Sonntag, 25. Dezember 2016

Frisch gepreßt #46: Status Quo "Heavy Traffic"


Die Empörung ist allgemein. Sie ist groß. Und sie ist echt.
"Ja wie! Wo sind wir denn! Himmel hilf! Schnaps! Notarzt! Armageddon!"
Der Aufruhr beruhigt sich - Strohfeuer sind nicht sehr ausdauernd. Im Hintergrund: schrummelschrammelboogiefetzstampf.
"Aha. Verstehe. Aber, hm. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, wenn wir unsere musikalischen Perspektiven und Perzeptionen auf den Status Quoasis zurückschrauben. Ich bin auch etwas aufgewühlt, was unser publikes Erscheinungsbild anbetrifft. Mit anderen Worten: Was ist, wenn uns jemand erwischt?"
"Gar nichts. Es gibt keinen Menschen auf der Welt oder wenigstens in der Schröderbushfischerblairschen Zivilisation, der keine Status-Quo-Platte besitzt. Das läßt sich statistisch nachweisen, denn es wäre sinnlos, wenn jemand zwei Status-Quo-Platten besitzen würde."
"Also, öchel öchel ..."
"Was machst du da hinter dem Heizkörper? Das ist ungesund!"
"Also, ganz ehrlich, ich habe mehr als eine."
"Was! Zwei?"
"Also, öchel, öchel, das war nämlich so: Die ‚Quo' fand ich gut, also hab ich mir ‚On The Level' gekauft. Die gefiel mir auch, also hab ich mir ‚Blue For You' gekauft und ‚Live' und ‚Rockin' All Over The World'. Die war dann weniger gut, also hab ich mir ‚If You Can't Stand The Heat' gekauft. Die war noch schlechter, also hab ich ..."
"Jessas! Ein Teufelskreis!"
"‚Famous In The Last Century' hab ich mir bloß noch im Laden angehört."
"Soll das heißen, du hast ‚In The Army Now' noch gekauft? Himmel! Wir brauchen mehr Getränke!"
"Natürlich nicht. War ja ein Schmarrn. Da hätten sie genausogut ‚Aba Heidschi Bum Beidschi Bum Bum' spielen können oder ‚Winds Of Change'. Das war ja bloß, weil damals das Kokain so teuer war und ..."
"Er verteidigt die schlechteste Band der Welt, ich glaub's nicht."
"Schlechteste Band der Welt? Wohl noch nie ‚Down Down' und ‚Backwater' gehört, was! Mit solchen Riffs hätte England auch den zweiten Weltkrieg gewonnen!"
"Blödmann, England HAT den zweiten Weltkrieg gewonnen."
"Huch. Schwamm drüber. Erstens konnten die Leute ziemlich gute Psychedelic-Popsongs schreiben, am Anfang. Damit haben sie zwar bald aufgehört, aber danach immerhin gerockt wie die wilde Sau in Jeans. Grundregel: Was rockt, kann nicht ganz schlecht sein."
Zwei Minuten Sprechpause. Schrummelschrammelboogiefetzstampf.
"Und? Rockt das?"
"Hm. Ich würde sagen, es klingt in etwa so wie die letzten zweihundertvierzig Quo-Alben seit ‚Live', also so wie eine pfiffige Quo-Revival-Band: jede Menge unverschämteste Chuck-Berry-Abkupferei, auf dem Studioklo aufgenommener Postboten-Gesang, bißchen Hosentaschen-Blues, bißchen Grillfest-Akustik, ein paar Pfund superpeinliche Animiererei, ein paar pfundige Licks."
"Zum Beispiel hier: ‚The Oriental'. Man darf nur nicht auf den Text hören: ‚Her name was Mia / from North Korea.'"
"Wieso? Rod Stewart: ‚Her name was Rita / and her perfume smelled sweeter ...'"
"Ja, ja, schon gut. In Korea ißt niemand Sushi, oder?"
"Das sind vielleicht Kriterien, meine Herren! Wenn ich mal was bemängeln dürfte: Da sind 13 Tracks drauf. Neun hätten's auch getan. Wahrscheinlich fiel die Auswahl schwer, weil die meisten identisch sind. Und das Cover: um Gottes Willen!"
"Solche Kleinigkeiten sind egal. Schließlich haben wir alle schon ein Status-Quo-Album. Und wer noch keines hat, kann genausogut mit diesem anfangen wie mit irgendeinem anderen."
"Moment! Ich glaube nach wie vor, daß es sich hier um eine Revival-Band handelt! Ihre Plattenfirma nennt sie im Internet übrigens ‚Satus Quo'."
"Mooment! Ich bestehe darauf, daß sie überhaupt nur zwischen 1973 und 1977 wirklich ..."
"Moooment! ‚Dog Of Two Head' war ja wohl ..."
(Langsamer Fade-out)

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Diese Folge stammt aus dem September 2002.

Samstag, 24. Dezember 2016

Frisch gepreßt #380: Howe Gelb "Future Standards"


Am Rande der gewaltigen Wüste, die ich meine Lebensgeschichte nennen könnte, lebt in seiner buckeligen Kate ein Einsiedler, der sich dorthin zurückgezogen hat, um den Menschen so fern und dem Nichts so nahe zu sein wie nur möglich, ohne sich den einen ganz zu entfremden und dem anderen gänzlich zu verfallen. Hin und wieder laufen wir uns über den Weg; dann erzählt er ein paar von seinen verschrobenen, verwinkelten Geschichten, und wir ziehen wieder unserer Wege.
Zum ersten Mal begegnet sind wir uns vor Urzeiten, es könnten noch die 80er gewesen sein, Jesus Christus! Dazumalen ließ er in einer Halle namens Theaterfabrik, Gott hab sie selig, ein Konzert seiner Band Giant Sand ankündigen. Giant Sand waren eine Alternative-Band, ziemlich independent, und das hieß damals noch so richtig was. Ihre und seine Spezialität war, draufloszuspielen, ohne daran zu denken, was bei einem Song am Ende herauskommen könnte, ob es überhaupt ein regelrechtes Ende geben konnte, sich statt dessen ganz darauf zu konzentrieren, dem momentanen und dem tiefen Gefühl absolute Freiheit des Ausdrucks zu verleihen.
Ich kannte Giant Sand von einem bekifften Nachmittag im Schwabinger Dachzimmer eines Freundes, den wir damit verbrachten, uns Platten vorzuspielen. Allerdings wußte ich nur noch, daß ich verwirrt und begeistert war von Gitarrenakkorden, die es gar nicht gab und auf denen trotzdem Melodien tanzen konnten, und einem Schlagzeug (John Convertino), das so wunderbar klar, präsent und natürlich knallte, rummste und klirrte wie keines sonst in jenen fürchterlichen Zeiten der Noise-gates, Simmons-Pads und Elektrotrommeln.
Nun kam jener Einsiedler, der Howe Gelb heißt, also auf die Bühne, sturzbetrunken, ließ mittendrin das Saallicht anschalten, beschimpfte seine Band, trat ins Schlagzeug, schmiß Instrumente und Sachen in der Gegend herum und spielte dann stundenlang, ohne Ziel und Zusammenhang, die schönste, bewegendste und chaotischste Musik, die ich je auf einer Bühne gehört hatte. Wir waren hinterher so betäubt, daß wir aus Versehen in die falsche Richtung fuhren und das erst in Freising bemerkten.
In den Jahren seither habe ich mir jedes Album von Giant Sand und Howe Gelb angehört, und das waren tatsächlich Massen. Darunter war das Meisterwerk „Swerve“ (1990), auf dem zu hören ist, wie Gelb mit seiner improvisierten Genialität einen Musiker zur Weißglut bringt („I hate doing this kind of shit! I need to know what the music is, I need to know what the words are, I need to know what the notes are! I’m a professional. I’m not no improviser, no scat musician!“), war manch schönes Album, war auch viel Zeugs, auf dem aus dem Sumpf des Herumspielens nur Convertinos Schlagzeug herausragte (leider ging er dann zu den Langweilern Calexico).
Jetzt ist der Einsiedler sechzig Jahre alt und dort gelandet, wo viele seiner Wege nachträglich betrachtet schon immer hinführten: beim klassischen, coolen, rauchgeschwängerten Jazz, den er so begreift, wie er seine Musik immer begriff – offen, blue, gelassen mäandernd. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Songs, die man schon immer zu kennen glaubt und zugleich noch nie gehört hat. Zukünftige Standards wie „Irresponsible Lovers“, die Pianisten in Spelunken und spätnächtlichen Hotelbars möglicherweise in hundert Jahren noch spielen und damit die Gespenster des Zwielichts zu Tränen und einem gelegentlichen Grinsen über ein besonders schönes Bonmot rühren werden. Ob sie sie je so genial hinkriegen wie der Einsiedler selbst? Ich zweifle und sehe Cole Porter, Frank Sinatra, Billie Holiday, Chet Baker und Dexter Gordon im Jenseits vor Freude schweben und schweigen.
Daß Gelb die sonst üblichen Fransen seiner Musik komplett gekappt, sie destilliert und reduziert hat, bis sie in absolut reiner Form erstrahlt und jeder vermeintlich falsche Ton einen Charakter annimmt, der einem immer wieder ein „Wow!“ entlockt, macht dieses Album zu seinem möglicherweise schönsten überhaupt. Und wenn er am Ende die moderne Aufnahmetechnik abschaltet und drei Songs lang im düsteren Saloon herumhängt, wo das Klavier klingt wie mit einer Zeitmaschine aufgenommen, die jemand aus einer alten Küchenuhr gebastelt hat, schließt man die Augen, erfüllt von einem so unendlichen Glücksgefühl, daß man nicht mal zu seufzen wagt und sich zehn Monate tiefsten Winter wünscht, um nichts anderes zu tun als diese Musik zu hören, immer und immer wieder.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 20. Dezember 2016

Belästigungen 24/2016: So geht das, wenn das so geht und das Winterhirn sich füllt und leert (eine Reisemeditation)

Man hat ja leider immer was zu tun. Gerade im Winter, wo man beste Gelegenheit und nachgerade Lust hätte, mal so richtig ausgedehnt und -giebig überhaupt gar nichts zu tun als tagsüber im Bett herumzugammeln, Himmel und Bücherwand zu betrachten, sich abends in die Kneipe und morgens wieder ins Bett zu schleppen, – gerade zu dieser wundervollen Jahreszeit kommen die Leute daher und wollen, daß man Termine einhält, Schrift liefert, Sinn stiftet, Erklärungen bietet, zu Handlungen aufruft, Erinnerungen beschwört, Lächeln und Lachen aus Modernweltmasken lockt, insgesamt: Texte vorträgt, zu diesem Behuf in Eisenbahnen steigt, die seit langem zu Plastikbahnen umgebaut und folglich vollkommen unbewohn-, ja: -belebbar sind und daher ausschließlich mit Leblosen besetzt und von diesen bewimmelt sind und werden, deren leere Augen eine Weltsicht formen, indem ihr Blick an Kilometern und Aberkilometern von grauen Lärmschutzwänden entlangschleift.
Unterwegs rasseln Bing! Bing! Bing! die Elektrobriefe ins Telephon, randvoll mit Fragen: ob man nicht noch schnell „zwischendurch“, aber bitte dringendst „zeitnah“ diversen „Buch“-Produkten und/oder solchem Zeugs wie (zufälliges Beispiel) einer „Antilopen Gang“ (die Lupe darf in der Schublade bleiben: Da steht auch beim dritten Versuch kein Bindestrich) ein paar kritisch reflektierende Zeilen reinwürgen möchte, weshalb man eine Stunde damit zubringt, sich den gestreamten Rapsrappelmist peripher anzuhören, unter Aufwendung hirnlicher Muskelarbeit in der Gedanken-Cloud zusammenformuliert festzustellen, daß das Rapsrappelmist ist und sein muß, schon weil es aus dem verläßlichen Misthaus Tote Hosen kommt, das Ganze dann aber doch nicht aufzuschreiben, weil man sich nicht überwinden kann, womit die ganze Stunde zum Fenster hinaus in die Ewigkeit der Sinnlosigkeit geschmissen ist und man die nächste, ähnlich zweckfreie Beschäftigung angeht. Ach, es ist schlimm.
Dabei wäre doch oder ist im Winter das einzige, was der Mensch tun soll und darf: sich und sein Sein und Sinnen dem Himmel anzugleichen, der in einem endlos leeren Weißgrau vor sich hin himmelt und die Leuchtstoffröhren, die sich vergeblich mühen, es ihm gleich- oder wenigstens ähnlichzutun, vom ortlos weiten Obenüberall aus milde anzu-sozusagen-himmelt. Man säße also idealerweise in braun-gelb-gescheckten, dunkel beeckten Innenräumen wie der Leipziger Gosenschenke „Ohne Bedenken“ weniger herum als – eben – drinnen, tränke hin und wieder einen Schluck, ließe das belanglose Getröpel um Fremdtische herum plätschernder träger „Gespräche“, in denen es um nichts geht als um die Pausen zwischen den Lauten, ins eine Ohr hinein, beim anderen wieder hinauströpeln, kuschelte sich gemütlich „bebiert“ (F. Ani) in Laken und Kissen, um sich zu wärmen und nichts als diese Wärme zu empfinden. Und zwar monatelang, bis im Märzen Freundin Sonne das vereiste Universum zum Schmelzen brächte und lächelnde Rotlippen und Strahlaugen das ewig wiederkehrende Verheißungstheater einleiteten, das zuverlässig in Enttäuschung und Depression nicht endet, sondern zerläuft und zerbröselt, bis man endlich im Oktober das glühende Herz wieder löschte und verschlösse und alles von Neuem begänne.
Statt dessen: wringt man sich derartige Satzungetüme aus dem unterbiertrüben, zwischendurch vom frisch angezapften Freudenecker Fischerbräu zu sprotzigem Zwischengas angekurbelten Vormittagsresthirn, bloß weil einem mal wieder so ein Buch, in das die Nase nicht zu stecken man gleichfalls mal wieder nicht rechtzeitig sich befehlen hat können, eine „Anregung“ hineingepflanzt hat. Da reicht ja manchmal ein Satz, eine Mitteilung (die es übrigens längst vor der neuzeitlichen „Teilung“ auf Facebook gab, die aber auch nichts recht viel anderes war): „Der Verein zur Abschaffung der Übel der Welt ist gemeinnützig und setzt sich für die Ausrottung der Eselsgrippe, des Warmbiers, des Liebeskummers, von Sat 1 und Springer, von Magenweh und Mist, von Banken, Quatschberufen und kapitalistischem Bestreben ein.“ Diesen (Satz) findet man beim müßigen Blättern im gemeinsamen Büchlein der Freunde Roth und Metulczki, in einem dieser insolventen Depperlverlage erschienen und trotzdem im Grunde eine Freude, wäre nicht Winter, wo es keine Freuden braucht, weil die die Ruhe stören.
Andererseits ist doch gerade das ein Schönes: daß man nun, wo der durch diesen Satz und die Betrachtung der gülden-hölzern strahlenden „Trinkgedächtnisse“ von Meister Metulczki aufgewallte Dampf in Zeilenmaß geschüttet und das Hirn wieder leer ist, sich sozusagen unfalls und ohne Bedenken dem Freudenecker hingeben, zwischen Laken und Kissen verkuscheln und ausgedehnt und ausgiebig überhaupt gar nichts tun kann und darf. Weil: wenn die Elektropost daherbingt und dringende Ablieferung des seitenfüllenden Buchstabengewirrs verlangt, man ja ausnahmsweise ein solches quasi schon vorrätig hat, ohne Not geboren, ohne Drang geerntet und ohne Zutun abgehangen. Muß man nur noch servieren.
Und schon: hat man nichts zu tun, eine zeitlose Zeit nicht ent-, sondern einfach nur: lang. Da möchte man sich direkt und regelrecht auf den März freuen, der im klimaverwandelten Dezember immer mal wieder frech dahergrinst, und ihn schneller herbeiwünschen, aber ach: Eitelkeit menschlichen Wollens, vade retro und entfleuche!

