Mittwoch, 16. April 2014

Belästigungen #432: Iron Majdan: von Revolutionen und ihren Leberwürmern

Wenn Lebewesen Dinge tun, ist nicht immer ganz klar, wieso und wozu, besonders wenn es Dinge sind, die irgendwie inkonsequent, wirr oder komplett wahnsinnig wirken. Zum Beispiel wirkt es komplett wahnsinnig, wenn eine Maus vor Licht, Geräusch und sämtlichen anderen Phänomenen und Sensationen der Außenwelt panische Angst hat, nur vor einer Katze plötzlich nicht mehr. Wenn sie sich ihr vielmehr fröhlich entgegenwirft, als wäre das Krallenviech der langersehnte Erlöser aus dem Westen.
Das passiert aber, regelmäßig und zwangsläufig. Schuld daran ist ein anderes Lebewesen, das in der Maus drin lebt und west und gerne in die Katze hinein möchte, und weil es selber keine Beine hat, benutzt es die Maus als Vehikel, indem es ihr durch gezieltes Anbohren bestimmter Hirnwindungen (sorry, Biologen, ich weiß es nicht besser) den dringenden Wunsch, das unstillbare Bedürfnis einpflanzt, von der Katze mit Haut und Haar einverleibt zu werden. Manchmal gelangt das fiese Wesen – es heißt übrigens Toxoplasmose – auf dem Umweg über die Katze auch in einen Menschen hinein. Der verunglückt dann dreimal häufiger mit dem Auto. Wahrscheinlich weil der entgegenkommende Lastwagen so zutraulich schnurrt.
Es gibt erstaunlich viele Wesen, die solche Strategien verfolgen, und erstaunlich viele andere, die drauf reinfallen: Ameisen, die sich an Grashalmspitzen festbeißen, damit die Kuh sie schluckt (und den Leberwurm, der die Ameise steuert, gleich mit). Fische, die sich von blinden Würmern ohne Hirn suggerieren lassen, sie müßten unbedingt an der Wasseroberfläche herumturnen (weil die Würmer scharf auf das Innere von Vögeln sind, die scharf auf depperte Fische sind). Raupen, die auf Baumwipfel klettern, damit sich der Nährschleim, zu dem sie von Parasitenkindern zersetzt werden, besser verteilen kann. Kakerlaken, die sich widerstandslos von Wespenbabies aufessen lassen (nachdem ihnen die Wespenmama etwas Gift und damit eine fixe Idee injiziert hat).
Und, vielleicht, auch Menschen, die sich dem alles vernichtenden Turbokapitalismus des erwähnten Erlösers aus dem Westen in den Rachen schmeißen, weil ihnen mediale und propagandistische Leberwürmer den Floh ins Ohr gesetzt haben, es werde alles besser werden, wenn der sie erst mal in seinen Entsafter gestopft habe. Dazu zetteln sie dann gerne mal eine „Revolution“ an. Zum Beispiel damals in der DDR, wo so lange und intensiv Westfernsehen geglotzt wurde, bis noch das letzte Mecklenburger Hüttenbäuerlein den dringenden Wunsch, das unstillbare Bedürfnis empfand, unverzüglich eine Bahnhofsmüllpizza zu verschlingen und in einen Club Mediterranee verschifft zu werden und dafür notfalls seine gesamte Existenz von der Deutschen Bank zerschreddern zu lassen.
Ist diese moderne Form der „Revolution“ dann vollbracht, ist vier Wochen später alles beim alten, außer daß die Oligarchen neue Geschäftspartner und die Regierungsbüttel neue Namen und Gesichter haben. Die allerdings etwa in der Ukraine gerne mal die vorhergehenden sind und bei Bedarf (wenn die Leute wieder sauer werden, weil sie nun noch mehr entsaftet werden) gegen die vorvorhergehenden ausgetauscht werden.
Möglicherweise haben wir auch noch nicht ganz verstanden, was sich seit einigen Jahren in Europa und weiter südlich abspielt – und zwar fast immer auf Plätzen (was übrigens auf ukrainisch „Majdan“ heißt, weshalb die gerne benutzte Bezeichnung „Majdan-Platz“ ungefähr so sinnvoll ist wie „Baugebäude“, „Trinkgetränk“ und „Bildzeitungslüge“). Da rüpeln zum Beispiel monatelang Millionen von Griechen und Spaniern gegen ihre korrupten, kaputten, fiesen Regierungen, die ihnen die Existenz vernichten, um internationale Großbanken zu „retten“, und die sie noch nicht mal gewählt haben und auch nicht wählen durften, weil sie ihnen von der EU als sogenannte „Experten“ mehr oder weniger vor die Nase geputscht wurden.
