich sonst auch halten? An das Fernseh, in dem seit mittlerweile Jahrzehnten immer die gleichen Berufsplauderer zusammensitzen und ihren Plapperöffnungen von Sabine-Christiansen-Klonen identischen Schwurbel entlocken lassen, um dem Volk da draußen einzudübeln, daß der Neoliberalismus alternativlos, die AfD total wichtig und der demütigende Vorgang, alle paar Jahre ein Kreuzerl auf irgendeine Liste machen zu dürfen, eine echt pfundige Demokratie und drum Superpflicht ist?
An Zeitungen, die zum Wimmelkasten von Konsumanregungen verkommen sind, seriösid geschminkt mit ein bißchen ominösem Geraune über den bösen Russen und den wahnsinnigen Ober-Ami beziehungsweise flammenden Aufrufen zum Haß („Mitten in Deutschland: Burka-Frau verprügelt Dessous-Verkäuferin“ – man fragt sich, ob der „Staatsschutz“ auch „ermitteln“ täte, wenn sich derlei Skandalöses ein kleines Stück oben links von der deutschen Mitte oder meinetwegen „mitten in Oberpfaffenhofen“ abgespielt hätte, aber damit hat man schon wieder nicht mehr als einen Grund, sich überhaupt nichts mehr zu fragen)?
Oder an den Radio, diese perfekt geölte Gehirnspülmaschine, die bei täglichem Einsatz in die verhornteste graue Zelle die Gewißheit einstanzt, daß die Welt überwiegend aus Börsenkursen, Terrorwarnungen und Mitteilungen über Autos (wo sie sich zur Zeit am liebsten stauen und welch ungeheure Mühen Regierung und Industrie aufwenden, um ihre Tödlichkeit offiziell zu mildern) besteht?
Oder an die Flut von sicherlich wohlmeinenden und aus purer Mitmenschenliebe in den digitalen Äther geschwemmten Weltdeutungen und Tips, mit denen man sich heutzutage die Vormittage aus der bewußt erlebten Lebenszeit löscht und den Eindruck ins Weltbild zementiert, es gebe überhaupt keinen Menschen mehr, der nicht an Diabetes, Neuropathie, „erectile dysfunction“, Haarausfall, Nagelpilz, zu vielen Rippen, Akne, Inkontinenz, Warzen, Narzißmus, Herpes, Atomübergewicht, Psoriasis, Borderline-Schizophrenie, circa siebzehn Unverträglichkeiten und Allergien gegen jede Form von Lebensmittel und Getränk sowie schwellender, existentieller Sehnsucht nach einem Leben als Trapper im verschneiten Holzschuppen mit mindestens einem Dutzend devoten russischen Blondinen und einem Arsenal futuristischer Elektrogeräte leidet?
Nein, da hält man sich doch lieber an das, was die Sterne sagen. Heute zum Beispiel sprachen sie zu mir: „Pflichten sind nicht unbedingt das, worauf Sie heute vormittag besonders Lust haben. Versuchen Sie doch, das für Sie heute aktuelle Thema 'Lust und Pflicht' so anzugehen, daß Sie es sich zur Pflicht machen, für ein paar lustvolle Augenblicke zu sorgen!“
Was allerdings selbst nach dem dritten Großbecher Grüntee ein Rätsel bleibt. Welche Art von „Thema“ soll bitte schön „Lust und Pflicht“ sein? Und wieso ist dieses „Thema“ heute für mich „aktuell“? Und wie „geht“ man ein „Thema“ „an“? Und wie schafft man es, sich pflichtgemäß lustvoll zu der Lust zu verpflichten, eine Pflicht zur Lust oder die Lust zur Pflicht zu machen, wenn doch Pflicht nicht unbedingt das ist, worauf man an diesem speziellen Vormittag (der derweil in einen ratlosen Mittag hineingeschludert ist) Lust hat?
