Dienstag, 24. Juni 2014

Belästigungen: Das eine, einzige Leben, ertrunken in Rührei und Federn

Neulich saß ich mit einer lieben Freundin zusammen, die für den folgenden Tag ein Vorstellungsgespräch vereinbart hatte. Es ging um eine grundsätzlich sehr attraktive Stelle; dennoch meinte sie, am liebsten ginge sie gar nicht hin, weil sie sonst am Ende dort arbeiten müsse und sich nicht sicher sei, ob sie das überhaupt noch wolle, dieses Arbeiten.
Wir saßen unter einem Baum, die hellblaue Luft flirrte von der freudigen Erwärmung nach dreizehn oder fünfzehn Eisheiligen, im Krug schimmerte gülden das Malzgetränk, allenthalben herrschte Frohsinn, weil hier – abgesehen von den Biergartenangestellten, die müßig ratschend durch die Reihen schlurften und hie und da einen leeren Teller einsammelten – niemand arbeitete.
Kein Thema bestimmt das Geplapper des Menschengeschlechts so hegemonial wie dieses, vor allem in Zeiten, da mal wieder irgend so ein Parlament zusammengewählt werden soll. Armut, Elend, obszöner Reichtum, Krieg, Folter, die inzwischen so gut wie vollständige Vernichtung von Natur und Umwelt – alles eitler Pipifax gegen das, was rechtsliberale und neokonservative Medien wie taz und FAZ gerne auf den reißerischen Nenner bringen, die gesamte Jugend in Europa sei „ohne Job und Perspektive“. Wie schauderlich!
Eine andere Freundin habe ich seit Jahren nicht gesehen, obwohl wir in derselben Stadt leben. Sie nämlich, teilt sie mir hin und wieder auf elektronischem Wege mit, täte mich zwar gerne mal wiedersehen; geht aber nicht, weil sie eine Perspektive hat: Sie „muß“, d. h.: „will“ arbeiten, weil das, was sie arbeitet (irgendeine digitale „Dienstleistung“), sie mit Sinn, Glück und Erfüllung erfülle. Zwar sei sie nach „Feierabend“ (falls ein solcher eintritt, weil das Handy kaputt oder Facebook abgestürzt ist) oft sehr erschöpft und frustriert, depressiv und einsam. Aber, so vermute ich, diese Erschöpfung, Frustration, Depression und Einsamkeit fließen halt nur so über vor Sinn, Glück und Erfüllung, und zur Not haut sie sich eben vor der Glotze, die die aktuellen Statistiken zu Arbeit und Wachstum verkündet, einen Prosecco rein.
Eines Tages werden wir uns schon wiedersehen, meint sie, und reden, spazierengehen, lachen, Musik hören, Sex haben, feiern, was man halt so tut im Leben. Das meinte ein anderer Freund auch, der vor drei Jahren gestorben ist, ohne daß wir uns seit dem Studium wiedergesehen hätten. Die ganze Perfidie der perversen Arbeitsreligion läßt sich kaum besser auf den Punkt bringen als mit der Feststellung, daß das für ihn jetzt keine Rolle mehr spielt und er es zuvor tatsächlich ehrlich glaubte, viele Jahre lang, so wie er an ein unendliches Wachstum glaubte, obwohl er nach drei Sekunden Nachdenken einsehen hätte müssen, daß er sein Leben auf einen Sanktnimmerleinstag verschob und unendliches Wachstum absolut unmöglich ist.
