Dienstag, 24. Februar 2015

Frisch gepreßt #333: Belle & Sebastian "Girls In Peacetime Want To Dance"


B. ist ein zartes Mädchen. „Pflänzchen“ sagen manche zu ihr. Sie mag mehlige Pastellfarben, samtige Stoffe, perlendes Sonnenlicht auf der Wasserschale am Fenster, zarte Wolken am Morgenhimmel, wenn sie fast lautlos vor sich hin summend die eosinrot aufatmenden, menschenleeren Straßen nach Hause flaniert, zu ihrem Kämmerchen unter dem Dach in einem kleinen Haus am Stadtrand. Von dessen kleinem Fenster aus blickt B. auf die Skelette leerstehender Lagerhallen, in der Ferne schimmert die Autobahn wie ein böser, röhrender Fluß. Meist aber hört B. dessen Röhren nicht und sieht ihn auch nicht; dann sitzt sie mit geschlossenen Augen auf ihrem bonbonfarbenen Sofa und lauscht der Stimme von Stuart Murdoch, die ihr von der Welt und zarten Mädchen erzählt. Manchmal denkt B. dann an Sylvia Plath und fühlt sich wie unter einer Glasglocke.
So geht das seit … Jahren; aber was sind Jahre, wo doch Stuarts Stimme 2015 so klingt wie 1996 und die Sommerlandschaft auf dem Bild, das an B.s Blumentapete hängt, einen ewigen Sonnenaufgang in ihr Kämmerchen zaubert. Neulich ist B. sanft erschrocken (ein fast unhörbares „Huch!“), als sie in einer Zeitschrift las, das neue Album von Belle & Sebastian werde ganz anders als alles, was man von der Band kenne. „Elektronik!“ stand da drohend, „Neustart!“, „Experiment!“, „Abrechnung!“ und andere wilde Wörter, die auf B.s zart vernebeltes Pflänzchengemüt eine ähnliche Wirkung haben, als hätte sich Stuart Murdoch eine Glatze rasiert, „Du schaffst es!“ auf die Stirn tätowiert und fürs Dschungelcamp angemeldet.
Ja, wirklich: „Nobody’s Empire“ ist ein frappierend privater Bericht über Stuarts Ringen mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom. „The Party Line“ und das harsche „The Book Of You“ besitzen Elemente dessen, was man heute gerne als „Tanzmusik“ bezeichnet (weil es außer einem maschinellen Beat so gut wie keine Elemente besitzt), und als der ätherische Elektrorhythmus von „Enter Sylvia Plath“ B.s Glasglocke erschüttert, kräuselt sich ihre Stirn in bedenklicher Blässe. Aber gleich lächelt sie wieder, denn schon nach Sekunden erinnert der Song (!) ebenso wie die siebeneinhalb Minuten lang an- und abschwellende, zauberhaft rührende Discohymne „Play For Today“ eher an die Schwerelosigkeit der späten Roxy Music und die fließende Ewigkeitsmelodie des „No 1 Song In Heaven“ von den Sparks, den B. als kleines Mädchen so geliebt hat, weil er sie damals schon mit genau der gleichen zeitlosen Nostalgie erfüllte wie heute.
Auch „The Cat With The Cream“ und „The Everlasting Muse“ sind Songs von einer Art, wie sie niemand je von Belle & Sebastian gehört und erwartet hat; letzteres zieht sich mittendrin plötzlich den Jazz-Café-Pulli über den Kopf und wird kurzzeitig zum Karussellringelreihen fürs leicht angegammelte Vorstadtfrühlingsfest. „Perfect Couples erinnert an eine Melange aus fernöstlicher Tempelmusik, Tubeway Army und Gang of Four; da ist B. doch ernsthaft irritiert. Und selbst erwartbare Sonntagvormittagsballaden wie „Ever Had A Little Faith“ sind durchzogen von überraschenden kompositorischen Strukturen.
Zweifellos sind das Experimente, aber B. stellt mit einem zufriedenen Lächeln fest, daß sie im Gegensatz zu 99 Prozent aller verzweifelten „Neuerfindungen“ anderer Bands allesamt vorzüglich gelungen sind – vielleicht einfach deswegen, weil sie eben nicht in einer Sackgasse unternommen werden, sondern auf einem weit offenen Feld zwischen Skeletten von Industrieruinen, ziellosen Fernstraßen und einem kleinen Haus, in dem B. selig in ihrem Kämmerchen unter dem Dach sitzt und sich freut, daß Stuart sie weder erschrecken noch herausfordern will. Sondern ihr nur mal was anderes zeigen, ein paar Seiten im Bilderbuch ihres Lebens, die sie noch nicht kennt.
Und sowieso ist da ja noch Stuarts (und Sarah Martins) Stimme, die immer Stuarts (und Sarahs) Stimme bleiben wird, und so schließt B. die Augen. Läßt sich entführen in diese unbekannte, schillernde neue Welt, die ihr doch irgendwie vertraut ist. Und stellt fest, daß ihre Glasglocke plötzlich fast von Horizont zu Horizont reicht und weit hinauf in den Himmel.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Samstag, 21. Februar 2015

Frisch gepreßt #332: Madonna "Rebel Heart"


Ein „Leak“ ist für den Seemann unerfreulich. Wenn ein solches am Schiffsrumpf auftritt, plätschert nämlich das Meer, das den Nachen bis dahin so freundlich getragen hat, frecherweise in diesen hinein, bis buchstäblich die Luft raus ist und das kühle Grab am Grund nicht mehr warten muß.
In der Musikindustrie ist ein Leak sozusagen das Gegenteil und doch das gleiche: Da sprudeln sie hinaus, die Contents, mit denen man den Sparbüchsen der Fans Millionen zu entlocken hoffte, und nicht selten auch sorgt ein solches Leak dafür, daß schon lange vor einem erhofften Comeback alle Welt weiß: Bei dem ist nun wirklich die Luft raus.
Musikalische Leaks haben oft verworrene Historien, die selten ganz ans Licht zu kriegen sind. Eines indes ist so gut wie allen gemein: Sie sind illegal; Umgang, Handel, Konsum, Besitz der solcherart in die Welt verströmten Datensätze strafbewehrte Delikte, zu denen man selbstverständlich auch nicht auffordern darf.
Das tun wir denn auch nicht. Journalistische Informationspflicht gebietet indes eine Berichterstattung, und die derzeit durchs Internet flutenden „Rohversionen“ des neuen Madonna-Albums schlagen derart Wellen und sind umschwemmt von so kuriosen Begleitumständen, daß eine solche sich von selbst versteht, ganz ohne Sensationalismus.
Und zwar war das so: In den letzten Jahren mußte die 56jährige Entertainerin Madonna Louisa Ciccone feststellen, daß die Verkaufszahlen ihrer Alben bedenklich in den einstelligen Millionenbereich hineinrutschten – und das wo sie doch gerade erst einen 120-Millionen-Dollar-Vertrag unterschrieben hatte (vor dem letzten, MDNA, das sich o „schlecht“ verkaufte wie kein Madonna-Album je zuvor, und zwar mit Abstand). Sündenbock für so was ist in den letzten Jahren generell das Internet – schließlich gebe es da alles umsonst, per Leak, illegal (s. o.), aber das schert ja niemanden, gelt?
Wie solche Leaks zustandekommen, ist ein gutes Rätsel. Steigen Männer mit Masken nachts in Hochsicherheitsstudios ein, klauen Bänder und verscheppern sie an finstere Hehler? Wohl kaum. Lassen hochprominente Mitarbeiter wie Avicii, Diplo, Toby Gad, Natalia Kills, Mozella, Symbolyc One, Alicia Keys, Ryan Tedder in Kneipen und Flugzeugen USB-Sticks liegen? Wer weiß. Und wer verdient an so was? Mutmaßlich: niemand. Das schränkt die Auswahl an Motivationen weitgehend ein: Wichtigtuerei, Menschenfreundlichkeit, denkbar sind auch die unterschiedlichsten Strategien, um im Gespräch zu bleiben oder wieder hineinzukommen.
So oder so: Nach monatelangem Wirrwarr, bei dem Madonna kräftig mitmischte, kursierten Ende November zuerst zwei, dann plötzlich 13 Songs im Internet, flankiert von heftigem Geschrei: Ihr Manager verlangte in „XY“-Manier sachdienliche Hinweise, während die Künstlerin selbst von „Terrorismus“ und „Vergewaltigung“ sprach und verkünden ließ, es handle sich um frühe Demos, bitte nicht anhören! (Wie solches Flehen wirkt, weiß jeder Pädagoge: gegenteilig.) Ende Dezember konnte man das für März geplante Album dann vorbestellen und bekam dabei gleich mal sechs Songs automatisch, als „Weihnachtsgeschenk“. Mehr soll im Februar folgen, der Rest dann eben im März.
Mal anders gefragt: Wem schadet so was eigentlich? Einer der reichsten Frauen der Welt, die ihr „Honorar“ bereits kassiert hat? Hörern, die sich mit unfertigen Sachen die Ohren ruinieren? Oder einer Plattenfirma, die sich für die nächsten drei Monate jeden Promoaufwand sparen kann? Die Los Angeles Times meinte dazu: „Eine komplette Madonna-LP wäre innerhalb weniger Wochen da und wieder weg gewesen.“ Der Wirbel um „Rebel Heart“ hingegen habe „einen seltsam punkigen, vermenschlichenden Effekt auf Madonna – und das pfeilgerade bei einer Platte, die genau das erreichen soll“. In der Tat: So ein Zufall!
Nämlich, das zeigt das, was es bislang gibt, hat Madonna nach Jahren der gequälten Trendhopserei tatsächlich und vollständig den Anschluß an das verloren, was zur Zeit angeblich angesagt ist, und das Ergebnis ist überraschend vielseitig und erfreulich: Neben altmodischen Discosongs ohne große Hooks, angestaubtem 90er-Bonbon-House, einigem antimusikalischen Geräusch-Gimmick-Schrott (vor allem mit Diplo) und Autotune-Daisy-Duck-Overkill zu seelenlosem Leerzippzapp erstaunen die hie und da aufblitzende Souligkeit, Nachdenklichkeit, viele Gitarren und erstaunlich erwachsene Balladen: „Make The Devil Pray“ (mit deutlichen Anleihen bei „House Of The Rising Sun“), „Joan Of Arc“ (wo Madonna an die Debbie Harry der späten 70er erinnert), „Messiah“ (mit großem Orchester knapp an der Kitschgrenze) und der Titelsong, der kompositorisch so stark ist, daß er ohne weiteres aus der großen Zeit von Abba stammen könnte.
Was davon letztlich auf dem landet, was dann das Album ist, ist eigentlich egal. Vielleicht erfahren wir in ein paar Wochen, das ganze Durcheinander sei (wie die LA Times nahelegte) absichtlich inszeniert gewesen, um dem musikalischen Inhalt die treffliche Form zu geben. Da zöge ich dann aber wirklich den Hut.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 18. Februar 2015

