Freitag, 30. August 2013

Belästigungen #416: Zwischen Weisheit und Inkonsequenz ist nur ein kleiner Riß


F hat mir erzählt, wie sie neulich über ihren Schatten gesprungen ist, der in diesem Fall allerdings weniger ihr eigener war als der einer kollektiven Verblödung, der wir alle manchmal verfallen. Sie habe eines ansonsten normalen Abends diesen Typen in der Kneipe gesehen und gespürt, wie ihr ganz seltsam wurde, und sofort seien die üblichen Gedanken durch ihr Hirn paradiert wie eine Schafherde über den Steg: Mal sehen, was er sagt/tut/ob er was sagt/tut. Ach, wie gerne würde ich. Wird sich schon ergeben, wenn/falls. Gerade noch rechtzeitig vor „wäre wahrscheinlich sowieso nicht“ habe sie die Bremse gezogen, sei einfach hingegangen und habe irgendwas absolut Saudummes gesagt, für das man sich im normalen Leben unter den Tisch und durch die Bodendielen hindurch in die Schwabinger Kanalisation hinunterschämen müßte. Was aber in diesem Fall – wie in jedem Fall – genau das Richtige war: Er sagte irgendwas noch Saudümmeres, und nach zwei Minuten war eines dieser Gespräche im Gang, aus denen die größten Popsongs aller Zeiten entstanden sind.
Aber dann seien die Probleme losgegangen: Zwar habe er sie angemessen stürmisch geküßt, zwar habe sie den belanglosen Gesprächsinhalt in der Erinnerung längst durch ein ausufernd wild erotisches Spiel von Blicken und stummen Provokationen ersetzt, indes mußte er am nächsten Tag beruflich bedingt, wie man so sagt, „früh raus“ und deshalb gehen, und nun korrespondiere sie zweimal täglich mit ihm über Facebook, um zu erfahren, wieso eine körperliche Begegnung einfach nicht zustande kommen will: Er kann nur, wenn sie nicht kann, und umgekehrt – alles mögliche Berufliche und metaberuflich Soziale steht dazwischen, und derweil ziehe der Sommer dahin und verfliege langsam, aber ebenso unaufhaltsam ihre aus der verschwimmenden Erinnerung gespeiste Lust.
Ich wollte nicht allzu belehrend wirken und beschränkte meine Ausführungen daher auf die Standardbinsenweisheit, so gehe es eben, wenn der Mensch auf den grundlegenden und ihn von allen anderen Lebewesen scheidenden evolutionären Defekt seines Hirns hereinfalle: Dann habe er keine Gegenwart mehr, sondern nur noch eine „Zukunft“, keine Liebe, sondern nur noch „Aussichten“ und „Optionen“, kein Geld, sondern nur noch Zinsen, keine Zeit, sondern nur noch Termine, keine Leidenschaft, sondern nur noch Ziele und Hoffnungen, und da es eine Zukunft nicht gibt, werde all das irgendwann, spätestens mit Einsetzen der naturbedingten Demenz, unbemerkt verschwinden und in Reue und Verzweiflung ertrinken.
All das wußte F längst selber, und deswegen nickte sie nur melancholisch, weil er es wahrscheinlich auch weiß und aber wie die meisten Menschen aus diesem Wissen nur den Entschluß zieht, „irgendwann“ oder „bald“ was zu ändern, einen Schlußstrich zu ziehen, dies und das „umzukrempeln“, einen „Neustart“ zu machen usw. Dazu, das wissen wir auch alle, kommt es nie. Weil es das unablässige Tun des Menschen ist, was einer Veränderung im Weg steht, kann man nichts verändern, indem man etwas tut, sondern nur indem man etwas nicht tut.
Also rief F ihren sogenannten Arbeitgeber an, erzählte ihm was von einer Sommergrippe, und während wir solcherart von lästigen Pflichten befreit müßig durch den Sommer radelten und den schimmernden Taumel genossen, den die Mischung aus absoluter Ziellosigkeit, Münchner Luft und Mittagsbier erzeugt, während wir mit der Isar flossen, über die Auer Dult flanierten, dem Rauschen der Bäume lauschten, unseren Blick im Himmel verdunsten ließen und die Zeit vergaßen (die übrigens sofort das Vergehen einstellt, wenn man sie vergißt), während wir lachten und Blödsinn redeten und Menschen und Tieren bei ihren sinn- und zwecklos lustigen Verrichtungen und Vergeblichkeiten zusahen, merkte ich, wie ihre Trauer sich in Nichts auflöste, so wie sich bei den anderen Menschen das beglückende Nichts in Trauer auflöst, wenn sie es mit Sinn und Zweck und Plänen zu füllen trachten.