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 9. Dezember 2016

Belästigungen 23/2016: Ein (vor)letztes Wort zu großen und noch größeren Übeln, denen man am besten die Zunge rausstreckt

Als ich ein kleiner Bub war, hatten wir jede Menge Ideen, die meistens nicht den Beifall der Erwachsenen fanden. Das mag die unterschiedlichsten Gründe gehabt haben, die für uns jedoch auf einen einzigen, immer gleichen Grund zusammenschnurrten: Die Erwachsenen haben keine Ahnung und wollen uns unser Menschenrecht auf ein unbeschwertes, spaßiges Leben verweigern!
Ob wir ein gefundenes Fünfmarkstück sofort in fünfzig Kugeln Eis umsetzen, auf Bäume hinauf- und unter Zäunen hindurchklettern, ein Schrottauto zu einem Indianerlager umbauen, mit Kartoffelpistolen auf Passanten schießen, unser Fußballtor (zwei Jacken) direkt vor dem Hauptfenster eines Großraumbüros installieren, Aschentonnen nach wertvollen Dingen durchwühlen, in den Lüftungsschächten eines Rohbaus herumrutschen, hartgekauten Kaugummi im Backrohr wieder weichrösten, statt Hausaufgaben lieber zum Baden fahren, unsere Klappräder mit Wasserfarben anmalen, uns sonntagmittags über drei Balkone hinweg neue Glamrockplatten vorspielen, nachts Edgar-Wallace-Filme anschauen, die halbgrüne Ernte eines ganzen Zwetschgenbaums auf einmal essen, in der Tiefgarage ein Lagerfeuer entzünden oder Ende November in der kurzen Hose in die Schule gehen wollten – immer war jemand dagegen.
Nun gab es unter den Erwachsenen drei Phänotypen. Erstens: der Strenge. Der verhinderte alles durch kategorisches Verbot, Gebrüll, Watschen und versperrte Türen. Diesen Typ fürchtete man, entzog sich ihm soweit wie möglich durch Flucht oder indem man ihm weiträumig aus dem Weg ging. Und darauf hoffte, daß niemand petzte, weil der strenge Typ (bei dem es sich erstaunlich oft um Angehörige des weiblichen Geschlechts handelte) nachtragend war und einen im Zweifelsfall präventiv für Sachen bestrafte, die man noch gar nicht angestellt hatte.
Der zweite Phänotyp war der Weise, der wie meine selige Oma zwar auch mal durchdrehen konnte und dem mitten in der Nacht bis zum Anschlag aufgedrehten Plattenspieler mit der Axt zu Leibe zu rücken drohte, ansonsten aber auf Selbstheilungskräfte vertraute: Dieser Typ zuckte die Achseln, ließ uns nach einem kurzen Hinweis auf die absehbaren Folgen nach Herzenslust Fußball spielen, Zwetschgen essen und Kaugummi rösten, zuckte dann, wenn die Scheibe kaputt, der Bauch gebläht, die Finger verbrannt und sonst was kaputt war, noch mal die Achseln und fragte höchstens: „Und, ist's jetzt besser?“ Diesen Typ bewunderte man, auch wenn man's nicht zugeben wollte, weil er offenbar die Welt verstand und irgendein Geheimwissen hatte, mit dem er aber nicht auftrumpfte oder sich mit Radau und Repressalien durchzusetzen versuchte.
Und dann gab es noch die vermeintlich verständnisvollen, pseudoabgeklärten Mahner. Das waren die schlimmsten, weil sie in Wirklichkeit überhaupt kein Verständnis, keine Contenance und von den meisten Dingen auch keine Ahnung hatten und nicht etwa mahnten, sondern forderten, und zwar ohne Widerspruch, und zwar so lange, bis sie sich restlos durchgesetzt hatten. Diese Leute hatten auch dann, wenn man wirklich ein Problem oder Hunger oder Bauchweh hatte, nur ihr überhebliches Mahnen zur Besonnenheit (oder so) drauf, weil sie in Wirklichkeit bloß möglichst ungestört und unbehindert ihr eigenes Süppchen kochen und ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollten.
Das wollen sie bis heute, wo sie nach diversen Studien und Karrieren in Funktionen, Parteien und Redaktionen herumsitzen, den etwas höhergestellten Lakaien des Geldadels den Hintern pudern und mit pseudoabgeklärtem Blick auf die Welt da drunten mahnend den manikürten Zeigefinger heben. Wenn sie doch mal in einen Konflikt hineingezogen oder mit einem Skandal konfrontiert werden, zeigen sie sich „betroffen“ und wissen alles von vornherein besser, ohne sich die Situation auch nur anzuschauen. Und wenn sie sich ausnahmsweise mal nicht durchsetzen, prangern sie hinterher das dräuende Weltende an, mit dem sie sich aber meistens nach zwei Tagen gewinnbringend und hinternpudernd arrangiert haben. Im Englischen nennt man dieses Verhalten „patronising“, was sich auf deutsch mit „herablassend, gönnerhaft, bevormundend“ nur unzureichend übersetzen läßt. Nennen wir die Typen heute mal Patronisierer.
Solche Typen trieben uns damals in ihrer Ignoranz und ostentativen Überheblichkeit zur Weißglut. Bei denen machte man jeden Blödsinn erst recht, und zwar noch viel schlimmer, und wenn sie das hinterher monologisch „ausdiskutieren“ wollten, streckte man ihnen die Zunge raus und schaltete den Trotzgenerator auf Volldampf.
Als ich ein kleiner Bub war, gab es ein paar Strenge, vor denen man flüchten, und kaum Weise, die man bewundern konnte. Dafür wimmelte es nur so vor Patronisierern. Vielleicht reagiere ich deswegen heute noch mit weißglütigem Trotz, wenn man mir (oder sonst wem) auf diese Weise kommt. Wenn man zum Beispiel dem US-amerikanischen Wahlvolk erst alle akzeptablen Kandidaten wegkorrumpiert, ihm dann eine kriegstreiberische Wall-Street-Sprechpuppe, die in wenigen Jahren hunderte Millionen angescheffelt hat, als einzige „vernünftige“ Möglichkeit vorsetzt und, um absolut sicherzugehen, einen tourettekranken Kläffdackel dagegenstellt mit dem Hinweis, man solle doch nicht so verstockt tun, sondern wenigstens „das kleinere Übel“ wählen.
Da hätte ich als kleiner Bub die Zunge rausgestreckt. Da hätte ich mich gefreut, wenn die Patronisierer noch am Tag der Wahl mahnend (und leise schlotternd) auf die Titelseite ihrer Zeitung geschrieben hätten: „Hillary Clinton muß um den Sieg zittern“ – als wäre dieser Clintonsieg ein Naturgesetz, dessen Geltung nur Deppen in Frage stellen. Da hätte ich möglicherweise sogar laut gekichert, wenn die Patronisierer mit ihrem scheinbar unfehlbaren Plan dermaßen auf die Schnauze gefallen wären, daß sie und ihr gläubiges Fußvolk, dessen größtes Problem die Verfügbarkeit von Smoothies in Konzernkantinen ist, hinterher vor lauter „Betroffenheit“ zehn Kilometer Facebook volljammern und -jaulen müssen. Und vielleicht hätte ich als unmittelbar Betroffener mir den Spaß gemacht und auf meinem Wahlzettel weder das eine noch das andere Übel angekreuzt, sondern einfach „Ätsch!“ draufgekritzelt.
Weil nämlich die mahnenden Patronisierer auf dem politisch-medialen Feld nichts anderes sind als eine eiskalte, eisenharte, neoliberale „Gated Community“, die um nichts anderes besorgt ist als um ihren eigenen Arsch und die sich um die Interessen, Nöte, Wünsche und Bedürfnisse der Leute, denen sie ihre Dienstwagen, die Vierzimmerresidenzen in der Maxvorstadt und das abendliche Schlückchen im „Schumann's“ verdankt, einen vertrockneten Vogelschiß schert. Man kann aber selbst dem bestdressierten Hund nur ein paarmal das Fell über die Ohren ziehen, ohne daß er in die Hand, die behauptet, ihn zu füttern, hineinbeißt, selbst wenn er ahnt, daß dadurch nichts besser wird.
Mag sein, daß Trotz kein guter Ratgeber ist. Mag aber auch sein, daß es in einer Welt, in der es offenbar keine Weisen mehr gibt und die Patronisierer dermaßen penetrant aus allen Kanälen blöken, zumindest Spaß macht, ihnen mal die Zunge rauszustrecken. Hinterher, wenn die Wutluft draußen ist, besinnt man sich. Vielleicht besinnen wir uns eines Tages sogar auf etwas vollkommen anderes als die größeren und noch größeren Übel, die die uns zur Auswahl vorsetzen wollen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 6. Dezember 2016

Frisch gepreßt #379: Rio Reiser "Blackbox"