Im Regal: Mark Vonnegut "Eden Express - Die Geschichte meines Wahnsinns"

Im Bücherschrank meiner Gartenhütte steht ein weitgehend vergessener Klassiker: John Seymours „Großes Buch vom Leben auf dem Lande – ein Handbuch für Realisten und Träumer“, von dem sich hierzulande eine Generation mittelschichtiger Nazikinder anregen ließ, Landkommunen zu gründen und abseits der kapitalistisch-konsumistischen Tretmühle ein erfülltes Leben samt Selbstversorgung von der eigenen Scholle zu suchen. Letztlich gediehen indes zumeist nur das Haupthaar und diverse Neurosen und Konflikte, und so verlegten sich vermeintliche Realisten wie Träumer darauf, lieber „grüne“ Parteien zu gründen, sich mittels idiotischer Sprachschöpfungen wie „grünes Wachstum“ und „erneuerbare Energien“ mit der ehedem verhaßten Tretmühle zu versöhnen und ihren reibungslosen Weiterlauf selbst zu organisieren.
Mark, der Sohn des 1969 durch den Roman „Slaughterhouse Five“ berühmt gewordenen Schriftstellers Kurt Vonnegut, ist ein typischer Vertreter der entsprechenden US-amerikanischen Bewegung, die jedoch trotz freimütigem Drogenkonsum und gleichfalls überbordender Naivität der deutschen einiges an Realismus voraushatte: Nach dem Schulabschluß (ebenfalls 1969) studierte er zunächst Theologie, entzog sich durch eine „frappierende Schizophrenienummer“ dem Vietnamkrieg, arbeitete kurzzeitig schauspielerisch ebenso überzeugend als Polizeichef einer Klinik und litt zunehmend am Zustand des Menschen in der modernen Zivilisationsmaschine.
Und so beschließt er im Juni 1970 gemeinsam mit seiner Freundin Virginia, in der kanadischen Provinz British Columbia Land zu kaufen und eine Selbstversorgerkommune zu gründen, was zum Erstaunen von Leser und Autor fast traumhaft gut geht und aber nicht lange gutgeht, weil ein Meskalintrip etwas in ihm aufreißt, was nicht mehr zuwachsen will und sich zum Einfallstor einer pfundigen Schizophrenie (die man auch anders bezeichnen kann) weitet. Davon handelt sein Buch im wesentlichen: von den fast vier Jahre dauernden Versuchen, der Krankheit (die diverse Ärzte als hoffnungslos und unheilbar, Mitkommunarden hingegen zunächst als legitime Reaktion auf eine unerträgliche Gesellschaft diagnostizieren) Herr zu werden und sie zu überwinden. Es ist ein bis an die Grenze der Furcht, selbst vom Wahn gepackt zu werden, anrührendes und fesselndes Buch, das nebenbei viel über die Träume und Hoffnungen einer insgesamt ziemlich irren, in ihrer maßlosen Unbedarftheit jedoch auch bezaubernden Generation erzählt und das man jedem Heutigen, dem solche Träume nicht einmal mehr träumbar sind, ans Herz legen sollte – allerdings besser nicht in der schludrigen, bis in die grammatischen Wurzeln hinein kariösen Übersetzung, sondern, wenn möglich, im Original.


geschrieben Ende Juni 2014 für KONKRET


Dienstag, 17. Februar 2015

Belästigungen 03/2015: Was Hänschen nicht lernt, glaubt Hans dann erst recht nicht (und umgekehrt)


Es ist in diesen Tagen so viel von Religion die Rede, daß man nicht umhin kommt, bisweilen darüber zu sinnieren, ganz automatisch, weil das Thema sozusagen von jedem Glockenturm schallt. Ich kann mich dem als Mensch mit Augen und Ohren und einem Gedächtnis kaum entziehen, und da ist mir zum Beispiel eingefallen, daß wir einst einen sehr liebenswerten, leider auch ziemlich cholerischen und bisweilen slapstickmäßig handgreiflichen Religionslehrer hatten, und weil mir der nette Mensch wieder eingefallen ist, habe ich darüber sinniert, was wir bei ihm eigentlich so gelernt haben.
Zum Beispiel hat er uns beigebracht, daß und warum die erwähnten Glockentürme sonntags um zwölf zum „Engel des Herrn“ läuten (ich weiß es nicht mehr) und daß eine Harnröhrenoperation (der er sich damals unterziehen mußte) enorm schmerzhaft und wünschensunwert ist. Mehr fällt mir beim besten Willen nicht mehr ein. Mein Tagebuch aus jener Zeit ist auch nicht sonderlich auskunftsfreudig: Außer dem wiederholten Eintrag „Relix fiel aus“ (Harnröhren-OP?) und umfangreichen Chroniken diverser Blasrohrschlachten ist da lediglich die etwas verschämte Eintragung zu finden, daß besagter Religionslehrer beim ersten Elternsprechtag angab, mich nicht zu kennen (es war halt zu Schuljahresbeginn gerne mal schönes Wetter, besonders am Samstag).
Man könnte den Gesamtkomplex Religionsunterricht zu meiner Zeit somit zusammenfassen: Netter Versuch. Nun haben sich bekanntermaßen die Zeiten geändert, und ein Religionsunterricht alter Machart mit seinem wettbewerbsfeindlichen „Liebe deinen Nächsten“-Geplänkel und ausführlichen Reise- und Abenteuerberichten der „Wandergruppe Bundeslade“ aus dem Morgenland käme höchstens noch als Erholungsprogramm für burnoutgefährdete Zehnjährige in Frage, so zwischendurch, damit sie sich mal eine Dreiviertelstunde lang nicht den Kopf zerbrechen müssen, wie sie am besten fit fürs Ausbeuten werden. Aber Religion muß eben sein, und weil die prägende Religion unserer Tage bekanntermaßen eine andere ist, führt das neoliberale Musterländle Baden-Württemberg demnächst ein neues Schulpflichtfach ein: „Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung“.
Das tut, wie man früher so sagte, not. Denn zwar besteht der Alltag neuerer Generationen schon im Grundschulalter aus kaum noch etwas anderem als „Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung“, und zwar sind defaitistische Parolen vergangener Zeiten von „Kapitalismus ist scheiße“ über „Arbeitet nie!“ und „Am Morgen ein Joint, und der Tag ist dein Freund“ bis „Schluß mit dem Schulterror“ höchstens noch Gegenstand ratloser Deutungsversuche im Geschichtsunterricht.
Aber das reicht halt nicht, weil die Zurichtung des Jungmenschenmaterials bislang offensichtlich noch nicht effektiv genug ausfällt: „Ohne Wirtschaft geht gar nichts!“ grölt der für „Ausbildung“ zuständige Mann der IHK (der Lobbyorganisation der sogenannten „Arbeitgeber“) und bietet in typischer Dreistigkeit gleich noch an, den Drill der Lehrer könne sein Laden gerne übernehmen.
Freilich, schließlich war unser damaliger Religionslehrer ja auch ein Pfarrer. Da läge es doch näher, die Prediger der Wachstumssekte gleich selber in die Schulen zu schicken, anstatt erst noch die Lehrer auf Linie zu bringen – unter denen sich womöglich noch Residuale von altlinken Konsumverweigerern, Bürgerrechtlern, Gesellschaftskritikern und sonstigen Dissidenten verstecken.
Ein milder Vertreter der ewiggestrigen Vernunft meldete sich auch sogleich zu Wort und witterte im neuen Fach einen „eminent politischen Konflikt“: „Es geht“, meint der Bielefelder Wirtschaftssoziologe Reinhold Hedtke, „um das grundsätzliche Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie.“ Das böse K-Wort zum Beispiel solle bei der geplanten „Orientierung“ überhaupt nicht vorkommen; schon gar nicht soll der gesellschafts-, welt- und persönlichkeitszerstörende Prozeß in irgendeiner Weise „hinterfragt“ werden. (Man diskutiert ja auch nicht im christlichen Gottesdienst, wie man grundsätzlich auf so einen Schmarrn wie einen Gott kommen kann.) Vielmehr werden Fragen beleuchtet wie: „Welche Interessen verfolgen Arbeitgeber?“ – und zwar ganz bestimmt ehrlich, kritisch und emanzipatorisch, ähem, so mit „gesellschaftlicher Verantwortung“ und so, ähem ähem. Der Landesschülerbeirat hofft in einer Stellungnahme immerhin, man werde zukünftig lernen, wie man eine Steuererklärung macht.
Übrigens gab es damals auch schon einen Unterricht in „Wirtschaftslehre“. Ich habe allerdings keine Ahnung, ob dort ebenfalls Dogmen, Axiome und Glaubenslehren gedrillt wurden, weil ich nie daran teilgenommen habe – man durfte das als aufgeklärter Siebtkläßler noch selbst entscheiden. Es steht indes zu vermuten, weil die Statistik zeigt: Wer sich dem Schmarrn unterzog, sitzt heute überwiegend an sogenannten „Arbeitsplätzen“ oder in den entsprechenden Verschickungsanstalten herum, läßt sich schikanieren und schaut ab und zu aus dem Fenster nach draußen, wo das Leben unerbittlich an ihm vorbeiläuft. Wer hingegen die Alternative „Kunsterziehung“ wählte … nun ja, der springt weitaus häufiger fröhlich durch die Landschaft, läßt den bösen Ausbeuter einen ebenso guten Mann sein wie den lieben Gott (danke, Herr Bauernschmidt!) und führt nachts am Biertisch lästerliche Reden über den Kapitalismus.
Vielleicht ist das so mit den Religionen: Man darf darüber schon bisweilen sinnieren, aber am besten aus pfundigem Abstand, und unschuldigen Kindern sollte man, bis sie den Unterschied zwischen einem unterdrückerischen Dogma und einem Naturgesetz kennen, lieber von Kirchenglocken, Nächstenliebe und meinetwegen Harnröhren-OPs erzählen. Und vor allem aber davon, daß draußen die Sonne scheint und daß das ganz ohne Wirtschaft geht.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Montag, 16. Februar 2015

Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren) #1: Howler "World of Joy" (2014)


Das Problem mit dem Rock ’n’ Roll besteht darin, daß er so leicht zu imitieren ist, weil die Zutaten so simpel sind: lauter Rhythmus, ein paar noch lautere Melodie- und Harmonieinstrumente, Stimme (die keinerlei fachlich zu bewertende Qualität haben muß) und eine unklare Attitüde von Zorn, Trotz, Verweigerung und Sehnsucht, die sich jeder Ergründung und Definition entzieht. Deshalb sind 99,9 Prozent aller Rock-’n’-Roll-Produkte (Bands, Songs, Konzerte, Tonträger) Imitationen, und 99,9 Prozent aller Musikkonsumenten ist das vollkommen egal, weil sie es nicht bemerken, weil man dafür eine Veranlagung braucht (die man auch als Behinderung verstehen könnte: als Unfähigkeit, etwas anzufangen mit perfekt produzierten Handelswaren, die anderen Menschen viel Freude bereiten), und wenn man es zu erklären versucht, stößt man auf Unverständnis und hat am Ende höchstens eine Authentizitätsdebatte am Hals, die auf die Nullsummenerkenntnis hinausläuft, daß es etwas „Echtes“ gar nicht geben kann.
So war das bei den Rolling Stones, den Sex Pistols, New York Dolls, Stone Roses, Libertines und Palma Violets, ein paar der ultrawenigen „echten“ Rock-’n’-Roll-Bands, und so ist es auch bei Howler, einem 2010 von vier Teenagern in Minneapolis gegründeten klassischen Quartett, von dem wohlmeinende Musikfachleute finden, daß es gelegentlich ein bißchen wie die frühen Strokes, Richard Hell & The Voidoids, Velvet Underground und eine pervertierte, durch den Lärmwolf gedrehte Entartung von Sixties-Psychedelik, Croon-Pop und Ramones-Punk klingt. Näher wagt sich kaum jemand heran, weil man berechtigterweise fürchtet, von dieser Band und ihrer Musik zersetzt, zerhackt, verdreht zu werden.
Auf dem ersten Album „America Give Up“ (2012) entstand aus einer vorgeblichen Retrohaltung (die gar nicht echt sein konnte, weil diese Burschen höchstens noch die Libertines in früher Kindheit erlebt haben) eine Atmosphäre purer, anschlußlos totaler Gegenwart; auf dem zweiten ist es ungefähr umgekehrt: Radikaler Futurismus gebiert eine unwirkliche, anderweltliche Version der Mittsechziger, die sich vom „Original“ auch dadurch unterscheidet, daß sie wesentlich härter, direkter und klüger ist – eine Art Popmusik für das 22. Jahrhundert, wie man sie sich 1967 erträumt haben könnte.
Die „Behinderung“ funktioniert auch anders herum: Einem Großteil der Menschheit wird diese Musik störend bis unerträglich, wüst, brutal, gefährlich, unzugänglich bis „falsch“ erscheinen. So wie das zumindest anfangs auch bei den Rolling Stones, Velvet Underground, Sex Pistols, New York Dolls, Libertines und Palma Violets war. Einer winzigen Minderheit wird sie das unwiderstehliche Gefühl einflößen, ein 19jähriger Straßenrabauke zu sein, und das Verlangen, auf der Stelle eine Band zu gründen.
Ähnlich wie bei den New York Dolls (mit denen Howler die Liebe zu Girlgroups wie den Shangri-Las teilen) enthielt das Debüt die Hits, nun kommen die extremeren Sachen, Experimente und Entgleisungen. Da aber beide Platten zusammen vorbildlicherweise nicht mal eine Stunde dauern, empfiehlt es sich, sie als ein Album zu betrachten und zu den erwähnten 0,01 Prozent zu zählen, auf denen einfach alles stimmt, jede Melodie, jeder Akkord und Break, jede Textzeile. „We belong to nothing and nothing belongs to us“: Dies ist weder Garagenrock noch Punk, weder Revival noch Trendsetting; es ist Rock ’n’ Roll – große, maßlos große Popmusik, so maßlos und groß, daß sie den Horizont verschlingt und die Welt zerstören wird. Aus rein romantischen Gründen: damit dieser Sommer ewig dauert.


geschrieben Anfang Mai 2014 für KONKRET


Freitag, 13. Februar 2015

Im Regal: Jonathan Coe "Liebesgrüße aus Brüssel"