Da dreht sich das Hirn, bis nichts mehr hilft als hinauszugehen und sich die echte Welt da draußen mal wieder anzuschauen, auf daß sie den Sinnwirbel von virtuellem Second-hand-Klamauk und Deutungshuberei mit einer pfundigen Dosis greifbarer Realität verscheuche. Und tatsächlich: Es gibt sie noch! Indes stellt man auf den zweiten Blick fest, daß sich etwas verändert hat, was nicht unmittelbar deutlich wird. Das septembernostalgische innere Auge spielt gülden gerahmte Erinnerungen ab: Da kehrte man nach zwei fröhlichen Wochen auf dem niederbayerischen Eindödhof fröhlich in die fröhliche Stadt zurück, flanierte im Wärmehauch der letzten Spätsommersonnenstrahlen durch fröhliche Straßen, umgeben von fröhlichen Menschen, die nichts lieber taten als grinsen, kichern, kudern, schmunzeln, lächeln, lachen und so fort.
Mag sein, daß es eine solche Zeit nie gab. Woher kommen dann die Bilder? Möglicherweise sind sie eine spontane Reaktion auf das, was man da draußen heute zu sehen kriegt: Da hetzen perfekt auf Sozialkrieg getrimmte Einzelkämpfer durch die Gegend, bedrohlich umröhrt von grimmig glotzenden Panzermonstern und hysterisch tobendem Event-Klimbim. Gelacht wird höchstens noch in gewissen anrüchigen Etablissements, die deshalb geräuschtechnisch derart hermetisch abgedichtet werden müssen, daß nicht das leiseste „Hi hi!“ nach draußen dringt und den alternativlosen Lauf der Dinge stört. Und auf Reklametafeln, die die Sehnsucht nach einem geglückten glücklichen Leben in die gehetzt Hetzenden hineinimpfen, damit sie nicht irgendwann drauf kommen, daß sie sich eifernd, strebend, gehetzt und dauerentertaint immer weiter davon entfernen.
Dabei hilft Lachen nicht nur gegen neunzig Prozent aller gängigen Zivilisationskrankheiten – inklusive der galoppierenden Seuche Fettleibigkeit, die dafür gesorgt hat, daß die Bevölkerung des „Westens“ in den letzten fünfzig Jahren zahlenmäßig kaum (ähem) zugenommen hat und trotzdem doppelt so viel wiegt wie einst. Nämlich verbrennt man mit zwanzig Minuten Lachen genauso viele Kalorien wie mit drei Stunden Joggen und zerlumpft sich dabei noch nicht mal die Gelenke.
Zudem ist Lachen das einzig wirksame Mittel gegen die Zumutungen der irrgewordenen Gesellschaftsmaschine. Auch deswegen haben uns böswillige Lehrer und andere Orientierungsgestalten schon im Bamsenalter eingebleut, wo es nichts zu lachen gebe, habe man nicht zu lachen, und zu lachen gebe es generell nichts, weil das Leben ernst und hart und schwer sei. Eine reine Schutzbehauptung, um Schlimmheiten zu bewahren, die eisern und ewig scheinen und doch mit dem einfachsten, ältesten und schönsten Mittel der Welt so leicht zu verscheuchen sind wie die Fernsehfressen mit einem Fingerdruck auf die Austaste. Allerdings muß man sich zuvor von den klebrigen Resten des Lehrergebleus befreien und erkennen, daß der Mensch selten lacht, weil er fröhlich ist, sondern fröhlich wird, indem er lacht.
Das läßt sich leicht überprüfen: Man stelle sich vor ein beliebiges Exemplar der fürchterlichen Wahlplakate, die derzeit die ganze Stadt verunzieren, und lache drauflos. Binnen Sekunden wandelt sich die Horrorgalerie von fies dräuenden Karrieristenvisagen in ein Ensemble von Comicfiguren, bei deren nächstem Anblick man automatisch wieder loslachen muß. Die Strategie funktioniert auch mit Schlagzeilen, Reklameplakaten, Verlautbarungen, Parolen, Produkten, Institutionen, Autoritäten (wobei eine gewisse Vorsicht anzuraten ist) und sonstigen Ärgernissen.
Drum habe ich mir erlaubt, mein heutiges Horoskop leicht umzuformulieren und es dadurch für sämtliche Sternzeichen zur Maxime über den Tag hinaus zu machen: Übel sind nicht unbedingt das, worauf Sie heute vormittag oder irgendwann in Ihrem Leben sonderliche Lust haben sollten. Versuchen Sie doch mal, es sich zur Pflicht zu machen, alles wegzulachen, was Ihrem Glück im Wege steht. Ihre Mitmenschen werden es Ihnen danken.