Abschlußtreffen der Forschungsgruppe „Proletarische Rockmusik in Deutschland“. Ernüchtertes Fazit: gibt es nicht, gab es nie. Im Gegensatz fast zum Rest der Welt ist die deutsche Pop(ulär)musik eine hermetisch geschlossene Veranstaltung der Ober- und Mittelschicht, zwar nicht so streng dynastisch durchorganisiert wie der Literaturcircus, aber doch abgeschottet gegen das Proletariat, das lediglich konsumieren darf.
Lediglich Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben, ebenfalls der Mittelschicht entsproßt, wagten den historisch ziemlich einmaligen Schritt, sich der Industrie (größtenteils) zu verweigern, konsequent proletarische Interessen und soziale Konflikte aufzugreifen und sich zum laut lärmenden Sprachrohr so ziemlich sämtlicher emanzipativer, progressiver, linker und randalös-wirrer Ansätze und Bewegungen ihrer Zeit zu machen. Daß sie dabei nicht wie manche Reihenhauspunks tief ins Plumpe abrutschten, vielmehr Emotion, Analyse und Anspruch so wirksam verbanden, daß einige ihrer Songs zu zeitlosen Volksliedern wurden, lag in erster Linie an Rio Reiser, der ja nicht nur Renegat und Agitator, sondern auch ein echter Sänger und Musiker war. Daß diese Vorgehensweise eines Tages in der Sackgasse enden mußte, versteht sich von selbst; auf ewig als Agitproptruppe durch die Lande zu ziehen und den eigenen Jüngern zu predigen ist keine befriedigende Perspektive für eine Musikgruppe. Was TSS bis 1981 an Tondokumenten schufen, ist dennoch unantastbar.
Zur Diskussion stehen nun Reisers Werke ab- bis jenseits von TSS, für die er sich als Solist schuldenbedingt zeitweise den Konzernen ausliefern mußte (durchaus hadernd), die aber viel weiter zurückreichen, als manch einer glaubt, und in ihrem künstlerischen Umfang weit über das hinausreichen, was man kennt: Vielfältig, divers, bisweilen ausufernd, schräg und vor Fettnapftritten nicht sicher, ist die vorliegende Box mit einer angeblich nur knappen Auswahl von 355 Aufnahmen aus Reisers privatem Bandarchiv und von vergessenen Vinylscheiben, die damit beginnt, daß der 15jährige Mitte der 60er per experimenteller Mehrspurtechnik und selbstgeschriebenen englischen Songs den Bob Dylan gibt (mit frappierendem Talent), sich über Theaterprojekte mit seinen Brüdern Gert und Peter (Möbius, er selbst hieß bekanntlich Ralph) als Hoffmans Comic Teater, mit diversen TSS-Besetzungen, den Ensembles Brühwarm, Kollektiv Rote Rübe, Transplantis und anderen, Sessions mit allen möglichen Freunden und Kollegen, Arbeiten für die Stadtoper Unna, Filme, Hörspiele und Musicals bis hin zu Demos aus den letzten Jahren vor seinem Tod 1996 erstreckt.
Vorläufiges Fazit: Dieser selbst in einem ganzen langen Winter kaum erschöpfend zu durchtauchende Ozean von Skizzen, Coverversionen, Produktionen und Rekonstruktionen ist im Gegensatz zu der TSS-Gesamtausgabe kein kulturhistorisch stringentes Archiv der deutschen Zeit(musik)geschichte, auch wenn der Anspruch auf soziale Wirksamkeit über weite Strecken spürbar ist und möglicherweise wirksamer war, als man heute noch weiß. Nein, vor allem ist dies rührend, begeisternd, witzig, spannend, experimentell, immer wieder überraschend (z. B. verknüpft „Freitagabend“ von 1969 den Beatlessong „Bungalow Bill“ und frühe TSS-Anklänge zu einem echten Gassenhauer), hier und da auch peinlich, verstörend bzw. komisch (etwa wenn sich Reiser 1967 mit „König & Clown“ als Ersatz-Drafi-Deutscher versucht und mit „Dreh dich nicht um“ Schlager und Underground-Psychedelik zusammenzuschrauben versucht), mit wenig Längen in 20jähriger Arbeit von Lutz Kerschkowski auf 16 CDs zusammengestellt und mit einem dicken, bebilderten Beibuch versehen, das zwar ein strengeres Lektorat verdient gehabt hätte, das aber auch so wie ein Trip in eine Parallelbundesrepublik wirkt.
Und es ist die bei aller Einmaligkeit von Reisers Leben und Wirken exemplarische Dokumentation eines nicht immer widerständigen, aber durchgehend eigensinnigen künstlerischen Lebens in verwehten Zeiten der Träume von Freiheit und Leben, wie es auf dem deutschen Tonträgermarkt mit Sicherheit keine zweite gibt und auf absehbare Zeit nicht geben kann. Und, dies sei für die Puristen von der sozialwissenschaftlichen Fakultät angemerkt: wirklich verstehen kann man auch TSS erst über diesen ganz anderen Zugang.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #378: Streets of Laredo "Wild"


Seit Tagen kauert der Rezensent im Schrank und gibt keinen Mucks von sich. Grund ist ausnahmsweise nur zum Teil die alljährlich zuverlässig über ihn hereinbrechende Herbstelei, das Schwelgen in der von der Vergeblichkeit alles Tuns und Seins heraufbeschworenen Melancholie, sondern ein fehlgeleiteter Selbstversuch: Um zu überprüfen, ob er modernen Standards der Popmusikproduktion noch standzuhalten imstande ist, hat er sich der Reihe nach den neuen Alben von Bon Jovi, dem ehemaligen Spice Girl Melanie C und Robbie Williams (nebst einigen weiteren Produkten) ausgesetzt, wodurch sich sein Gehirn durch spontane und gleichzeitige Überzuckerung und Gallertisierung in Kratzbeerenmarmelade verwandelt hat.
Mit Kratzbeerenmarmelade im Kopf wird der Rezensent zuverlässig objektiv, behält indes seine in Jahrzehnten der Geschmacksschärfung erlernte borstige Verweigerungshaltung bei. Was er da gehört habe, ließ er verlauten, sei „zweifellos qualitativ hochwertig“ und genüge „strengsten Anforderungen an Hygiene, Fertigkeit und Attraktivität“, dennoch sei es „unerträglich“.
Stundenlang kniete sein alter Kumpel Robbie vor dem verschlossenen Schrank, wedelte mit dem Album, das er aus der zwecks Entsorgung bereitstehenden Kiste mit der Aufschrift „Pupo“ („purer Populismus“) gerettet hatte, und schwor inständig, er meine es gar nicht so, und es sei doch ein gemeinsamer Song mit John Grant drauf. Aber da hat er wohl den vom Rezensenten angebrachten Aufkleber „Obacht! Lockstoffe!“ übersehen, und als er, wohlweislich zaghaft, den Namen Rufus Wainwright hinzufügt, ertönt aus dem Schrank immerhin ein leises Rülpsen. Ein Lebenszeichen!
Aber was tun? Bekannt ist: Gegen das Herbsteln hilft das Öffnen der individuellen Pandoradose, die alle Übel der Erinnerung, aber auch die Hoffnung enthält. Eine stets diffus gebliebene, nur musikalisch in die Welt getretene. Das Rezept hierfür ist ein heikles und riskantes: ein Hauch zu viel Süß, ein winziger Riß im Gesamtgefüge, schon knallt die Schranktür wieder zu. Und es muß ja so vieles verbinden an (mindestens) Ahnungen: die End-80er, als die Cowboy Junkies noch geheimnisvoll und Giant Sand noch spannend waren, die flockenwolkige Leichtigkeit der frühen gemeinsamen Alben von James und Brian Eno, eine Ahnung der grenzenlosen Freiheit von Patti Smith, vielleicht sogar eine Prise Lone Justice, Paul Simon, Bob Dylan nach einer produktionstechnischen Gesamtkörperwäsche (am besten durch jemandem, der mit Sonic Youth und Dinosaur Jr. zu tun hatte, sich daran aber nicht mehr erinnert), ein paar, aber nicht zu ausgiebige Anspielungen und Zitate, die der Rezensent nicht gleich zuordnen kann. Und ein Seil, auf dem dieser Balg, von jeglichem Ballast befreit, schwindelfrei durch den Äther tanzt, sich von goldenen Sonnenstrahlen nährt und sie als schimmernde Perlen aus Melodiegranulat in die Welt streut.
Oh, und dann sollte noch die Instrumentierung nicht zu modernistisch, aber auch nicht altbacken sein. Der Geist sollte die Welt umspannen, von Neuseeland bis Brooklyn und umgekehrt. Die Arrangements müssen hinter dem, was sie in den Vordergrund stellen, zuverlässig in den Hintergrund treten, und visuell sollte eine imaginative Farbigkeit die Jahreszeit als Fähnchenkette in der Phantasie flattern lassen, ohne Bunt und ohne Grau, um die Hoffnung aus der Büchse zu locken. Und zwar so wirksam, daß neue Erinnerungen für spätere Herbste daraus erstehen. Und eine Sehnsucht, die sich in einem Gesicht so zehrend verkörpert, daß sich der Rezensent verlieben muß, ideell mindestens.
Ach, das alles gibt es? Und es ist nach einem alten Cowboylied benannt, dessen pikaresk-pittoreske Geschichte bis ins Irland des 18. Jahrhunderts zurückreicht und die der Rezensent sicherlich gerne erzählte, wenn noch Platz bliebe? Und es ist tatsächlich so schön, wie es aussieht? Na, dann legen wir das mal auf und lauschen, ob wir die Scharniere des Schranks und der Pandorabüchse nicht bald quietschen hören …

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 22. November 2016

Belästigungen 22/2016: Von Götterbäumen, grünen Enten, furzenden Nashörnern (und dem Satan tief im Osten)

In meiner späten Kindheit bestand eine unserer Hauptbeschäftigungen darin, auf den Rücksitzen von Autos zu lümmeln und uns gegenseitig in den Oberarm zu zwicken, sobald wir eine grüne Ente erblickten (für Spätgeborene: dabei handelt es sich nicht um einen Vogel, sondern um ein schon damals bezaubernd antiquiertes Automobil, das motortechnisch Kundige als „Schnauferl“ bezeichneten und das angeblich gelegentlich in Kurven umkippte). Dabei erfuhr ich ein seltsames Phänomen: Vor Einführung dieses Rituals wußte ich gar nicht, daß es überhaupt grüne Enten gab, und nun wimmelten sie plötzlich in ganz München herum, als hätte jemand in ein Nest gestochen.
Man hat mir erklärt, das habe mit Aufmerksamkeit zu tun: Man bemerkt manche Sachen erst, wenn man sie einmal bemerkt hat. Ähnlich ging es mir neulich, als mir ein Freund von dem Götterbaum in seinem Garten erzählte: Der sei zwar recht hübsch anzuschauen, aber giftig und äußerst allergen. Sein Holz tauge weder zum Bauen noch zum Heizen, allerhöchstens habe die Rinde chinesischen Wunderheilern zufolge eine „adstringierende“ Wirkung, was laut Lexikon „zusammenziehend“ bedeutet – nun ja, das ist was für hoffnungsfrohe Jungpärchen mit Kinderwunsch, die sich allerdings für gewöhnlich kaum mit Baumrinde einreiben müssen, um ihre illusionäre Verblendung zu intensivieren.
Vor allem aber zählt der garstige Baum zu den schlimmsten invasiven Neophyten, weil er aus Sicht des heimatpflegerischen Botanikers einfach nicht hierher gehört, dies aber partout nicht einsehen mag, sondern alles andere zuwuchert. Wenn man ihn umsägt und mit Hacke und Spaten die Wurzeln atomisiert, hilft das auch nichts, weil er ein paar Schritte weiter mit doppelten Elan und dreifacher Widerborstigkeit erneut aus der Grasnarbe schießt, und am Ende sitzt man in einer riesigen Baustelle, kratzt sich die Pusteln wund und darf sich noch verlachen lassen von dem Kerl.
Da ging es mir genauso wie mit den grünen Enten: Von einem Götterbaum hatte ich bis dahin nie gehört (selbst der Freund hatte erst nach eingehenden taxonomischen Studien ergründet, daß es sich um einen solchen handelt). Jetzt, wo ich es weiß, kann ich keine zehn Meter radeln, ohne mindestens drei Götterbäumen zu begegnen, die in ganz München aus praktisch sämtlichen Ecken, Nischen, Ritzen und Winkeln herausploppen wie der Sparrige Schüppling aus dem Fundament meiner altersschwachen Espe. Oder sagen wir für weniger Pilzkundige: wie die Immobilienbüros aus den Parterre-Etagen sämtlicher Münchner Bauwerke. Das ist nämlich eine durchaus ähnliche Erscheinung und ungefähr ebenso erfreulich.
Noch vor wenigen Jahren okkupierte die schrillbunte Armada der Telephondantler flächendeckend ehemalige Bäckereien, Metzgereien, Obst-, Milch- und Schreibwarenläden und hoffte offensichtlich darauf, daß im Jahr 2020 jeder Münchenbewohner vierzehn Händis mit sich rumschleppen und für seine diversen Null-Euro-Flatrates trotzdem irgendwie genug bezahlen würde, um ihnen in den ebenfalls neuen, nebenan kohabitierenden Thai-Dampfküchen eine ausreichende Kalorienzufuhr zu ermöglichen.
Eine Milchmädchenrechnung, freilich. Heute sind die Thaiküchen zu ultraveganen Trendfoodapotheken mutiert, wo sich die modische Mittelschicht zum zehnfachen Preis mit weitgehend denselben Zutaten plus drei Salatblättchen die Magenwände tapeziert, während nebenan in den ehemaligen Händiläden die Schaufenster zugeklebt sind mit amateurhaft-grieseligen Schnappschüssen von Betonsilos und Luxusbunkern, die zu Millionenpreisen als Traumwohnungen offeriert werden. Da stehen die gestylten Streßsklaven dann davor und träumen von einer anderen Welt, in der sie so was dank eifriger Arbeitsleistung irgendwann bezahlen können.
Und wir stellen fest, daß es in München offenbar dermaßen viele freie Wohnungen gibt, daß sich selbst im hintersten Giesing das Betreiben einer Vermittlungsstelle für grotesk überteuerten Leerstand lohnt. Kauft so was wirklich jemand, fragen wir uns, und: Wieso fällt uns das jetzt erst auf? Weil aus den Ritzen im Pflaster vor solchen Läden besonders gerne Götterbäume sprießen und drei Meter weiter die letzte grüne Ente des Voralpenraums parkt?
Der Grund ist wahrscheinlich, daß wir auf derartige Phänomene normalerweise kaum achten können, weil wir nur eine Aufmerksamkeit haben und die ständig abgelenkt wird. Von Sachen, auf die man gar nicht extra achten muß, weil sie sich selbsttätig ins Hirn hineinhämmern. Nämlich ist es Wissenschaftlern zufolge so, daß der Mensch, wenn er erst mal lesen gelernt hat, an schriftlichen Botschaften absolut nicht mehr vorbeikommt, ohne sie aufzusaugen. Weil München wie die meisten deutschen Städte lückenlos vollgestellt ist mit den Verlautbarungskästen der offiziellen Propaganda, werden deren Botschaften zwangsläufig in unser Hirn förmlich hineingestempelt, und wir müssen uns notgedrungen mit den aktuell „wichtigen“ Parolen auseinandersetzen: Tief im Osten lauert der finstere Satan Putin, der die Welt ins Chaos reißen will, und wer im Alter nicht darben möchte, muß dringend „privat vorsorgen“, weil die staatliche Rente nicht reicht. Dazu die üblichen Beilagen von zerstückelten Jungfrauen, heldenhaften Fußballprofis und Einkaufstips.
Weil sich ein einigermaßen funktionstüchtiges Hirn die Dauerpenetration mit derartigem Bullshit nicht bieten läßt, fängt es automatisch an, dem Terror mit vernünftigen Argumenten entgegenzudenken, wird dabei aber unterbrochen von den Nachfahren der grünen Enten, den Protzautos der Machtelite, die beim ameisenartig ungeduldigen Dahinbrettern röcheln wie ein kaputter Starfighter und an jeder Ampel furzen wie ein darmkrankes Rhinozeros, das gerade fünf Zentner rohe Feuerbohnen verzehrt hat (womit übrigens nichts gegen die Tiere gesagt sein soll: Daß hinter deren Nasenhörnern mehr Intelligenz und Empathie zu finden ist als im Schädel eines durchschnittlichen Porschefahrers, weiß ich sehr wohl).
Und so wuseln und irren wir durch die von Götterbäumen zugewucherten Schluchten der Stadt, im Kopf ein einziges Wischiwaschi aus Rente, Putin und Autofürzen, und stellen alle paar Monate fest, daß irgendwas vollkommen anders geworden ist, was gerade noch vollkommen anders war. Vielleicht sollten wir uns öfter in den Oberarm zwicken.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 5. November 2016

