Donnerstag, 30. November 2017

Frisch gepreßt #401: The Darkness "Pinewood Smile"


Mein Horoskop sagt: „Offenheit bringt Sie weiter! Zeigen Sie sich Ihren Liebsten, wie Sie wirklich sind!“ Nun, meine Liebsten, dann sei's gesagt: Ich LIEBE The Darkness.
Habt ihr auch mal getan, vor vierzehn Jahren einen halben Sommer lang und halbironisch? Ja, das ist der Unterschied: ich nicht. Wenn sämtliche Spatzen etwas von den Dächern zwitschern, tritt mein natürlicher Verweigerungsmechanismus in Kraft und läßt mich das Bezwitscherte mindestens mißtrauisch beäugen. Damals: habe ich gar nicht richtig hingehört.
Aber dann, im Herbst 2005, kam das zweite Album, und da zwitscherte niemand mehr. Ich hingegen saß mit dem Kopfhörer auf den Ohren vor einem Häuschen auf einem italienischen Hügel, mühte mich durch zwei durchschnittliche Rocksongs (einer davon: die erste Single, typischer Industriepatzer!) und geriet dann erst langsam, schließlich eruptiv so völlig aus dem Häuschen, daß ich tagelang für andere Musik und generelle menschliche Kommunikation nicht mehr ansprechbar war. Der spinnt! hieß es. Aber ja! So etwas wie „Hazel Eyes“, „Dinner Lady Arms“, „English Country Garden“ hatte ich noch nie gehört!
Oder doch, viele Jahre zuvor: bei Sparks in ihrer Wahnsinnsphase (vor Moroder und Mack) und vor allem bei Queen in ihren wahnsinnigsten Phasen („Sheer Heart Attack“, „A Night At The Opera“ und „Jazz“, lustigerweise vor Mack). Produzent da wie hier: Roy Thomas Baker! Diese stratosphärensprengenden Wirbel(s)türme von unfaßbaren Melodien, dieses Flammenmeer von Sexgitarren, dieses Unwetter aus Donnertrommeln, diese Falsett-Seiltänze, dieser Exzeß von Flamboyanz, dieser „Das geht noch viel überkandidelter!“-Anspruch, der Grenzen nur als Ausgangspunkte akzeptierte – welch ein Irrwitz, welch ein Gottesbeweis für die Wirkungsmacht der Popmusik, die aus dem Lächerlichsten das Größte machen konnte!
Man (außer mir) bog sich vor Lachen, wenn man überhaupt noch hinhörte. Daß und wie der ganze Laden nach diesem „teuersten Peniswitz der Welt“ (ein Kritiker) in einem Chaos von Suff, Kokain, Irrenhäusern und diversen Ablegerbands auseinanderflog, war konsequent und beispielhaft; selbst darin strahlte noch die Würde des traurigen Narren.
Reunions machen mich immer skeptisch, aber da das bei The Darkness (ab 2012) ohne Rummel und Spatzengezwitscher abging und sich niemand so recht interessieren wollte, war ich doch neugierig. Und wurde belohnt: „Hot Cakes“ und „Last Of Our Kind“ rummsten und bleckten fast genauso narrisch wie dazumal der einsame Gipfel, auf dem Justin Hawkins mit geschmolzenem Hirn seinen Haarausfall beweint hatte.
Und drum bleibe ich dabei und werde, wenn niemand hinschaut, mir auch diesmal Phasen gönnen, in denen ich das Erwachsenwerden strikt verweigere, statt dessen in imaginären Glitzerbuntfummeln auf Plateausohlen durch eine Phantasiewelt hüpfe, in der jenseits der Schamgrenze das Reich der durchgeknallten Genialität beginnt, in der man Gitarren so dermaßen karnevalistisch exaltiert spielen darf, wie man das als „ernsthafter“ Rockmusiker niemals dürfte (und dann erst recht!), in der man sich zum „Japanese Prisoner Of Love“ und zu „Buccaneers Of Hispaniola“ stylt und dazu derart aberwitzige Melodiegirlanden bauscht, daß die größten Komponisten der Popgeschichte erblassen.
Ich werde ein Auge zudrücken, weil die (Halb-)Balladen „Why Don't The Beautiful Cry?“ und „Lay Down With Me, Barbara“ nicht ganz genug (Wahn-)Witz haben (na ja, zweitere dann doch!), und ich werde, hysterisch lachend, die Faust schwingen, immer wissend, daß jeder Triumph (etwa das Ende des Gitarrensolos in „Japanese Prisoner“) straight in den Abgrund führt, in dem man trotzig weiterarrangiert und mit herausgestreckter Zunge das abseitigste Finale der Welt inszeniert.
O ja, ich LIEBE The Darkness. Und ich wäre bereit, für dieses Album (auf dem übrigens Rufus Tiger Taylor am Schlagzeug sitzt, der Sohn von Queen-Trommler Roger Taylor) – und „One Way Ticket To Hell … And Back“ sowie die erwähnten Sparks- und Queen-Platten – fünf Sechstel der gesamten Pop- und Rockgeschichte auf den Flohmarkt zu tragen. Phasenweise, an solchen Tagen, in solchen Wochen. Ich werde das Harlekinskostüm tragen, in den Höllenschlund tanzen, lächelnde Tränen vergießen und mit den Sternen leuchten. Lacht ruhig, ihr Unwürdigen! Ihr wißt ja nicht, was euch entgeht!

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 28. November 2017

Frisch gepreßt #400: Slade "Alive!"


Es soll auf diesem Planeten Menschen geben, die dieses Album nicht besitzen, obwohl es nun schon zum (gefühlt und in diversesten Ausgaben) 45. Mal erscheint, 45 Jahre nach dem ersten Erscheinen, mit dem damals eine Manie-Lawine losbrach, wie sie die Welt seit den ganz frühen Tagen der Beatles nicht mehr erlebt hatte.
Es soll Leute geben, die Slade überhaupt nicht kennen. Oder höchstens von einem Weihnachtsparty-Ungetüm namens „My Oh My“, das … nein, von dem wir heute mal einfach nicht sprechen wollen. Nachhilfe: Slade (Noddy Holder, Jimmy Lea, Dave Hill, Don Powell – als einzige bekannte Hitband außer den Beatles nie umbesetzt) hatten 1971, 1972, 1973 und 1974 so viele Top-3-Singles wie keine Band der Menschheitsgeschichte (außer den Beatles), und zwar nur in Großbritannien – ihr Versuch, 1975/76 die USA zu knacken, darf als kläglichstes Scheitern der Pophistorie gelten.
Aber was sind schon Hits, auch wenn es Dutzende sind? Vor allem waren Slade die lauteste, wildeste, bunteste, verrückteste Band womöglich aller Zeiten, Vorbilder für die Sex Pistols und Oasis, die ultimative, nie mehr zu toppende Party-Rock-'n'-Roll-Bande, das Dampfrohr auf dem Kessel der Glamrock-Generation, das schillernde Nebelhorn im Duster der 70er, das jeden Club, Saal, jede noch so große Halle binnen Sekunden in ein tobendes Inferno verwandelte, vollkommen ohne (wie das später üblich wurde) ihr Publikum zu dominieren, zu unterwerfen oder mit Showbrimborium zu blenden.
Dabei waren Slade, gängigen Einschätzungen zuwider, alles andere als blöd, auch nicht primitiv, nicht mal simpel. Sie hatten ihr Handwerk gelernt, schon als Prä-Teenager seit den frühen 60ern, hatten sich als Tanzband und Skinhead-Truppe versucht, auf ihrem ersten Album u. a. Steppenwolf, Frank Zappa, The Move und die Beatles gecovert, aber festgestellt, daß sie selber viel bessere Songs schreiben konnten – Songs von einer strukturellen Dichte und lärmsonischen Textur, wie sie nie wieder jemand imitieren konnte. Dabei half ihr Freund/Manager Chas Chandler, einst Animals-Bassist und Jimi-Hendrix-Entdecker, der sie für die (musikalisch/spielerisch) beste Musikgruppe aller Zeiten hielt (vielleicht mit Recht) und ihnen riet, alle Verstärker (also: drei) nicht nebeneinander laufen zu lassen, sondern zusammenzustöpseln und so eine organische Wand von Klang zu schaffen, die ohrenbetäubend und zugleich unfaßbar lebendig war.
Mehr als das i-Tüpfelchen: Sie konnten auch leise, ganz leise sogar, möglicherweise besser als ultralaut, obwohl das ihr Markenzeichen war. „Slade Alive“ beginnt mit einer zwingend groovenden, dabei fast quälend behutsamen Version von Ten Years Afters „Hear Me Calling“, die nur punktuell (beinahe) explodiert. Und zwar enthält es mit „Get Down And Get With It“ den ersten (von damals drei, die anderen beiden fehlen) Hit in Düsenjäger-Brachialität (das Unisono-Klatschen und -Stampfen klappte deswegen so gut, weil die Platte zwar live – ohne irgendwelche Overdubs –, aber vor einer Handvoll Kumpels im Studio eingespielt wurde), aber auch das hinreißende „Darling Be Home Soon“ (Original: The Lovin' Spoonful), das zeitweise so knisternd still wird, daß Noddy Holders versehentlicher Rülpser (es gab, wie üblich, viel Bier) wie ein erlösender Blitz wirkt.
Der Höhepunkt aber ist und bleibt das abschließende „Born To Be Wild“ in einer unwiderstehlich dröhnenden, alles umreißenden Version, die die Urheber Steppenwolf für alle Zeiten erbleichen ließ, vom einleitenden Monsterriff bis zum infernalischen Finale, bei dem man sich stellenweise tatsächlich als Zeuge des Danteschen Weltuntergangs wähnt, allerdings frenetisch fröhlich, außer sich vor Begeisterung. Und vor allem: ist der Zuhörer bis heute eben nicht Zeuge, sondern mittendrin im kochenden Auge des Zyklons.
Es gibt, auch nach Jahrzehnten, kaum ein (in jeder Hinsicht) besseres Rock-Livealbum als dieses, mit dem für Slade alles anfing und irgendwie schon den Gipfel erreicht hatte. Kaum? Kein einziges, nirgendwo und nie. Es wird vielleicht nie eines geben, und wenn doch: Sagt uns bescheid, aber bitte laut, damit wir euch hören.