Es ist zweifellos eines der seltsamsten Gebäude, die auf dieser Welt herumstehen: das Atomium in Brüssel, zur ersten Nachkriegsweltausstellung 1958 errichtet als alles überragendes Symbol für die alles überragende Bedeutung der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“, die als ideologischer Überbau und Popanz für die totale Technisierung irdischen Lebens herhalten mußte.
Aus heutiger Sicht bietet diese krause Veranstaltung das halkyonische Bild einer putzigen Idylle im „Kalten“ Krieg während der sogenannten „Tauwetterperiode“. Mit dem Zweiten Weltkrieg im Rücken und einer suizidal anmutenden Begeisterung für atomare Vernichtung (aus Motiven, die sich heute weder erklären noch nachvollziehen lassen) als Dauergrusel im Hinterkopf mag es verständlich wirken, daß man die wirre, lebensgefährliche Gegenwart und den mörderischen Abgrund der jüngeren Vergangenheit lieber ausblendete und sich euphorisch dem rückhaltlosen Zukunftswahn ergab, der heute noch als Echo aus jedem Politikergequassel herausschallt. Den Wettkampf der Massentötungstechnologien zum Mühen um das Wohl der Menschheit umzudeuten, war freilich reiner Irrwitz, aber zumindest psychologisch möglicherweise erklärbar.
So tummelte man sich in Brüssel in Hybris und propagandistischem Sonnenschein. Manch einer war davon natürlicherweise überfordert; architektonische Sperenzchen sorgten für Verwunderung und Empörung, das Treiben der Funktionäre und Spione lieferte den begleitenden Komödienstadel, und der Wettstreit der technologischen Schamanen führte in diverse Fettnäpfe. So verschwand etwa das Modell des britischen ZETA-Kernfusionsreaktors sang- und klanglos aus der Ausstellung, nachdem sich der mit Pomp und Gloria umjubelte Durchbruch in der Energiegewinnung als ziemlich doofer Irrtum erwiesen hatte. Aber es blamierten sich nicht nur die Ingenieure: Das nachgebaute „Eingeborenendorf“, das den Alltag im Kongo und die segensreiche Fürsorge der belgischen Kolonialmacht zeigen sollte, wurde geschlossen, weil die als Darsteller engagierten Originalneger dagegen protestierten, von Besuchern gefüttert zu werden.
Jonathan Coe, der ebenso wütend witzig (etwa in „What A Carve Up!“ über die Ära des britischen Wirtschaftsfaschismus unter Margaret Thatcher) wie tieftraurig bewegend (in „The Rain Before It Falls“) erzählen kann und in dem Meisterwerk „The Terrible Privacy Of Maxwell Sim“ beide Stärken verband, erzählt diesen eigentümlichen Karneval, diese seltsame Mischung aus James Bond, „Das Neue Universum“ und Tim & Struppi in seiner Multivalenz und rührend naiven Komik bis ins kleinste Detail originalgetreu nach, genauestens recherchiert und (unter Rückgriff auf zeittypische Scherzchen) beherzt ironisiert, und das Bild, das sich dem Leser bietet, ist so überzeugend, daß einen fast der Verdacht beschleichen möchte, hier werde eine abscheuliche Phase der Geschichte fahrlässig verharmlost. Dahinter könnte jedoch wohlüberlegte Absicht stecken: War das ganze Gewese um den „Kampf der Systeme“ zwischen Ost- und Westblock, der aufgebauschte ideologische Firlefanz, der die Gier nach Macht, Öl und Geld „philosophisch“ verbrämen sollte, nicht im Grunde ein lächerliches Theater? Es lohnt sich, darüber zumindest mal nachzudenken.
„Expo 58“ (der deutsche Titel plüscht den Bond-Bezug etwas zu sehr auf, wie auch in der Übersetzung manch hübsches Spielchen nur als holzige Nachschnitzung überlebt) erzählt aber noch eine andere, eigene Geschichte, und die ist problematischer: Thomas Foley, ein in jeder Hinsicht harmloser Angestellter des „Zentralen Informationsbüros“ (der 2011 aufgelösten staatlichen britischen Werbeagentur), erhält den Auftrag, sich um einen dem Expo-Pavillon seines Landes angeschlossenen „traditionellen“ Pub zu „kümmern“. Der weltläufig-modernistische Trubel reißt ihn aus seinem gewohnten Lebensrahmen zwischen Arbeit, etwas fader Ehe samt kleiner Tochter und Nachbarschaftsgeplänkel; er verknallt sich vage in die erst(best)e Messehosteß, bekommt es mit zwei deutlich an Hergés Schulze und Schultze erinnernden Agenten, einem vermeintlichen sowjetischen Spion und anderem Genrepersonal zu tun, sucht die Heimat seiner vor den Nazis aus Belgien geflohenen Mutter, treibt sich mangels definierter Tätigkeit in der Gegend herum und ruiniert – man ahnt es – seine Ehe. All dies geschieht dem unbedarften Mann, der sich gleichwohl für einiges hält (wenn auch nicht viel), ohne daß er es ahnt, bemerkt, begreift; seine Irrtümer und Wirrungen sind manchmal nachvollziehbar, manchmal so haarsträubend, daß man ihn an der Hand nehmen und gewaltsam am falschen Abbiegen hindern möchte. Und dann: ist sein Job vorbei, die Chance (welche auch immer) vertan, ein unklarer Reifeprozeß ohne greifbares Ergebnis abgeschlossen; es beginnt ein anderes Leben, das sich über höhepunktlose Jahrzehnte und ein kurzes, ultralakonisches Schlußkapitel zieht, in dem es zu einer letzten Begegnung mit einer Randfigur der Episode kommt, die Thomas Foleys ganzes Leben war oder hätte sein können, sollen. Aber da – es schmerzt beim Lesen – ist alles längst zu spät und vorbei und nichts mehr zu retten.
Diese Geschichte von Unbeholfenheit und Überforderung, falschen Einschätzungen und vertanen Gelegenheiten könnte man als Parabel auf die Menschheit der Jahre um 1958 lesen, als Sinnbild der Lächerlichkeit all dessen, was ihnen so wichtig, klar, groß, erhaben, heilig und schrecklich erschien. Aber diesen Sack kann Foley nicht tragen; dafür ist er schlicht zu kontur- und harmlos, zu wenig greifbar: Es gelingt nur an ganz wenigen Stellen, mit ihm zu sympathisieren und zu leiden, im Grunde ist und bleibt er einfach ein Depp.
Vielleicht gehört auch das – die Reduktion eines ganzen Lebens und seiner Epoche zur luftigen Farce – zum literarischen Plan von Jonathan Coe: Wie auch immer man’s dreht, wendet, auflädt und mit Bedeutung zu füllen sucht, es ist am Ende doch alles nichts und vergebens und die ganze Weltgeschichtshuberei ein einziger Schmarrn. Das aber wäre nichts Neues und wenig originell, und so recht mag das Buch auch das nicht tragen; es bleibt ein putziges Genrebild von (durchaus liebenswert) nostalgischem Witz (zwischen Wodehouse, Lodge und britischem TV-Kabarett vor Monty Python), ohne viel Gewicht, ein flüchtig-amüsanter Zeitvertreib für zwei Sommernachmittage.
Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß man vielleicht gerade wegen der scheinbaren Ungreifbarkeit und Oberflächlichkeit des Romans länger über ihn nachdenkt als selbst über „Der Regen, bevor er fällt“, daß man recherchiert und blättert und wühlt in Büchern und Internetarchiven über die Expo 58 und ihre merkwürdige Zeit, und dann betrachtet man ratlos das absurde Atomium und begreift noch weniger als Thomas Foley.
So, Herr Coe, und jetzt verraten Sie uns bitte, was das alles soll.


geschrieben Anfang Mai 2014 für KONKRET


Donnerstag, 12. Februar 2015

Frisch gepreßt #331: Robbie Williams „Under The Radar Vol. 1“


Es soll ja sogar vorkommen, daß Songs nach einem Zuhause schreien. Weil bei Robbie Williams bekanntermaßen alles vorkommen kann, was irgendwie absurd und ein bisserl deppert, gerade deswegen aber so hinreißend komisch ist. Jetzt haben also 14 Songs nach einem Zuhause geschrien, und Robbie hat ihnen eines gegeben, ist schließlich bald Weihnachten, da kriegt man ein weiches Herz, wenn man nicht sowieso eines hat, was in diesem Fall kaum umstreitbar ist. Weil er nun mal Robbie ist, hat er dazu eine Grimasse geschnitten, sich selbst mit nacktem Hintern auf der Straße photographiert und der Musikindustrie den Mittelfinger gezeigt: Die verdient hieran keinen Pfennig und grummelt deswegen beleidigt und hat sogleich verkündet, ein solches Album habe in ihren Charts überhaupt nichts verloren, weil man es an den offiziellen Zählkassen nicht bezahlen kann.
Es sind ja auch nur „Demos, B-Seiten und anderweitig unveröffentlichte Songs“, gelt, also praktisch gar kein „echtes“ Album, gelt. Es ist aber andererseits das beste und schönste Nicht-„Swing“-Album, das Robbie seit gefühlt dreizehn Jahren gemacht hat, weshalb sein Songwritingpartner Guy Chambers ihn hinterher anrief und einen Volltrottel schalt, weil er so was einfach so wegschmeißt. Hilft nichts, Robbie ist nun mal ein Kindskopf, der muß das machen. Der muß wundervolle Hits wie „Bullet“, „Greenlight“, „National Treasure“, das plastikfunkige „The Pilot“ und das umwerfend unpeinlich pathetische „Love Is You“ einfach mal so hinaushauen, weil sie auf seiner Festplatte herumdümpeln und er nachts nichts zu tun und einen Internetanschluß hat. Und dann dreht er der Welt noch mal eine Nase und verschiebt den kindischen Coup (mit dem er eigentlich auch mit Take That um die Spitze der Charts rangeln wollte, aber siehe oben) um eine Woche und noch mal eine Woche, weil er halt grad so drauf ist.
Warum jedoch, fragen wir uns, waren diese Songs nicht längst auf einem Album drauf? Weil „Take The Crown“ dafür zu bemüht schlapp und plastikmodern war? Weil „Bully“ ein Stückerl zu böse, gemein und rachsüchtig ist, um im Drogeriemarkt neben dem Meerschweinchenfutter gestapelt zu werden? Weil in „Super Tony“ ein bißchen zu deutlich „Co-caine!“ zu hören ist? Weil „The BRITS“ als Tagebuchnotiz etwas zu deutlich und persönlich und unverstellt ist? Weil der Bursche sich ums Verrecken nicht verstellen kann und deshalb allüberall Anspielungen und Andeutungen auf und von seiner bipolaren Störung, seinen Süchten, Albernheiten, seiner klinischen Lethargie, seiner idiotischen Jugend und anderem Wahnwitz den Stromlinienglanz mehr würzen als stören? Weil man solche Bubenstreiche einfach nicht macht in diesem Geschäft, auch wenn man hundert Millionen Platten verkauft hat und der erfolgreichste britische Solokünstler aller Zeiten ist?
Ach, wir müssen uns so was gar nicht fragen. Wir fragen uns auch nicht, weshalb der Song („Run It Wild“), den Robbie als Paradebeispiel für seine unveröffentlichten Juwelen ins Spiel brachte, die unbedingt rausmüssen, gar nicht auf dem Album ist und weshalb in den Ankündigungen immer von „B-Seiten“ die Rede ist, obwohl kein einziger Track auf „Under The Radar“ jemals als B-Seite erschienen ist. Reißen wir uns lieber das Hemd auf, wenn wir „All Climb On“ mitgrölen und uns wieder so unschlagbar, ewig und grenzenlos fühlen wie 2001, als „Escapology“ der Soundtrack von Millionen Leben war; fragen wir uns statt dessen lieber, was Bruce Springsteen, Michael Stipe und Public Image Ltd. hiermit zu tun haben (es gibt dazu ein Video) und wieso Robbie, wenn er von solchen Sachen erzählt, manchmal aussieht wie Morrissey.
Das ist das Schöne an Mister Williams’ unüberwindbarer Unmittelbarkeit: Man kommt ihr nie ganz auf den Grund; man amüsiert sich, während man verarscht wird, und man fühlt sich auf unergründliche Weise zu Hause.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 11. Februar 2015

Im Regal: Gabriele Goettle "Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems"