Belästigungen 21/2016: Wer holt den Donald da raus, bevor es zu spät ist?

Ich kann mich an keine Sekunde in meinem ganzen Leben erinnern, in der ich Lust gehabt hätte, mich mit Donald Trump zu beschäftigen.
Was ich in meinen Jahren als Fernseh- und Zeitungskonsument ungefragt über den Kerl vorgesetzt bekam, genügte bei weitem: rassistische Tiraden, frauenfeindliches Gewäsch, zwielichtiges bis kriminelles Milliardengescheffel, kapitalistischer Größenwahn, offensiv zur Schau getragene Vollidiotie und impertinente Großmaulerei, Misswahlengeschwiemel, Verblödungs-TV, allgemein und insgesamt mangelnder Anstand, absichtlich herbeigeführte Unansehnlichkeit bei gleichzeitiger maximaler Medienpräsenz, und dann ist er auch noch Nichtraucher und trinkt keinen Alkohol.
Nein, für so was ist die fadeste Zeit zu schade; da versucht man lieber, Semmelbrösel an die Wand zu nageln. Aber es hilft ja nichts – wenn die Medien erst mal entschieden haben, daß uns etwas zu interessieren hat, kommen wir dem nicht aus. Und seit der Enkelsohn der deutschen Familie Drumpf nach 2000 zum zweiten Mal beschlossen hat, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, die man auch hierzulande so stur als „Amerika“ bezeichnet, als hätte es Argentinien, Brasilien, Kuba, Ecuador, Kolumbien, Kanada, Kuba, Paraguay, Panama, Guatemala und ein paar andere Länder nie gegeben, entkommt man ihm buchstäblich keine Sekunde mehr. Kein zufällig aufgeschnapptes Straßengespräch, in dem es nicht um ihn geht, keine zehn Zentimeter Facebook ohne ihn.
Klar, möchte man meinen, schließlich ist Wahlkampf, oder nicht? Schon, aber ein solcher fand dieses Jahr auch in Portugal, Uganda, Siribati, der Slowakei, Benin, Kongo, Südkorea, Sambia, Gabun, Estland, Peru, Island, Australien, Japan usw. usf. statt, und wer von sich behaupten kann, auch nur die wichtigsten Kandidaten aufsagen zu können, der sollte sich beruflich in Richtung Kreuzworträtsel orientieren. Und auch wenn man konzedieren muß, daß die USA für uns von größerer Bedeutung sind als die Zentralafrikanische Republik – schon weil letztere weder McDonald's noch Pepsi erfunden und nie vorhatte, in Europa einen Atomkrieg zu führen –, erscheint der Rummel doch ein bißchen übertrieben.
Wenn man genauer hinschaut, kriegt die sturmflutartige Vehemenz, mit der gewisse Medien insbesondere in den letzten Wochen gegen den Kandidaten Trump kämpfen und agitieren, einen unguten Schimmer, und wenn man auch nur peripher verfolgt, wie der Mann mit geradezu heroischem Eifer in jedes noch so unwahrscheinliche Fettnäpfchen hinein trumpt, fragt man sich unwillkürlich, was der eigentlich vorhat.
Es wäre nicht das erste Mal, daß die USA von Narren und Trotteln regiert werden. Andererseits sind, sagen wir mal: mächtige Kreise schon seit vielen Jahren emsig bemüht, endlich Hillary Clinton zur Präsidentin zu machen, um die ihrer Ansicht nach unter Barack Obama geringfügig ins Stocken geratene Expansions- und Kriegsmaschinerie wieder so richtig losrasseln zu lassen. Schließlich hat Clinton als Außenministerin am Exempel Libyen schon mal gezeigt, wie man einen ganzen Erdteil ins lukrative Chaos stürzt, und deutlich gemacht, daß sie einer „Auslöschung“ des Irans und einem Krieg gegen Rußland und China nicht im Weg stehen wird.
Pech für die mächtigen Kreise, daß Hillary Clinton aufgrund von Gründen noch vor Gundel Gaukeley so ziemlich die unbeliebteste Frau der ganzen Welt und speziell der USA ist. So was, lautet der Konsens, kann man höchstens zähneknirschend als „kleineres Übel“ wählen, um ein schlimmeres Übel zu verhindern (was absolut widersinnig, völliger Quatsch und trotzdem nicht nur in den USA üblich ist: Wer kann sich noch erinnern, wann oder ob er irgendwann mal etwas gewählt hat, was nicht nur das „kleinere Übel“ war?). Also mußte ein Gegenkandidat her, der Clinton als „kleineres Übel“ erscheinen ließ. Ideal wäre ein kaputter Regenschirm, ein zwanzig Jahre alter Cheeseburger oder Adolf Hitler gewesen, aber die standen leider nicht zur Verfügung, und beim Hitler wäre die Kiste nicht mal richtig sicher gewesen.
Und hier kommt Donald Trump ins Spiel, alter Freund und ehemaliger Parteigenosse der Familie Clinton, den sein Kumpel und Golfpartner Bill kurz nach Bekanntgabe von Hillarys Kandidatur anrief und ermunterte, sich doch ein bißchen mehr bei den Republikanern zu engagieren. Der Tip kam Donald gerade recht, schließlich war er sowieso der Meinung, daß man ihm für seine windigen TV-Shows viel zu wenig Millionen in den Hintern butterte, und brauchte, um den Produzenten gegenüber effektiver auftrumpfen zu können, ordentlich Medienpräsenz. Zimperlich war er nie, und so schien es ihm die pfundigste Idee, mal so nebenbei zu verkünden, er werde der nächste oberste Führer der mächtigsten Nation des Universums.
Freilich hatte Trump weder ein Wahlkampfteam noch die nötige Infrastruktur, geschweige denn Redenschreiber oder überhaupt ein Manuskript und eine Ahnung von irgendwas. Aber das war ihm offenkundig wurst, schließlich wollte er ja nur mal wieder von Millionen bewundert und mit Milliarden beworfen werden und so richtig geil die Klappe aufreißen. Also plärrte er los, und Kameras und Schlagzeilengeneratoren konnten gar nicht genug kriegen von dem Veitstanz, den er seit letztem Sommer aufführte. Man kringelte sich vor Verblüffung und Lachen, kicherte über seine außerirdische Explosionsfrisur und den blühenden Bullshit, den der unbeherrschbare Polterer in die Welt setzte, ohne sich darum zu scheren, daß er sich mit jedem zweiten Satz selber widersprach.
Die mächtigen Kreise konnten sich derweil beruhigt zurücklehnen. Den innerparteilichen Widersacher Bernie Sanders würde man mit den üblichen Methoden aus dem Weg räumen, und da sie ebenso gut wie Trump selbst wußten, daß ein dermaßen wirrer Wüstling niemals gewählt werden konnte, schien der Weg frei für die Wunschkandidatin des militärisch-industriellen Komplexes zwischen Wall Street und Pentagon.
Allerdings wurden aus der blasierten Siegesgewißheit sehr bald kalte Füße und noch kälteres Entsetzen, als die vermeintliche Schießbudenfigur in den Vorwahlen einen Triumphzug hinlegte und zum meistgesendeten Promidummi der Fernsehgeschichte wurde, weil sich mit einem Schuß Trump noch der fadeste Vormittagsmüll zum Blockbuster aufblasen ließ. Der frisch gekürte Kandidat badete im Narzißmus und pfiff auf seine ursprüngliche Absicht, aus den Sendern ein bißchen mehr Geld für seine Shows herauszuleiern – schließlich war er jetzt Sonnenkönig Donald I. und der umjubelte Superstar jeder Fernsehshow des gesamten Planeten!
Bis ihm eines Tages (genauer gesagt: am 7. Juni) klarwurde, daß die Sache einen Haken hat: Es schien nun nämlich durchaus möglich, daß er die Wahl tatsächlich gewinnen würde. Dann wären erstens Hillary und ihre mächtigen Kreise mächtig sauer, und außerdem müßte er dann zumindest nach außen hin so tun, als beschäftigte er sich mit einer Art Politik, – und für vier Jahre in diese windige alte Bruchbude im Ghetto von Washington ziehen!
Und seitdem macht Donald Trump alles falsch, was man falschmachen kann, legt sich mit jedem an, der ihm einfällt – zuletzt besonders intensiv mit der eigenen Partei. Ein nicht zu überhörender Hilferuf: „Holt mich hier raus! Stoppt diesen Wahnsinn! Und tut es vor der Wahl, damit ich nicht am Ende als Verlierer in die Geschichte eingehe, sondern mich mit gestrecktem Mittelfinger und einem kernigen 'Fuck you!' verzupfen kann!“
Warten wir mal ab, ob das Establishment dieser durch und durch verfaulten Partei genügend transatlantische „Qualitätsmedien“ liest, um rechtzeitig ein Einsehen zu haben und die Notbremse zu ziehen. Andererseits ist äußerst zweifelhaft, daß Hillary Clinton wirklich das „kleinere Übel“ darstellt, und wenn ich mich recht erinnere, habe ich noch in keiner Sekunde meines ganzen Lebens Lust gehabt, mich mit ihr zu beschäftigen. Aber wenn sie endlich erfolgreich ins Weiße Haus hineingepreßt ist, muß man das ja auch nicht mehr – zumindest bis der Krieg losgeht.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 4. November 2016

Frisch gepreßt #377: Leonard Cohen "You Want It Darker"