Schwupps! lichtet sich der Nebel, die Sonne strahlt, die Menschen auch, und die Welt ist schön.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #398: Hammock "Mysterium"


Der frühe Herbst ist die Zeit, in der Erinnerungen zu Träumen und Träume zu Erinnerungen werden, in der unerfüllte Gefühle, vergebliche Sehnsucht und sporadische Zärtlichkeiten in Bilder fließen, die, von Klängen getragen, das Leben des Vergangenen und das zukünftige Erleben prägen. Eine Baumkrone am Isarufer im spätaugustlichen Gelblicht, ein lächelndes Halbgesicht über einer Bettkante im rauchigen Halbdunkel, schwindender Frühnebel zwischen Feldern, der letzte Sonnenstrahl in einem Bergeinschnitt – selbst der triefendste Kitsch findet seinen gerechten Platz im Museum der Augenblicke, die einem, wenn das innere Abspielgerät sie unversehens hervorholt, das Herz zerreißen oder überfließen lassen, zu reminiszenten Tränen oder einem stillen, wehmütigen Lächeln rühren.
Nicht so leicht, die entsprechenden Klänge zu finden, die wie Trigger wirken und die Türen zu den Sälen des Museums aufschwingen lassen. Wer kennt das nicht, daß zum schlimmsten Beispiel der erste Kuß der ersten großen Liebe dank der fiesen Laune eines boshaften Zufallsteufels unauslöschlich mit einem ganz schlimmen Sommerhit von Boney M., mit der Beschallung einer Fernsehreklame für Toilettenpapier oder einem aus einem unweit geputzt werdenden Auto herausträllernden Schlagerrefrain verknüpft und unauflöslich verstrickt ist? Man hat da nicht viele Möglichkeiten; die Zufallsteufel sitzen meistens am längeren Hebel, und wahrscheinlich niemand wollte sich ein unvergeßliches Erlebnis verkneifen oder es bis zu einem günstigeren Zeitpunkt aufschieben (an dem es dann nie mehr stattfinden kann), nur weil grad Mistmucke läuft.
Manchmal aber läßt sich ein sozusagen gesteuertes Erinnern durchaus herbeiführen. Und auch in dieser Hinsicht ist die momentan durch die Landschaften rauschende Jahreszeit ausgezeichnet. Zum Beispiel könnte man die Orte (oder einige), an denen sich vor nicht langer, aber im frühen Herbst ewig scheinender Zeit Glücksmomente, aber auch schneidende Enttäuschungen, unscheinbare Katastrophen und schwellende Sehnsüchte abgespielt haben, noch mal abspazieren oder abradeln, innehalten und kontemplieren und dazu eine Musik hören, die das bemühte Wiedererleben zu einem tatsächlichen, zum ursprünglichen Erleben vergoldet, indem sie das Fühlen intensiviert und das Denken berauscht. Dadurch erhält selbst der schmerzhafteste Moment der Trennung und Entsagung, des Wartens und Verlassenseins einen irgendwie triumphalen Wert als, na ja, Erinnerungskunstwerk.
Hammock-Alben eignen sich in dieser Hinsicht so perfekt, als wären sie eigens dafür geschaffen (was sie ja vielleicht auch sind), insbesondere die letzten und vor allem das neue, das zehnte, mit dem sich in gewisser Weise ein Kreis schließt, der mit dutzenden nie zur Veröffentlichung gedachten Aufnahmen, Nebentätigkeiten der Common-Children-Gitarristen Marc Byrd und Andrew Thompson begann und dessen Bewegung vom Hadern mit metaphorischem Geräusch zum Zerfließen in transzendenter, kristallklarer, überirdischer Schönheit führte.
Hammock (zu deutsch: Hängematte, ein eigentlich viel zu deutlicher Name) brauchen dafür meistens keine Worte (diesmal abgesehen von einem verhallten Chor in „Elegy“ und ein paar Zeilen im Epilog nur in Songtiteln, die assoziative Reflexzonen massieren: „Now And Not Yet“, „Things Of Beauty Burn“, „Dust Swirling Into Your Shape“ ...), und auch die Beats sind aus ihren Klängen nun weitestgehend verschwunden, die verfremdeten Gitarren eingegangen in spärlich schimmernde bis orchestral schwellende Sphären (zu denen Matt Kidd alias Slow Meadow als Gast viel beigetragen hat).