Weiter südlich und östlich passiert ähnliches, allerdings mit einem kleinen Unterschied: Hier putscht die EU mehr oder weniger die Regierungen nicht hin, sondern weg, und zwar meistens nachdem geheimnisvolle schwarzgekleidete Scharfschützen aufgetaucht sind und auf dem jeweiligen Platz ein Massaker angerichtet haben. Woher diese Scharfschützen kommen und wer sie bezahlt, wird nie geklärt; statt dessen stürmt das Volk die arschluxuriösen Paläste seiner korrupten Exdespoten, die zwar gegen die 3.000-Zimmer-Villen US-amerikanischer Börsengewinner höchstens schnuckelig wirken, als Ausweis von Despotismus und Korruptheit jedoch allemal hinreichen: Ob so ein „Despot“ eventuell irgendwann mal frei gewählt worden ist, interessiert dann niemanden mehr.
Blasen wir das nicht zu sehr auf, seien wir lieber ehrlich: Was in der Ukraine, in Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Syrien etc. genau passiert und warum, das weiß und versteht keiner von uns. In Griechenland, Spanien, Italien, Irland und – o ja – Island (das sich als einziges EU-Land der Verelendung zugunsten der Banken widersetzte, deswegen als einziges gut dasteht und aus der Berichterstattung folgerichtig komplett ausgeblendet wird) wissen wir es recht genau. Es hilft aber wenig.
Oder vielleicht hülfe es doch, wenn wir uns ein bißchen genauer mit Leberwürmern und Hirnparasiten beschäftigten und deren Strategie studierten. Vielleicht könnten wir dann zumindest stellenweise besser unterscheiden zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Vernunft, Massenhysterie und Irrsinn. Und zwar bevor wir uns mit festgekrampftem Kiefer auf einer Grashalmspitze wiederfinden, die Kuhzunge heranschwingen sehen und keine Ahnung haben, wie und wieso wir hier hingeraten sind, außer: daß wir es unbedingt selber wollten, aus einem dringenden Wunsch, einem unstillbaren Bedürfnis heraus.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Freitag, 11. April 2014

Frisch gepreßt #312: Foster The People "Supermodel"


Musik für bewegte Landschaften ist ein hypermodernes, immakulat-utopisches Konzept – man darf es aber nicht falsch verstehen: Das neue Album von Kylie Minogue paßt da sonst auch hinein, weil es sich anhört wie ein Motor, der mit Sonnenblumensaft läuft, und weil es (wie viele Platten der letzten Jahre) ausdrücklich für Autobeschallungsanlagen produziert ist und sich dort, zwischen Blech, Glas, Polster und Elektronik, am besten anhört, am allerbesten bei hundertfünfzig auf einer vollständig leeren Autobahn zwischen synthetischen Wäldern und im 3-D-Drucker erstellten Kunststoffburgen. „Into The Blue“, „Million Miles Away“ … need we say more?
Die ansonsten makellose Synthetik stören aber Elemente alter Kulturtechniken: die mit Autotune infantilisierte Stimme der alterslosen Kunstkörperdiva, die reflexartigen Soul- und R-&-B-Muster, die ihre vollautomatisierten Musiker nicht ablegen können, weil man sie nicht mit Genie und Zukunftsvitaminen, sondern nur mit Strom und Marktanalysen aus den späten 90ern gefüttert hat. Da hilft die dreifache Betonung von „sexy“ wenig – Sex geht im Luftzeitalter anders.
Also steigen wir um aufs Fahrrad, das uns geräuschlos durch noch viel leerere, der Gegenwart vollkommen enthobene Landschaften trägt, die wie Tableaus der zeitlos vergeblichen Unvergänglichkeit sich uns kokett entgegendrehen und wieder davonschwingen: Wir waren immer da, scheinen sie zu sagen, ihr habt uns nur nie bemerkt in eurer Betriebsamkeit. Und dazu lassen wir uns durchfluten von einer Musik, die ebenfalls weder Zeit noch Ort kennt, ohne Wurzel schwebend die Atmosphäre von tausend Jahren durchflirrt, die Seele der Welt entreißt und sie ins Universum fließen läßt. Könnte sein, daß wir in einem astralgrünen Sonnenuntergang auf dem Uranus erwachen; auch dort wird sie uns wärmen wie ein Gewebe aus Traumfasern.