Auf manche Dinge kann man sich blind verlassen. Wenn zum Beispiel die Jury des Literaturnobelpreises beschließt, mal wieder so richtig mit ihrer Offenheit und Vielseitigkeit aufzutrumpfen und endlich dem größten Songpoeten (mindestens) des 20. Jahrhunderts die Sprengstoffmedaille um den Hals zu hängen, dann erwischt es selbstverständlich mal wieder den falschen.
Was nichts gegen Bob Dylan heißen soll, der hat sicherlich seine Meriten (und wenn der Buchmarktschreier Denis Scheck dagegen ist, kann ich nur dafür sein). Es ist, was mich betrifft, eher eine Frage spätjugendlicher Prägung und in diesem Sinne sogar großes Glück: Unter den Trägern dieses seltsamen Preises waren in den letzten 116 Jahren ziemlich genau zehn, von denen ich schon mal mit Freude oder wenigstens Geduld was gelesen habe, und dafür aber Luschen und Krampfsteller galore, was vor allem im neuen Jahrtausend dazu geführt hat, daß ich Nobelpreisbücher grundsätzlich meide und hoffe, daß keiner meiner Lieblingsautoren das Ding kriegt.
Es ist aber auch eine Frage der frühkindlichen Prägung: In unserem Haushalt gab es eine spektakulär bunte Langspielplatte mit einem Hippie auf dem kopfstehenden Coverbild, die vor der Emanzipation durch Glam, Prog und Punk ein wesentlicher Bestandteil meiner musikalischen Grundnahrung war. Das Album hieß „That's Underground“, und da waren außer manch obskurer Band, an die sich außer mir wahrscheinlich kaum noch jemand erinnert (wie wär's mit The United States of America?), auch zwei Songpoeten drauf: Dylan und Leonard Cohen.
Während mich Dylans „Highway 61 Revisited“ damals schmerzlich an eine Zahnarztbehandlung erinnerte, war „Suzanne“ die erste und wichtigste Ballade meines Lebens. Es war das erste Lied, das ich auf der Gitarre spielen konnte, und es hat mich über die Jahrzehnte begleitet, ohne je einen Hauch seiner Wirksamkeit einzubüßen. Diese eigentümliche Mischung aus Demut und Hoffnung, Gelassenheit und glühender Trauer, Melancholie und Bescheidenheit, diesen Kranz von schlichten Worten, aus dem tausend Geschichten entspringen, die doch immer nur eine sind, eine uralte, die vielleicht älteste von allen – das bekam kein anderer Künstler der Welt und aller Zeiten je auch nur annähernd hin.
Im Gegensatz zu Dylan ist Cohen tatsächlich Dichter – er war es schon, bevor er Musiker wurde, mit 33, um nicht zu verhungern. Und eigentlich ist er nie ein richtiger Musiker geworden: Klangliche Fehltritte wie das fürchterliche Phil-Spector-Album „Death Of A Ladies' Man“ (1977) und das Synthesizergezicke der späten 80er und frühen 90er lenkten aber höchstens ab vom Kern dessen, was seine Kunst ausmacht: der Poesie, die in späteren Jahren zusehends düster und schwermütig wurde und nun ein Ende in fast schwarzer Dunkelheit erreicht hat.
Es ist die Dunkelheit einer verlorenen Welt und eines vergeblichen Lebens, in der „Millionen Kerzen brennen für die Liebe, die nie kam“. Cohen ist 82 Jahre alt, im Juli ist seine Lebensliebe Marianne, die zwei seiner schönsten Lieder inspirierte, gestorben, und Cohen hat ihr in einem Brief ohne Empfänger versprochen, bald zu folgen. Diese Erde, das spürt man vom ersten Atemzug des Titelsongs über die unmißverständliche Zeile „I'm ready, my Lord“ bis zum letzten Ton von „String Reprise/Treaty“, trägt ihn nicht mehr, und die Welt, der er nachtrauert, hat es vielleicht nie gegeben: „If you are the healer/I'm broken and lame/If thine is the glory/Mine must be the shame.“
„You Want It Darker“ wird Leonard Cohens letztes Album bleiben, und es ist ein würdiger Schlußstein, sparsam, aber höchst geschmackvoll und stilsicher instrumentiert und orchestriert, mit choralen Gastbeiträgen, die Gänsehäute verursachen, weil die ganze Zeremonie in neun Songs nie daran zweifeln läßt, auf was sie unausweichlich zugeht: auf das Ende. Diese Gewißheit ist furchterregend, stellenweise spürt man den Zorn des Mannes mit der ultraabgründigen Grabesstimme, der alles, wovon er erzählt, in die Vergangenheitsform stellt. Vor allem aber ist anrührend, wie abgeklärt, friedlich und ruhig er all das beschwört, was nicht mehr ist und nie mehr sein wird. Und das, was ist: Angst, Vulgarität und Wahn, die eine Welt am Laufen halten, in der Mitgefühl keinen Platz mehr hat. Das Motiv des Abschiednehmens kehrt immer wieder, es ist das Herz dessen, was einen bewegt, der nicht mehr kann und nicht mehr will. Dieses Album ist denn auch der würdigste, bewegendste Abschied, den man sich nur vorstellen kann. Hoffen wir, daß nicht doch noch jemand auf die Idee kommt, Leonard Cohen einen Nobelpreis anzukleben, und danken wir ihm: für sein Leben.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Belästigungen 20/2016: Von Beziehungen (ohne Sex), Nichtbeziehungen (mit Sex) und ein paar anderen „Begriffen“

Z hat mir neulich erzählt, sie führe jetzt eine „Nichtbeziehung“. Das sei zeitgemäß und trendig, außerdem habe sie sich das nicht unbedingt ausgesucht, und selbstverständlich führe sie diese Nichtbeziehung mit R, mit wem denn sonst.
Z ist seit ungefähr zehn Jahren, seit der letzten Schulklasse, mit R … nun ja, zusammen oder halt jetzt „nichtzusammen“; was sind solche Begriffe schon wert, „verheiratet“ heißt ja heute auch ganz was anderes als vor zwanzig Jahren, von „verlobt“ zu schweigen. Verlobt waren Z und R übrigens auch schon mal. Ich gestehe gerne, daß ich maßgeblich daran beteiligt war, ihnen (oder sagen wir: Z) diesen Schmarrn wieder auszureden. Eben wegen der Bedeutung der Begriffe, unter anderem.
Jetzt führen Z und R also eine Nichtbeziehung, was damit zu tun haben könnte, daß sie seit sechs Monaten nicht mehr zusammenwohnen, weil die Wohnung im Lauf der Jahre immer teurer geworden ist, die Arbeit von Z und R aber nicht. Eine ähnliche Situation gab es schon einmal, damals „mußte“ R nach Essen ziehen, wodurch aus der Beziehung eine „Fernbeziehung“ wurde, die beide an den Rand des Nervenzusammenbruchs brachte, weil die dauernde Telephoniererei neben den horrenden Kosten nur dazu führte, daß sie sich immer weiter entfernten, wie das der Telephoniererei halt so eigen ist: der eine äußert eine Information, der andere deutet mangels Augenkontakt etwas hinein (notfalls: „Du liebst mich nicht mehr!“, „Du verschweigst mir was!“ oder „Du hast was mit einer/m anderen!“), dann seufzt, schweigt, gurrt und tutzibutzit man so lange herum, bis die/der verliebteste Verliebteste sich vor lauter Überdruß irgendwas beliebiges Fleischliches herbeiwünscht, was man ohne Tutzibutzi anfassen kann.
Nun wohnt Z wieder bei ihrer Mutter (die mit ihrem Vater eine mutmaßliche „Nichtbeziehung“ führt) im äußersten Münchner Westen, R in einer WG im äußersten Münchner Osten, was Begegnungen und gemeinsam verbrachte „Quality time“ im Rahmen eines im modernen Sinne einigermaßen geregelten Berufslebens (Z macht circa zwanzig unbezahlte Überstunden pro Woche, R ist „frei“, arbeitet also technisch betrachtet rund um die Uhr) einigermaßen erschwert. Sie treffen sich alle ein, zwei Wochen, haben Sex oder nicht, besprechen ein paar Dinge, gehen hin und wieder essen. Das, hat R beschlossen, sei keine Beziehung, sondern eine Nichtbeziehung, die immerhin den Vorteil habe, daß man im Falle eines Falles sich nicht groß trennen müsse, weil man ja gar nicht zusammen sei, und viel problemloser als in einer Beziehung „Freunde bleiben“ könne.
Mir leuchtet das irgendwie ein. Wir, erkläre ich Z, führen ja im Grunde auch seit Jahren eine Nichtbeziehung: Wir telephonieren, smsen, facebooken, treffen uns ab und zu, haben hin und wieder Sex, betrinken uns und reden über alles, was uns beschäftigt. Aber Z hat wie meist sofort den passenden Zeitungsartikel parat, in dem erklärt wird, Nichtbeziehungen seien etwas ganz Schlimmes, weil man sie eben gar nicht groß beenden und daher auch keine „Verantwortung“ übernehmen müsse. O ja, sage ich, das ist bei „echten“ Beziehungen selbstverständlich ganz anders, schließlich dauere so eine Scheidung im Durchschnitt zehn Minuten, und die könne man auch nicht nach Lust und Laune erwirken, sondern nur wenn … na ja, man eben keine Lust mehr hat auf das Grinsgesicht mit Mundgeruch, das einem da seit Jahren schweigend am Frühstückstisch gegenübersitzt, oder wenn beim geringsten Ärger oder nach sechs Monaten ohne Sex eine der allüberall lauernden Beziehungshyänen daherkreucht und die/den einst Angebete(n) in eine Neubausiedlung samt Kind, Auto und Sky-Abo entführt. Da übernehme man schon eine gewaltige Verantwortung! Eine Nichtbeziehung wie die unsere hingegen sei völlig unverbindlich, weshalb wir uns auch nach jeder unserer seltenen, aber vehementen Streitereien höchstens ein paar Tage später mit dem schlechtesten Gewissen und der schlimmsten Reue der Welt versöhnt und gemeinsam über unsere Blödheit gelacht haben.
Da wird Z nachdenklich und kritzelt ein paar nicht zu deutende Graphen in den Zeitschriftenartikel hinein, wie sie das immer macht, wenn sie nachdenklich wird. Vielleicht, meint sie nach einer Weile, habe sie dann nicht mit R, sondern mit mir eine Beziehung und mit R keine Nichtbeziehung, sondern eher gar nichts, außer hin und wieder so ein … Dings, irgendwie.
Vielleicht, halte ich dagegen, habe sie mit R eine Beziehung und mit mir, so wie ich mit J und C und F und P und J und so weiter eine Beziehung habe, wie sie ja auch mit O und M und N und L, und vielleicht habe all das mit Sex und Zusammenwohnen und dem ganzen Quatsch überhaupt nichts zu tun, sondern überhaupt einzig und allein mit der Verantwortung, die man automatisch für Menschen übernimmt, die man mag und braucht und liebt, während man „eine Beziehung führen“ und heiraten und Kinder kriegen und sich dann wieder verpissen mit jedem beliebigen Menschen auf dieser Welt könne, nach Lust und Laune und vollkommen unverbindlich.
Und dann … rufen wir R an und sagen, er solle seine blöde Arbeit ein anderes Mal machen, und gehen uns betrinken und lachen die ganze Nacht, und am nächsten Nachmittag ruft mich Z an und erzählt, R habe sie gefragt, ob sie nicht doch wieder eine Beziehung mit ihm will, und sie habe gesagt, das sei schwierig, weil sie ja schon mit mir und O und M und N und L und der halben restlichen Welt eine Beziehung habe und das erst mal überdenken und definieren müsse, und jetzt sei er mal wieder stinksauer, aber das dauere ja bei ihm zum Glück immer nur zwei Tage.
Und ich denke mir, daß die Welt ohne Begriffe schon auch ganz lustig wäre. Aber vielleicht nicht ganz sooo lustig.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 17. Oktober 2016

Frisch gepreßt #376: Van der Graaf Generator "Do Not Disturb"