Während nun ich den Vorsatz, nicht belehrend zu wirken, im zweiten Bier ertränkte und munter mit Binsenweisheiten um mich warf, daß es nur so staubte, schenkte mir F die beglückende Art von Blick, die man jemandem schenkt, der sich aufgrund einer Überdosis absoluter Ziellosigkeit, Münchner Luft und Mittagsbier in einen Guru zu verwandeln wähnt, und weil ich das selber wußte und merkte, entschwanden wir für einen endlosen Augenblick in jener fernen Dimension, in der sich so jemand tatsächlich in einen Guru verwandelt und das Lustigste tut, was man im Leben tun kann: das eigene Spiegelbild in den Augen eines anderen Menschen verspotten.
Aber dann klingelt das Telephon, und die Redakteure rufen an: „Sailer, wo bleibt dein verdammter Text! Wir sind eine Tageszeitung und keine Jahresschrift!“ Und weil solche Gespinste wie das, in das wir uns eingesponnen hatten, an einem winzigen Riß leicht gänzlich zerfasern, fällt F ein, daß sie noch ein Referat vorbereiten und zum Sport und nach Berlin zum Geburtstag ihrer Oma und dies und das muß.
Und während der Sommer vergeht und wir zweimal täglich über Facebook korrespondieren und Termine zu vereinbaren versuchen, ahne oder weiß ich, daß wir uns irgendwann vielleicht wiedersehen werden, sporadisch hier und da, daß unser Sommer dann aber vergangen und das beglückende Nichts in immerhin sanfter Trauer ertrunken sein wird, über die wir vielleicht sogar irgendwann mal gemeinsam lächeln können.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Montag, 26. August 2013

Frisch gepreßt: Marissa Nadler "Little Hells"


Das Erscheinen ist eine Tätigkeit, die in der sowieso elusiven, nur noch als Idee und Erinnerung in der Welt wesenden Musikbranche eine schwer zu umreißende Rolle spielt. Bei Marissa Nadler noch mehr als bei anderen: Ihre (vielen) Platten irrlichtern durch die Zeit wie Sternschnuppen mit Zellaktivator – gerade erst da und mit begeisterten „Oh! Ah!“-Rufen sowie diversen Preisen und Anpreisungsetiketten versehen, sind sie schon wieder weg, kehren plötzlich wieder, sind wieder weg und wieder da. Das gilt nicht nur „körperlich“: Dieses, ihr (ungefähr) sechstes Album (von ungefähr acht) kam 2009 auf das, was man immer noch gerne Markt nennt, obwohl sich davon praktisch nichts mehr zwischen Regal und Kasse abspielt, und zwar mit Hilfe eines New Yorker Metal-Labels. Kritiker, die davon etwas mitbekamen, waren begeistert (und zeigten damit eine gewisse Beharrlichkeit, hatten sie doch schon den ungefähren Vorgänger „Songs III: Bird On The Water“ als „Best Americana Record of the Year“ gefeiert), der Rest der Welt ging achselzuckend vorüber.
Nun erscheint „Little Hells“ noch einmal; man weiß nicht genau wie und warum, aber man sollte sich auch nicht allzu viele solche Gedanken machen, sondern lieber lauschen. Das Erscheinen nämlich ist durchaus und durchweg ein Thema dieser zarten, manchmal wie Rauchringe dahinschwebenden, dann wieder wie ein nahezu schwereloser Samtvorhang übers Gemüt wehenden Musik: Man möchte sie festhalten, darin eintauchen, sich damit füllen; aber ehe man sie greifen könnte, ist sie schon wieder weg, verflogen und verzogen, und hinterlässt einen zarten Phantomschmerz, ein kleines Vakuum in der Seele, „The Hole Is Wide“, und ohne es zu merken, drückt man auf „Repeat“, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil Nadlers Lieder nicht als Ohrwürmer im Hirn kleben.
Es ist auch schwer zu be-greifen, was einen daran so fasziniert: Melodiepartikel, Themen, Geschichten, Stimmungen und Personen kehren verwandelt oder verkleidet wieder, getragen von dieser traumselig hauchenden, trotzdem kräftig und unbeirrt durchs Schicksalsmeer tauchenden Stimme, die hie und da etwas zu fragen scheint, so als wüsste sie selbst nicht, ob es wahr sein kann, wovon sie berichtet – manchmal fragmentarisch, dann wieder konkret, aus ungewisser Ferne beobachtend oder mittendrin miterlebend. Immer wieder kehren Motive epochaler Einsamkeit und gelassener Trauer, angesiedelt in Traumzeiten jenseits der Historie.