Arbeit, hat man mir erklärt, erfülle in erster Linie einen sozialen Zweck. Das ist so eine Art Notfallausrede: Weil inzwischen jeder zumindest ahnt, daß 99 Prozent aller Arbeit vollkommen überflüssig sind und Arbeit die Ursache von (u. a.) Armut, Elend, obszönem Reichtum, Krieg, Folter und der Vernichtung von Natur und Umwelt ist, meint man, das sei ja ganz egal; schließlich gehe es darum, ein Grundbedürfnis des Menschen zu stillen – gemeinsam mit Mitmenschen etwas zu leisten und einen Erfolg zu erzielen.
Mag sein. Wieso muß es dann aber eine digitale Dienstleistung, ein Monsterauto oder ein innovativer Joghurtdrink sein? Wieso ziehen die Menschen nicht los, reißen irgendwo ein Factory Outlet ab, harken die Krume, säen das Korn, pflücken Obst, versammeln sich in der Dämmerung ums Lagerfeuer, singen fröhliche Lieder, erzählen sich Geschichten und lächeln angesichts der gemeinsam eingebrachten Früchte ihrer müßigen Mühen selig in den Nachthimmel?
Weil das unrealistisch ist? Genau. Und wenn man einem beliebigen Bewohner des frühen 18. Jahrhunderts vom Nazifaschismus erzählt oder ihm ein Bild der Verwaltungszentrale eines modernen Weltkonzerns (oder der Frankfurter Skyline) vorgelegt hätte, dann hätte der das ohne Zögern für absolut realistisch befunden. Ein Leben ohne iPad, Twitter, Konsumkredit und Spülmaschine, hätte er begeistert eingeräumt, sei tatsächlich fast undenkbar, und daher werde das Streben seiner und der zehn folgenden Generationen rückhaltlos dem Ziel dienen, das Burnout-Paradies des 21. Jahrhunderts herbeizuführen, in dem die gesamte Sozialität des Menschen auf die gemeinsame Erstellung eines innovativen Joghurtdrinks zusammenschrumpelt.
Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, in der kein Angehöriger meiner peer group einen Job hatte. An Perspektiven hingegen mangelte es uns nicht; viele davon beruhten auf den idyllischen Szenarien in Carl Barks’ Donald-Duck-Geschichten (in denen, sobald jemand zu arbeiten anfing, Semmeln, Fabriken und Berge explodierten, ganze Städte in Rührei und Federn ertranken und generell alles in Klump und Asche fiel), Rock-’n’-Roll-Songs (der absoluten Antithese zu jeglicher Form von Arbeit), Asterix-, Lucky-Luke- und Science-fiction-Heften sowie Büchern von Schatzinseln, Piraten und Huckleberry Finn. Was wir daraus über Arbeit lernten? Daß man das Leben, weil es kurz ist und es unendlich viel zu erleben gibt, so weit wie nur möglich davon freihalten muß.
Heute: strömen die Menschen zu den Arbeitsstätten wie einst in die Kirchen, hoffen auf Erlösung durch Fleiß und Überstunden und haben die Frage vergessen, in welchem Jenseits ihnen diese zuteil werden soll. Wer keinen Arbeitsplatz hat, sitzt seine Lebensstunden in plastikmöblierten Ämtern, demütigenden „Kursen“ und sinnlosen Ersatzbeschäftigungsdiensten ab. Und derweil gilt der sehnsüchtige Neid aller, die dem Wahn verfallen sind, den Ungläubigen, die sich dem Kreuzzug zur Vernichtung des Lebens und der Welt entziehen – denen, die durch anderer Arbeit reich genug sind (die bewundert man), und jenen, die einfach keine Lust haben (die haßt man).
Das, fanden wir anderntags unter einem anderen Baum, ist wie jeder religiöse Fanatismus dermaßen widersinnig und irr, daß man gar nicht erst versuchen sollte, es zu verstehen. Schließlich haben auch wir nur ein Leben.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Freitag, 13. Juni 2014