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Montag, 27. November 2017

Belästigungen 20/2017: Von Büchern, Drogen und der Glückseligkeit der „Finanzmärkte“

Jede Epoche der Menschengeschichte, so mag es dem Freizeithistoriker scheinen, hat ihre eigenen Drogen und Kulturtechniken. Zum Beispiel war es vor nicht allzu langer Zeit (nicht nur) in unseren Breiten durchaus üblich, tiefgängige und fundierte Literatur zu gesellschaftlichen Problemen, Fehlentwicklungen und Skandalen zu lesen, zu diskutieren und daraus sogenannte Handlungskonzepte abzuleiten. Das heißt: sich zu überlegen, was man am besten dagegen tut, daß die Welt in Einzelheiten und insgesamt nicht so eingerichtet ist und läuft, wie sie das sollte, damit es möglichst vielen Leuten gut geht.
Heute spielen solche Fragen und Antworten keine Rolle mehr, weil das Wohlbefinden gewöhnlicher Menschen nicht mehr von Bedeutung ist. Wem es heute gutgehen soll und muß und wessen Lust und Laune deshalb das grundlegende und einzige Maß aller Dinge ist, hat man uns jahrzehntelang so gründlich eingehämmert, daß wir es quasi als Instinkt verinnerlicht haben: Es sind die „Finanzmärkte“. Wenn der Sommer ein schöner war, dann ärgert und grämt es uns nicht mehr, daß wir und der überwiegende Teil der Bevölkerung nichts davon gehabt haben, weil wir ihn vor allem damit verbringen mußten, in Betonkisten herumzuwerkeln, um Futter für die „Finanzmärkte“ heranzuschaffen. Sondern wir fragen: Was hat der Sommer den „Finanzmärkten“ gebracht? Sind sie einigermaßen zufrieden? Dito bei Kriegen, Grippewellen, Terroranschlägen, Naturkatastrophen und jeder einzelnen Wahlfarce, mit der ein marktradikaler Pappkamerad wegen Abnutzung durch einen anderen ersetzt wird oder auch nicht.
Welch ein Aufatmen geht dann durchs Land, wenn Radio, Fernsehen und Zeitungen melden, die „Finanzmärkte“ zeigten sich „belebt“, „erholt“ und „freundlich“, sie reagierten positiv auf sich abzeichnende und bereits abgelaufene „Entwicklungen“, und wenn dann noch dafür gesorgt ist, daß die regierende Großkoalition aus marktradikalen Eliteparteien nicht nur wie gewohnt mit der milde lächelnden Pseudomutti (oder notfalls ihrem Ersatzfroschgockel, der allerdings alles dafür tut, das zu verhindern) an der Spitze weiterregieren kann und eliteseits darf, dann sind alle zufrieden. Alle heißt: die „Finanzmärkte“. Und wir auch, weil es die „Finanzmärkte“ sind.
Deswegen stirbt die Kulturtechnik des Lesens und Durchdenkens fundierter, durchdachter Literatur aus und wird ersetzt durch das epileptisch-zufällige Herumwischen in Knallmeldungen über rasierte Hühner, zerstückelte Ehefrauen und andere saure Gurken, die das Resthirn irgendwie beschäftigt halten und die vormals wesentlichen gesellschaftlichen Vorgänge komplett ausblenden. Die Bücher indes gibt es zwar noch, aber sie liegen in Pappkartons mit der Aufschrift „zu verschenken“ vor den Eingängen von Häusern herum, in denen nicht mehr diskutiert, sondern nur noch konsumiert und ein kurzes Erholungs-Power-Napchen absolviert wird, ehe das Werkeln zum Wohle der „Finanzmärkte“ weitergeht.
Kontemplativen Flaneuren wie mir, die sich diesen Prozeß mit milde wütender Wehmut von außen anschauen, bleibt die verantwortungsvolle Aufgabe überlassen, die Marx-Gesamt- und Einzelausgaben, die bunten edition-suhrkamp-Bändchen und aufbrecherischen Pamphlete aus verwehten, hoffnungsfrohen Zeiten einzusammeln, bevor sie sich mit Regenwasser und Hundepisse vollsaugen, sie einzulagern wie kleine Gläschen mit Sinnmarmelade, von denen man weiß, daß sie wahrscheinlich nie wieder jemand hervorziehen und öffnen wird, weil die Evolution unaufhaltsam voranschreitet und das rudimentäre Hirn des westeuropäischen Menschen in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr in der Lage sein wird, überhaupt zu begreifen, daß die alles bestimmende Diktatur der „Finanzmärkte“ nicht naturgegeben und ganz und gar nicht „alternativlos“, sondern eine absichtsvoll herbeigeführte soziale Krebswucherung ist, der man mit Therapien zu Leibe rücken sollte, bevor der Exitus unabwendbar ist.
Ebenso ist es mit den Drogen. Das „Dritte Reich“ etwa war ohne Aufputschmittel ebensowenig denkbar wie das nachfolgende „Wirtschaftswunder“, dessen Opfer hinterher mit Valium beziehungsweise Heroin ruhiggestellt werden mußten. Und den bunten Wahn der Flower-Power-Pop-Op-Frischwärts-Reklame konnte man nur ertragen, wenn man sich mit harzigen Kräutern eine wohlige Gleichgültigkeit andampfte, während man dann, als die „Finanzmärkte“ ihre Terrorherrschaft einleiteten und fröhliche Konsumhippies zu aggressiven Börsenathleten mutierten, ohne Kokain schlagartig vergaß, wieso man mit aller Kraft ein derart blödes Leben anstrebte.
Heute, wo der jahrtausendelang trostvolle Hanf genetisch dermaßen optimiert ist, daß eine homöopathische Dosis genügt, um sich ein ein dreitägiges Hirnkoma zu ballern, in dem nichts mehr geschieht außer Schokolade und daß die Zeit vergeht (langsam), erkennen wir sozusagen „ernüchtert“, daß selbst das Kiffen zum Leistungswettbewerb degeneriert ist. Die logische Konsequenz trägt den Namen Ritalin und wird dem für die „Finanzmärkte“ nötigen Nachwuchs generationendeckend eingepumpt, auf daß er sich ausbeutungstauglich zurichten lasse, ohne abgelenkt zu werden, aufzubegehren oder outzudroppen.
Ritalin funktioniert ungefähr so wie eine Gehirnamputation, bei der eine einzige Windung zurückbleibt, die genau eine einzige Funktion hat: funktionieren. Für den modernen Sklaven der „Finanzmärkte“ heißt das: relativ unsinnige und seinem eigenen Menschsein (oder -werden) zuwiderlaufende Funktionsregeln und Verfahrensvorschriften in sein monokompatibles Verhaltenssteuerungszentrum hineinpressen, Prüfungen bestehen, die beweisen, daß er funktionieren kann, und dann eben für den Rest seiner irdischen Existenz funktionieren: wachstumsrelevante Tätigkeiten verrichten, die nicht ihm, sondern den „Finanzmärkten“ zugutekommen, bis eines Tages alles Nachrüsten und Weiter„bilden“ nichts mehr hilft und er krummbuckelig und ausgelaugt in die Altersarmut rangiert wird, für die er bitteschön in Eigenverantwortung Vorsorge zu tragen hat, weil es sich die „Finanzmärkte“ nicht leisten können und wollen, ihr Menschenmaterial nach dessen Ausbeutung durchzufüttern.
Das erträgt von Natur aus niemand, ohne sich zum Beispiel von dem Gedanken ablenken zu lassen, daß die Welt und das Universum irgendwann mal nicht den „Finanzmärkten“ gehörten, sondern allen Lebe- und sonstigen Wesen, die darin leben und wesen, und daß das im Grunde immer noch so ist oder sein sollte, daß es eigentlich ganz einfach wäre, dafür zu sorgen, daß es wieder so ist, und daß außerdem die Sonne scheint und der TSV 1860 spielt und der Biergarten zum letzten gemütlichen Herumlumpen des Jahres (oder des Lebens, wer weiß?) einlädt und dies und das und jenes und und und.
Mancher erinnert sich dunkel, in einer der vor den Hauseingängen herumliegenden Schwarten gelesen oder irgendwie davon gehört zu haben, Religion sei Opium für das Volk. Heute sind Religion und „Opium“ quasi identisch und eins: Unter den Bedingungen der real existierenden Marktdiktatur kann auf die Dauer nur überleben, wer sich mit Ritalin dopt, und der Ritalinjunkie braucht die Marktdiktatur, weil er in einer freien Gesellschaft durchdrehen und wie ein Rekordauto auf gerader Strecke in die Leere (und irgendwann gegen eine Wand) rasen würde. So: rast er in eine längst abgesteckte, verkaufte und zugunsten der „Finanzmärkte“ durchgeplante „Zukunft“.
Wir anderen, die da nicht mittun wollen/können/dürfen, machen es uns in den Büchergebirgen gemütlich, drehen uns ein homöopathisches Rohr und warten geduldig auf den Tag, an dem die anderen feststellen, daß das alles überhaupt nichts bringt und keine Freude macht, und fragen, ob es nicht vielleicht auch ganz anders geht. Und daß dieser Tag mit jeder einzelnen Ritalinisierung eines Junghirns in weitere Ferne rückt und vielleicht überhaupt nie mehr kommt, ist schade, aber, dem alten Kifferwitz gemäß, auch irgendwie egal.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 24. November 2017

Frisch gepreßt #399: Sparks "Hippopotamus"