Das Sozialsystem (nicht nur, aber tatsächlich ganz besonders) unseres Landes ist ein Tummelplatz für Idioten: nützliche Idioten wie Politiker, Ärzte und Funktionäre, die in ihrer kollektiven Verblödung den Befehlen und Verlockungen einer wahnsinnig gewordenen Lobbymafia verfallen, und zynische Idioten, die angesichts der unfaßbaren, mörderischen Zustände und Vorgänge die Arme verschränken – ja nun! So ist er eben, der Kapitalismus, gelt? – und mit arrogantem Balkongrinsen auf die theoretische Bibliothek verweisen, der das alles doch seit Jahrzehnten, Jahrhunderten zu entnehmen sei; q. e. d. Damit solle man sich halt mal beschäftigen, dann werde man das schon kapieren, und ändern könne man das nur, wenn man grundsätzlich alles ändere.
Es geht im Sozial- und Gesundheitssystem aber nicht darum, irgend etwas herzuleiten, abzuleiten, zu durchdringen und dozieren zu können; sondern es geht wenigstens vordringlich darum, in frustrierender Sisyphos-Ameisenarbeit den politisch gewollten oder zumindest in Kauf genommenen Beschiß und (so übertrieben das klingen mag) Massenmord zu bremsen, der seit den „Reformen“ der Schröder/Fischer-Bande ein Ausmaß angenommen hat, das jedem, der davon in Einzelheiten erfährt, die Haare zu Berge stehen läßt.
Ja: der davon erfährt, denn das tut man selbstverständlich nicht so ohne weiteres. Offizielle Verlautbarungen zu diesem Themenbereich sind per se und grundsätzlich Lügen, systematisch, ausnahmslos und von derart schamloser Billigkeit und Durchschaubarkeit, daß ihre flächendeckende Wirkung kaum verwundert: Wer da auch nur einen Hauch von Zweifel hegt und äußert, muß das Corpus der „Informationen“ und die geltende Ideologie samt und sonders in Frage stellen und sich somit zwangsläufig als „Verschwörungstheoretiker“ outen. Oder eben als Verschwörungspraktiker, denn was sich da tut, ähnelt nicht etwa einer Verschwörung, sondern IST eine – eine informelle, sozusagen „natürlich“ gewachsene Verschwörung von Individuen und Kollektiven, die sich an Arbeit, Vermögen, Gesundheit und Leben anderer bereichern, einfach weil es die Möglichkeit dazu gibt und sie die Möglichkeit haben, diese Möglichkeit im Rahmen ihrer beruflichen, amtlichen und politischen „Verantwortung“ auszuweiten.
Das zum Beispiel ist banal und jeder weiß es: Deutschland wird überwiegend von Beamten regiert und verwaltet; das gilt auch für die Rentenversicherung, und das heißt, daß eine Kaste von – eben – Verschworenen eine Kasse, in die diese (im Gegensatz zu sämtlichen anderen Ländern in Europa) selbst nicht einzahlen, unter Kontrolle hat und damit tun kann, was sie will, buchstäblich. Stellte man (nur mal so) die Frage, wieso Aufkauf und Verramschung der DDR nicht aus der „Pensionskasse“ der Beamten (die nicht aus Beiträgen, sondern aus Steuern besteht) oder den „privaten“ Krankenversicherungen finanziert wurde und wird, müßte man sich zweifellos für verrückt erklären lassen: Weshalb sollten Beamte und Unternehmer für eine derart gigantische weltgeschichtliche Geldvernichtungsorgie aufkommen?
Bei den Rentenversicherten fragt niemand. Daß die bezahlen, ist selbstverständlich: Sie haben das ja nicht zu bestimmen und können nichts daran ändern, und schließlich haben sie diejenigen, die so etwas beschließen, selbst „gewählt“ (d. h.: auf vorfabrizierten Listen angekreuzt oder auch nicht, was nichts ausmacht). Über einen derartigen Skandal darf man nicht zu genau nachdenken, weil man sonst den Verstand verliert, und deshalb tut das niemand.
Doch, manche tun es: Otto Teufel (der Bruder des neuerdings postum als antisemitischer Mörder diffamierten Fritz) zum Beispiel klagt seit vielen Jahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen Mißbrauch, Betrug und Diebstahl im Rentensystem, ist dadurch notgedrungen zum herausragenden Experten geworden und weiß sehr genau, was hinter den Lügenparolen der Regierungen und Lobbyisten steckt: „Wir leiden nicht unter einem demografischen Problem, wir leiden unter einer wirtschaftspolitischen Elite, die sich bereichert auf unsere Kosten.“ Das ist nicht Blabla und kein Populismus, sondern das kann er erläutern, der Herr Teufel, und zwar bis ins kleinste Detail, und nicht nur er (wie die Demographielüge genau funktioniert, erläutert der Statistikprofessor Gerd Bosbach). Und es geht dabei nicht um üblicherweise eingestandene „Tricksereien“, sondern: um Verbrechen. Und die, die dahinterstecken, haben Namen: Rürup, Miegel, Raffelhüschen, Riester, Schröder, Maschmeyer, Clement, Lauterbach zum Beispiel.
Teufels ehemaliger Vorgesetzter Horst Morgan hat sich ein verwandtes, ebenso skandalöses  Thema vorgenommen: das „Alterseinkünftegesetz“ von 2004 zur Besteuerung von Renten, beruhend auf einem (wie Morgan aufzeigt, durch und durch fehlerhaften) Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den Empfehlungen einer „Sachverständigenkommission“ (unter Vorsitz von Bert Rürup, s. o.). Timo Lange kämpft mit LobbyControl gegen die alles durchdringende gesetzgeberische Macht von Industrie und Kapital; auch er kennt und benennt Strukturen und Namen. Christoph Butterwege erläutert die Zerstörung des Sozialstaats durch die Hartz-Gesetze und deren gewollt katastrophale Auswirkungen auf die Vermögensverteilung. Jenny De la Torre Castro kümmert sich um die medizinische Versorgung von Opfern dieser (wiederum:) Verbrechen, ebenso wie der Augenarzt Hans-Walter Roth. Susanne Neumann weiß als Putzfrau und zornige Gewerkschafterin, was für eine Sauerei die rot-grüne Regierung mit ihren Leiharbeitsgesetzen angerichtet hat – und aus welchen Motiven: Schließlich war es der „arrogante Schweinepriester“ Wolfgang Clement (den sie in einer Fernseh-Talkshow bloßstellen durfte), der diese Gesetze erst durchdrückte und dann in den Aufsichtsrat einer der größten Leihsklavereifirmen der Welt rutschte. Um selbigen Clement, anläßlich seiner rassistischen ministeriellen Hetze gegen „Parasiten“ (vergeblich) wegen Volksverhetzung angezeigt, geht es unter anderem Wilhelm Heitmeyer in seiner Forschungsarbeit zu Rechtspopulismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und autoritäre Aggression, der die weltweit größte Studie zu Ausmaß, Entwicklung und Ursachen negativer Vorurteile entsprang. Gisela Notz berichtet von Mißbrauch und Ausbeutung ehrenamtlicher Tätigkeit, die Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake über die tödlichen Auswirkungen der Atomwirtschaft und deren systematische Vertuschung, Richard Fuchs von den wahnwitzigen Methoden der Transplantationsindustrie, der es sogar gelungen ist, den Tod neu zu definieren – um mit dem „Hirntod“ als Vorwand lebende Menschen buchstäblich ausschlachten zu können. Peter Tinnemann und Renate Hartwig mühen sich gegen die ebenfalls regelrecht mörderischen Machenschaften im Zuge des wettbewerbs- und dienstleistungsideologischen Umbaus des Gesundheitssystems, der Medizinhistoriker Gerhard Baader zeigt Historie und Widersprüche der Debatte um „Sterbehilfe“ sowie Parallelen zwischen der NS-Euthanasie und der heute sich durchsetzenden „Eugenik in Form einer scheinautonomen Nachfrage“. Und immer wieder findet man sich beim Lesen dieser Schilderungen sprach- und fassungslos, kopfschüttelnd vor Horror, Wut und simpler Einsicht.
Das liegt (auch) daran, daß Gabriele Goettle ihre „Kandidaten“ einfach sprechen läßt, nur hier und da behutsam eingreift, ein paar nüchterne Bemerkungen in Klammern dazwischenschiebt. Daß sie indes vor allem weiß, wen man fragen muß, und ihr persönliches Engagement bei aller Zurückhaltung nicht verbirgt, macht ihre Reportagen seit vielen Jahren einzigartig und unschätzbar wertvoll – und bezeugt nebenbei die Verwahrlosung des deutschen Medienbetriebs, auch der zum neoliberalen Halligalli-Juxblättchen verkommenen taz, aus der sie immer weiter herausragen.
Freilich ist es paradox und mindestens fragwürdig, ein grundsätzlich falsches System gegen seine Nutznießer zu verteidigen. Ein Umsturz der bestehenden Verhältnisse ist jedoch auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, und so bleibt, da es um die Gesundheit, die Würde und das Leben von Menschen geht, kaum etwas anderes übrig. „Es ist leider auch offensichtlich, daß die Leute nicht merken, wie sie betrogen werden“, sagt Otto Teufel. Ist es, leider. Vielleicht könnte dieses Buch daran etwas ändern. Man sollte es in Millionenauflagen drucken und in Schulen, Krankenhäusern und „Arbeitsagenturen“ verteilen.


geschrieben Anfang 2014 für KONKRET


Dienstag, 10. Februar 2015

Frisch gepreßt #330: She & Him "Classics"