(Aus dem tiefen Archiv) Belästigungen #218: Zwei Großhirne auf dem Weg durchs Weltgedärm

Zwei Herren, die in Deutschland leider als recht bekannt gelten müssen, schockierten kürzlich das Gemeinwesen mit Ungnade: „Wenn ich jünger wäre und diese Aufgabe nicht hätte, wäre ich längst weg!“ tönte ein Herr Döpfner, dessen „Aufgabe“ darin besteht, Vorstandsvorsitzender des Springer-Konzerns zu sein. Recht hat er, möchte man meinen: Wenn der Mann sich nicht seine jüngere Lebensphase damit um die Ohren geschlagen hätte, durch den Darm der Axel-Cäsar-Witwe zu krabbeln, bis er es endlich hineingeschafft hatte ins Allerheiligste der Blut-und-Busen-Presse, – dann wäre er mit einiger Sicherheit tatsächlich weg. Vom Fenster.
Gemeint hat der Döpfner aber was anderes, in dem ihm Frank Schirrmacher, sein etwa gleichaltriger Kumpan von der FAZ (der sich auf dem Weg dorthin seinerseits durch die Eingeweide von Joachim Cäsar Fest wühlen mußte), bestätigend vorausgeeilt war: Die beiden, die zu den Mittätern der ekelhaften „Du bist Deutschland!“-Kampagne gehören, wollten wohl auch mit dieser Kampagne genau dies sagen: Weil Deppen wie du Deutschland sind, halte ich es hier nicht aus! Und wenn ich nicht so unglaublich wichtig wäre, daß ohne mich alles zusammenbräche, dann hätte ich mich längst verzupft!
Wohin? könnte man fragen. Aber freilich: Beide – Döpfner und Schirrmacher wie die meisten Insassen des gesellschaftlichen Luxuspenthouses, wo das Gejammer und Geklage und Gewimmer und Gebrüll über Stillstand, Verkrustung und so weiter den ganzen Tag und das ganze Jahr nicht abschwellen will, egal wieviel Champagner man ihnen in die Rübe gießt – meinen, einen sozusagen geburtsrechtlichen Anspruch auf eine „Spitzenposition“ samt Stadtvilla, Landhaus, Chauffeur und Leibeigenen sowie Medienlakaien, die ihnen täglich ein Mikrophon zum Meinungmachen hinhalten, zu besitzen, den sie jederzeit überall in der (nicht zuletzt deshalb „globalisierten“) Welt wahrnehmen könnten. Wenn der Deutsche nicht spurt und springt, ja mei, dann wird eben in Singapur, England oder der Schweiz weitergewichtelt. Golfspielen, wichtig aussehen, frühstücken, meeten, pathetischen Müll schwafeln und Leute entlassen kann man schließlich inzwischen an fast jedem Ort der Welt. Notfalls läßt man halt Roland Berger einfliegen.
Wir wollen jetzt gar nicht hämisch sein, sondern lieber mal abwägen, eine Gewinn-Verlust-Rechnung anstellen. Erstens Döpfner: Daß der seinen Schmutzkonzern samt Bildzeitung beim Auswandern mitnähme, ist unwahrscheinlich. Da stecken schließlich noch ein paar recht mächtige Herrschaften dahinter, denen es nicht schwerfiele, den einen Streber durch einen anderen Galionsbubi zu ersetzen. Der würde wahrscheinlich dasselbe Stroh daherreden wie Herr Döpfner, und auch ansonsten täte sich ungefähr nichts ändern. Fazit: ein herzliches Lebewohl! Zweitens Schirrmacher: Der war einst stolzer Panzerfahrer und hat, weil