Darf ich einleitend erwähnen, daß ich momentan (Donnerstag, kurz vor Mitternacht) in einem mindestens zehn Jahre alten Morrissey-T-Shirt (die „Formel-eins“-Kollektion) eineinhalb Meter neben meinem Lieblingszapfhahn sitze (Hintergrundmusik: „Centerfold“ von der J. Geils Band)? Doch, das spielt eine Rolle (das in Klammern nicht).
Weil: es gibt da eine Geschichte. Da ist Morrissey (ohne Zweifel der stil- und geschmackssicherste, belesenste und behörteste, nerdmäßig gebildetste und möglicherweise eloquenteste Populärmusiker des 20. und 21. Jahrhunderts; mag jemand streiten?) aus Manchester, England und überhaupt dem europäischen Kontinent weggezogen ins tiefste Kalifornien, hat sich dort ein Haus gekauft und gewartet.
Gewartet? fragt der Nicht-Nerd. Worauf denn?
Sagen wir: auf seine Nachbarn. Nämlich hatte er das Häuschen nur gekauft und war nach Kalifornien nur gezogen, weil dorten in unmittelbarer (sagen wir: kalifornisch unmittelbarer, also in einer halben Stunde mit der Corvette erreichbarer) Nähe Ron und Russell Mael wohn(t)en. Sparks.
Sparks? Sagt heute kaum noch jemandem was. Sagte damals (ein tieferes „damals“) auch kaum jemandem was. Nur Eingeweihten. Die hörten das dritte Sparks-Album „Kimono My House“ (hi hi) zu Glam- und Punkrock- und anderen Zeiten am Stück hintereinander, Abende lang, vielleicht kurz unterbrochen vom vierten („Propaganda“), ekstatisch und hysterisch kichernd, begeistert, vom Nachhall im Zwischenhirn noch vormittags an der Supermarktkasse schwuchtelig zuckend und swingend, noch mal: be-gei-stert. Ein Jahrhundertalbum. Morrissey war einer dieser seltsamen Menschen. Ich auch.
Jetzt aber: war Morrissey zwar in Kalifornien, hatte aber keinen Führerschein, folglich auch keine Corvette, dazumal (und sowieso) kein Mobiltelephon, ließ also komplizierteste Anbahnungen anlaufen mit dem einen lebenserfüllenden Ziel: Ron und Russell oder Ron oder Russell ins Haus zu kriegen und ein Schälchen Tee mit ihm/ihnen zu leeren, devot zu konversieren und solcherart einen Ziegel in den Turm des biographischen Fanplans zu mauern.
Nun aber: ist Morrissey abseits der Bühne notorisch krankhaft schüchtern. Als tatsächlich eines Tages ein (oder zwei) Mael(s) an seine Tür klopfte(n), ließ er ihn/sie einlassen, versteckte sich aber, als eine Art Vase maskiert, in einer Ecke des Wohnzimmers und hörte schwärmend zu, was der zufällig anwesende Journalist mit dem/n Mael(s) so plauderte. Selbst bekam er kein Wort heraus.
Da gibt es nichts zu lachen. Schüchternheit mag nicht das nächstliegende Asset eines Popstars sein, wurzelt aber in einer höchst bewundernswerten Bescheidenheit, die zu verdanken weiß. „Kimono My House“ ist und bleibt, sprechen wir es ehrlich aus, eine der grandiosesten Pop-Platten aller Zeiten (und zum Beweis ist der Evergreen „This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us“ der mit Abstand schwächste Song darauf), „Propaganda“ kommt kurz dahinter, dann – vielleicht – vier oder fünf Morrissey-Alben.
Ja, und jetzt? Fragen wir uns, was danach passiert ist. Weil es ja noch zig bis Zillionen (oder zwei- bis dreiundzwanzig) Sparks-Alben gibt, die größtenteils wenig bis minus null taugen und nur deswegen im Plattenschrank (oder auf der Festplatte) verstauben, weil halt „Sparks“ draufsteht und zum Beispiel auch kein guter Christ ein Kruzifix aus der Kirche hinauswürfe, nur weil es greislig ist.
Die Geschichte ist hier (fast) zu Ende. Es gibt schon wieder ein neues Sparks-Album, und selbstverständlich ist es nicht so niederschmetternd, himmelsprengend wie „Kimono My House“ und „Propaganda“. Aber es ist wagemutig, elegant, abenteuerlich, sexy, hinreißend und ein Stück jenseits von allem, was Nachgewachsene in den letzten dreißig Jahren an Popmusik produziert haben – das meiste davon klingt im Vergleich wie ein Blatt von der Klopapierrolle: schon irgendwie angenehm, vielleicht sogar duftig und erfreulich, aber … Es gibt übrigens außer Morrissey, Eminem und The Darkness keine (moderne) Musik, die Sparks nicht müde, lau, langweilig und scheiße finden.
Morrissey hat Sparks (bitte IMMER: ohne „The“!) damals zum Meltdown-Festival nach London eingeladen (oder vermutlich einladen lassen), wo sie „Kimono My House“ am Stück gespielt haben, badend in der Begeisterung von Menschen, die zu jung waren, um zu ahnen, daß es etwas Derartiges gab und geben konnte. Und mir hat mal ein Wirt der legendären Musikkneipe „Domicile“ in der Leopoldstraße erklärt, wieso er einen relativ neuen Flügel auf der Bühne stehen hatte: 1974 oder 1975 habe ein wilder Haufen namens Sparks da gespielt und das alte, ziemlich historische Tasteninstrument im Überschwang des Moments so gründlich zerhackt, zerspreißelt und zersplittert, daß die (o große Popzeiten!) fünfstellige Gage einbehalten und lebenslanges Lokalverbot erteilt wurde. Einer habe einen Hitlerbart gesportet, der andere alle fünf Bedienungen gleichzeitig auf dem Billardtisch flachgelegt, bei offener Tür.
Eine der wenigen Reliquien, die ich besitze, ist eine halbe Klaviertaste, die ich damals beim (verschämten) Abbauen meines Gitarrenverstärkers fand. Ich huldige ihr gelegentlich. Und ihr, die ihr euch fragt, was das hier alles soll: kauft bitte dieses und mindestens zwei weitere Sparks Alben (siehe oben). Weil es wenige Sachen gibt, die diese fade Welt so wenig verdient hat wie Sparks. Und kaum etwas, was ihr und ihrer Popmusik dringender fehlen könnte.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 23. November 2017

Belästigungen 19/2017: Hi hi hi! Ha ha ha! (ein Universalhoroskop für ein glückliches Leben)

Man muß nicht an Horoskope glauben, um bisweilen einen gewissen Nutzen aus den wahllos in der Gegend herum medisierten Lebensweisheiten, Tagesratschlägen und Gemeinplätzen zu ziehen, die Orientierungslosen in Zeiten der Orientierungslosigkeit eine gewisse Orientierung versprechen. An was soll man sich sonst auch halten? An das Fernseh, in dem seit mittlerweile Jahrzehnten immer die gleichen Berufsplauderer zusammensitzen und ihren Plapperöffnungen von Sabine-Christiansen-Klonen identischen Schwurbel entlocken lassen, um dem Volk da draußen einzudübeln, daß der Neoliberalismus alternativlos, die AfD total wichtig und der demütigende Vorgang, alle paar Jahre ein Kreuzerl auf irgendeine Liste machen zu dürfen, eine echt pfundige Demokratie und drum Superpflicht ist?
An Zeitungen, die zum Wimmelkasten von Konsumanregungen verkommen sind, seriösid geschminkt mit ein bißchen ominösem Geraune über den bösen Russen und den wahnsinnigen Ober-Ami beziehungsweise flammenden Aufrufen zum Haß („Mitten in Deutschland: Burka-Frau verprügelt Dessous-Verkäuferin“ – man fragt sich, ob der „Staatsschutz“ auch „ermitteln“ täte, wenn sich derlei Skandalöses ein kleines Stück oben links von der deutschen Mitte oder meinetwegen „mitten in Oberpfaffenhofen“ abgespielt hätte, aber damit hat man schon wieder nicht mehr als einen Grund, sich überhaupt nichts mehr zu fragen)?
Oder an den Radio, diese perfekt geölte Gehirnspülmaschine, die bei täglichem Einsatz in die verhornteste graue Zelle die Gewißheit einstanzt, daß die Welt überwiegend aus Börsenkursen, Terrorwarnungen und Mitteilungen über Autos (wo sie sich zur Zeit am liebsten stauen und welch ungeheure Mühen Regierung und Industrie aufwenden, um ihre Tödlichkeit offiziell zu mildern) besteht?
Oder an die Flut von sicherlich wohlmeinenden und aus purer Mitmenschenliebe in den digitalen Äther geschwemmten Weltdeutungen und Tips, mit denen man sich heutzutage die Vormittage aus der bewußt erlebten Lebenszeit löscht und den Eindruck ins Weltbild zementiert, es gebe überhaupt keinen Menschen mehr, der nicht an Diabetes, Neuropathie, „erectile dysfunction“, Haarausfall, Nagelpilz, zu vielen Rippen, Akne, Inkontinenz, Warzen, Narzißmus, Herpes, Atomübergewicht, Psoriasis, Borderline-Schizophrenie, circa siebzehn Unverträglichkeiten und Allergien gegen jede Form von Lebensmittel und Getränk sowie schwellender, existentieller Sehnsucht nach einem Leben als Trapper im verschneiten Holzschuppen mit mindestens einem Dutzend devoten russischen Blondinen und einem Arsenal futuristischer Elektrogeräte leidet?
Nein, da hält man sich doch lieber an das, was die Sterne sagen. Heute zum Beispiel sprachen sie zu mir: „Pflichten sind nicht unbedingt das, worauf Sie heute vormittag besonders Lust haben. Versuchen Sie doch, das für Sie heute aktuelle Thema 'Lust und Pflicht' so anzugehen, daß Sie es sich zur Pflicht machen, für ein paar lustvolle Augenblicke zu sorgen!“
Was allerdings selbst nach dem dritten Großbecher Grüntee ein Rätsel bleibt. Welche Art von „Thema“ soll bitte schön „Lust und Pflicht“ sein? Und wieso ist dieses „Thema“ heute für mich „aktuell“? Und wie „geht“ man ein „Thema“ „an“? Und wie schafft man es, sich pflichtgemäß lustvoll zu der Lust zu verpflichten, eine Pflicht zur Lust oder die Lust zur Pflicht zu machen, wenn doch Pflicht nicht unbedingt das ist, worauf man an diesem speziellen Vormittag (der derweil in einen ratlosen Mittag hineingeschludert ist) Lust hat?
Da dreht sich das Hirn, bis nichts mehr hilft als hinauszugehen und sich die echte Welt da draußen mal wieder anzuschauen, auf daß sie den Sinnwirbel von virtuellem Second-hand-Klamauk und Deutungshuberei mit einer pfundigen Dosis greifbarer Realität verscheuche. Und tatsächlich: Es gibt sie noch! Indes stellt man auf den zweiten Blick fest, daß sich etwas verändert hat, was nicht unmittelbar deutlich wird. Das septembernostalgische innere Auge spielt gülden gerahmte Erinnerungen ab: Da kehrte man nach zwei fröhlichen Wochen auf dem niederbayerischen Eindödhof fröhlich in die fröhliche Stadt zurück, flanierte im Wärmehauch der letzten Spätsommersonnenstrahlen durch fröhliche Straßen, umgeben von fröhlichen Menschen, die nichts lieber taten als grinsen, kichern, kudern, schmunzeln, lächeln, lachen und so fort.
Mag sein, daß es eine solche Zeit nie gab. Woher kommen dann die Bilder? Möglicherweise sind sie eine spontane Reaktion auf das, was man da draußen heute zu sehen kriegt: Da hetzen perfekt auf Sozialkrieg getrimmte Einzelkämpfer durch die Gegend, bedrohlich umröhrt von grimmig glotzenden Panzermonstern und hysterisch tobendem Event-Klimbim. Gelacht wird höchstens noch in gewissen anrüchigen Etablissements, die deshalb geräuschtechnisch derart hermetisch abgedichtet werden müssen, daß nicht das leiseste „Hi hi!“ nach draußen dringt und den alternativlosen Lauf der Dinge stört. Und auf Reklametafeln, die die Sehnsucht nach einem geglückten glücklichen Leben in die gehetzt Hetzenden hineinimpfen, damit sie nicht irgendwann drauf kommen, daß sie sich eifernd, strebend, gehetzt und dauerentertaint immer weiter davon entfernen.
Dabei hilft Lachen nicht nur gegen neunzig Prozent aller gängigen Zivilisationskrankheiten – inklusive der galoppierenden Seuche Fettleibigkeit, die dafür gesorgt hat, daß die Bevölkerung des „Westens“ in den letzten fünfzig Jahren zahlenmäßig kaum (ähem) zugenommen hat und trotzdem doppelt so viel wiegt wie einst. Nämlich verbrennt man mit zwanzig Minuten Lachen genauso viele Kalorien wie mit drei Stunden Joggen und zerlumpft sich dabei noch nicht mal die Gelenke.
Zudem ist Lachen das einzig wirksame Mittel gegen die Zumutungen der irrgewordenen Gesellschaftsmaschine. Auch deswegen haben uns böswillige Lehrer und andere Orientierungsgestalten schon im Bamsenalter eingebleut, wo es nichts zu lachen gebe, habe man nicht zu lachen, und zu lachen gebe es generell nichts, weil das Leben ernst und hart und schwer sei. Eine reine Schutzbehauptung, um Schlimmheiten zu bewahren, die eisern und ewig scheinen und doch mit dem einfachsten, ältesten und schönsten Mittel der Welt so leicht zu verscheuchen sind wie die Fernsehfressen mit einem Fingerdruck auf die Austaste. Allerdings muß man sich zuvor von den klebrigen Resten des Lehrergebleus befreien und erkennen, daß der Mensch selten lacht, weil er fröhlich ist, sondern fröhlich wird, indem er lacht.
Das läßt sich leicht überprüfen: Man stelle sich vor ein beliebiges Exemplar der fürchterlichen Wahlplakate, die derzeit die ganze Stadt verunzieren, und lache drauflos. Binnen Sekunden wandelt sich die Horrorgalerie von fies dräuenden Karrieristenvisagen in ein Ensemble von Comicfiguren, bei deren nächstem Anblick man automatisch wieder loslachen muß. Die Strategie funktioniert auch mit Schlagzeilen, Reklameplakaten, Verlautbarungen, Parolen, Produkten, Institutionen, Autoritäten (wobei eine gewisse Vorsicht anzuraten ist) und sonstigen Ärgernissen.
Drum habe ich mir erlaubt, mein heutiges Horoskop leicht umzuformulieren und es dadurch für sämtliche Sternzeichen zur Maxime über den Tag hinaus zu machen: Übel sind nicht unbedingt das, worauf Sie heute vormittag oder irgendwann in Ihrem Leben sonderliche Lust haben sollten. Versuchen Sie doch mal, es sich zur Pflicht zu machen, alles wegzulachen, was Ihrem Glück im Wege steht. Ihre Mitmenschen werden es Ihnen danken.
Schwupps! lichtet sich der Nebel, die Sonne strahlt, die Menschen auch, und die Welt ist schön.

