B. ist ein zartes Mädchen. „Pflänzchen“ sagen manche zu ihr.
Sie mag mehlige Pastellfarben, samtige Stoffe, perlendes Sonnenlicht auf der
Wasserschale am Fenster, zarte Wolken am Morgenhimmel, wenn sie fast lautlos
vor sich hin summend die eosinrot aufatmenden, menschenleeren Straßen nach
Hause flaniert, zu ihrem Kämmerchen unter dem Dach in einem kleinen Haus am
Stadtrand. Von dessen kleinem Fenster aus blickt B. auf die Skelette
leerstehender Lagerhallen, in der Ferne schimmert die Autobahn wie ein böser,
röhrender Fluß. Meist aber hört B. dessen Röhren nicht und sieht ihn auch
nicht; dann sitzt sie mit geschlossenen Augen auf ihrem bonbonfarbenen Sofa und
lauscht der Stimme von Stuart Murdoch, die ihr von der Welt und zarten Mädchen
erzählt. Manchmal denkt B. dann an Sylvia Plath und fühlt sich wie unter einer
Glasglocke.
So geht das seit … Jahren; aber was sind Jahre, wo doch
Stuarts Stimme 2015 so klingt wie 1996 und die Sommerlandschaft auf dem Bild,
das an B.s Blumentapete hängt, einen ewigen Sonnenaufgang in ihr Kämmerchen
zaubert. Neulich ist B. sanft erschrocken (ein fast unhörbares „Huch!“), als
sie in einer Zeitschrift las, das neue Album von Belle & Sebastian werde
ganz anders als alles, was man von der Band kenne. „Elektronik!“ stand da
drohend, „Neustart!“, „Experiment!“, „Abrechnung!“ und andere wilde Wörter, die
auf B.s zart vernebeltes Pflänzchengemüt eine ähnliche Wirkung haben, als hätte
sich Stuart Murdoch eine Glatze rasiert, „Du schaffst es!“ auf die Stirn
tätowiert und fürs Dschungelcamp angemeldet.
Ja, wirklich: „Nobody’s Empire“ ist ein frappierend privater
Bericht über Stuarts Ringen mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom. „The Party
Line“ und das harsche „The Book Of You“ besitzen Elemente dessen, was man heute
gerne als „Tanzmusik“ bezeichnet (weil es außer einem maschinellen Beat so gut
wie keine Elemente besitzt), und als der ätherische Elektrorhythmus von „Enter
Sylvia Plath“ B.s Glasglocke erschüttert, kräuselt sich ihre Stirn in
bedenklicher Blässe. Aber gleich lächelt sie wieder, denn schon nach Sekunden
erinnert der Song (!) ebenso wie die siebeneinhalb Minuten lang an- und
abschwellende, zauberhaft rührende Discohymne „Play For Today“ eher an die
Schwerelosigkeit der späten Roxy Music und die fließende Ewigkeitsmelodie des
„No 1 Song In Heaven“ von den Sparks, den B. als kleines Mädchen so geliebt
hat, weil er sie damals schon mit genau der gleichen zeitlosen Nostalgie
erfüllte wie heute.
Auch „The Cat With The Cream“ und „The Everlasting Muse“
sind Songs von einer Art, wie sie niemand je von Belle & Sebastian gehört
und erwartet hat; letzteres zieht sich mittendrin plötzlich den Jazz-Café-Pulli
über den Kopf und wird kurzzeitig zum Karussellringelreihen fürs leicht
angegammelte Vorstadtfrühlingsfest. „Perfect Couples erinnert an eine Melange
aus fernöstlicher Tempelmusik, Tubeway Army und Gang of Four; da ist B. doch
ernsthaft irritiert. Und selbst erwartbare Sonntagvormittagsballaden wie „Ever
Had A Little Faith“ sind durchzogen von überraschenden kompositorischen
Strukturen.
Zweifellos sind das Experimente, aber B. stellt mit einem
zufriedenen Lächeln fest, daß sie im Gegensatz zu 99 Prozent aller
verzweifelten „Neuerfindungen“ anderer Bands allesamt vorzüglich gelungen sind
– vielleicht einfach deswegen, weil sie eben nicht in einer Sackgasse
unternommen werden, sondern auf einem weit offenen Feld zwischen Skeletten von
Industrieruinen, ziellosen Fernstraßen und einem kleinen Haus, in dem B. selig
in ihrem Kämmerchen unter dem Dach sitzt und sich freut, daß Stuart sie weder
erschrecken noch herausfordern will. Sondern ihr nur mal was anderes zeigen,
ein paar Seiten im Bilderbuch ihres Lebens, die sie noch nicht kennt.
Und sowieso ist da ja noch Stuarts (und Sarah Martins) Stimme,
die immer Stuarts (und Sarahs) Stimme bleiben wird, und so schließt B. die
Augen. Läßt sich entführen in diese unbekannte, schillernde neue Welt, die ihr doch
irgendwie vertraut ist. Und stellt fest, daß ihre Glasglocke plötzlich fast von
Horizont zu Horizont reicht und weit hinauf in den Himmel.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.