„Ask Yourself“: „Is this the life you’ve been waiting for?“ Viele Menschen, unendlich viele Menschen wähnen, ihr Leben mit Warten zu verbringen, und tun und können doch genau das nicht und nie: warten. Sich auf einem verlassenen, vergessenen Platz auf eine Stufe setzen, die Augen schließen und die Sonne durch sich hindurchscheinen lassen, bis irgendwas passiert oder auch nicht. Zeit braucht keine Ereignisse, um zu sein.
„Feels like a Coming of Age“, singt da einer, dem man auf den ersten Blick nicht zutrauen möchte, daß er sich solche Gedanken und Spinnereien je gemacht hat: Mark Foster wirkt äußerlich im schnieken Anzüglein ebenso wie Cubbie Fink und Mark Pontius dermaßen karrierebrav und Ami-Mami-tauglich – die maßlosen Drogeneskapaden seiner Teeniejahre sieht man ihm so wenig an wie man hört, daß er mal Reklamejingles geschrieben hat, weil er von seinem Kellnerjob nicht leben konnte. Aber wer weiß.
Zudem wollte er nach dem gefeierten Debüt seiner Band diesmal ein Album mit „mehr Eiern“ abliefern, hat The Clash, die Kinks, David Bowie und Volksmusik aus Westafrika gehört (und – beiderseits hörbar – die Local Natives, bei gemeinsamen Konzerten), nennt seine Texte, deren Hauptthemen der böse Kapitalismus, Konsumideologie, Verwertungsgewalt, Selbstausbeutung und -dressur sind („Foster The People“ heißt übersetzt: „Unterstützt das Volk“, und es lohnt sich, die Coverbeschriftung zu lesen), „wütend“.
Aber keine Sorge: Die Musik auf diesem Album ist in erster Linie schön. Vielleicht zu schön, um ganz ohne Anker auszukommen; immer wieder sucht man Anhaltspunkte, findet aber nur Dinge, die nicht sind, was sie sind: War das nicht gerade irgendwie eine Disconummer? Irgendwie wohl doch nicht. Vor allem ist die Musik von Foster The People mal wieder ein seltener Fall von „totaler“ Musik: ein alles umfassender Kosmos, in den nichts von außen dringt. Da ist nicht nur kein Einfluß greifbar, da atmet auch niemand, zählt keiner ein, fällt nichts um, surrt, schnarrt, knackt nichts, bleibt die Außenwelt der Störgeräusche so vollständig ausgeschlossen, daß man beim Hören meinen könnte, sie sei ein animierter Film – bewegte Landschaften aus dem Computer als optische Begleitung zum wahren Leben.
In dem man dann ruhig über den Kapitalismus nachdenken kann, ebenso wie über Kylie Minogue. Man sollte nur nicht vergessen: Beides sind Phänomene, die der angeblichen Außenwelt entstammen, jener seltsamen Sphäre, in der es nichts gibt.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Freitag, 4. April 2014

Belästigungen #431: What’s so funny about Peace, Love, Wahlkampf & Understanding?

Der soeben absolvierte Kommunalwahlkampf hat eine eigentümliche Stimmung (wahrscheinlich nicht nur) in mir hinterlassen. Zwar war vieles wie üblich: Das neoliberale Bleichhendl, das sich im Namen der FDP ein paar Wochen lang als „OB-Kandidat“ bezeichnen durfte, reckte seinen Sozialsargnagelkragen gewohnt forsch und wettbewerbsgeil aus dem Plakat, während die grüne Laugenstange zach-drahtig gestylt Prima-Klima-Parolen für die Halligallimeute der Hipster-Kreativlinge absonderte, die am liebsten noch das letzte stille Örtchen der Stadt zur tobenden Eventarena umbauen wollen. Die diversen Naziparteien blähten wie automatische Hupen ihr Anti-Moslem-Kontra-Kriminalität-Muezzingeschrei zu neuen Absurditätsrekorden auf, weil es ihnen offenbar großen Spaß macht, ihre Plakatständer mit Kehrschaufel und Besen zusammenzukehren und sich von mittelgroßen Menschenmengen öffentlich verlachen zu lassen. Der Linken hat wahrscheinlich niemand Bescheid gesagt, daß Wahlkampf ist, und so konnte sie nur noch schnell ein paar alte Zettel mit Aufschriften wie „sozial“ irgendwo dazwischenkleben, wo Platz war, weil wieder mal jemand einen Naziparteiplakatständer zu Fetzen und Bröseln verarbeitet hatte.