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Frisch gepreßt #398: Hammock "Mysterium"


Der frühe Herbst ist die Zeit, in der Erinnerungen zu Träumen und Träume zu Erinnerungen werden, in der unerfüllte Gefühle, vergebliche Sehnsucht und sporadische Zärtlichkeiten in Bilder fließen, die, von Klängen getragen, das Leben des Vergangenen und das zukünftige Erleben prägen. Eine Baumkrone am Isarufer im spätaugustlichen Gelblicht, ein lächelndes Halbgesicht über einer Bettkante im rauchigen Halbdunkel, schwindender Frühnebel zwischen Feldern, der letzte Sonnenstrahl in einem Bergeinschnitt – selbst der triefendste Kitsch findet seinen gerechten Platz im Museum der Augenblicke, die einem, wenn das innere Abspielgerät sie unversehens hervorholt, das Herz zerreißen oder überfließen lassen, zu reminiszenten Tränen oder einem stillen, wehmütigen Lächeln rühren.
Nicht so leicht, die entsprechenden Klänge zu finden, die wie Trigger wirken und die Türen zu den Sälen des Museums aufschwingen lassen. Wer kennt das nicht, daß zum schlimmsten Beispiel der erste Kuß der ersten großen Liebe dank der fiesen Laune eines boshaften Zufallsteufels unauslöschlich mit einem ganz schlimmen Sommerhit von Boney M., mit der Beschallung einer Fernsehreklame für Toilettenpapier oder einem aus einem unweit geputzt werdenden Auto herausträllernden Schlagerrefrain verknüpft und unauflöslich verstrickt ist? Man hat da nicht viele Möglichkeiten; die Zufallsteufel sitzen meistens am längeren Hebel, und wahrscheinlich niemand wollte sich ein unvergeßliches Erlebnis verkneifen oder es bis zu einem günstigeren Zeitpunkt aufschieben (an dem es dann nie mehr stattfinden kann), nur weil grad Mistmucke läuft.
Manchmal aber läßt sich ein sozusagen gesteuertes Erinnern durchaus herbeiführen. Und auch in dieser Hinsicht ist die momentan durch die Landschaften rauschende Jahreszeit ausgezeichnet. Zum Beispiel könnte man die Orte (oder einige), an denen sich vor nicht langer, aber im frühen Herbst ewig scheinender Zeit Glücksmomente, aber auch schneidende Enttäuschungen, unscheinbare Katastrophen und schwellende Sehnsüchte abgespielt haben, noch mal abspazieren oder abradeln, innehalten und kontemplieren und dazu eine Musik hören, die das bemühte Wiedererleben zu einem tatsächlichen, zum ursprünglichen Erleben vergoldet, indem sie das Fühlen intensiviert und das Denken berauscht. Dadurch erhält selbst der schmerzhafteste Moment der Trennung und Entsagung, des Wartens und Verlassenseins einen irgendwie triumphalen Wert als, na ja, Erinnerungskunstwerk.
Hammock-Alben eignen sich in dieser Hinsicht so perfekt, als wären sie eigens dafür geschaffen (was sie ja vielleicht auch sind), insbesondere die letzten und vor allem das neue, das zehnte, mit dem sich in gewisser Weise ein Kreis schließt, der mit dutzenden nie zur Veröffentlichung gedachten Aufnahmen, Nebentätigkeiten der Common-Children-Gitarristen Marc Byrd und Andrew Thompson begann und dessen Bewegung vom Hadern mit metaphorischem Geräusch zum Zerfließen in transzendenter, kristallklarer, überirdischer Schönheit führte.
Hammock (zu deutsch: Hängematte, ein eigentlich viel zu deutlicher Name) brauchen dafür meistens keine Worte (diesmal abgesehen von einem verhallten Chor in „Elegy“ und ein paar Zeilen im Epilog nur in Songtiteln, die assoziative Reflexzonen massieren: „Now And Not Yet“, „Things Of Beauty Burn“, „Dust Swirling Into Your Shape“ ...), und auch die Beats sind aus ihren Klängen nun weitestgehend verschwunden, die verfremdeten Gitarren eingegangen in spärlich schimmernde bis orchestral schwellende Sphären (zu denen Matt Kidd alias Slow Meadow als Gast viel beigetragen hat).
In den so erzeugten Memoralbildern sammelt und speichert sich weit mehr als nur der erlebte, zum körperlosen Kunstwerk veredelte Moment; noch das kleinste, nie bewußt wahrgenommene Nebengeräusch und Randbild zieht ein in einen geschlossenen Kosmos, in dem Erinnern zum Traum und Träumen zu Erinnern wird. (Zu Risiken und Nebenwirkungen beachten sie bitte nicht die Packungsbeilage; im Falle einer Überdosierung hat sich die Anwendung von hochdosiertem Real Hip Hop, Post-Punk, Hardcore oder Stille bewährt.)