Dies ist ein Notfall. Seit Wochen sitzt der Sailer in seinem Kämmerlein, dröhnt sich mit den weltvernichterischen Hymnen der österreichischen Band Wanda die Hirnrinde weg und wird immer grauhäutiger. Das kann nicht so weitergehen! Wir brauchen dringend Remedur!
„Hm, da ist guter Rat teuer. Zeigt er sich insgesamt zugänglich?“
Eher nicht. Alles sei vergänglich, behauptet er vielmehr, und Popmusik ohnehin nur ein Lidschlag in den Äonen menschlichen Unglücks und Ungeschicks. Da helfe nichts und sei es drum allemal besser, sich dem Wälzen des allrüden Schicksals zu ergeben und das allsamte Ende zu gewahren. Lebkuchen lehnt er ab.
„Das ist mißlich. Glühwein ebenfalls?“
Auch diesen. Was nötig wäre, wäre ein grundmusikalischer Theriak, in dem alles enthalten ist, was selbst in Schwerkriegszeiten und im tiefsten nostalgoiden Abyssos der Sehnsucht die Stimmung aufhellt. Also etwa eine Tinktur aus Maxine Brown, Carole King, Rod Stewart, Ella Fitzgerald, Louis Armstrong, Cannonball Adderley, Billie Holiday, Frank Sinatra, Doris Day, Dean Martin, Stan Getz, Frankie Laine, Ben Webster, Johnny Mathis, Bing Crosby, Burt Bacharach, Herb Alpert, Sandy Shaw, Dusty Springfield, Charles Aznavour, Paul Anka, Count Basie, Sammy Davis Jr., Brenda Lee, Sonny & Cher, Marvin Gaye, Dinah Washington, Brian Wilson, Oscar Peterson, Chet Baker, Roy Hamilton, Cliff Richard, Roy Orbison, Leo Sayer, Vera Lynn, Benny Goodman …
„Holla! Alles in einem? Das wird schwer.“
Im Grunde wohl; indes kommt die Rettung möglicherweise aus Los Angeles, aus dem sonnigen kalifornischen Orangenland, wo man im offenen Antik-DeSoto die Küste entlangbraust und das milde Sonnenglitzern die Seele streichelt, mögen anderswo auch Atombomben detonieren. Dorten nämlich trafen sich – selbstverständlich in einem Hollywoodstudio – dereinst die Schauspielerin Zooey Deschanel und der in untergründigen Kreisen bereits gründlich gesalbte Songwriter M. Ward, um ein Duett zu singen, und entdeckten dabei, daß beide über die Maßen entzückt waren und wurden von allem, was George Martin, Phil Spector und der mythische Ralph Peer je produziert hatten. Weil es wärmt, heilt und gut tut, insgesamt und sonders.
„Oh!“
Es stellte sich sodann sogar heraus, daß Zooey einen ganzen Wandschrank voller Songs geschrieben hatte, jedoch zu scheu und bescheiden war, sie je aufzunehmen. Und es stellte sich des weiteren heraus, daß selbige Songs, einmal aufgenommen, einen extrem weichen Punkt der gesamtamerikanischen Seele trafen: Drei Alben auf Platz eins der US-Folkcharts, das ist, um im Jargon zu verweilen, kein Pappenstiel.
„Ja nun. Aber die wird er doch kennen, der Verhärmte?“
Mag sein. Aber sicherlich hatte er in seinem tränenreichen Refugium noch nicht Gelegenheit, das neue Album zu hören, auf dem die beiden mit Großorchesterbegleitung ausschließlich Klassiker covern, und zwar solche aus Zeiten, als Rosa noch rosa und Hellblau noch hellblau und die Horizonte eine strahlende Verheißung waren, als Flippers glitzernde Rückenflosse den heimeligen Ozean schnitt und Naivität die Bürde kleiner Menschen trug wie Fury seinen Reiter.
„Dies klingt aussichtsreich. Aber wird er sie hören wollen, die Botschaft?“
Dies wird er müssen. Nämlich ist ihm eine Ironie zu eigen, die in ihrer durchaus tiefen Schwärze jener des Filmregisseurs Stanley Kubrick ähnelt, der dazumal seinen wundervoll weltuntergängerischen Klassiker „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ mit dem unwiderstehlich tröstlichen Lied „We’ll Meet Again“ ausklingen und dabei den Planeten in Atompilzen zerblippen ließ. Mit selbigem, minus Pilze, endet auch dieses Album. Widerstehen kann dem niemand.
„Pst! Ich glaube, die Tür öffnet sich. Und war da ein erlöstes Seufzen zu vernehmen?“


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Montag, 9. Februar 2015

Im Regal: Raffael Chirbes "Am Ufer" (2014)

Wenn es ein Symbol der sogenannten „Krise“ gibt, die in Südeuropa wie ein sozialer Tornado wütet und ja vielleicht – wenn man den Menschen und somit auch den von ihm entfesselten kapitalistischen Prozeß von Wachstum und Vernichtung zur Natur rechnet – tatsächlich die „Naturkatastrophe“ ist, als die sie beschämte Apologeten erscheinen lassen möchten, dann sind das die Betonskelette ungeborener Häuser, die seit Jahrzehnten in zunehmender Dichte die Küsten des Mittelmeers säumen. Auch auf dem Titel dieses Buchs ist ein solches sinnloses Monstrum zu sehen, hingestellt in der Hoffnung auf Geld und unfertig stehengelassen, nachdem das Geld dorthin verschafft war, wo es hingehört.
Spanien, wir wissen es, ist ein Hauptlabor der „Krise“, wo fast niemand mehr arbeitet und die wenigsten noch etwas haben (die dafür um so mehr), wo man klagt und leidet, protestiert und mit immer brutaleren Mitteln weiterhin Geld zu Geld umverteilt. Davon erzählt Rafael Chirbes: von der Abwicklung des Lebens der nicht mehr Brauch- und Auspumpbaren, aber auch der Kleinprofiteure, denen – allesamt infiziert vom neoliberalen Bazillus mit sämtlichen Symptomen (Gier, Egoismus, quasireligiöse Verblendung, Zynismus) – am Ende nichts bleibt als die Einsicht, keine Seele zu haben: „Jetzt müssen wir das Leben leben, das nach dem Leben kommt“, auf diese oder jene, endgültige Weise.
„Am Ufer“ ist weniger Kunst- als Bergwerk; ein Roman von überbordender Wortgewalt, der den Leser regelrecht überflutet mit Empfindungen, Einschätzungen und Erinnerungen; ein Buch, das offenbar seinen Autor selbst überschwemmt hat: Dessen Sprachmacht kapituliert vor dem Furor der Stimmen und gibt nur noch wieder – wer gerade spricht (und zunehmend auch: wovon), ist schwer zu unterscheiden, passieren tut fast nichts (logischerweise: es ist ja alles schon passiert und geht nun zu Ende). Das entstehende Bild vom seelischen Zustand der Menschen, die all das seit den frühen Achtzigern herbei- und ausgeführt haben, ist der in seiner nihilistischen Konsequenz beeindruckende und deprimierende Lohn einer Lesearbeit, die man nicht unterbrechen sollte, weil man sonst vollends Faden und Interesse verliert.
Am Ende bleibt nur die Frage, wem der Autor all dies mitteilen möchte: den „Mittelschicht“-Millionären, die von der Krise ansonsten nur mitkriegen, daß Rotwein und Crevetten teurer werden und ihr Aktiendepot auf wundersame Weise seit 2008 seinen „Wert“ verdoppelt hat, und deren Monopolfeuilleton und „Kultur“-Betrieb „Am Ufer“ vielleicht gerade deshalb zum „Roman des Jahres“ gewählt hat, weil man sich am Kaminfeuer so schön daran gruseln und hinterher schwer betroffen von den „Werten Europas“ sabbeln kann? den neuneinhalb Bevölkerungszehnteln, die jede Seite davon in eigener Version täglich erleiden und deshalb in den Höllenschlund des Fernsehens flüchten? oder pseudolinken Theoriedilettanten, die das alles irgendwie schon immer gewußt haben und Resignation und Frust über ihre Marginalisierung wahlweise als „Ecce homo!“-Gepranger oder unterschwellig rassistische Tiraden gegen „Kloakennostalgiker“ in die vermeintliche Welt plärren?
Schwer zu sagen. Vielleicht mußte das Buch einfach geschrieben werden, wie eine Lava hinaus muß aus dem Vulkan, damit er nicht platzt.


geschrieben Anfang Februar 2014 für KONKRET


Sonntag, 8. Februar 2015

Frisch gepreßt #329: Bryan Ferry "Avonmore"


Contenance, die vornehm blasse Cousine, ist das distanzierteste Mitglied der Großfamilie Elegance, die schon insgesamt nicht übermäßig sociable ist und das smoothe, reclusive Countryside-Leben allemal dem nervösen Treiben in den irdischen Metropolen der Mittelmäßigkeit und Betriebsamkeit vorzieht. Von der Contenance erzählt man sich beispielsweise folgende Anekdote:
Am 29. Dezember 2000 saß sie in einem Flugzeug, das sie von London nach Nairobi tragen sollte, als ein geistig verwirrter Mensch das Cockpit erstürmte, das Steuerruder ergriff und herumriß, woraufhin es zum Handgemenge kam und das Flugzeug, ruckartig aus seiner Bahn gerissen, ein wildes Hin und Her von unkontrolliertem Sturz und Zickzackkurs vollzog, in dessen Verlauf mehrere Passagiere Verletzungen erlitten und eine Stewardess sich einen Knöchel brach. Ein fataler Absturz schien unvermeidlich; inmitten der Panik und des wilden Verzweiflungsgebrülls aber saß Contenance und wies in aller Seelenruhe einen ihrer Söhne zurecht, weil der sich in unangemessener Wortwahl äußerte.
Da die Contenance stets unter Camouflage reist, wählte sie in diesem Fall wieder einmal das Alias Bryan Ferry; der Name, man weiß es, steht verkörpernd für die Gesamtfamilie Elegance, weist aber noch weitere Konnotationen auf: Man verbindet ihn mit der Stimme der stilvollen Verlassenen, der unsterblichen romantischen Allegorie, des ungebrochenen Gebrochenen, der in seiner epochalen Einsamkeit die welke Rose hütet, die einst dem romantischen Ideal weltferner, ewiger und reiner Liebe entblühte.
Diese Stimme ist berühmt dafür, daß sie in über die Jahrzehnte schwindender Körperlichkeit über den mondänen Rhythmen diesseitiger Jenseitigkeit schwebt, mühelos changierend zwischen der Hysterie entfesselter Feste mit Melchisedech und blauem Pool, der weltfernen Sehnsucht aus der Zeit gestürzter Ideal-20er und der strahlenden Gräue mythischen Einzelseins. Sie nimmt den Schmerz derer auf, die in Tränen zerfließen, wenn ein neuer Herbst die alten Rituale bringt und wieder einmal ein Mensch davongeht, um sich den Mechanismen modernen Wimmelns zu ergeben.
So verzauberte Bryan Ferry die Welt mit Musik, von den souverän wahnwitzigen Sturzflügen der frühen Roxy-Jahre bis hin zu den fast nicht mehr wahrnehmbaren elektronischen Zitterklängen des diamantenen Zeitalters, die ohne seine Stimme zum blasierten Nichts zerblippt wären, von honigsüß träumender Nostalgie bis zum makellos schimmernden Fernfuturismus.
Fühlende Menschen unserer Epoche, der Elegance als Ideal zugeneigt, tragen diese Stimme in sich, folgten und folgen ihr durch die Dekaden, seit „Virginia Plain“ und „Song For Europe“, fanden noch im neblig-entseelten Perfektionismus der mittleren 80er bis 90er einen Hauch der Essenz, baden in tiefblauen Stunden in der Unfaßbarkeit des aller Zeit enthobenen Wunderwerks „As Time Goes By“, lassen sich noch beim tausendsten Hören die Haare aufstellen von der Reconciliation mit dem Welten fernen Seelen- und Herzensbruder Brian Eno („I Thought“, 2002).
Und sie werden mit einer leichten Geste darüber hinwegsehen, daß auf dem vierzehnten Soloalbum, das den Namen Bryan Ferry trägt, manches an die erhabene Leere von „Avalon“ (von demselben Rhett Davies produziert) erinnert, manch ein rhythmisches Fundament wie ein Aluminiumteppich wirkt und die edlen Mitmusiker – nennen wir Nile Rodgers, Marcus Miller, Maceo Parker, Mark Knopfler und Johnny Marr – bisweilen wie Schlafwandler durch die Kulissen tänzeln. Schließlich ist es die Stimme, die zählt, die – mittlerweile stellenweise fast bis zum Hauch skelettiert – immer noch alles trägt und nimmt, was das Leben schwer zu machen trachtet.
Und spätestens wenn Ferry in „Lost“ mit manikürtem Kleinfinger „Dance Away“ andeutet, Steven Sondheims millionenfach gecovertes „Send In The Clowns“ ins Gewand einer absurd-fragilen Seiltanzhymne hüllt und Robert Palmers „Johnny & Mary“ zum Sinnbild menschlicher Vergeblichkeit reduziert, wagen sie ein Lächeln: Da ist sie wieder, die Contenance im Angesicht aller Abgründe.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Samstag, 7. Februar 2015