er sich nun mal für die Literatur zuständig wähnt, in einem spätjugendlichen Anfall von noch größenwahnsinnigerem Größenwahn als sonst vor vielen Jahren versprochen, eine umfassende „Bundesliteraturgeschichte“ zu verfassen, die vom Eichborn-Verlag auch gleich kräftig angekündigt und betrommelt wurde: Da werde der Möchtegern-Ranicki 320 Seiten lang „auf die deutsche Literatur seit 1945 zurückblicken“ und dabei „Thesen vertreten, die uns die deutsche Nachkriegsliteratur mit neuen Augen betrachten lassen“. Dann ist ihm aber ein- oder aufgefallen, daß er dafür erstens etwas von Literatur verstehen und zweitens am Ende auch noch irgendwie arbeiten oder wenigstens schreiben müßte. Und so haben wir uns leider umsonst auf die „neuen Augen“ gefreut, die uns Herr Schirrmacher einpflanzen wollte: Übrig blieb vom Großprojekt nur eine vergebene ISBN-Nummer und eine hübsche Spaßrezension im Internet, in der ein Herr „aus Posemuckel“ klarstellt: „So konnte nur ein Mitspieler im großen Kampf um Wahrheit, Recht und Meinungsführerschaft schreiben!“ Nämlich gar nicht. In etwas anderem Licht erscheint so auch ein Satz, den Schirrmacher einst auf die „68er“ münzte: „Plötzlich konnte nicht nur jeder lesen, sondern auch schreiben.“ Klar, daß der Herr die „68er“ haßt und fürchtet: Anstatt mit großdeutschen Pompgesten um sich zu pfeffern, haben die ein Hirn gehabt oder wenigstens ab und zu versucht, eines zu bilden, igitt!
Dennoch gibt es Bücher, die den Namen Schirrmacher tragen. Zum Beispiel „Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben in Bildern“ (die freilich nicht Schirrmacher selbst geknipst hat, weil das von innen nicht geht) und „Als sei die Welt erwacht. Zeitzeugen erinnern sich zum 8. Mai 1945“. Bei letzterem freilich mußte er auch nicht wirklich schreiben, sondern nur zuhören und abtippen, zusammen mit Stefan Aust. Na ja, abgetippt hat genaugenommen wohl der „Herausgeber“ Michael Kloft. Und weil wir uns sowieso denken können, wer sich da erinnert – Joachim Fest, Marcel Reich-Ranicki und ein paar andere – fragen wir uns lieber: Wie erinnert man sich „zu“ etwas? Und wo war Schirrmacher, als in der Schule erklärt wurde, daß „Als sei …“ der Konjunktiv für die indirekte Rede und aber auch nur für die indirekte Rede ist? Und schon sind wir ganz froh, daß Schirrmacher so wenig schreibt, und noch froher wären wir, summa summarum, wenn er sich entschlösse, seinen Döpfnerkumpel einzupacken und gemeinsam nach sonstwo abzudampfen, um zum Beispiel der nordostmongolischen Nachkriegsliteratur neue Augen zu verpassen, sich zum 1. April 1704 zu erinnern, eine „Du bist Grönland!“-Kampagne zu starten, den Aufbau der Blut-und-Busen-Presse in Kirgisien zu überwachen oder in dortige Witwen und Großkotzdärme hineinzukriechen.
Und wenn der Exodus der Rumpelhirne ein paar Jahre anhält, könnten wir eines Tages anfangen, darüber nachzudenken, ob wir nicht vielleicht doch „Deutschland“ sind.