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 21. November 2017

Belästigungen 18/2017: Wie man die Welt rettet, indem man sitzenbleibt

Zu den unterschätzten Tätigkeiten insbesondere des Spätsommers zählt das Sitzenbleiben. Damit meine ich nicht das, was Schülern im früheren Sommer früher gelegentlich unterlief, wenn sie die Verweigerung der Aufnahme angeblich nützlicher Wissensfakten und Rechenregeln allzu ausgiebig verweigerten, um statt dessen vernünftigerweise lieber zum Baden zu fahren oder auf Spielplatzbänken herumzuknutschen. Diese Form des Sitzenbleibens kommt kaum noch vor, seit Regierung und Wirtschaft beschlossen haben, Deutschland müsse dringend zukunftsfähig werden und zu diesem Zweck brauche möglichst jeder ein Abitur, das so schnell und früh wie irgend möglich abgelegt werden müsse, damit die sozusagen nürnbergisch betrichterten Bildungskinder umgehend in die Fabriken, Büros und Arbeitsagenturen hineinströmen und das Wachstum ankurbeln.
Eindeutig spätsommerlicher ist es, einfach so sitzenzubleiben, sich an Restsonne, Restwärme und Restbadewasser zu erfreuen, weil man weiß: Nur noch ein paar Tage, dann werden Isar und Seen noch nett, aber nicht mehr verführend glitzern, dann wird die Sonne am frühen Nachmittag hinter den Biergartenbäumen versinken und ihr fröhliches Lächeln abgelöst vom frostigen Nebelhauch der Herbstnacht. Dann wird es wieder sieben bis acht Monate dauern, bis ein neuer Sommer daherblüht, den man schlotternd ersehnt, um ihn dann doch wieder nicht zu erleben, weil ja so viel zu tun ist an „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ (für die Jüngeren: So lautete einmal eine Wahlparole der CSU oder SPD, ich weiß es nicht mehr genau).
So vergehen ganze Menschenleben mit der Sehnsucht nach etwas, was immer wieder kommt, was man aber nicht greifen, auf ein Konto einzahlen und irgendwann mit einem Haufen Zinseszinsen sich wieder auszahlen lassen kann. Und wovon deshalb kaum jemand etwas hat, weil immer noch „kurz“ oder „schnell“ oder überhaupt und jedenfalls vorher anderes zu erledigen ist.
Möglicherweise steckt dahinter ein archaischer Atavismus. Im Urhabitat des Menschen konnte das Sitzenbleiben nämlich durchaus unerfreuliche Folgen haben, wenn zum Beispiel ein Löwenrudel oder auch nur eine unleidliche Großfamilie von Nashörnern anrückte. Den größten Teil seiner Gesamtgeschichte war der Mensch deshalb so gut wie ständig auf der Flucht, kam so gut wie nie zur Ruhe und sehnte nicht den nächsten Sommer, sondern eine moderne Zeit herbei, in der er es sich endlich gemütlich machen und sitzenbleiben könnte.
Tja, und dann kam die moderne Zeit daher. Und der Mensch, der das Sitzenbleiben einfach nicht gelernt hatte, begann sofort, tausend neue Wege zu ersinnen, um es zu vermeiden. Er baute Karren, Autos, Bahnen, Flugzeuge, Schiffe und Mondraketen, um möglichst schnell woanders hinzukommen. Er befahl sich Autonomie, Eigeninitiative und Selbstverwirklichung, warf die Familie und den gerade noch angeblich geliebten Lebenspartner aus dem Fenster, um neue Kontinente, Meerestiefen und Planeten zu erobern, die aufgrund eines perfiden Naturgesetzes innerhalb kürzester Zeit identisch aussahen (hier ein Einkaufsparadies, dort eine Müllhalde), weshalb er immer gleich wieder weg und woanders hinwollte. Er erfand das Wachstum (von dem bis heute niemand weiß, wozu es gut sein soll), er erfand den Sport (dito), den Tourismus, Mobilität und Flexibilität, Sachzwänge und immer neue Notwendigkeiten, mit denen – das schärfen ihm seine Führer unablässig ein – ein Sitzenbleiben absolut nicht zu vereinbaren ist.
Und am Ende, als alles nicht mehr half, erfand er das „Pendeln“. Das geht so: Der frisch absolvierte Bildungsmensch bekommt einen „Studienplatz“ zugeteilt (wo er zum Beispiel lernt, Autos zusammenzuschrauben, Tabellen zu erstellen, Reklame für Sportveranstaltungen aufzuziehen oder die Feinheiten des Gebäudereinigungswesens profitorientiert zu optimieren). Der Studienplatz ist in – sagen wir mal – Visselhövede. Einen Schlaf- und Fernsehplatz kriegt der Bildungsmensch auch zugeteilt, der ist aber in Grevenbroich. Nach Abschluß der Ausbildung erhält er einen „Arbeitsplatz“ in Dinslaken, muß aber nun nach Sprockhövel und ein halbes Jahr später nach Deppenhausen umziehen, dann zieht sein Ausbeuter nach Mannheim und er nach Weißnitwo, und jedenfalls verbringt er ein Fünftel seines Lebens auf Straßen, in Intercity-Zügen und (falls er das Glück oder Pech hat, irgendwie systemrelevant zu sein) im Dunstmief von Flugzeugen. In die er endlich auch noch steigt, um in zwei Wochen Winterurlaub den wieder mal verpaßten Sommer in einem identischen „Ressort“ nachzuholen.
Die derart erzeugte Dauerraserei treibt bisweilen absurde Auswüchse. Zum Beispiel beschloß der Mensch eines Tages, seine Fabriken an die Stadtränder zu verlegen, um ihren Lärm und Gestank loszuwerden. Nun mußte er da aber hin, zum Arbeiten. Also baute er Autobahnen, womit sich allerdings dummerweise Lärm und Gestank viervierfachten. Als die Fabriken dann endlich in Entwicklungsländer verlegt werden konnten, wo sich niemand über Lärm und Gestank beschwert, zog der Mensch selber an den Stadtrand und entfaltete dort ungeheure, krebsartig wuchernde Siedlungsmaschinen, die zwar kein ästhetisch oder sonstwie empfindsames Wesen bewohnen kann, ohne selbst krebsartige Wucherungen oder mindestens eine Atomdepression zu entwickeln. Aber das muß er halt, schließlich sind die Autobahnen nun mal da, und schließlich werden seine schönen alten Wohnungen in der Stadt nun von Firmen (den Schaltzentralen der in die Dritte Welt verlegten Fabriken) bewohnt und sind inzwischen sowieso so teuer, daß dort nur noch Firmen wohnen (die sich so was leisten müssen, weil es repräsentativ ist, und können, indem sie nach Lust und Laune an Löhnen und Gehältern sparen).
Wie das weitergeht, ist absehbar. Eines Tages werden die Wohnmaschinen am Stadtrand so weit gewuchert sein, daß sie sich gegenseitig überlappen. Dann werden sie abgerissen, um noch mehr Autobahnen Platz zu machen, die nirgendwo mehr hinführen, weil bei einer täglichen Pendelzeit von acht bis zwölf Stunden keiner mehr eine Wohnung braucht und man zwar auch in der Firma schlafen könnte, das aber lieber im „selbstfahrenden Auto“ tut, aus urzeitlicher Gewohnheit.
Und irgendwann gibt es dann auch keine Arbeit mehr zu tun. Dann endet die Menschheitsgeschichte mit der Reinform des totalen Pendelns: Alle fahren vierundzwanzig Stunden am Tag irgendwo hin, und wenn sie dort sind, kehren sie wieder um. Und umgekehrt.
Falls je ein Urmensch dieses bizarre Inferno in einem prophetischen Alptraum erblickt hat, dann war es vielleicht genau dieser schockierte Urmensch, der wider Natur, Gewohnheit und Atavismen etwas erfand, was heute eventuell nicht nur den Sommer, sondern die ganze Welt als solche retten könnte: das Sitzenbleiben.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und ist in fünf Bänden als Buch erhältlich.

Freitag, 17. November 2017

Frisch gepreßt #397: Milo „Who Told You To Think??!!?!?!?!“


Ich mag Musikwitze. Zum Beispiel: Was passiert, wenn man Platten rückwärts abspielt?
Country: Das Feuer geht aus, die Frau kommt zurück, der Hund wird wieder lebendig. Heavy Metal: (bitte beliebige Satanspointe dazudenken). Bei Elektro: passiert nichts. Hip-Hop-Platten: handeln plötzlich nicht mehr nur von sich selbst.
Der versteckte Vorwurf geht selbstverständlich ins Leere, weil Platten mit populärer Musik im Grunde immer von sich selbst handeln. Daß die autobiographischen Elemente im Hip-Hop vermeintlich so prominent auf der Klippenspitze der Vordergründigkeit stehen, hat damit zu tun, daß für die Tempeldiener der Chorus-, Middle-eight-, Bridge- und Solokunst meist wenig zu holen ist im steten Fluß von Beat und Flow. Es hat auch damit zu tun, daß es (wie von Musikschaffenden aller gängigen Genres) Rapper viel zu viele gibt und hier wie überall das Banale, Billige und plakativ Primitive auf dem kommerziellen Aufmerksamkeitstreppchen triumphiert und den Rest ausblendet.
Die Folge ist hier wie da und schon immer, daß sich ein Underground weniger absichtlich bildet als vielmehr von selbst entsteht als virtuelles Sammelbecken all jener, für die Unabhängigkeit, Tiefe, Neugier, Mut, Bewußtheit die Triebfeder(n) ihres künstlerischen Daseins sind und nicht Verwertbarkeit, Griffigkeit und unmittelbare Stoßkraft. „Wieso babbelt dein Lieblingsrapper schon wieder über seine Marke? Hier kommt der letzte Aufruf an die echten MCs: Wir brauchen eure Stimme“, sagt Milo dazu. Wenn er mal plakativ murrig werden mag, was normalerweise nicht seine Art ist.
Seine Art ist vielmehr filigrane Poesie, verschachtelte Reime, die wirken, als säße er mit einer guten Tasse, ähem, Kräutertee im Fläzsessel und plaudere einfach so vor sich hin, über das Leben und die Welt, wie sie aussehen, wenn sie das raffinierende Mahlwerk seines komplizierten Denkorgans passiert haben, samt ungefilterten Anspielungen, die einer Rätselrunde lustige Abende versprechen. Er selbst spielt dabei nur diese Rolle: sehen – deuten – sagen. Der Nabel ist ein wirksames Ventil, der Eigen-Lob-und-Klage-Anteil beschränkt sich auf weitgehend nüchterne Einsichten: „The point is: My vocabulary pays my rent.“
Dieser Einstellung entspricht das musikalische Trägermaterial: simple Samples, entspannte Beats mit viel Leere, ein paar unaufgeregte Glitches, Cuts und Fast-nicht-Effekte – immer wieder glaubt man ein Plakat zu sehen: „F***t euch mit euren Trends!“ Beim Hörenlesen der Texte wird daraus ein anheimelndes Kaminfeuer, das hin und wieder gemütlich knistert und knackt. Häng deinen Kessel drüber, Bruder!
Und derweil erzählt Bruder Milo, im Halbschlaf kontemplierend, seine Geschichten. Mal unendlich träge/müde, mal stakkatogereimt. Mal glasklar, manchmal mit beißendem Witz gepanzert. Mal simpel bis zur Entwaffnung, mal von einer Anspielung zur nächsten hüpfend, von Aristoteles zu Dungeons & Dragons zu Nabokov. Mal mit einer diskreten Wutaufwallung, mal allversöhnlich weise. Aber immer: zwingend, überzeugend.
Die Gäste halten das Niveau teilweise glänzend, etwa Lorde Fredd33 als Star der Flowparty „Yet Another“; die Komplizen verstehen sich blind. Unfreiwillig (aber, wenn's ginge, sicher willig) geladen ist der nach Paris ausgewanderte und vor ziemlich genau dreißig Jahren verstorbene James Baldwin, der Volksschriftsteller der afroamerikanischen Nation: Sein klassisches Zitat „Ich möchte meinen, daß die Dichter am Ende die einzigen sind, die die Wahrheit über uns kennen“ eröffnet ein Album, das man mindestens fünfmal hintereinander hören kann, ohne bei einer Umrundung nichts neues zu finden und zu erfahren. „Shocking moment as the pupil thought: Me and my niggers is a school of thought.“ (Na gut, der Reim ist ein Ausrutscher.) Eine (in den Worten des Komplizen Elucid) „15-Track-Landkarte der Lebensmythen (…) , eingeweiht in die schwarze radikale Tradition“.
Und was passiert, wenn man die Platte rückwärts abspielt? Nicht viel, weil in dem oben genannten Sinne schon die Vorwärtsabspielung rückwärts läuft. Man versteht dann bloß nicht mehr so viel. Oder mindestens was ganz anderes, wenn der, ähem, Kräutertee stark genug ist. „Don’t stop running if you don’t see me ahead.“

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 13. November 2017

Belästigungen 17/2017: Endlich: eine Seite ganz ohne Faschismus! (na gut, nicht ganz ganz ...)