Frisch gepreßt #328: Led Zeppelin „Houses Of The Holy (Remastered Deluxe Edition)“


1973 war ein merkwürdiges Jahr, eine grenzwertig pubertäre Mischung aus Exzeß und Psychose, aus deliriös betrunkenem Sex auf dem Hochseil und dem tiefsten Abgrund verkaterter Heuldepression. Sogar Slade, die Knallfroschabteilung der gerade noch flammenden, flirrenden und flitternden Glamrockszene, schrieben damals Balladen! Zu schweigen von Roxy, Bowie, Cockney Rebel – allerorten epochale Trauer, aufgepumpt mit Weltschmerzpathos und Nebelschwaden von Kokain oder vielmehr deren Nachwehen.
Led Zeppelin waren damals die größte Band der Welt – goldene Götter, die vor unüberschaubaren Massen weniger spielten als Messen zelebrierten und für ein Viertel der Umsätze des Plattengiganten Atlantic sorgten. Und doch wollten die Doorkeeper der wahren Großkultur sie nicht einlassen, ignorierte sie das Feuilleton als Arbeiterklassenkrawallisten, während die Rolling Stones mit Filmstars, Literaten und Andy Warhol rumhingen, Alice Cooper mit Salvador Dali tanzte und man Doktorarbeiten über Pink Floyd schrieb.
Led Zeppelin galten als „Heavy Metal“, als aufgeblasener Popanz ohne Substanz. Selbst Queen nahm man ernster: Die konnten immerhin mit der Zunge in der Backe zwinkern, Deep Purple stampften präziser und erdiger, und mit den lyrischen Phantasieuniversen von Yes konnte Robert Plants Hobbit-Geplänkel nicht mithalten.
Das fünfte Album war zumindest optisch ein Paukenschlag, wie ihn die Musikwelt noch nicht erlebt hatte: Klappcover ohne Titel und Bandnamen, nur ein Bild, aber was für eines! Musikalisch definierte und untermauerte es die ganze Größe und Tragik der Band: Es beginnt mit „The Song Remains The Same“, einem Wirrwarr aus Riffs, die Jimmy Page in seiner notorischen Schlampigkeit in die Gegend schmiert, während Robert Plant wie eine hilflose Stadiontröte irgendwas röhrt. Zu allem Überfluß wurde der Schmarrn dann auch noch – wohl um Virtuosität zu simulieren – so beschleunigt überspielt, daß der Gesang wie Minni Maus auf Helium klingt und John Bonhams wuchtige Trommeln zu einem Haufen Pappkartons degenerieren. Punkt.
„The Rain Song“ ist das komplette Gegenteil: ein verträumtes Meisterwerk aus ungreifbar ineinander verschlungenen Harmonien, gefolgt von dem ebenfalls enormen „Over The Hills And Far Away“ mit seiner nüchtern-ländlichen, von pfiffigen Triolen metrisch verzauberten Akustikfigur und klassischen Zep-III-Synkopen. Und dann aber wieder „The Crunge“, kaum mehr als ein Faschingsscherz, eine in die eigene Hose gebombte James-Brown-Funk-Verarschung mit Angebermetrum (fünf Achtel! neun Achtel!) und Monty-Python-Schlußgag, bei der man sich beim Tanzen garantiert drei Zehen bricht.
Die Frage, was an all dem „Heavy Metal“ sein soll, kann auch LP-Seite zwei nicht beantworten: weder die absurden Akkordfolgen und aufreizend antithetisch müden Gesangslinien von „Dancing Days“ noch der bizarre Bubblegum-Reggae „D'yer Mak'er“, John Paul Jones' filmisch grandioses, merkwürdig unvollendetes Meisterwerk „No Quarter“, schon gar nicht die unspektakulär wummsende Fanmassen-Hommage „The Ocean“ mit ihrem komischen Riff, dem Doo-wop-Chor und dem Dienst-nach-Vorschrift-Stechuhrschluß.
Die Höhepunkte der Platte und zugleich möglicherweise des Gesamtwerks der Band zeigen vielmehr, was Led Zeppelins wahre, oft verborgene Stärken waren: sinfonisch-progressiver Glampop, der auf einem Roxy-Album nicht fremd gewesen wäre (von der Stimme mal abgesehen), und tieftraditioneller, zugleich höchst origineller Folkrock. Der Rest – mittelmäßig-belangloser Hardrock und mehr oder weniger nette Parodien – steht sinnbildlich für das fehlende Gespür, mit dem Led Zeppelin zwischen Genie und Krampf herumtorkelten.
Ein seltsames Jahr, ein seltsames Album: das beste und zugleich schlechteste einer Band, die niemand je ganz begreifen wird, weil sie sich selbst nicht begriffen hat.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Freitag, 6. Februar 2015

Belästigungen 02/2015: Ein paar ironiefreie Bemerkungen zu Charlie Hebdo, „Pegida“, „Bagida“, „Mügida“ und einigem anderen