Wenn man drei Wochen lang toujours das (wegen des langen Vorlaufs nach wie vor und weiterhin) neue Album von De La Soul gehört hat, ist der Bullshit-detector in einem Maß geschärft, das für musikalische Schwächlinge lebensgefährlich ist: Freilich ist der Hunger nach neuen Beats, Tracks, Songs, Texten nach wie vor da und akut, aber kaum bis nicht befriedigend, schon gar nicht gewohnt orgasmisch zu stillen, egal was man hineinschüttet in den Musikverdauungsapparat:
Skylar Grey (zwei passable Tracks), Banks (coole Lyrics, sonst wenig); das Ausweichen aufs entgegengesetzte Terrain der spätnachgeborenen Emos und Coreluschen führt höchstens zu Boston Manor (möchten gerne Attack In Black sein, haben aber keine gute Idee), dann weicht man dem vorbeiwalzenden Aufmarsch der Indieopas und -omas aus (Feeder, Deacon Blue, Pixies, Lovebugs und weitere 80/90er-Mischpoke) aus und landet bei den herbstüblichen Mischungen aus Düster und Depri (Emma Ruth Rundle: zu viele heruntergestimmte Saiten, zu wenig Herz, zu viel Sehnsucht nach Anna Calvi) und ganz neuen Männern, die ganz alte Sachen zusammengrooven (Hiss Golden Messenger: fünf Tracks lang famos, dann wird’s fad, was genauso sein könnte, wenn man das Doppelalbum von hinten laufen läßt).
Und dann, weitere zehn Platten weiter, bricht die phonographische Bulimie (nicht fragen: wie man das Zeug aus den Ohren wieder hinauskriegt, wollt ihr gar nicht wissen) schlagartig ab und verwandelt sich mit einem Blick in den rosagefiederten Wolkenwahnsinn, in den der abendliche Planet Erde oktoberlich früh hineinkippt, in Sehnsucht: nach Wahnsinn, Wahnwitz, Irrsinn, ernsthaftem, aber völlig verstiegenem Anspruch, nach einer Schönheit, die nur aus Übertreibung und Abseitigkeit erblühen kann.
Nach, kurz gesagt: ähm. Progressive Rock? Aber wann hat man das letzte Progressive-Rock-Album gehört, das allgemeinverträglich, charmant, verrückt, schön und verspielt zugleich war? das nicht zur olympisch-akademischen Rekordorgie mit verklemmt-verschränkt-athletischem Overkill zu vieler rasender Kickdrums und gehirnzerfräsender Gitarrenschreddereien, gesichtslosem Operngesang, überhabenem Pathosgeschwaufe und pickeligem Nerd-Habitus ausartete? 1974? Trübsal.
Aber ach! Es ist die Saison der flammenden Sonnenuntergänge, und unter einem solchen kommt Kamerad Peter Hammill dahergeschlendert wie der irische Vampir Cassidy in „Preacher“ (dem er in seiner coolen Spindeldürre mit seinen bald 68 Jahren immer noch ähnelt) und schmeißt das neue Album seiner Band auf den Tisch, die sich bei ihrer Gründung 1967 (!) nach einer Maschine benannte, mit der man ungeheure Spannungen erzeugen kann (wer nie Physikunterricht hatte: Da stehen selbst meterlange Metalmatten zu Berge!), und damit den passendsten Namen wählte für das vielleicht spannendste musikalische Kollektiv aller Zeiten.
Aber das wissen Eingeweihte sowieso. John Lydon, Marc Almond, Graham Coxon, Bruce Dickinson, Luca Prodan, Mark E. Smith, John Frusciante, Julian Cope (man denke sich zu jedem dieser Namen außer Cope ein Ausrufezeichen in Klammern dazu) und unzählige andere, meistenteils obskure, aber äußerst interessante Künstler haben VDGG als den oder einen ihrer wichtigsten Einflüsse, als Idole bzw. Helden genannt – unvorstellbar, wie die Popmusik der letzten vierzig Jahre ohne sie aussähe.
Gut, und weil Peter so freundlich lächelt, legen wir die neue Platte auf und finden uns schon wieder in „Preacher“, in einer Showdownszene unter flammendem Sonnenuntergang, die sich alsbald wandelt in das dringlich brodelnde, hinreißend schimmernde, feurig glühende Chaos, diesen Seiltanz aus Wollen, Können, Müssen, Versuchen, Scheitern und Gelingen, dieses brechtianisch dräuende Fegefeuer, das für Julian Cope der Grund war, VDGG aus dem gerne inhaltlich betulich bis missionarisch fließenden Prog-Rock-Kanon herauszuheben.
O ja, solche Musik mag, auch wenn z. B. der flotte, ansteckend engagierte Spätsechzigerrocksong „Forever Falling“, die kokelnd-hymnische Unterweltballade „Room 1210“ und das tiefblau bowie-eske „Almost The Words“ anfangs anderes vermuten lassen, bisweilen anstrengend sein (und es empfiehlt sich nicht, einen solchen Brocken wie „(Oh No I Must Have Said) Yes“ zum „letzten“ Glas Wein nach dem ersten Rendezvous aufzulegen – außer man hat eine S/M-Neigung, die weit über diverse Grauschattierungen hinausgeht). Aber sie ist auch, was 99,9 Prozent der ansonsten veröffentlichten Musik nicht ist: riskant, wagemutig, wahnsinnig, schön, manchmal ungeheuer schön, und spannend. So spannend, daß selbst meterlange Matten zuverlässig zu Berge stehen.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Montag, 10. Oktober 2016

Belästigungen 19/2016: Ein paar grundlegende Fragen (und ein Ätschibätschi) für den goldenen Restsommer

Neulich war an dieser Stelle die Rede von den Ferien und ihrer Eignung, ja geradezu Prädestination zum Lernen – wobei es eben darauf ankomme, was man lerne und daß dies im Zweifelsfall zuallererst das Naturgesetz ist, daß Arbeit etwas Lästiges ist, dem man so weit wie nur möglich aus dem Weg gehen sollte.
Indes befürchte ich, daß vor allem ungeduldige Leser (d. h.: die jüngeren) über die Überschrift und ihre gerechte Empörung – „Bitte was? Lernen in den Ferien!? Blas mir den Schuh auf!“ – nicht hinausgekommen sind und grollend beschlossen haben, diese Seite hinkünftig zu überblättern, um nicht noch mehr solchen Schmarrn vorgesetzt zu kriegen.
Aber, liebe Kinder, gebt mir noch eine Chance, nun, da ihr sowieso der Ferien enthoben seid und wieder auf Tafeln, Overheadprojektionen und Bildschirme glotzen müßt, anstatt gelangweilte Erwachsene wie mich an Isar- und Seestränden mit sprachlich wie inhaltlich höchst reizvollen Einlassungen zu den Themenbereichen Sexualleben, alkoholische und andere Selbst- und Kollektivpflasterung, Grundverblödung der Elterngeneration und dem aktuellen Ausstoß an Hip-Hop-Novitäten zu infotainen. Nämlich ist Lernen an sich wirklich nicht von Übel, selbst wenn es einem im faden Klassenzimmerkarzer mit Ätschibätschi-Ausblick auf den goldenen Restsommer so erscheinen mag.
Ihr dürft euch nur nicht alles erzählen lassen, und gewisse Dinge schon überhaupt nicht, sondern die richtigen Fragen stellen. Wenn zum Beispiel die „Wirtschaftslehrer“ daherkommen und euch ihren Stuß vom heiligen Markt auftischen, der alles fein regelt und die Welt stetig verbessert und verschönert, dann dürft ihr ruhig mal zurückfragen, wieso die Welt dann immer schlimmer, schneller, häßlicher und kaputter wird und immer mehr Menschen hungern, krank werden, sich gegenseitig umbringen. Ob Wettbewerb wirklich ein Naturgesetz und Kooperation, Rücksicht, Bescheidenheit kuriose Ausnahmen sind. Fragt sie, wieso Wissenschaftler wissen, daß zunehmende Ungleichheit die Wurzel aller gesellschaftlichen und vieler medizinischer Übel ist, und wieso sie, wo sie das doch auch längst wissen könnten, das Gegenteil predigen, ohne den geringsten Beleg oder auch nur ein Indiz dafür zu haben, daß an ihren Behauptungen was dran sein könnte.
Fragt sie mal nach Begriffen wie Ausbeutung, Burnout, Umweltzerstörung, den Grenzen des Wachstums. Fragt sie, wieso ihr eure Lebenszeit, die doch das einzige ist, was ihr tatsächlich habt und was euch natürlicherweise zusteht, gegen Geld eintauschen sollt und ob ihr für dieses Geld vielleicht neue Zeit kaufen könnt. Laßt euch die psychologischen Strukturen freiwilliger Knechtschaft und die Unterschiede zur Sklaverei erklären. Oder fragt sie, weshalb ihr eure schulfreie Zeit damit zubringen sollt, in sogenannten „Praktika“ ganz normale Arbeit zu leisten, damit Geld zu erzeugen, von diesem Geld aber selbst nicht mal den üblichen kleinen Teil abzukriegen. Werft ihnen Namen wie Marx, Keynes und Adam Smith entgegen und fragt sie, ob sie schon mal eine Zeile von denen gelesen haben und wieso nicht.
Fragt sie dann am besten auch gleich, was der Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung ist, zwischen Bildung und Zertifizierung und zwischen Wissen, Können, „Qualifikation“ und Abrichtung zur Brauchbarkeit. Und warum ihr so dermaßen darauf versessen sein sollt, euch immer mehr und immer schneller eine „Bildung“ zertifizieren zu lassen, wo doch diese „Bildung“ seit dreißig Jahren einen regelrechten Boom erlebt und immer mehr Leute immer „gebildeter“ und „qualifizierter“ sind, während gleichzeitig die Dummheit galaktische Ausmaße annimmt und der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen der deutschen Bevölkerung unablässig schrumpft. Und wieso dieser Anteil schrumpft. Und wieso man unter „Bildung“ immer nur spezifisch spezialisierte Arbeitsvorgänge und Techniken versteht, die jeder Computer ohne weiteres genauso gut kann oder bald können wird, während es in tausend Jahren noch keinen Computer geben wird, der „unqualifizierte“ Tätigkeiten wie Poesie, Musik, Schneiderei und Landwirtschaft auch nur passabel nachäffen kann. Wieso Konzerne früher ihr Menschenmaterial selbst ausbilden mußten und das heute unter dem Etikett „Studium“ auf Staatskosten erledigen lassen. Und weshalb man ein Milliardenvermögen erben kann, ohne die geringste „Qualifikation“ vorzuweisen, und dafür nicht mal Steuern bezahlen muß – laßt euch da aber nicht den Bullshit verzapfen, das Milliardenvermögen sei schon mal versteuert worden und dürfe deswegen nicht noch mal besteuert werden. Schließlich habt ihr (bzw. eure Eltern) das Geld, mit dem ihr zum Beispiel Zigaretten kauft, ja auch schon mal versteuert, und trotzdem beschwert sich kein Lobbyist dieser Welt über Tabak-, Mehrwert- und andere Nochmalsteuern.
Ihr könntet dann auch noch fragen, wie überhaupt jemand auf die Idee kommen kann, Geld oder Grund und Boden sein Eigentum zu nennen, wo das eine doch ein Tauschmittel und das andere Teil eines Planeten ist, der grundsätzlich niemandem gehören kann und auch noch nie gehört hat. Und wieso sich irgend jemand das Recht herausnimmt, anderen etwas wegzunehmen oder vorzuenthalten, das diese anderen dringend brauchen. Und so weiter und so fort – der folgerichtigen Logik des menschlichen Denkens sind kaum Grenzen gesetzt, wenn man sich den metareligiösen Kleister erst mal aus den Augen gewischt hat.
Wenn ihr euch dann die ratlosen Gesichter, die verqueren Windungen und peinlichen Drucksereien eurer „Wirtschaftslehrer“ lange genug angeschaut habt, dann spendet ihnen Trost. Erzählt ihnen, daß sie nicht die ersten sind, die von der real existierenden Wirtschaft nicht die geringste Ahnung haben, hat doch schon die vor ziemlich genau 223 Jahren guillotinierte österreichische Franzosenkönigin Marie Antoinette auf die Klage, das Volk habe nicht genug Brot, geantwortet: „Dann sollen sie halt Kuchen essen.“
Und wenn ihr das säuerlich versöhnte Grinsen ebenfalls lange genug betrachtet habt, dann trumpft ihr mit eurer Bildung auf: Nix Kuchen! „Brioche“ hat sie gesagt, und das ist auch nichts recht viel anderes als Brot! Und außerdem hat sie das überhaupt nie gesagt! Sondern kolportiert hat das Zitat der „Zurück zur Natur!“-Philosoph Rousseau, als Marie Antoinette gerade mal neun Jahre alt war. Und dann fragt ihr den Herrn Lehrer ganz zum Schluß, ob er eigentlich an den Weihnachtsmann glaubt (der übrigens keine Erfindung von Coca-Cola ist).
Und während er darüber nachsinnt, schleicht ihr euch hinaus in den goldenen Restsommer und kümmert euch um wichtigere Sachen. Ätschibätschi!

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 6. Oktober 2016

Frisch gepreßt #375: Warpaint "Heads Up"