A ruft an und berichtet, sie habe sich von V getrennt, weil sie seinen „Ernährungsterror“ nicht mehr ertrage. Ich bitte sie, mit dem Wort „Terror“ am Telephon vorsichtig zu sein, schließlich wisse man nie, ob so eine Bezichtigung für BKA, Polizei, NSA und sonstige Interessierte nicht Anlaß genug sei, V als „Gefährder“ einzustufen und stante pede in irgendein Kriegsgebiet abzuschieben. Ich solle nicht so zimperlich sein, zürnt A, sondern lieber mal was schreiben zu diesem Thema, schließlich sei das der blanke Faschismus.
Nachdem ich vorsichtig aufgelegt, nein: eingehängt, nein: das getan habe, was man heutzutage tut, um ein fernmündliches Gespräch zu beenden (und wofür es leider noch kein Wort gibt), ruft K an und sagt, er versuche seit Stunden, mich anzurufen, könne aber nichts und niemanden erreichen, weil sein Telephon seit ebenso vielen Stunden mit irgendwelchen Updates beschäftigt sei, die er zwar weder wolle noch brauche, gegen die er sich aber auch nicht wehren könne, und wenn dieser Faschismus so weitergehe, werde er das Ding demnächst im Starnberger See versenken. Das sei doch mal ein Thema für einen Kolumnisten, meint er, aber auch auf diese Anregung verzichte ich freundlich.
F wiederum erzählt, er komme sich vor „wie bei Orwell“. Soeben habe er, nachdem er im beginnenden Wolkenbruch minutenlang zunehmend durchnäßt an einer nicht befahrenen Kreuzung gewartet habe, mit geplatztem Kragen sein Fahrrad einfach bei Rot über die leere Straße geschoben. Daraufhin sei aus dem Nichts eine körperlose Lautsprecherstimme erschallt und habe zu seiner und der Verwunderung der übrigen etwa zwanzig vergeblich Wartenden verkündet: „Das Rotlicht gilt auch für schiebende Radfahrer! Auch für den jungen Mann da mit dem gelben Sattel und dem grauen Oberteil, der jetzt wegschaut!“ In Panik sei er in einen Hinterhof geflüchtet und jetzt komplett verunsichert und traue sich nicht mehr hinaus, und dieser Überwachungsterror könne doch nicht so weitergehen.
Ich versuche ihn zu trösten: Polizeibeamte seien auch nur Menschen, denen hin und wieder langweilig werde und die die Tragweite ihrer Scherze nicht immer abschätzen könnten, außerdem sei ihm ja nichts passiert. Er frage sich, was mit mir passiert sei, sagt F, daß ich einst „kritischer Geist“ mich neuerdings zum windelweichen Konformisten gewandelt habe und den reinsten Faschismus als Jux abzutun versuche. Wir vertagen uns.
Ob ich schon die neuesten politischen Analysen gelesen hätte, fragt S, die in dieser Hinsicht bisweilen ein bißchen unerbittlich werden kann: Sämtliche zur Wahl stehenden Parteien seien mittlerweile so weit ins rechtsautoritäre Feld hineingerutscht, daß man sie kaum noch unterscheiden und im Grunde auch gleich die AfD wählen könne. Da müsse man und gerade ich als Kommentator unbedingt den Anfängen wehren und solches anprangern, ehe sich der Faschismus wie in den 30er Jahren durch die parlamentarische Hintertür in die Gesellschaft hineinschleiche und es zu spät sei. Oder so ähnlich. Ja ja, sage ich und rede so lange über Fußball und neue Hip-Hop-Platten, bis sie sprachlos das tut, was man da heutzutage tut.
Als ich N davon erzähle, meint er mit einem hinterhältigen Grinsen, da habe ich ganz recht gehandelt, und es sei doch ein Schmarrn, immer nur auf die AfD einzudreschen, anstatt zum Beispiel mal die positiven Ansätze in der Programmatik der frühen NSDAP hervorzuheben, die totzuschweigen im Grunde ein umgekehrter Faschismus sei, den man keinesfalls … Ich entscheide mich für eine selbstinduzierte Ohnmacht.
Ob ich neuerdings eine Allergie gegen Faschismus habe, fragt mich anderntags Y; sie habe da so einiges gehört, und man sorge sich. Dies sei gut möglich, sage ich, ich wolle darüber aber eigentlich gar nicht sprechen. Aber gut.
Nämlich kriege ich eine ganze Menge Zuschriften von Lesern, meistenteils wohlgesonnen: Das Spektrum reicht von maßlos überzogenem Lob über die Freude an individuellen Beiträgen bis hin zur Aufmunterung, es sei doch alles nicht so schlimm, werde irgendwann sicher besser und ich solle doch auch mal das Schöne im Leben sehen. Was ich übrigens sehr gerne tue, aber diese Kolumne heißt nun mal – und daran bin ich selber schuld – „Belästigungen“ und nicht „Beschönigungen“, für letztere sind andere zuständig.
Neulich indes tanzte einer recht heftig aus der Reihe, nennen wir ihn Herrn J. Er lese, hub Herr J an, „euer Anzeigenblatt recht gerne“, fuhr jedoch in durchaus scharfem Ton bezüglich meiner Kolumne fort: „Dieses hirnverbrannte Dauer-Gemaule dieses eingebildeten, hysterischen Pseudo-Schriftstellers, wozu? Warum diese Scheiße?“ Da seien „überall ‚Faschisten’“ in meinem „Geschmarre“. Dabei sei „der widerlichste Faschist“ doch ich selber, trotz meiner „vorgeschobenen Links-Revolutions-Verbalromantik“. Selbst „ein Julius Streicher“ (1923-45 Herausgeber des „Stürmer“ und der größte Pornosammler der Weltgeschichte) sei gegen mich „noch eine Geistesgröße“. „Tut mir den Gefallen“, schloß Herr J mit herzlichen Grüßen, „und laßt doch einfach mal die letzte Seite leer.“
Wem schwänden da nicht momentan Übermut und Mut, Hybris und Wut, Eifer und Glut? Ich ging in mich und fragte mich bang: Ist da nicht wirklich nach jahrelangem Befüllen so viel Faschismus in mir, daß er notgedrungen oben wieder rausquillt? Drängt es mich nicht auf dem Fußballplatz stets unweigerlich in die Position des Stürmers, und drängte es mich im Leben nicht bisweilen zu jenen (wenn auch gänzlich anderen) „sexuellen Eskapaden“, für die laut Lexikon der Streicher „bekannt“ war?
Wer weiß, wer weiß. Sicher ist jedoch, daß ich – auch wenn es selten so wirken mag – hin und wieder sehr wohl gewillt bin, mich den Wünschen, Ansprüchen und vor allem der aus innerer Not hervorbrechenden Kritik meiner Leser zu fügen. Und deshalb, weil diese Seite leer nun mal nicht bleiben kann, beschloß ich, wenigstens einmal eine Kolumne gänzlich ohne Faschismus zu Papier zu bringen.
Bitte was? Das sei mal wieder grandios daneben, geradezu in die Hose gegangen? Ich bitte um Nachsicht: Der Wille war da.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 11. November 2017

Frisch gepreßt #396: Alice Cooper "Paranormal"


Detroit/Phoenix 1948-64: Die Vorfahren Hugenotten, Sioux, Engländer, Schotten, Iren, der Papa Laienprediger, der Opa Apostel der Kirche Jesu Christi, in der Vincent Damon Furnier mit elf brav ministriert, in der Schule brilliert und Mitglied des DeMolay-Ordens wird, wo er Kameradschaft, Treue, Familie und Sauberkeit schätzen lernt. Er kränkelt, schließt das Kunst-College ab und gründet eine Band, in der niemand ein Instrument spielen kann, die aber mit einer Pantomime zu Beatles-Playback einen Talentwettbewerb gewinnt. Also lernt man spielen, nennt sich The Spiders und tritt vor einem riesigen Spinnennetz auf.
Los Angeles 1968-70: Wenn The Spiders spielen, sind die Clubs meist schon leer, bevor die dritte Nummer angestimmt wird. Als sie sich zwecks Provokation Alice Cooper nennen, platzt dem Publikum endgültig der Kragen: Sie werden mit Flaschen und Müll beworfen, beschimpft und verdroschen. Und reagieren mit einer Art absurd-surrealistischer Theaterperformance: prügeln sich gegenseitig, bedrohen die Zuschauer, beschütten und bewerfen sie mit Federn, zermanschten Wassermelonen und was gerade zur Hand ist. Das gefällt Frank Zappa, der sie für drei LPs für sein Label Straight! unter Vertrag nimmt.
Welt 1973: Alice Cooper ist die größte und skandalöseste Band des Planeten, verkauft Millionen Platten, die mit unfaßbarem Aufwand produziert und verpackt werden, unternimmt gigantische Monstertourneen, die alles in den Schatten stellen, was die Rockmusik bis dahin gesehen hat: Schlangen, blutende Puppen, Galgen, Guillotine, elektrischer Stuhl, Milliarden-Dollar-Noten, aberwitzige Kostüme, Raketen und Bomben, Glitzerkonfettiregen.
Jet-Set 1974: Alice Cooper (der Sänger) gurgelt 60 Dosen Budweiser am Tag, zieht mit Keith Moon, John Lennon, Salvador Dali, Liza Minelli und Groucho Marx durch die Beizen und mit Raquel Welch durch die Betten von Hollywood, ist Staats- und Gesellschaftsfeind Nummer eins und zumindest zeitweise berühmter/berüchtigter als Richard Nixon und Elvis Presley zusammen. Privat, sagt er, sieht er am liebsten fern.
White Plains 1978: „Trinken war ein Teil des Lebens auf der Überholspur. Es war ein Symptom der Zeit, als wir uns alle unsterblich und unbesiegbar fühlten.“ Nachdem er monatelang jeden Morgen Blut gekotzt hat, schleppt sein Entdecker und Kumpel Shep Gordon das Wrack Cooper ins Cornell-Krankenhaus, wo er zwei Monate lang entgiftet wird. Dann steht er mit seinem Wahnsinnerfolg ziemlich einsam da: Seine Band, diese genialische Piraten-Rüpel-Gang, die seine (d. h.: ihre) Platten zu grandiosen Wucht-Granaten aufgeblasen hatte, zu zehnstöckigen Torten aus Frechheit, Witz, Randale und heißer Luft, die dem Hörer ebenso genussvoll ins Gesicht flogen wie der US-Öffentlichkeit und ihrem widerwärtigen Establishment aus Fernsehpredigern, Ku-Klux-Klan, Watergate-Mief und Vietnam-Zerbombern, – ist in alle Winde verstreut.
Was tun?
Mehr vom gleichen (Chicago 1984): Nach Bombast-Overkill und Top-ten-Balladen entdeckt Cooper Crack, kriegt wieder Durst, säuft sich ins Koma, produziert drei „Blackout-Alben“, an die er sich nicht erinnert und die keiner kauft, landet mit Leberzirrhose auf der Intensivstation, wird geschieden, ist pleite. Wird als Christ wiedergeboren, tauscht Flasche und Pfeife gegen den Golfschläger, kehrt zu seiner Frau Sheryl zurück, verdient viel Geld als laue Selbstparodie mit Hair-Metal-Promi-Begleitung und macht zwischendurch mal wieder ein paar Konzeptalben.
Dann: juckt ihn die Erinnerung, er holt sich seinen zwischenzeitlich durch Pink Floyds „The Wall“ zur Legende gewordenen Produzentenkumpel Bob Ezrin und die überlebenden Altkameraden ins Studio (bis auf den famosen Riffschmied Glen Buxton, der 1997 starb) und macht nach dem „zweiten Teil“ von „Welcome To My Nightmare“ (der eigentlich eine „ganz normale“ Rockplatte ist) noch eine „ganz normale“ Rockplatte, mit den üblichen Promigästen: Roger Glover (Deep Purple), Billy Gibbons (ZZ Top) und (fürs ganze Album) Larry Mullen jr., der hier mit mehr Verve und Feinsinn trommelt als auf dem Gesamtoeuvre seiner Hauptband U2.
Und Alice Cooper zeigt der Welt wieder mal, was es bringen kann, mit den Beatles und den Yardbirds, mit Zappa und Dali aufzuwachsen, was für ein grandioser, musikalisch ewig unterschätzter, witziger und hochintelligenter Entertainer er ist. Ein paar Riffs (etwa in „Private Public Breakdown“) und Kniffs mögen altbacken wirken, aber irgendwas fällt der Band dann doch immer ein: diverse Breaks, Mittelteile, Soli (gelegentlich etwas zu sehr Metal von der Stange), und richtig daneben geht kaum was davon, mehr: geht richtig los. In „Dynamite Road“ knarzt und ätzt Alice exakt wie damals in „Generation Landslide“, und nicht wenige seiner gewohnt außergewöhnlich eloquenten Texte beweisen, daß er seinen Witz nicht verloren hat, ebensowenig wie seine sonstigen Stärken, abgesehen von Maßlosigkeit und Größenwahn. Was schade ist, aber nur für herzlose Hörer.
Eine Chance immerhin hat Alice definitiv verpaßt: zu klingen wie ein 69jähriger, der jeden Bezug zum Rock ’n’ Roll und zur Gegenwart verloren hat. Aber das hat er ja vielleicht schon 1982 geschafft.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 10. November 2017