Aber mittendrin in dem harmlosen Getöse, das im Grunde sowieso nur Radfahrer interessierte, die alle zwei Meter von so einem Parolendings gewatscht wurden, gaben sich die zwei Kandidaten, um die es eigentlich ging, größte Mühe, jede Art von Wahlkampf gänzlich zu vermeiden, indem sie sich als vorösterliche Fondanteier in sahnigen München-72-Hippiepastellfarben photographieren ließen und Sprüche dazuschrieben, vor denen, wer sie zufällig wahrnahm (da sie gar so geschmeidig zwischen Frühlingswiese und Blauhimmel gecremt waren), in stiller Verwunderung verharrte: „Laßt uns neu denken“, empfahl der Mann der vermeintlich betonkonservativen Partei, die traditionell im Verdacht steht, derartige Post-68er-Landkommunenslogans mit reflexhaftem Haberfeldtreiben zu beantworten. Der andere wiederum, dessen Laden einst versuchte, sich als zentrale Anlaufstelle für Aufbruch und Fortschritt zu inszenieren, mochte („fordern“ kann man das nicht nennen), daß München München und überhaupt alles bleibt, und fügte zwecks eventueller Präzisierung ein mildes, gleichwohl ebenso surreal Woodstock-grooviges „Ja!“ zu schwammigen Themenwolken wie Familie, Beruf und öffentlichem Nahverkehr hinzu.
„Ja zum Beruf“ hier, „Ich habe viel gelernt, danke“ dort – was ist nur aus der sogenannten Politik geworden, fragen wir uns verwundert und gedenken der Zeiten, als fiese Semmelknödel-Pistoleros, Law-and-Order-Banditen und hyperkorrupte Herrenreiter wie Kiesl, Klein, Uhl, Podiuk und der inzwischen zum wunderlichen Berghütten-Dalai-Lama gereifte Peter Gauweiler mit Terrorsprüchen und Stammtischkanonaden das langhaarige Linkspack von RAF-Sympathisanten und Anti-Atom-Luftballonfreaks aus der Stadt hinauszufegen antraten, während verträumte Juso-Idealisten den gesamten Voralpenraum mit bonbonbunten Hochhaustrabantenstädten und Fußgängerzonen in ein Paradies der utopischen Multikultidemokratie transformieren wollten.
Ich habe von den beiden nur Josef Schmid mal flüchtig kennengelernt und bei unserem Händedruck krampfhaft nicht daran zu denken versucht, daß mich sein unseliger Gottkönig Franz Joseph der Erste und Letzte wahrscheinlich ohne mit der Wimper zu zucken in ein chilenisches KZ deportiert und mein damaliges „Milieu“ im Falle einer freundlichen Begegnung mit einem CSU-Dunkelmann ein ebensolches Vorgehen ebenso energisch befürwortet hätte.
Ist nun also nach Deutschland endlich auch Bayern in ein Stadium der Zivilisation eingetreten, in dem man sich eine lesbische Öko-Bürgermeisterin in Oberammergau genausogut vorstellen kann wie einen CSU-Chef mit Marxbart und Wasserpfeife, in dem sich alles mit allem versöhnt und verbrüdert und beim gemeinsamen Peace-Ringelreihen im Chor „Laßt uns neu denken! Ja!“ singt?
Oder geht die allgemeine Harmonieduseligkeit eher darauf zurück, daß deutsche Soldaten inzwischen in mehr Ländern Krieg führen als im gesamten 19. Jahrhundert, daß der alltägliche inländische Sozialkrieg um die Umverteilung des gesamten Volksvermögens von unten nach oben ein Ausmaß und eine Intensität erreicht hat, von denen man damals nur alpträumen konnte, daß der kolonialistische Massenmord derart institutionalisiert und verheerend ist, daß man sich fragt, was all die Naziparteien eigentlich überhaupt noch wollen?
Mag dies sein, mag das sein. Ich fürchte, der Frühling läßt auch mich nicht ungeschoren, und bevor ich mich mal wieder von aufgebrachten Lesern als unverbesserlicher Misanthrop und ewiggestriger Schwarzmaler ausschimpfen lasse, verliere ich mich lieber ebenfalls in fondantfarbenen Traumschleiern: Möge, welcher der beiden Hippies auch immer als – nicht „Sieger“, sondern sagen wir mal: demutsvoller Erwählter – aus dem Wahlkampf-Love-In hervorgegangen ist (und selbst wenn’s die grüne Laugenstange war), mit Milde, Weisheit, neuem Denken und einem umfassend freundlichen „Ja!“ dazu beitragen, daß von münchnerischem Boden Friede, Liebe, Verzeihung und Verständigung ausgehen, bis dereinst die ganze Welt ihre Kriegsbeile in Endlagerstätten deponiert und sich feuertrunken in den Armen liegt.
Illuminieren können wir das Festival ja mit erneuerbarer Energie: gewonnen aus dem Rotieren des unseligen Großkönigs in seinem Grab.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.