Musikalisch schöpft Marissa Nadler scheinbar aus vielen Quellen; die Einflüsse, die man ihr zugeschrieben hat, sind jedoch nicht zu identifizieren, so wenig wie man einem blühenden Pfirsichbaum ansieht, dass er aus feuchter Erde erwachsen ist. Mal verschwimmen monotone Akustikgitarren in einem Universum von Hall, mal sind die gezupften Saiten, die wollig getupften Tasten und Felle so nah, als trüge man sie im eigenen Kopf; nur die Stimme kommt aus großer Tiefe und Höhe zugleich, ortlos und zeitlos schwebend. Meint man etwa, im abschließenden „Mistress“ tatsächlich und handfest Elemente südstaatlicher Folklore identifizieren zu können, gerät man gleich wieder ins Schwanken – Sind das überhaupt echte Pedal-Steel-Gitarren? Sind solche Harmonien in der Countrymusik überhaupt erlaubt? Es spielt letztlich keine Rolle.
In den meisten (sowieso wie gesagt unsicheren) Diskografien von Marissa Nadler fehlen ihre aufschlussreichen (ganz ohne Label „erschienenen“) „Covers“-Platten, auf denen sie Songs von Leonard Cohen, Tom Petty, Bruce Springsteen, Neil Young, Bob Dylan, Loudon Wainwright III, Townes Van Zandt, Joni Mitchell, Daniel Johnston, Cat Stevens, Radiohead und anderen in ihre Sprache übersetzt – da möchte man den Finger heben: Aha! Aber auch das ist ein Irrtum; hört man dieser Frau lange genug zu, fragt man sich, ob nicht letztlich sie der Urgeist aller Musik ist, aus dem alles andere, spätere, frühere und weitere erstanden und erwachsen (und eben auch erschienen) ist. Wie aus feuchter Erde.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Sonntag, 25. August 2013

Belästigungen #415: Vom „Single“ zum „Double“ und (endlich! wieder!) zurück


Das Wort „Single“ gab es schon, als ich ein Kind war und ansonsten kaum Anglizismen im Alltagssprech herumschwirrten. Damals bezeichnete es kleine, grellbunt verpackte Vinylscheiben, Zauberwerke der Popkultur, die alle paar Wochen einen neuen Wahnsinnshit meiner Glamrock-Helden Slade, T. Rex, Bowie, Sweet, Roxy und Alice Cooper ins Haus dröhnten und den Aspirinkonsum unter Eltern ankurbelten. Ein paar Jahre später, als die Springerpresse den Deutschen endlich ihr Solidaritätsgedusel ausgetrieben und die Lambsdorf-Kamarilla den Wirtschaftsfaschismus als neue Staats- und Gesellschaftsraison durchgepeitscht hatte, war „Single“ keine Platte mehr, sondern ein Mensch, der sich aus freien Stücken entschlossen haben wollte, ohne lästige Anhängsel wie Ehepartner und Bamsenbagage durch ein Leben der sensationellen Berufserfolge und Freizeitbelustigungen zu flanieren – ein Heros der neoliberalen Ära, frei und selbstbestimmt im globalen Supermarkt der Achtziger.
Als dann die Belustigungsindustrie den „Single“ – der seine zunehmende Verzweiflung darüber, daß er zwar jede Menge „Zukunft“, aber keinerlei Vergangenheit („Nur nach vorne blicken!“) und deshalb auch keine Gegenwart hatte, mit exzessivem Ankauf von Produkten betäubte – mehr oder weniger leergezapft hatte, irrte der arme Wurm durch die Welt wie ein Brummkreisel, in rotierende Raserei versetzt durch alle möglichen esoterischen und karrieristischen Wahnmodelle, Rave-Klamauk und Ibiza-Schaumparties, auf der wirren Suche nach einem Sinn, den es ohne Gegenwart in der Welt halt nicht geben kann.
Und siehe da: Schon dämmerte eine Renaissance der Kleinfamilie heran, angeblich wenigstens; überall begegnete man plötzlich händchenhaltender Ausschließlichkeit, treuherzigen Kitschblicken und zunehmend am ebenfalls unverzichtbaren SUV-Panzer orientierten Kinderlastwagen, in denen eine Familie der vorletzten Jahrhundertwende ihren gesamten Hausrat mobilisieren hätte können. Selbst die explodierende Zahl von Schnellscheidungen konnte die vielbeschworene „biologische Uhr“ nicht hindern, so laut zu ticken, daß die Gesamtgesellschaft des angeblich so freien WWW-Zeitalters nach ihrem Takt marschierte.