Frisch gepreßt #395: Mammút "Kinder Versions"


Herzlich willkommen im Museum der großen, der unvergänglichen Kunstpop-Damen! Wie Sie sehen, ist unser Haus von bescheidener Größe, aber sie werden sich aus dem Chemieunterricht erinnern, daß ein kleines Stück Gold durchaus mehr Gewichtigkeit vorweisen kann als ein ebensolches aus Pappendeckel. Und sehen Sie, wir sind relativ streng, was unsere Aufnahmekriterien betrifft, und dann ist es ja auch so, daß Frauen im Kunstpop generell unterrepräsentiert sind.
Was durchaus qualitative Gründe hat! Frauen haben nun einmal von Natur aus mehr Gespür, Eleganz und weniger affenärschigen Geltungsdrang als Männer, weshalb Frauen im Kunstpop ebenfalls natürlicherweise einen solchen Schmonz, wie ihn beispielsweise Radiohead, Gentle Giant und Marillion phasen- bzw. jahrzehntweise produziert haben, niemals anrichten täten.
Ich ahne Ihren Einwand, Sie werden jedoch Kate Bushs Spätwerk und das Solo-Oeuvre von Björk in unseren kritischen Kammern vergeblich suchen, zu letzterer aber immerhin den Hinweis finden, daß Katrina Kata Mogensen die Tochter von Birger Mogensen ist, der einst gemeinsam mit Björk bei der Band Kukl spielte.
Sie kennen Kata Mogensen gar nicht? Ja nun, von Siouxsie, Lisa Dalbello, Anna Calvi haben Sie aber bei Gelegenheit schon mal gehört? Immerhin. Dann dürfte es sich für Sie lohnen, als erstes die Kammer aufzusuchen, die diesen und eben auch Kata Mogensen gewidmet ist. Sie ist alles andere als ein Neuling, wissen Sie, aber in der Tat gibt es von ihrer Band, die 2003 gegründet und in Island seither mit Lob und Preisen überhäuft wurde, erst vier Alben, deren drei noch dazu isländische Titel tragen, was selbst den kunstpopkundigen und somit ausgewiesen wagemutigen Nicht-Isländer gerne mal abschreckt, nicht wahr?
Ich will Ihnen gar nicht viel erklären, was sind Biographien und Trivialitäten schon wert? Hören Sie lieber. Hören Sie das neue Album, dessen wesentliche musikalischen Elemente sich folgendermaßen charakterisieren lassen: sparsame, stoische Webteppiche aus sehr wenigen Klängen und Instrumenten (Gitarre, Baß, Schlagzeug, etwas Keyboard oder vielleicht auch natürliche Materialklänge), repetitiv, aber gebrochen, mit manchmal abrupten, manchmal fließenden Umschaltungen von Tempo, Rhythmus, Harmonien, Stimmung. Zählen Sie mal mit, wie viel in „We Tried Love“ passiert, obwohl der Song (denn es ist einer, und was für einer!) fast acht epische Minuten lang in der triumphalen Schlichtheit einer Dampflokomotive in der Weite einer kontinentalen Prärie dahinzuziehen scheint.
Das geht mit „Kinder Version“ so weiter, dräuender und düsterer, weniger heilschwanger sozusagen,verstörend, auch motorischer, aber wenn Sie nun glauben, die Sache begriffen zu haben, dann warten Sie mal ab: „Bye Bye“ ist ganz anders, sanft und leicht wie eine Wolke aus Federn am schweigenden, dunstig blauen Nachmittagshimmel eines Spätherbsttages oder ein vertrauter Blick in tiefer Nacht, der allerdings von Unsagbarem erfüllt scheint.
Ja, diese Klänge sind Leinwände, lebende, mäandernde Kulissen, Gerüste, manchmal fast unsichtbare Hochseile und bei aller Souveränität eben „nur“ dies. Das wesentliche Element, Sie werden es ahnen, ist Kata Mogensens Stimme, ihr Gesang, der weit mehr ist als nur dies: unmittelbarer Ausdruck ihrer Seele, ihrer Gefühle, Gemütszustände, Narben, Sehnsüchte, Hoffnungen, Enttäuschungen. Und zwar, und das hat sie in unser Museum geführt, ohne peinliche Verrenkungen, strapaziöse Turnübungen um ihrer selbst willen – sie werden keinen Ton, kein gerissenes, gebogenes Glissando, keine metrischen Tänze, keine Melodien und Melodiefragmente finden, die in irgendeiner Weise überzählig, vernachlässigbar, nur Zierde, gar Manier wären.
Ihrem Blick entnehme ich, daß sie begriffen haben. Keine Sorge, Sie finden gleich dort drüben unsere Tränenschalen, denn Sie sind ganz und gar nicht der erste, den diese Musik zu Tränen der Begeisterung, der Freude, der Trauer und des Mitgefühls rührt. Echten übrigens, nicht den oft zitierten Kritikertränen, die Menschen wie wir, sagen wir's wie's ist, nie nachweinen können.
Es muß Ihnen auch nicht peinlich sein, wenn Sie diese Musik immer wieder hören wollen und all ihre übrigen Interessen vernachlässigen. Das geht den meisten so. Für solche Fälle haben wir üblicherweise ein Gästezimmer, das allerdings derzeit belegt ist. Ein gewisser Sailer hat sich auf unbestimmte Zeit eingemietet. Aber ich gebe Ihnen einen guten Rat: Sich das Album zu kaufen, wird Ihr Leben in vielerlei Hinsicht verbessern und verschönern. Ihre meisten sonstigen Platten brauchen Sie dann nämlich nicht mehr. Und vieles weitere auch nicht.
Bleiben Sie ruhig noch ein bißchen, hören Sie weiter. Wie gesagt, die Tränenschalen finden Sie dort drüben. Ich muß Sie nur bitten, sich nicht zu setzen oder hinzulegen – die ersten Symptome einer Entzückungslähmung sind manchmal tückisch schleichend … da hilft dann nicht mal mehr das Finale von „Sorrow“.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 9. November 2017

Belästigungen 16/2017: Haben Sie den Gorilla da drüben gesehen? Obacht, der bringt Sie in „Sicherheit“!