(geschrieben von 29. Oktober bis 3. November 2005, leicht gekürzt gedruckt am 9. November; enthalten in dem Buch Das fliegende Irrenhaus. Belästigungen 201-300 )


Donnerstag, 12. Juni 2014

Frisch gepreßt #317: Echo & The Bunnymen "Meteorites"


Aufgrund von Gründen beschäftige ich mich derzeit intensiv mit Kosmologie. Beim gedanklichen Ergründen tieferer Strukturen des eigenartigen Universums, das uns umgibt und dessen Gegenwart möglicherweise zugleich ewige Vergangenheit und gegenwärtige Ewigkeit ist, klingen hin und wieder am entferntesten, der Vernunft in Richtung Wüste entfallenden Rand des Bewußtseins Musikfetzen auf. Immer dann, wenn die Weltformel oder ihre Denkbarkeit in den Sinn gerät, singt Ian McCullough mit der alles umflorenden Pelzstimme eines gestürzten Gottes: „What are you going to do with your life?“
Das so betitelte, vor fünfzehn Jahren erschienene und damals heftig umstrittene Album hat sich als eine Art kosmologische Konstante erwiesen: Zu gewissen Zeiten bildet es mit „Us & Us Only“ von den Charlatans ein Zweigestirn, das sozusagen doppelsolitär hineinstrahlt und -leuchtet in den endlos dunklen Raum des Lebens, ihn füllt mit Sinn, Farbe, Gefühl und der euphorischen Melancholie (eben) gegenwärtiger Ewigkeit. Nichts, nicht einmal die schönsten Morrissey-Alben (also alle seit 1994), kommt ihm gleich an Erhabenheit, und wem heute immer noch ein „Kitsch“-Vorwurf durch die Lippen rutscht, der möge sich weiter ergötzen im Laufrad der Vergänglichkeiten.
Danach kam manches, aber „danach“ ist im Lichte der Relativitäten ein unsicherer Begriff; niemand kann sagen, ob nicht alles schon immer und für immer da und „schon“ und „für“ und „da“ sowieso Hilfsbegriffe sind. Daß „Meteorites“ fünfzehn Jahre nach „What Are You Going To Do With Your Life?“ erscheint, könnte also Illusion sein, ebenso wie das radioaktiv zersetzte Aufscheinen der Melodie von „When It All Blows Over“ in „Grapes Upon The Vine“ samt geisterhafter Wiederkehr der Streicher – ist vielleicht das Jetzt der Keim des Früher und letztlich alles eins?
Der Titel „Meteorites“ beschreibt in diesem Sinne gut, was hier passiert: Überreste von Supernovae, Planetenkollisionen und elliptischen Annäherungen an schwarze Löcher treiben durch den Raum, durch dunkle Materie und dunkle Kraft, getragen von Gravitationswellen, fangen Photonen auf, glitzern und pulsieren, reflektieren und verglimmen. Und wenn all diese kosmisch-kosmoiden Anspielungen sich als blühender Unsinn erweisen, bleibt doch nüchtern festzustellen: Irdisch ist nichts an diesem Album, von mancher Textzeile und ein paar „körperlichen“ (an Spät-80er-Rave erinnernden) Grooves etwa in „Market Towns“ abgesehen. Gegenwärtig auch nicht, alles strebt, schwebt, entgleitet in den weiten Himmel und ein fernes Jenseits, das mißgünstige Kritiker als endlosen Hallraum empfinden könnten.
Bill Drummond, der Echo & The Bunnymen als Manager und Mentor mitgegründet hat, schrieb 1997, knapp zwanzig Jahre nach dem bescheidenen Urknall in einem Liverpooler Schlafzimmer oder Hinterhof oder Bierstüberl, die unübersetzbaren Zeilen: „It’s as if The Bunnymen were going for some ultimate but indefinable glory. A glory beyond all glories, where the gates are flung open and all you can see is this golden light shining down on you, bathing you, cleaning all the grime and shit from the dark corners of your soul.“
Daran hat sich nichts geändert. Wie sollte es, wo doch die Gegenwart des Universums, das uns umgibt, möglicherweise zugleich ewige Vergangenheit und gegenwärtige Ewigkeit ist?
Drummond übrigens erklärte den Ursprung der Band und dessen Lokalisierung einst in einem Interview mit einer interstellaren „ley line“ – einer jener „Heiligen Linien“, die Megalithen, prähistorische Kultstätten, mystische Wasseradern und frühheidnische Kirchen verbinden, nur in diesem Fall eben aus den Tiefen des Weltraums gezogen und nur drei Punkte auf dem Planeten Terra berührend: Island, Neuguinea und die Mathew Street in Liverpool. Die weitere Geschichte, die mit Carl Gustav Jung, Pink Floyd, weißen Flecken auf der Erdkarte, Etymologie und Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ zu tun hat, sparen wir uns hier aus Platzgründen. Und weil sie natürlich Unfug ist.
Natürlich. So wie alles Unfug ist in der Kosmologie. Und jeder Unfug reine Wahrheit in einem Universum, in dem alles, was sein könnte, ist. Und die tiefste Frage lautet immer noch: „What are you going to do with your life?“