Es ist so eine Sache mit den „next big things“: Jeder will es werden, aber keiner mag es gewesen sein, weil es nämlich kaum etwas Älteres und Ranzigeres gibt als das „next big thing“ vom letzten (oder notfalls diesem) Sommer. Mitleid gebührt den Trendverkündern, die sich auf ein „next big thing“ einigen und festlegen und das dann durchziehen müssen, weil schließlich das, was mal ein „next big thing“ war, nicht plötzlich irrelevant werden kann. Dann hat man so etwas womöglich ein Leben lang am Hals und wird es nicht mehr los, außer es löst sich von selbst auf. Dem „next big thing“ folgt für gewöhnlich ein zweites Album, das sich sehr bald ganz unten in den Ramschkisten einnistet (oder kann sich noch jemand an „... But The Little Girls Understand“ und „Room On Fire“ erinnern?), dann kommt ein Comeback nach dem anderen, das jeweils kurz „puff!“ macht. Vor allem aber kann sich ab dem zweiten Album niemand mehr erinnern, wieso das mal das „next big thing“ sein sollte. Das fällt einem mit leichter Wehmut nach zehn oder zwanzig Jahren angesichts der Anniversary Edition wieder ein. Vorausgesetzt, es kommt kein „Comeback“ dazwischen.
Warpaint, vier Damen aus Los Angeles, hatten da ein Stück Glück: Sie waren tatsächlich mal ein „next big thing“ (2009 mit ihrem Debütalbum „The Fool“), aber das bekam damals niemand so richtig mit, und so konnte es geschehen, daß sie 2014 anläßlich des zweiten Albums (mit dem smarten Pseudodebüttitel „Warpaint“) noch mal zum „next big thing“ erklärt wurden und auf einer Woge von Wichtigkeitsbehauptungen durch die Medien surften. Und sie waren clever genug, bald darauf in Nischen und Nebenzimmern zu verschwinden, mal hier eine Kollaboration, mal dort ein Soloprojekt – der Name Warpaint blieb so frisch genug, um niemandem bei den Ohren herauszuhängen.
Album Nummer drei zeigt eindrücklich die Probleme, die es aufwirft, als „next big thing“ ein „next big thing“ abliefern zu müssen, und wie man sie lösen kann: Es beginnt mit „Whiteout“ recht unspektakulär – der Track, der sicher nicht zufällig nach der weißen Flüssigkeit benannt ist, mit der man in Zeiten vor Bildschirmschrift und Löschtaste Tippfehler übertünchte, ist schon vorbei, ehe man bemerkt, daß er einen irgendwie an Sommerendhits aus den späten 70ern erinnert. „By Your Side“ öffnet dann einen großen Hallraum, in dem Fetzen vager Melodien und Geräuschbrösel herumschwirren wie Herbstlaub in einem verlassenen Swimming-pool, zusammengehalten nur von einem steten, ziemlich (gewollt) käsigen Beat mit antiker Klatschmaschine. Das, denkt man, kann doch irgendwie nicht funktionieren und gutgehen. Aber das tut es dann doch: Mit der Single „New Song“ kommt plötzlich ein so richtig genialdoofer Ohrwurm mit Tanzzwang daher, der noch dem verstocktesten Melancholiker das Herz erweicht und es schweben läßt wie eine Flocke rosa Zuckerwatte über dem Lüftungsschacht.
Und danach stimmen dann auch die Beats, und obwohl die Harmonien und Melodien weiterhin fragmentiert und vage bleiben, ist das Gesamtbild stimmig und rund wie eine Nebellandschaft von Caspar David Friedrich, durch die eine einsame Eisenbahn ihre unbeirrbar gerade Bahn zieht. Wann immer einem das Album aus der Aufmerksamkeit zu gleiten droht, kommt ein kompakter und dennoch nicht auf ein Signal oder einen Chorus reduzierbarer Track wie „So Good“ daher, der bei aller Ungreifbarkeit und experimenteller Unschärfe bis ins Detail so perfekt erscheint wie eine neapolitanische Korallenkamee. Und dann geht es mit „Don't Wanna“ wieder in den Nebel der gelassenen Melancholie, aber nun weiß man sich sicher: Das Wechselbad hat eine verläßliche Mitte der Stabilität. Da kann auch mal der gitarrenballadeske Anfang von „Don't Let Go“ in einen psychedelischen Lavastrom mit Led-Zeppelin-Anklängen ausufern – insgesamt fügt und integriert sich alles wie Steinbröckchen in den Ringen des Saturn.
Nein, „Heads Up“ ist kein „next big thing“, aber das vielleicht bildmächtigste, suggestivste, widersprüchlichste, stimmigste und stimmungsreichste Herbstalbum, das es zumindest in diesem Jahr geben kann. Ob wir nächstes Jahr oder in zehn Jahren noch verstehen, wieso es das war (oder noch ist), spielt dabei (und überhaupt) keine Rolle.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 30. September 2016

Belästigungen 18/2016: Vom Ein- und Auswickeln des Menschen und wer wen dazu zwingt (und warum)

Wenn der goldene Frühherbst daherrauscht, zieht es Menschen wie mich aus ihrer sommerlichen Entrückung in den Gefilden von Isarufer, Seestrand und Traumlandschaft notgedrungen ein bißchen hinaus und näher an die Gemeinschaft der Menschen hinan, die sich mit anderen Dingen als Wasser, Liebe und Hirngespinsten beschäftigen. Schließlich gibt es da ja auch noch eine Wohnung, in der man den Winter über wohnen wird müssen und die man deshalb entwahrlosen sollte, indem man (wenn es regnet) endlich mal wieder Staubsauger und Waschmaschine anwirft, Geschirr spült, Berge von Altpapier und sonstigen Ansammlungen hinausschmeißt und sich zwischendurch über die bekannten Kanäle sozialer Medien mal kurz umschaut, was sich so getan hat in der müßig verkümmelten Zwischenzeit.
Da gäbe es schließlich einiges zu diskutieren: Krieg, Zerstörung, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Kapitalismus, Hunger, Bomben, Nazis und notfalls ein paar vom ältesten Sommerwahn der Welt befallene Politkasperl, die zum hunderttausendsten Mal Steuersenkungen für die Reichen „ins Spiel bringen“, weil die Armen so was pfundig finden und sie dann wählen.
Aber lustig: Was die „öffentliche Meinung“ derzeit umtreibt, ist nichts davon, sondern so gut wie ausschließlich ein Thema – was muslimische Frauen am Badestrand (und im Grunde überhaupt) anziehen sollen und dürfen oder eben nicht dürfen. Jedenfalls, so lautet offenbar der Tenor, darf es nicht dieses Ding sein, von dem niemand so genau weiß, ob es Burka, Tschador, Niqab oder sonst wie heißt. Und zwar, so hört man, weil damit der Frau ihre Individualität genommen werde.
Klingt erst mal irgendwie plausibel. Daß böse alte Männer Frauen zwingen, sich in Stoff einzuwickeln, war uns noch nie sympathisch, schon damals nicht, als böse alte Männer hierzulande unter dem Eindruck von Sexwelle, Minirock und Bikini ebenfalls Frauen in Stoff einwickeln wollten. Allerdings ging es damals nicht so sehr um Individualität, und damals wie heute bin ich mir nicht so sicher, ob hinter der Einwicklerei wirklich (nur) Männer stecken: Die schauen sich im Normalfall ganz gerne mal eine hübsche Frau an, am liebsten leicht oder gar nicht bekleidet. Aber egal.
Noch unsympathischer ist andererseits, wenn böse alte Männer böse alte Männer zwingen wollen, ihre Frauen nicht zu zwingen, sich in Stoff einzuwickeln, und zu diesem Zweck die Frauen zwingen, sich auszuwickeln. Und sowieso ist das mit dem Auswickeln auch nicht ganz so leicht, schließlich gibt es da noch ein durch Gewohnheit entstandenes Schamgefühl, und wenn die bösen alten Männer das mal spüren möchten, sollen sie gerne am Samstagnachmittag nackt durch die Fußgängerzone spazieren und dann noch mal drüber nachdenken. Aber auch egal.
Interessant finde ich vielmehr, wer sich da alles zusammenfindet, um das Einwickeln zu verbieten. Nämlich sind das sowohl die Leute, die damals jeden Nacktbader zwangsweise einwickeln wollten, als auch die, die eingewickelt werden sollten. Individualität, da sind sich plötzlich alle einig, ist das höchste Menschenrecht und muß notfalls auch gegen den Willen der Rechteinhaberin durchgesetzt werden – schließlich will die ja nur deswegen nicht individuell sein, weil sie aufgrund von Gehirnwäsche und Zwangserziehung noch nicht weiß, wie toll das ist.
Und das ist es in der Tat! Deswegen kommt ja auch niemand auf die Idee, sich wie die buddhistischen Mönche (die damit irrerweise ihre Individualität auszulöschen trachten, weil sie glauben, daß es eine solche gar nicht gibt!) den Kopf zur Einheitsnichtfrisur zu rasieren oder modeweise mit einem genormten Pudel am Unterkopf oder einem tätowierten Arschgeweih herumzulaufen. Deshalb ließe sich ein deutscher Individualmensch niemals zwingen, aus religiösen, moralischen oder sonstigen Vorwänden seine Individualität abzulegen und sich in Mönchskutte, Nonnengewand, Wiesntracht oder Fußballfan-Stadionwäsche wickeln zu lassen. Und schon gar nicht würde er je die entwürdigende Kasperluniform von Fastfood-, Supermarkt- und Baumarktketten anziehen oder zulassen, daß jemand anderer gezwungen wird, das zu tun, oder sich zum Fasching mit einem der sieben Normkostüme samt Gesichtsvermummung maskieren.
Daß vermummte Gesichter eine gewisse Bedrohlichkeit ausstrahlen können, ist bekannt. Wem angesichts der gepanzerten Kampfroboter, die uns heutzutage bei Demonstrationen und Fußballspielen als „Freund und Helfer“ entgegentreten, nicht mulmig wird, der hält wahrscheinlich faschistische Stoßtrupps für fröhliche Kirmesbrüder. Andererseits ist die Trägerin eines salafistisch korrekten Badeanzugs in den allermeisten Fällen nicht bewaffnet und sichtlich nicht darauf aus, irgendwen niederzuknüppeln oder anzuzünden. Und seltsam ist zudem, daß die Forderung, der Mensch möge gefälligst sein Gesicht herzeigen, damit man sieht, was er im Schilde führt, auch von denen vertreten wird, die vor nicht allzu langer Zeit selber noch gar nicht so gern an jeder Ecke in eine Überwachungskamera glotzen wollten und sich bisweilen sogar unwohl fühlen, weil die NSA ihre Schuhgröße und der BND ihre Pornosammlung auf der Festplatte kennt.
Man sehe mir meine Verstocktheit nach; als Angehöriger der ersten (noch nicht genormten) Punkrockgeneration weiß ich sehr gut, daß Individualität etwas Schönes ist, jedweder Zwang zum Ein- und Auswickeln hingegen nicht. Es könnte aber auch sein, daß wir über die vermeintliche „Individualität“ nur deswegen so viel schwätzen, weil dahinter ein viel größeres Problem oder ein ganzes Gebirge von Problemen lauert, über das wir nicht reden und am besten nicht mal nachdenken sollen.

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Dienstag, 27. September 2016

Frisch gepreßt #374: The Divine Comedy "Foreverland"


Neulich saß ich mit einem Freund beim letzten Bier, und da kamen wir auf 1996 zu sprechen, auf die Britpop-Supernova, die damals das gesamte Universum zu entflammen schien, obwohl sie ihren Höhepunkt längst überschritten hatte und die blendende Euphorie zu zähneknirschender Überheblichkeit aufgebläht war, deren letzter Furz mit „Be Here Now“ eine ganze Generation derart ins Vibrieren brachte, daß sie es kaum noch aufs Klo schaffte. Vor allem sprachen wir über den pyroklastischen Strom von tausenden Bands, die die Welt erobern wollten und froh sein mußten, wenn sie es ins Vorprogramm von Gene oder Heavy Stereo schafften. Die niemand mehr wahrnahm, obwohl viele davon doch einen guten Song zu bieten hatten, von Elcka bis Jocasta, von Speeed bis Ringo, von Hurricane #1 bis Babybird usw. usf. - die Namen fluteten nur so aus dem plötzlich erwachten Nostalgiegedächtnis, selbst solche, die wir uns nie eingeprägt, die wir überhaupt nicht bewußt gehört hatten.
Einen haben wir mal wieder vergessen. Einen, den alle immer vergessen. Der zwar dabei war, aber nicht recht dazugehörte, bis heute nicht dazugehört, nirgendwo, aber immer noch dabei ist, weil er das wohl irgendwie auch schon immer war: Neil Hannon, der vielleicht britischste und zugleich unbritischste aller britischen und sonstigen Songwriter. Manch einer wähnte ihn im Rausch des Rauschs zum neuen Bowie (zwischen „Uncle Arthur“ und „Hunky Dory“), andere zum neuen Paul McCartney (zwischen „When I'm Sixty-four“ und „Blackbird“), nannten ihn barock, verschroben, opulent, eigen, genial, whimsical, theatralisch, hyperintelligent, ein unheilbares Spielkind und dies und das, was ihm alles nicht gerecht wurde, weil es zwar stimmt(e), er aber immer anders war und doch bis heute genauso geblieben ist, wie er immer war.
Daß Neil Hannon (der sich als „Band“ The Divine Comedy nennt) weder die Euphorie noch Kater und Überdruß jener Zeit groß mitbekam, liegt an seiner gesund autistischen Grundeinstellung: Die Welt, wie sie angeblich ist, ist ihm wurst, der Ernst des Lebens und das ganze Gezippe, Gezappe und Gezuppe der großöffentlichen Schafherde da draußen (vor seinem Wolkenpalast) sowieso. Seine Lieder sind geschlossene Systeme einer endemischen, hermetischen Schönheit, in denen es vordergründig um alles Mögliche geht (Katharina die Große, Napoleon und ein Wesen mit dem sprechenden Namen „Funny Peculiar“ zum Beispiel) oder um nichts als einen netten Wortwitz, in Wahrheit aber immer um Liebe, Einsamkeit, Glück, Hoffnung, Verzweiflung und noch mehr Liebe.
Glück, genau, und Liebe: Niemand, den ich kenne, schreibt und musiziert mit so viel Glück und Liebe im Herzen und Trauer in der Seele, niemand tänzelt so graziös auf dem dünnen Spannseil zwischen Selbstironie, emotionaler Aufrichtigkeit und kindischer Freude am Blödsinn wie Neil Hannon. Und wenn ihm mal das Gleichgewicht zu verrutschen droht, bricht er ein gerade noch rührend poetisches Lied wie „Other People“ lieber mit einem lakonischen „Bla bla“ einfach ab, als zu riskieren, daß Tante Pathos es sich in seinem Salon gemütlich macht und ihm seinen Tee wegschlürft. Daß so einer seine dunklen Seiten kennt und weiß, was mit ihm passiert, wenn man ihn allein läßt, versteht sich von selbst. Daß er in einem durchaus lustigen Lied („How Can You Leave Me On My Own“) davon erzählt, das einem einen verdorbenen Tag sogar nachträglich retten und vergolden kann, obwohl und weil das alles unendlich traurig ist, versteht sich eben nur bei Neil Hannon.
Wer weiß, ob Popmusik jemals noch mal die Bedeutung und weltgeschichtlich-autobiographische Relevanz haben wird wie 1996 (die derzeitige Nummer eins in Großbritannien ist ein Best-of-Album von ELO mit 8.000 verkauften Exemplaren). Wer weiß, ob wir noch mal eine solche Supernova erleben (oder uns das wünschen sollten). Aber wenn, dann wird Neil Hannon, der alterslos unsterbliche Dandy mit der angewachsenen Rundbrille, irgendwie dabei und nicht dabei sein. Und wenn nicht, ist ihm das wahrscheinlich auch egal.