Am 22. Juli 2011 erschoß ein Mann in Norwegen 77 Menschen. Am 7. Januar 2015 erschossen drei Männer in Paris 17 Menschen.
Der norwegische Mörder gab an, er habe sein Land gegen den Islam und einen sogenannten „Kulturmarxismus“ verteidigen wollen. Im Urteil spielte diese idiotische Begründung keine Rolle, auch in der Berichterstattung behauptete meines Wissens niemand, es habe sich um „christlichen“, „antiislamischen“ oder „antimarxistischen“ Terrorismus gehandelt. Die Pariser Mörder sollen vor ihrer Tat „Allahu akbar!“ gerufen haben. So gut wie keine Meldung zu dem Anschlag kommt ohne den Begriff „islamistischer Terror“ aus.
Es ist viel davon die Rede, es sei dabei um Karikaturen gegangen. Es müsse, so heißt es, auch weiterhin möglich sein, Witze zu machen, ohne erschossen zu werden. Dies ist zweifellos richtig. Es ging bzw. geht aber in beiden Fällen weder um Karikaturen noch um Witze noch um Meinungsfreiheit, und es geht auch nicht um den Islam.
Beide Attentate waren extreme Provokationen mit dem Ziel, Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen, Ressentiment, Haß und Gewalt zu fördern. Im ersten Fall war diese Provokation wenig erfolgreich: Der beabsichtigte Kreuzzug blieb ebenso aus wie ein Aufruf zum Dschihad gegen den Täter und sein Umfeld. Im zweiten Fall trifft die Provokation hingegen offenbar auf gut gedüngten Boden. Jeder, dessen Geschäft es ist, sich öffentlich zu äußern, glaubt nun, öffentlich äußern zu müssen, man dürfe sich nicht den Mund verbieten lassen. Gemeint ist: von Muslimen, die der „westlichen Welt“ ihre angebliche Witzfeindlichkeit mit der Kalaschnikow aufzwingen wollen.
Ich halte nicht sonderlich viel von Religionen. Ich denke aber nicht, daß es Inhalt und Zweck einer der großen Religionsgemeinschaften der Welt ist, Andersgläubige und Glaubensbrüder zu töten. Vielmehr denke ich, daß die Trauer um Tote ein wesentliches Motiv jeglichen religiösen Glaubens ist. Deshalb vermute ich, daß der überwiegende Teil der 1,6 Milliarden Muslime ebenso um die Toten von Norwegen getrauert hat und um die Toten von Paris trauert wie die meisten anderen religiösen und nichtreligiösen Menschen. Wir trauern also gemeinsam, und „wir“ trauern gemeinsam mit denen, gegen die „wir“ uns nun reflexartig wehren zu müssen glauben, die aber ebenso ein Teil des großen Wir sind wie „wir“.
Ich habe keine Lust, mich wehren zu müssen, nicht gegen eine Gefahr, die unberechenbar ist, weil sie ganz offensichtlich einem plötzlich hervorbrechenden Wahnsinn entspringt (bei dem es völlig irrelevant ist, ob er sich auf irgendwelche „religiösen Motive“ beruft). Ich will nicht durch eine diffuse öffentliche Meinung gezwungen werden, Millionen mir vollkommen unbekannte Menschen in ein Boot mit wahnsinnigen Massenmördern zu werfen, nur weil sie derselben (oder einer ähnlichen) Religion anhängen. Ich möchte mich weder von diesen Mördern noch von vermeintlich „betroffenen“ anderen zu Ressentiment, Haß und Gewalt provozieren lassen.
Ich mache gerne Witze. Menschen neigen dazu, lächerliche Dinge zu tun, über die man sich lustig macht. Es kann passieren, daß davon Religionen betroffen sind, weil (auch) Religionen nun mal menschlicher Natur sind und daher einen gewissen Hang zur Lächerlichkeit haben.
Ich will aber ebenfalls nicht mit Karikaturen von schmutzigen, warzigen, bewaffneten „Islamisten“ überschwemmt werden, mit Zeichnungen von hakennasigen, geldraffenden Juden und – ja, wie sehen eigentlich rassistische Darstellungen von Christen, Buddhisten, Hindus etc. aus? Es ist mir egal, ich möchte sie nicht sehen.
Vielleicht ist es möglich, uns gegenseitig als Menschen zu respektieren, ohne daß dafür erst wieder der Schock eines großen Krieges nötig ist. Vielleicht können wir unsere uns allen eigene Lächerlichkeit als eine Eigenschaft akzeptieren, die uns nicht trennt, sondern verbindet. Wahnsinnige Mörder und brüllende Provokateure werden wir damit weder aufhalten noch zur Vernunft „bekehren“ können. Es könnte aber dazu beitragen, abseits solch schrecklicher Verbrechen ein schöneres Leben zu führen und in dem wahrscheinlichen Fall, daß sich wieder etwas ähnliches ereignet, andere Schlüsse daraus zu ziehen, den Provokateuren nicht auf den Leim zu gehen und dafür zu sorgen, daß ihre Taten andere Folgen haben als die, auf die sie spekulieren.
Ich bin mal bei der Einreise in die USA gefragt worden, welcher Rasse ich angehöre. Die Frage ist leicht zu beantworten. Ich kenne Leute unterschiedlichster Herkunft, Sprache, Statur, Religion, Intelligenz, Hautfarbe, Schuhgröße, Klassenzugehörigkeit, sexueller, beruflicher und politischer Orientierung. Es läßt sich aber genetisch nachweisen, daß sie alle einer einzigen Rasse angehören. Diese Rasse heißt Mensch, eine zweite gibt es nicht. Ich hoffe, daß niemand jemals wieder in einem Land, in einer Welt leben möchte, wo Religion zur Rasse umdefiniert wird.
In manchen Situationen ist es verständlich, angemessen, manchmal sogar hilfreich, wenn sich Trauer in Wut verwandelt. Wut braucht aber einen legitimen Gegner. Im Falle des Massakers in Norwegen sitzt der legitime Gegner im Gefängnis, wahrscheinlich bis zum Ende seines Lebens. Die Mörder von Paris sind von der Polizei getötet worden. Wut ohne legitimen Gegner führt zu Hysterie und Raserei, zu Pogromen und Schlimmerem. Und zu dem, was sich Patriotismus schimpft. Wut ohne legitimen Gegner trifft immer die Falschen.
Da es keinen legitimen Gegner gibt, sollten wir unsere Wut hier und jetzt wieder in Trauer verwandeln. Und die Trauer, sobald das möglich ist, in Vernunft. In Besonnenheit, Respekt und Demut.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Donnerstag, 5. Februar 2015

Frisch gepreßt #327: Thurston Moore "The Best Day"


Im späten Oktober und frühen November kommt die Welt langsam zum Erliegen, und in den Lücken und Rissen der fransig werdenden Entwicklung tauchen alte Gesichter auf, was nicht immer unbedingt erfreulich ist. Wer mag und entsprechend gestimmt ist, kann den ganzen Winter in Reminiszenzen baden – neue Alben von Prince, Lenny Kravitz, Farin Urlaub, Bob Seger, Pink Floyd, AC/DC, Holly Johnson bieten hinreichend Material zur Fortsetzung oder Wiederaufnahme verwehter Jugendlichkeiten diverser Art als nicht immer lustige Farce, und selbst Billy Idol ist als gebleichter Barbie-Ken aus dem Formaldehydkessel erstanden, um noch mal so zu tun, als wäre er Billy Idol.
Es ist nun mal (leider) so, daß Popmusik (wie auch immer man sie nennt) einer schwammig definierten, aber insgesamt recht eindeutigen Generation an- und zugehört und auf gewisse Anhaltspunkte nicht verzichten kann. Dazu gehört die Behauptung, man sei irgend etwas „immer noch“ und werde ganz bestimmt nie alt oder anders. Die Frage, wieso sich die nostalgische Sehnsucht nach dem unschuldigeren Selbst früherer Zeiten mit dem größtenteils fürchterlichen Affentheater älterer (seltsamerweise meist) Herren, die keine älteren Herren sein wollen, besser bedienen lassen sollte als mit den dadurch desavouierten und mit dem Schlammlack der Lächerlichkeit übergossenen Originalen (in Super-Deluxe-Edition), ist schwer zu beantworten. Es muß eben weitergehen, und da den Jüngeren Popmusik so viel bedeutet wie Popcorn, hofft man auf Mythen vom Opa, der notfalls mit Glubschbrille, Perücke und Gehwägelchen Freiheit, Sex und Rebellion perpetuieren muß.
Streng genommen gehört auch Thurston Moore zu dieser Riege der Ewig(gleich)en: Er ist 1958 geboren, hat ungefähr eine Fantastilliarde Platten veröffentlicht und, wie man so sagt, mindestens ein „Genre“ „geprägt“. Schwer zu sagen, weshalb bei ihm dennoch alles anders ist – vielleicht hat er als Jugendlicher die richtigen Vorbilder (Wire, Public Image Ltd., The Pop Group) und Lehrer (Glenn Branca) gewählt, vielleicht einfach zu viel gemacht, um sich festlegen zu lassen. Möglicherweise half und hilft ihm seine Neugier, und mit Sicherheit ist es diese beständige Lust auf Annäherung an das Geheimnis, das tief verborgene Herz der Musik als direkter Expression wahrer Empfindung, und zugleich Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb eines streng beschränkten Instrumentariums und Umgangs damit (eine Gitarre, offen gestimmt und elektrisch verstärkt, deren Zwei-, Drei- und Vielklänge sich in freier Oszillation zu sprachfernen Erzählungen sammeln), was ihn antreibt und verhindert, daß er wie die eingangs genannten Protagonisten zur One-Trick-Gipsfigur erstarrt.
Es war und ist nicht immer leicht, die bisweilen scheinbar achtlos an den Wegrand geschmissenen Ergebnisse von Thurston Moores Suche zu genießen; frühe Aufnahmen seiner Band Sonic Youth mögen selbst einigermaßen geübten Ohren wie ein Wirbelsturm von Lärm erscheinen. Selbst Meisterwerke wie „Washing Machine“ und „A Thousand Leaves“ geben ihre Schönheit erst preis, wenn man sich durch rostigen Metallschrott gekämpft und das Gehör geschult hat; die Myriaden von Aufnahmen und Spielereien außerhalb der Band dürfen als kaum kartographierte Wüste gelten.
Aber Thurston Moore ist eben auch ein Mensch, ein Mann zudem, für die „gewöhnlichen“ Kleinigkeiten und Mechanismen des Lebens ebenso anfällig wie jeder von uns: Vor einigen Jahren überfiel ihn die als „Midlife Crisis“ bekannte Mischinfektion aus Manie, Sehnsucht, explosiver Restjugend und Endzeitverzweiflung; ihre Verkörperung war (und ist) wie meist weiblich und ein Vierteljahrhundert jünger. Er beendete seine fast dreißig Jahre währende Indie-Traumehe mit SY-Bassistin Kim Gordon, räumte die Band in den Keller und gründete eine neue, die der alten nicht zufällig ähnelt: Baß spielt Debbie Googe von My Bloody Valentine, der ziemlich kongeniale Gitarrist James Sedwards gibt den neuen Lee Ranaldo, und Schlagzeuger Steve Shelley blieb einfach sitzen, wie das Schlagzeuger gerne tun.
Eine solche „Wiedergeburt“ könnte, s. o., perfekt in die Hose gehen, aber das tut sie nicht. „The Best Day“ ist hinreißend nostalgisch (man betrachte das Cover und versuche sich zu wehren) und zugleich revolutionär jetztzeitig, ein Aufbruch zu einem unklaren, unwiderstehlichen Traum und ein akribischer Kampf um den Weg dorthin – primitiv und raffiniert, laut und feinsinnig, zärtlich und brutal, monoton und überströmend von glitzernden Details. Stünde da „Sonic Youth“ drauf, wäre es eine Art Erfüllung, so ist es ein einsamer Diamant, ein pumpendes, verletzliches Herz im scheintoten Körper einer Musikwelt, mit der Thurston Moore nie etwas zu tun hatte und die er mit einer Geste heroischer Demut und nachdenklicher Raserei rettet. Auch wenn sie das möglicherweise nicht bemerken wird.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.