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Sonntag, 1. Juni 2014

Belästigungen #435: Nämä Pakätt für Rollator nach Mariahilfplatz!

Daß Männer nicht multitaskingfähig sind, ist eine Binsenweisheit, für die ich jederzeit als Lehrmodell herhalten kann. Zum Beispiel stehe ich bis zu zehnmal täglich vor einem Gegenstand, ohne zu wissen weshalb und was der Gegenstand nun mit mir anfangen sollte oder umgekehrt oder beides. Dann ruft jemand an und erklärt mir in rauschendem Knisteramerikanisch, daß mit meinem „Microsoft“ was nicht stimmt, und nachdem ich ihn kurz beschimpft und aufgelegt habe, halte ich einen Zettel in der Hand, der leer ist, auf den ich aber vielleicht was schreiben wollte, wovon ich nicht mehr weiß, was es war.
Daß die Wohnungstür angelehnt ist, merke ich erst, als sich der Paketbote draußen räuspert. Ich trage die Sendung, die für irgendeinen möglicherweise längst verzogenen oder verstorbenen Nachbarn bestimmt ist, in das Zimmer, das vollgestellt ist mit Sendungen für möglicherweise längst verzogene oder verstorbene Nachbarn, und stelle fest, daß es dort Pflanzen gibt, die ich seit Wochen nicht gegossen habe, weil ich das Zimmer selten betrete, höchstens um Pakete für Nachbarn hineinzustellen. Jemand geht an mir vorbei, sagt „Wenn du eh nicht mehr kommst, gehe ich“; der Geruch von verbranntem Gummi aus der Küche teilt mit, daß der Kaffee vor einer halben Stunde fertig gewesen wäre; und daß ich beim Einkaufen nicht bezahlen kann, stößt bei der Kassiererin auf großes Verständnis: Schließlich haben Schlafanzughosen keine Taschen, in die man Geldbeutel stecken könnte.
Und das alles nur weil gleichzeitig der Kopf rotiert und aus dem Angebot an Welt, das auf mich einströmt, was zu machen sucht, womit sich eine Kolumne füllen läßt, die zu lesen nicht nur Sinn, sondern am besten auch Freude erzeugt. Oder anders herum, weil Sinn vielleicht sowieso nicht hineinzuklopfen ist in eine Welt, die unablässig auf der Suche ist: Erst pflügt sie zwei Monate lang die Ozeane durch, um ein Flugzeug zu finden, von dem sich am Ende erweist, daß es weg ist; dann plappert sie zwei Wochen lang von entführten „OSZE-Beobachtern“, die keine OSZE-Beobachter sind und nie waren und ebenfalls weg waren und jetzt wieder da sind und von denen niemand weiß, was sie sind und sollten, nicht mal die Truppentante von der Leyen, die dennoch „betont“, daß sie sie jederzeit wieder losschicken täte, egal ob sie sie beim ersten Mal losgeschickt hat oder nicht oder jemand anderer.
Weil solches Kuddelmuddel nur dazu führt, daß man sozusagen im Vorbeigehen die halbe Wohnung verwüstet, ohne es zu wollen, während man zu begreifen versucht, wie und warum eine Handvoll Leute sich anschicken, halb Europa zu verwüsten, (vielleicht) ohne es zu wollen, bin ich dazu übergegangen, nur den Teil der medialen Weltmitteilungen zu registrieren, der damit rein gar nichts zu tun hat.
Ist aber nicht leicht. Zum Beispiel wird aus dem Magdeburger Stadtteil Buckau gemeldet, ein 79jähriger Herr mit Rollator habe plötzlich nicht mehr gewußt, wo er ist und wie man von da am besten heimkommt. Drum habe er sein Radgestell „kurzerhand“ (Vorsicht, nicht zu lange über solche Wörter nachdenken, sonst geht das „Microsoft“ kaputt und der Kaffeebote trinkt den Kaffee!) auf die Bahnschienen gestellt und sei als lebender Regionalzug in Richtung Hauptbahnhof losgezockelt, was nicht nur sämtlichen Sicherheitsvorschriften widerspricht, sondern auch grundlegenden Regeln des öffentlichen Nahverkehrs – weil er sich standhaft weigerte, weitere Passagiere aufzunehmen.
Kurz vor dem Hasselbachplatz wurde die menschliche Draisine von der Polizei „aufgegriffen“ (noch so ein Wort), und damit wäre der Fall weitgehend erledigt, wenn nicht aus dem hinteren Teil des verschwurbelten Hirns die Erkenntnis herausquölle, Hasselbach sei der Name eines notorischen Münchner Naziumtreibers, womit die ganze Geschichte plötzlich in einem anderen Licht schimmert und man eine verwinkelte Verschwörungstheorie zusammenzimmert, in der es von Nazis nur so wimmelt und die aber selbst dem Paketboten, der sich immer alles geduldig anhört, weil er außer „Nämä Pakätt fur (unverständliches Rudiment des Namens eines möglicherweise längst verzogenen oder verstorbenen Nachbarn)“ nur ukrainisch spricht, lediglich ein kurzes Kopfkratzen und eine Wiederholung der Botschaft „Nämä Pakätt fur …“ entlockt.
Vielleicht läßt sich daraus was lernen: Vielleicht bedeutet überhaupt nichts irgend etwas außer sich selbst. Wenn irgendwo jemand einen Stein wirft oder eine Fahne spazierenträgt, auf der „Nein!“ steht, dann entsteht dadurch weder eine Tendenz noch eine Bewegung noch sonstwas, sondern dann wirft jemand einen Stein bzw. trägt ein „Nein!“ spazieren, und das war’s. Irgendein anderer, der zufällig zuschaut und der zu diesem Zweck kein „Dritter“ und auch kein „OSZE-Beobachter“ sein muß, könnte dann sagen: „Aha! Der trägt ein ‚Nein!‘ spazieren!“, und das wär’s gewesen. Er darf nur ja nicht anfangen, in das „Nein!“-Spazierentragen eine Bedeutung hineinzuhubern, weil er sich sonst über kurz oder lang in einem multitaskerischen Wirrwarr wiederfindet und beim Versuch, mit dem Rollator zum Mariahilfplatz zu gondeln, von der Trambahn überfahren wird.
Ergibt das Sinn? Der knisternde kalifornische „Microsoft“-Mahner weiß es nicht, ich kann nicht mehr denken, und Pakete werden am Sonntag nicht geliefert. Vielleicht sollte ich trotzdem mal die Blumen gießen, und da ich nicht sicher bin, ob ich noch mal komme, darfst du inzwischen ruhig schon mal gehen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.