In den so erzeugten Memoralbildern sammelt und speichert sich weit mehr als nur der erlebte, zum körperlosen Kunstwerk veredelte Moment; noch das kleinste, nie bewußt wahrgenommene Nebengeräusch und Randbild zieht ein in einen geschlossenen Kosmos, in dem Erinnern zum Traum und Träumen zu Erinnern wird. (Zu Risiken und Nebenwirkungen beachten sie bitte nicht die Packungsbeilage; im Falle einer Überdosierung hat sich die Anwendung von hochdosiertem Real Hip Hop, Post-Punk, Hardcore oder Stille bewährt.)

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 21. November 2017

Belästigungen 18/2017: Wie man die Welt rettet, indem man sitzenbleibt

Zu den unterschätzten Tätigkeiten insbesondere des Spätsommers zählt das Sitzenbleiben. Damit meine ich nicht das, was Schülern im früheren Sommer früher gelegentlich unterlief, wenn sie die Verweigerung der Aufnahme angeblich nützlicher Wissensfakten und Rechenregeln allzu ausgiebig verweigerten, um statt dessen vernünftigerweise lieber zum Baden zu fahren oder auf Spielplatzbänken herumzuknutschen. Diese Form des Sitzenbleibens kommt kaum noch vor, seit Regierung und Wirtschaft beschlossen haben, Deutschland müsse dringend zukunftsfähig werden und zu diesem Zweck brauche möglichst jeder ein Abitur, das so schnell und früh wie irgend möglich abgelegt werden müsse, damit die sozusagen nürnbergisch betrichterten Bildungskinder umgehend in die Fabriken, Büros und Arbeitsagenturen hineinströmen und das Wachstum ankurbeln.
Eindeutig spätsommerlicher ist es, einfach so sitzenzubleiben, sich an Restsonne, Restwärme und Restbadewasser zu erfreuen, weil man weiß: Nur noch ein paar Tage, dann werden Isar und Seen noch nett, aber nicht mehr verführend glitzern, dann wird die Sonne am frühen Nachmittag hinter den Biergartenbäumen versinken und ihr fröhliches Lächeln abgelöst vom frostigen Nebelhauch der Herbstnacht. Dann wird es wieder sieben bis acht Monate dauern, bis ein neuer Sommer daherblüht, den man schlotternd ersehnt, um ihn dann doch wieder nicht zu erleben, weil ja so viel zu tun ist an „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ (für die Jüngeren: So lautete einmal eine Wahlparole der CSU oder SPD, ich weiß es nicht mehr genau).
So vergehen ganze Menschenleben mit der Sehnsucht nach etwas, was immer wieder kommt, was man aber nicht greifen, auf ein Konto einzahlen und irgendwann mit einem Haufen Zinseszinsen sich wieder auszahlen lassen kann. Und wovon deshalb kaum jemand etwas hat, weil immer noch „kurz“ oder „schnell“ oder überhaupt und jedenfalls vorher anderes zu erledigen ist.
Möglicherweise steckt dahinter ein archaischer Atavismus. Im Urhabitat des Menschen konnte das Sitzenbleiben nämlich durchaus unerfreuliche Folgen haben, wenn zum Beispiel ein Löwenrudel oder auch nur eine unleidliche Großfamilie von Nashörnern anrückte. Den größten Teil seiner Gesamtgeschichte war der Mensch deshalb so gut wie ständig auf der Flucht, kam so gut wie nie zur Ruhe und sehnte nicht den nächsten Sommer, sondern eine moderne Zeit herbei, in der er es sich endlich gemütlich machen und sitzenbleiben könnte.
Tja, und dann kam die moderne Zeit daher. Und der Mensch, der das Sitzenbleiben einfach nicht gelernt hatte, begann sofort, tausend neue Wege zu ersinnen, um es zu vermeiden. Er baute Karren, Autos, Bahnen, Flugzeuge, Schiffe und Mondraketen, um möglichst schnell woanders hinzukommen. Er befahl sich Autonomie, Eigeninitiative und Selbstverwirklichung, warf die Familie und den gerade noch angeblich geliebten Lebenspartner aus dem Fenster, um neue Kontinente, Meerestiefen und Planeten zu erobern, die aufgrund eines perfiden Naturgesetzes innerhalb kürzester Zeit identisch aussahen (hier ein Einkaufsparadies, dort eine Müllhalde), weshalb er immer gleich wieder weg und woanders hinwollte. Er erfand das Wachstum (von dem bis heute niemand weiß, wozu es gut sein soll), er erfand den Sport (dito), den Tourismus, Mobilität und Flexibilität, Sachzwänge und immer neue Notwendigkeiten, mit denen – das schärfen ihm seine Führer unablässig ein – ein Sitzenbleiben absolut nicht zu vereinbaren ist.