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Freitag, 23. September 2016

Frisch gepreßt #373: Die Höchste Eisenbahn "Wer bringt mich jetzt zu den anderen?"


Es gibt Leute, die finden es schade, daß die späten 60er so lange her und überhaupt vergangen sind. Weil da alles so anders war, so locker und lustig, frei, unbeschwert und bunt. Menschen flogen zum Mond, zogen in Kommunen aufs Land, ließen sich die Haare wachsen, diskutierten nächtelang über das gute Leben und gaben so viel auf gesellschaftliche Konventionen (Ruhe! Anstand! Ordnung! Krawatte!), wie die Menschen heute auf das Gegenteil geben. Musik hörte man mit schwingenden Batiktüchern und einer Tüte voller indischer Rauchkräuter im Mund, und wenn man heute eine tolle Idee hatte, war es morgen schon wieder eine andere. Vor allem war man sich einig: Es wird alles immer besser.
Vielleicht sollte man dazusagen, daß das nicht die Welt war. Die bestand aus einem Kapitalismus, der vor sich hin tickerte wie eine zu globalem Ausmaß angeschwollene elektrische Schreibmaschine mit Milliarden von Menschen als festgeschraubten Typenhebeln, die gerade erst angefangen hatten, sich mit den Schrauben in ihren Schädeln abzufinden, weil sie dafür mit krebserregend buntgefärbten Blubberlutschgetränken und einem Jahresurlaub in Caorle, Bibione oder Cesenatico entschädigt wurden, weil man ihnen mit schwärmerischen Reklamefilmchen versprach, es gehe „frischwärts!“, Top-Set sei groovy, und anders gehe es sowieso nicht. Sie bestand zudem aus der Blutmaschine eines laufenden Krieges, der fast fünf Millionen Menschen das Leben kostete, das ganze Land Vietnam verwüstete und die kriegführende Nation USA selbst an den Rand des Bürgerkriegs brachte, und einem dräuenden, angedrohten, beständig in Vorbereitung befindlichen noch viel epochaleren Krieg derselben Nation gegen die UdSSR, von dem man ahnte, daß mit ihm das Leben auf Erden zumindest menschlicherseits für immer enden würde.
Vielleicht war die Welt deswegen so schön: weil man all das nicht wahrhaben wollte, sich die Ohren zuhielt und mit manischem Grinsen „Lalalalala!“ sang, damit der böse Alptraum wegging. Aus dem „Lalalalala!“ wurde die vielleicht schönste, freieste, hoffnungsvollste, emanzipierteste, schrankenloseste, psychedelischste und schwingendste Popmusik aller Zeiten, in der wirklich alles erlaubt war und man trotzdem souverän auf dem Hochseil zwischen Liebe und Frieden über einem gähnenden globalen Abgrund tänzelte.
Es gibt Leute, denen ist das ganz egal. Zwar leben wir heute wieder in einer Welt, in der die Blutmaschine des Krieges an allen möglichen Orten, in allen möglichen Ländern Hoffnungen, Träume und Leben frißt, in der ein dräuender, angedrohter und beständig in Vorbereitung befindlicher Superkrieg der um eine ganze NATO erweiterten USA gegen ein Rumpfrudiment der ehemaligen UdSSR sehr bald das Leben auf Erden zumindest menschlicherseits für immer beenden könnte. Zwar ist der Kapitalismus inzwischen keine tickernde Schreibmaschine mehr, sondern ein digitales Superwesen, das das ganze Universum erfüllt und dessen virtuelle Bestandteile gar nicht mehr merken, daß sie einen Körper und einen Geist und ein Leben haben und Menschen sein könnten, und ihren Trosturlaub an den fernsten Orten einer langsam sterbenden Welt verbringen, die alle gleich aussehen, und ihre Blubberlutschgetränke nicht mehr färben, aber mit krebserregenden Süßstoffen diätkompatibel machen.
Egal ist das alles diesen Leuten, weil in ihrer Privatwirklichkeit alles so anders ist, so locker und lustig, frei, unbeschwert und bunt. Weil man in Kommunen aufs Land zieht, sich die Haare wachsen läßt und nächtelang über das gute Leben diskutiert, auf gesellschaftliche Konventionen (Leistung! Anpassung! Eigenverantwortung!) scheißt und mit einer Tüte voller indischer Rauchkräuter im Mund eine Musik hört, die nicht mehr klingt wie ein manisch grinsendes „Lalalalala!“, sondern wie ein blühendes Feld wilder Sonnenblumen, ein abendliches Lagerfeuer am dampfenden See im September, ein Tanz in wogenden Wiesen und ein tagelanges Frühstück auf der Terrasse in einer besseren Welt, die immer besser, immer freier, immer aufrichtiger und immer schöner wird.
Das zweite Album der Höchsten Eisenbahn ist ein Urlaub in dieser Welt. Nein, mehr: ein Versprechen, daß es diese Welt geben könnte und vielleicht eines Tages sogar geben wird. Wer das nicht glauben mag, der leihe versuchsweise zumindest „Lisbeth“ ein Ohr, und dann: kriegen wir das hin, gemeinsam, alles.

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Mittwoch, 21. September 2016

Belästigungen 17/2016: Alle elf Minuten integriert sich ein Migrant! (und keiner kriegt es mit)

In München steht ein Haufen Zeug herum, über das man viel zu selten nachdenkt. Zum Beispiel erfuhr ich heute von einer beleuchteten Werbetafel, die ich wahrscheinlich schon oft gesehen, aber noch nie wirklich bemerkt habe: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über (aufgrund von Gründen nicht genannter Name einer Internet-Datingseite)!“
Das erschien mir recht natürlich. Zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen gelingt es auch mir, mich alle elf Minuten zu verlieben. Aber das bringt halt nicht wirklich was, abgesehen von befremdeten bis empörten Blicken der Opfer solch hormoneller Überschießerei.
Aber apropos Opfer: In München steht auch ein Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, auf dem zu lesen ist, einige davon habe man zu jenen Zeiten „verfolgt wegen ihrer Behinderung“. Ein alter, leider verstorbener Freund, der zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen war und sich deshalb selbst als „Krüppel“ bezeichnete (was er heute wahrscheinlich nicht mehr so ohne weiteres dürfte), kam sommers fast täglich auf dem Weg von seiner Wohnung zum Biergarten an diesem Denkmal vorbei und fühlte sich betroffen: „Was für ein Schmarrn!“ pflegte er nach der dritten Maß zu schimpfen. „Seit wann hätten die Nazis Krüppel verfolgt? Die haben sie systematisch vernichtet!“
Was, wenn man mal drüber nachdenkt, tatsächlich ein Unterschied ist. Man könnte darüber streiten, ob die damalige Belegschaft der Deutschland AG nicht auch die Millionen von Menschen, die aus rassistischen Motiven „verfolgt“ wurden, eher systematisch vernichtet als verfolgt hat, aber in diesem Fall ist die Sache ziemlich eindeutig: Man mußte Krüppel nicht verfolgen – man wußte, wo sie wohnen und was ihnen fehlt, und konnte sie einfach abholen.
„Verfolgt“ werden Krüppel heute nicht mehr, vernichten (zumindest systematisch) will sie Gott sei Dank ebenfalls kaum noch jemand; statt dessen bemühte man sich jahrzehntelang nach Kräften, sie zu „integrieren“. Das tat man auch mit anderen Menschen: Flüchtlinge, Ausländer, vom Unglück in dieser oder jener Weise Getroffene, Frauen, Kinder, Straftäter, sexuell oder sonstwie eigentümlich Fühlende, Denkende, Lebende, Drogenkonsumenten, Arbeitslose, Ostdeutsche, Obdachlose, jugendliche Rabauken, Landbewohner, Stadtstreicher – allesamt sollten sie „integriert“ werden.
Mittlerweile hat sich die Sprachregelung der neoliberalen „Eigeninitiative!“-Ideologie angepaßt, derzufolge „man“ niemanden „integrieren“ soll, sondern gefälligst der sich selbst. Drum soll jetzt also das ganze bunte Volk, das da kreucht und fleucht und seine eigentümlichen Ausrichtungen pflegt, sich einzeln und so schnell wie möglich „integrieren“ (insbesondere selbstverständlich der Migrant, schließlich kommt der auch noch von woanders her!). Und niemand denkt darüber nach, in was die sich denn eigentlich hineinintegrieren sollen.
In die „Gesellschaft“, klar. Aber was wäre das für eine Gesellschaft, der all diese Menschen angeblich nicht angehören? Man stellt sich unwillkürlich eine illustre Runde von Männern in mittlerem Alter vor, allesamt tarifgebunden berufstätig, von guter Gesundheit und durchschnittlichem Körperbau, die zuverlässig alle paar Jahre ihr Kreuzerl bei einer der vier „etablierten“ Parteien machen und am Sonntagnachmittag im Hinterzimmer eines traditionellen Vorstadtwirtshauses beisammen hocken und austüfteln, wen und wie sie am besten als nächstes zur „Integration“ auffordern und was der- oder diejenige dafür leisten muß.
Da findet man dann schon Kriterien. Zum Beispiel könnte man verlangen, daß so ein Integrierungskandidat sich zum deutschen Grundgesetz „bekennt“, gegen das die CSU dazumal im Parlamentarischen Rat stimmte, das der bayerische Landtag auf Vorschlag der Staatsregierung mehrheitlich ablehnte, das allein seit 1993 etwa dreißigmal geändert wurde und das kaum ein betroffener oder nicht betroffener Staatsbürger je gelesen hat (wie wär's zum Beispiel mal mit der Frage, wer eigentlich „die Regierung“ ist und wer sie wählt?). Man könnte andererseits fordern, daß sich der Integrationswillige „in Deutschland zuhause“ fühlt. Dieses Kriterium betont die Organisation „Wissenschaft im Dialog (die Initiative der deutschen Wissenschaft)“, ohne zu fragen, wie „zuhause“ man sich wohl als Angehöriger irgendeiner prekären oder gefährdeten Minder- oder Mehrheit oder überhaupt als normaler Mensch zum Beispiel in einer ostdeutschen Nazigemeinde oder meinetwegen in Wuppertal fühlen kann.
Oder man nimmt die deutsche Sprache. Wer sich integrieren wolle, solle die gefälligst beherrschen, heißt es. So wie der Deutsche, der hat die schließlich auch gelernt, gelt, auch wenn er als Wissenschaftler nicht weiß, daß es das Wort „zuhause“ im Deutschen gar nicht gibt, auch wenn er als (zum Beispiel) oberbayerischer Integrierter in einer Kölner Bierwirtschaft ziemlich sprach-, verständnis- und fassungslos inmitten einer johlenden Masse offenbar irgendwie anderweitig Integrierter herumsteht und nicht weiß, was er soll. Ach ja, es gibt noch andere Kriterien: etwa arbeiten, das heißt zu einem Hungerlohn sich ausbeuten lassen, was der integrierte Deutsche total gerne täte, wenn er es mangels „Platz“ nicht darf, während bei jenen, die es dürfen, das Jammern, Stöhnen und Schimpfen naturgemäß überwiegt. Und: Man darf kein Kopftuch tragen, finden 38 Prozent der Integrierten. Adieu, süddeutsche Bäuerinnen!
Man könnte nun einwenden, es sei doch immerhin vor gar nicht langer Zeit einem deutschen Kaiser und seinen Beamten gelungen, diese groteske Mischpoke von schillernden, einander im Grundsatz fremden bis feindlichen Minderheiten, Stämmen und Individualidioterien zu einem Gesamtdeutschland zusammenzuintegrieren, das bald darauf imstande war, zwei richtig fette Kriege anzuzetteln und halb Europa auszurotten. Ja, freilich, aber selbst zu dieser enormen Kulturleistung wäre es nie gekommen, wenn man es der wimmelnden Masse von verbohrten Einzelholzköpfen und renitenten Kollektiven überlassen hätte, sich selbst in etwas hineinzuintegrieren, was es angeblich vorher schon gab.
Vielleicht wäre es am gescheitesten, beleuchtete Werbetafeln aufzustellen mit der Aufschrift: „Alle elf Minuten integriert sich jemand in die deutsche Normalgesellschaft!“ Und dem Zusatz: „Aber das bringt halt nicht wirklich was.“ (Und als Nachgedanke sei mangels Platz einfach mal so gefragt, wieso eigentlich niemand von den Nazis verlangt, sich zu integrieren.)

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