„Sicherheit“ ist ein begehrter Zustand. Den meisten Menschen, möchte man meinen, erscheint „Sicherheit“ erstrebenswerter als – nur zum Beispiel – berauschte Euphorie, verliebte Glückseligkeit und orgasmische Ekstase. Sonst käme die CSU kaum auf die Idee, auf ihre Wahlplakate lediglich zwei aneinandergeklebte Gesichter und dieses eine Wort zu drucken: „Sicherheit.“ Sondern sonst stünde da „Sex“ oder „Saufen“ oder „Liebe“ (was bei einer katholischen Partei ja nicht abwegig wäre).
Sicherheit ist ja auch schön. Jeder wünscht sich, sicher zu sein: Wer gerne arbeitet, mag seinen Job behalten. Wer nicht auf der Straße schlafen will, ist sich gerne seiner Wohnung sicher. Wer Hunger hat, wünscht sich was zu essen, wovon er weder krank noch dumm noch tot wird, das er aber dennoch bezahlen und irgendwo auftreiben kann. Blöd, daß ausgerechnet in diesen zentralen Punkten auf die politischen Parteien in unserem Land höchstens umgekehrt Verlaß ist.
Aber es gibt ja auch noch anderes, dessen man gerne sicher wäre. Zum Beispiel gefällt es niemandem, jederzeit von Autos totgefahren werden zu können. Fast noch weniger wünschenswert ist es, langsam, aber mit absoluter Sicherheit von Autos mit Ruß und Stickoxid vergiftet zu werden. Da wäre man gerne sicher. Dumm, daß ausgerechnet dieser zentrale Punkt „unseren“ politischen Parteien (die in Wahrheit die politischen Parteien u. a. der Autoindustrie sind) nur umgekehrt am Herzen liegt – statt die Vergifterei zu verbieten, wie man das selbstverständlich erwarten müßte, drucksen und mucksen, ducken und glucken sie herum und führen als Notbehelf (weil „Verbote“ in dieser Hinsicht generell verboten sind) den neudeutschen Begriff „präventive Gebote“ in die Sprache ein.
Also so in etwa: Weil wir nicht verbieten dürfen, daß jemand vorsätzlich umgebracht wird, erklären wir es im äußersten Fall einer wirklich schlimmsten anzunehmenden Lage für geboten, niemanden umzubringen, möchten aber auch niemandem einen Vorsatz unterstellen, selbst wenn er zu diesem Zweck manipuliert, fälscht, lügt und Kartelle bildet.
Sicherheit läßt sich auf diese Weise nicht herstellen, sondern höchstens Wischiwaschi. Weil aber der Bürger nun mal nach Sicherheit strebt und unter den gegebenen Umständen nicht mal sicher sein kann, daß ihm beim verängstigten Arbeiten und Wohnen nicht plötzlich die Hochhausfassade wegbrennt oder er einen Schlaganfall erleidet, weil er sommerlochbedingt unversehens mit der photographischen Darstellung kanzlermodischer Gräßlichkeiten und „blaublütiger“ Krampfgesichter vom „Grünen Hügel“ in Bayreuth konfrontiert wird, braucht es Ersatz.
Da lautet seit Jahrzehnten das Patentrezept: „Terror!“, weil das so hübsch nach Unsicherheit klingt. So will neuerdings die AfD „linken Terror stoppen“ und fordert zum „Antifa-Ausstieg“ auf. An sich eine pfiffige Idee, weil sich der Faschismus ohne Antifaschismus logischerweise sicherer fühlen kann. Allerdings tut man sich schwer, in Deutschland in den letzten Jahrzehnten oder überhaupt gemeingefährliche Beispiele für „linken Terror“ aufzutreiben, sieht man mal von den Umtrieben der RAF vor einem knappen halben Jahrhundert ab (die allerdings nicht unbedingt der Arbeiterklasse und Mittelschicht ein Gefühl der Unsicherheit vermittelten, sondern solche Selbstsicherheit, daß sie Lohnforderungen zu stellen wagten, bei denen heute vor schäumenden und flammenden Warnungen sofort die Zeitungskästen explodieren täten).
Drum wird der Terror im Normalfall diffuser schlicht als „Terrorgefahr“ bezeichnet und bleibt im Alltag konkret unsichtbar, weshalb sein Drohen und Lauern ohne Unterlaß beschworen werden muß. Terror, könnte man definieren, ist das absichtliche, systematische und planvolle Erzeugen von Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Da könnte man fragen, weshalb der terrorisierte Bürger dann ausgerechnet die an die Regierung wählt, die ihn terrorisieren.
Aber das wissen wir ja: weil sie ihm im Gegenzug fürs klaglose Terrorisierenlassen „Sicherheit“ versprechen. Zum Beispiel die CSU, deren Herrschaftsgebiet übrigens eine Hochburg des Terrors war und ist, vom Mord am Ministerpräsidenten Eisner (1919) über die Organisation Konsul, SA, Bund Wiking, Wehrsportgruppe Hoffmann, Gruppe Ludwig bis hin zu Oktoberfestattentat und NSU-Morden. Was davon aufgeklärt und juristisch bestraft wurde, läßt sich an zwei Händen abzählen. „Stoppen“ ließ sich der Terror offenbar nie – wahrscheinlich weil er nicht „links“ war. Vielleicht weil ihn kaum jemand als Terror bezeichnete, schon gar nicht offiziell oder im Wahlkampf.
Und genau daran sollten wir im Zusammenhang mit zwei Ereignissen von vor gut einem Jahr denken, die in unterschiedlichem Maße für Angst und Schrecken sorgten und sehr unterschiedlich eingeordnet wurden: Am 19. Juli 2016 wurden in Würzburg fünf Menschen verletzt, als ein offensichtlich Irrgewordener mit Axt und Messer auf sie losging. Am 22. Juli stieg ein rechtsradikaler Rassist im Olympia-Einkaufszentrum auf ein Dach, erschoß neun Menschen und verletzte 35.
Welcher der beiden Fälle als „Terror“ in die offizielle Statistik einging und welcher anläßlich des Jahrestages geradezu manisch als „Amoklauf“ bezeichnet wird, ist leicht zu erraten, weil wir die die neudeutsche Sprachregelung kennen: Wenn ein (vermeintlicher oder echter) „Islamist“ (was immer das sein mag – ich habe bis heute keine verständliche Definition gefunden) Amok läuft, ist das Terror. Wenn hingegen ein Nazi Terror ausübt, ist das ein Amoklauf.
Terror, so lautet der Konsens weiter, ist eine Bedrohung für „uns alle“ und rechtfertigt flächendeckende Polizeikontrollen, Überwachungen, Abschiebungen, ganztägige Propagandaeinpeitschungen und die Verschärfung von Gesetzen und Strafen. Ein Amoklauf hingegen kommt halt mal vor, wenn einer nicht mehr ganz dicht ist, da kann man nichts machen. Der „Sicherheit“ schadet so was nicht, kommt ja eh kaum vor.
Deswegen braucht auch niemand erwähnen, daß es in Deutschland im vorletzten Jahr 13.846 rechtsextreme Straftaten mit etwa 700 Verletzten gab. Das war damals eine Steigerung von einem Drittel gegenüber 2014, man sollte also nicht zu viel Angst vor den Zahlen für 2016 und 2017 haben: Die werden schon ähnlich harmlos sein. Zumal unsere Polizei ja auch auf diesem Gebiet strikt und unbarmherzig vorgeht: 17 Haftbefehle wurden deswegen im selben Zeitraum ausgestellt und ein Teil davon möglicherweise sogar vollstreckt! Es könnte also sein, daß für knapp 14.000 Naziverbrechen tatsächlich fünf oder sieben Nazis irgendwann mal verhaftet wurden. Das ist doch mal ein echter Fahndungserfolg, bei dem wir uns gleich viel sicherer fühlen!
Da fällt mir ein weltberühmtes Experiment ein, das zwei US-amerikanische Psychologen vor einiger Zeit anstellten: Die spielten Leuten ein Video vor, in dem Menschen einander Bälle zuwarfen, und baten sie, sich die Zahl der geworfenen Bälle zu merken. Die Ergebnisse waren recht anständig – allerdings fragten sie ihre Kandidaten dann noch, wer den Gorilla gesehen habe, der mittendrin durchs Bild gelaufen war. Hatte kaum einer. Man sieht, so lautet der Schluß, nur das, worauf man hingewiesen und wozu man ermahnt wird.
Schönes Bild: eine Welt, in der pausenlos und unablässig imaginäre Terrorbälle durch die Gegend geworfen und gezählt werden, damit eine Sicherheit eintritt, und keiner merkt, daß derweil tausende Gorillas herumlaufen.
Was machen die da eigentlich, diese Gorillas?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #394: The Popguns "Sugar Kisses"


Manchmal stößt man sehr unverhofft auf Sachen, die man längst kennen sollte. Zum Beispiel der Musikchronist, der seiner Pflicht nachgeht und sich alles, was man aktuell kennen sollte, tapfer und eisern anhört. Dem können sommerbedingt auch mal die Nerven reißen, wenn er an einem mit juniendetypischer Frische lockenden Traumtag im Alphabet bei „Lo“ anfängt und nach einer langen Stunde mit London Grammar und Lorde mal wieder ernüchtert feststellt, wie betrüblich, öde, lähmend und die Fantasie mit plastikschaumgefüllten Kissen im Halbschlaf stickmeuchelnd das alles ist, was ihm die Trendindustrie als führend, wichtig und prägend andrehen möchte.
Gähn! ruft er verzweifelt und wühlt, einer in solchen Momenten und Phasen oft erprobten Gewohnheit folgend, beiläufig in einer zufälligen Nische, in einer dieser zufälligen Nischen, in denen sich all das sammelt, was die Trendindustrie und ihre Verkündigungsbeauftragten aus dem Weg gekehrt haben, weil es halt nicht relevant ist und der Aufmerksamkeit der Zielmassen im Weg steht. Diese Nischen mag der Musikchronist, weil sie randvoll sind mit jeder Menge abseitigem, oft trashigem, hin und wieder aber auch permuttern schimmerndem Zeug, das sich früher im Plattenladen gerne in den irgendwo abseits der berechneten Normlaufwege herumstehenden Kisten sammelte und mit Eine-Mark-Preisschildern beklebt war.
Daß es diese Kisten (und die dazugehörigen Läden) nicht mehr gibt, ist schade. Aber die Nischen sind geblieben, mindestens virtuell, und da landet heute zum Beispiel auch ein Album der Popguns, von dem der Musikchronist mit großer Überraschung und leichter Errötung feststellt, daß es schon (oder andererseits: erst) das sechste einer Band aus Brighton ist, die es seit 31 (!) Jahren gibt (mit einer Ruhezeit von fast 15 Jahren allerdings). Wie konnte ihm das entgehen? Zumal zu den Gründungsmitgliedern ein ehemaliger Schlagzeuger von Wedding Present gehörte und bei diesem Namen sofort ein sehnsüchtiges Klingeln im Erinnerungsohr ertönt?
Dieses Klingeln steigert sich beim Hören zum sanften Sturm, zu einem linden Sommerwind, der Bilder heranweht von der melancholisch getränkten Jingle-Jangle-Psychedelik der späteren 80er, als der Begriff „Indie“ das wurde, was er irgendwie bis heute ist: die ungefähre Bezeichnung für junge, an der Trendindustrie desinteressierte Menschen, die Gitarren und Schlagzeuge spielen und singen, als wäre 1967 nie vergangen. Bilder in diesem Fall auch von den Go-Gos, den Primitives, Bangles und den frühen Blondie (bis Seite eins von „Autoamerican“), weil die so wunderbar schön und gut waren und man das immer wieder vergißt beim Dahinrasen auf der Autobahn der Aktualitäten.
Das liegt vor allem an Sängerin Wendy Morgan, deren durchaus prägnante Stimme so viele Debbie-Harry-Chromosomen enthält, daß man hier und da sogar melodische Wendungen zu erkennen meint, ehe man sich wieder verliert in von perlmuttern schimmernden, herzreißend verhallten, zeitlos altmodischen Gitarrenbögen getragenen Tagträumen.
Zugegeben: Es mag ein bißchen dauern. Der einleitende Titelsong verstrahlt die Art liebenswerter, aber harmloser Süße und Fast-Beliebigkeit, die schon damals in vielen Fällen dafür gesorgt hat, daß schöne Platten ungehört in der Eine-Mark-Kiste landeten. Aber spätestens mit „A Beaten Up Guitar“, mit „Fire Away“ und dem sicherlich selbstironischen „Finished With The Past“ findet selbst der Hartherzigste drei neue Lieblingssongs für einen endlosen Sommer der Fantasie. Und ein Lieblingsalbum, das wiederum eigene Nischen hat, in denen sich Sachen wie das zärtlich-hymnisch schwebende „The Outsider“ und das stürmisch euphorische „Gene Machine“ sammeln, die man beim ersten und vielleicht auch noch beim zweiten Hören möglicherweise gar nicht wirklich bemerkt.
Die Pflicht? Ist dann vergessen, weil der Musikchronist zu tun hat in den Nischen, wo sich irgendwo noch fünf weitere Popguns-Alben sowie diverse Singles, EPs, Split-Flexis und Kompilationen verbergen müssen, von denen er sich auf keinen Fall sagen lassen möchte, er kenne sie nicht (längst).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.