Und am Ende, als alles nicht mehr half, erfand er das „Pendeln“. Das geht so: Der frisch absolvierte Bildungsmensch bekommt einen „Studienplatz“ zugeteilt (wo er zum Beispiel lernt, Autos zusammenzuschrauben, Tabellen zu erstellen, Reklame für Sportveranstaltungen aufzuziehen oder die Feinheiten des Gebäudereinigungswesens profitorientiert zu optimieren). Der Studienplatz ist in – sagen wir mal – Visselhövede. Einen Schlaf- und Fernsehplatz kriegt der Bildungsmensch auch zugeteilt, der ist aber in Grevenbroich. Nach Abschluß der Ausbildung erhält er einen „Arbeitsplatz“ in Dinslaken, muß aber nun nach Sprockhövel und ein halbes Jahr später nach Deppenhausen umziehen, dann zieht sein Ausbeuter nach Mannheim und er nach Weißnitwo, und jedenfalls verbringt er ein Fünftel seines Lebens auf Straßen, in Intercity-Zügen und (falls er das Glück oder Pech hat, irgendwie systemrelevant zu sein) im Dunstmief von Flugzeugen. In die er endlich auch noch steigt, um in zwei Wochen Winterurlaub den wieder mal verpaßten Sommer in einem identischen „Ressort“ nachzuholen.
Die derart erzeugte Dauerraserei treibt bisweilen absurde Auswüchse. Zum Beispiel beschloß der Mensch eines Tages, seine Fabriken an die Stadtränder zu verlegen, um ihren Lärm und Gestank loszuwerden. Nun mußte er da aber hin, zum Arbeiten. Also baute er Autobahnen, womit sich allerdings dummerweise Lärm und Gestank viervierfachten. Als die Fabriken dann endlich in Entwicklungsländer verlegt werden konnten, wo sich niemand über Lärm und Gestank beschwert, zog der Mensch selber an den Stadtrand und entfaltete dort ungeheure, krebsartig wuchernde Siedlungsmaschinen, die zwar kein ästhetisch oder sonstwie empfindsames Wesen bewohnen kann, ohne selbst krebsartige Wucherungen oder mindestens eine Atomdepression zu entwickeln. Aber das muß er halt, schließlich sind die Autobahnen nun mal da, und schließlich werden seine schönen alten Wohnungen in der Stadt nun von Firmen (den Schaltzentralen der in die Dritte Welt verlegten Fabriken) bewohnt und sind inzwischen sowieso so teuer, daß dort nur noch Firmen wohnen (die sich so was leisten müssen, weil es repräsentativ ist, und können, indem sie nach Lust und Laune an Löhnen und Gehältern sparen).
Wie das weitergeht, ist absehbar. Eines Tages werden die Wohnmaschinen am Stadtrand so weit gewuchert sein, daß sie sich gegenseitig überlappen. Dann werden sie abgerissen, um noch mehr Autobahnen Platz zu machen, die nirgendwo mehr hinführen, weil bei einer täglichen Pendelzeit von acht bis zwölf Stunden keiner mehr eine Wohnung braucht und man zwar auch in der Firma schlafen könnte, das aber lieber im „selbstfahrenden Auto“ tut, aus urzeitlicher Gewohnheit.
Und irgendwann gibt es dann auch keine Arbeit mehr zu tun. Dann endet die Menschheitsgeschichte mit der Reinform des totalen Pendelns: Alle fahren vierundzwanzig Stunden am Tag irgendwo hin, und wenn sie dort sind, kehren sie wieder um. Und umgekehrt.
Falls je ein Urmensch dieses bizarre Inferno in einem prophetischen Alptraum erblickt hat, dann war es vielleicht genau dieser schockierte Urmensch, der wider Natur, Gewohnheit und Atavismen etwas erfand, was heute eventuell nicht nur den Sommer, sondern die ganze Welt als solche retten könnte: das Sitzenbleiben.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und ist in fünf Bänden als Buch erhältlich.