„Single“ war nun fast ein Schimpfwort, mindestens mit mitleidigem Trauerflor und der unverzichtbaren Präzisierung „noch“ behängt – „Du bist noch Single?“ Händeringend beklagten Klatschsüchtige das tränenwerte Schicksal frisch getrennter Hollywoodstars und einsam in ihren Trutzburgen gammelnder Millionenadeliger: Ach, die armen „Liebes-Pechvögel“!
Neulich hat mir A von ihrer Jahre währenden Suche nach „dem Richtigen“ erzählt, woraufhin ich eine geistig-emotionale Deformation durch übermäßigen Genuß jener Fernsehserien diagnostizierte, die vorgeblich „frech“ vom vermeintlichen Liebesleben amerikanischer Großstadtwesen erzählen und in Wirklichkeit genau die Utopie vermitteln, der A offensichtlich verfallen war: Es müsse doch irgendwo da draußen „den Einen“ geben, der schicksalsgenetisch exakt zu ihr passe und sie zu dem ergänze, was sie allein nicht sein könne. Wenn, wandte ich ein, dieser Kerl wirklich irgendwo herumschwirre, sei jedenfalls angesichts der Größe und Verwinkeltheit des Planeten die Wahrscheinlichkeit, ihm zufällig zu begegnen ungefähr so groß wie drei Sechser im Lotto hintereinander – weshalb ja auch die elektronische Verkuppelungsindustrie das Ideal längst zum Muster kastriert hat: zwei, drei gemeinsame Interessen, ungefähre Wohnortnähe, der Rest (Urlaub, gemeinsame Mahlzeiten, Fernsehprogramm, Sport- und Geschlechtsaktivitäten) läßt sich notfalls vertraglich regeln, und fertig ist das Zweierglück mit dem konditionierten X-Beliebigen, das man bei Nichtgefallen jederzeit mit einer kurzen Facebook-Notiz annullieren kann.
A sah mich mitleidig an und fragte noch mitleidiger, ob ich es nicht leid sei, einsam und ohne Sinn durch die Welt zu irren, und da platzte mir der Kragen: Einsam nämlich sind nicht etwa „Singles“, die solche in den meisten Fällen gar nicht sind, sondern in einer Vielzahl von Beziehungen Liebe, Freundschaft, Sex, Aufregung, Romantik, Zärtlichkeit, Spannung, Geborgenheit, Treue, intellektuellen Reiz, Vertrauen und all die anderen  Dinge erleben, die der Zweiermensch (nennen wir ihn meinetwegen „Double“) aus einer einzigen Bezugsperson heraussaugen möchte plus eventuell einem zusammendestillierten Kreis öder gemeinsamer Bekanntschaften, die man monatlich zum Essen trifft, um bemüht darüber zu plaudern, wie toll früher alles war und was man beruflich so vorhat, und hinterher ein stinkfades Brettspiel zu absolvieren. Nach gut vier Jahren als „Single“, erklärte ich A, wisse ich ziemlich genau, welche Fallen man vermeiden müsse (vor dem Duschen prüfen, ob ein Handtuch da ist, nie ohne Schlüssel den Abfalleimer ausleeren usw.), und jeder einzelne Versuch (ich bin ja auch nur ein Mensch), doch mal eine exklusive Verbindung herbeizuführen, führe nach seinem Scheitern zu Erleichterung und „endlich wieder“-Jubelrufen.
Hingegen die Vorteile: Weg fällt das ganze Gestrüpp aus Lügen, Heuchelei, Konzessionen und Vertuschungen, die brennende Sehnsucht nach romantischen Verirrungen, sexuellen Abenteuern und zum Beispiel auch danach, um drei Uhr früh ohne schlechtes Gewissen alte Glamrocksingles dröhnen zu lassen und nackt durch die Wohnung zu tanzen. Weg fällt auch die unausweichliche Einsicht am Ende, einen unwiederbringlichen Teil seines Lebens einem unwürdigen Arschloch geopfert zu haben.
Und sowieso, sagte ich zu A, sei es vernünftiger, sich erotischen Vergnügungen hinzugeben, als den Abend damit zu vertun, derart unerfreuliche Dinge zu disputieren. Das, meinte sie, könne sie aber nicht ohne Aussicht auf „mehr“, womit sie sich als eine bislang noch nicht erwähnte Erscheinungsform des „Single“ outete: der Verzichter, der sein Leben verzinst sehen möchte. Meine Frage, ob sie denn von ihrem nächsten „Richtigen“ eine Belohnung für diese Selbstkasteiung erwarte und welche und wieso, konnte sie nicht beantworten, weil sie schon dabei war, sich anders zu entscheiden. Schade, es hätte mich vielleicht doch interessiert. Vielleicht.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN, diese Folge am 23. Juli 2013.