Montag, 29. Februar 2016

Frisch gepreßt #357: David Bowie "Blackstar"


Oh, haben wir in letzter Zeit mal über David Bowie gesprochen? Eigentlich schade, denn es wurde in letzter Zeit wenig, dafür früher oft viel zu viel über David Bowie geredet, über den „Mann, der zu schön war“ (wie 1973 eine Zeitschrift namens „Pop“ schrieb und dem Autor dieser Zeiten selbigen Mann für alle Zeiten ins Hirn nagelte), viel zu vieles, was man glücklicherweise bald wieder vergaß, weil das Gedächtnis gnädig und die Welt zu groß ist, um alle Irrungen des Menschengeschlechts aufzubewahren.
Ein paar Erinnerungen indes sind doch geblieben: an das ungute Gefühl, das 1980 beim Hören von „Fashion“ aufkeimte und sich in den folgenden dreieinhalb Jahrzehnten immer aufs Neue bestätigte und erblühte – daß da was faul war, eine Kleinigkeit möglicherweise nur, ein Ausrutschen ins Gewöhnliche, wo ein David Bowie nicht hingehört und nie hingehören sollte. Die ganze Welt kaufte 1983 „Let’s Dance“ und ahnte nicht, wie schlimm das war, was für ein Sturz in den Abyss, welch ein Stolpern, Taumeln, trotziges Stammeln die folgenden Dekaden; erahnte Verschlimmerungen wie „Never Let Me Down“, grauses Entsetzen über „Tin Machine“, enttäuschte Hoffnungen zuhauf („Black Tie White Noise“, „Heathen“, „Earthling“), eine Biographie tapferer Versuche, sich an „1. Outside“ und „’Hours …’“ zu gewöhnen, „Reality“ mehr abzugewinnen als eine Klipfel-Dapfel-Geräuschtapete.
Bis dann endlich niemand mehr so richtig reden wollte. Gestehen wir, „The Next Day“ vor bald drei Jahren einen Nachmittag lang interessant und wichtig gefunden zu haben, bis zum zweiten Hören mit Wochen Abstand, das ein vorletztes blieb und nichts ergab als Stolpern, Taumeln, trotziges Stammeln. Hülsen von Songs, die keine werden wollten, im Regal verschwunden als weiteres Isoliermaterial um „Hunky Dory“, „Ziggy Stardust“, „Aladdin Sane“, „Diamond Dogs“, „Young Americans“, „Station To Station“, „Low“, „’Heroes’“, „Lodger“, den Kern eines Werks, das letztlich nur aus diesem Kern besteht.
Egal, dahin, vergessen und verweht.
Im späten Herbst 2015 dann registrierte man verwundert einen fast zehnminütigen … sagen wir: Track, in dessen Verlauf unter anderem Rod Stewarts „I Was Only Joking“ zu einem schmelzenden Brei dissolvierter Melodiefetzen zerfällt, Saxophone meditieren, etwas klopft und ein frei im weiten Weltall schwebender Mann von einer einsamen Kerze träumt. Sehr eigentümlich, das alles, eine Mischung aus modalem Jazz, verwegener Elektronik und mancherlei Zutaten, die schlimme Befürchtungen wecken. Seltsam aber, wie angenehm das zu hören war. Und ist, noch seltsamer.
Gerühmt und gelobt wurde jedoch vor allem der Wagemut, die Vielzahl der Anspielungen, die Entfernung vom Gewohnten, und das kennen wir, haben wir bei und mit David Bowie häufiger erlebt als bei jedem anderen Künstler dieser Welt. Drum Warten und Bangen, was folgt. Das ist: „’Tis A Pity She Was A Whore“, ein schon 2014 als B-Seite veröffentlichter, relativ wenig sagender Cocktail aus 80er-Gerappel, einer hübschen Leitmelodie und genüßlichem Zerfräsen von Erwartungen, der auf jedem der erwähnten späteren Alben dank dem famos und triumphal selbstquälerischen Saxophonsolo von Donny McCaslin ein Glanzlicht, ansonsten aber nicht viel gewesen wäre. Die schwermütige Meditation „Lazarus“ ändert das Licht zu samtigem Graubraun, und da läßt man sich fallen, sinken, los, während Ben Monders brachiale Gitarrenriffs durch die Kulisse brechen wie Fäuste aus einer anderen Dimension. „I’ve got nothing left to lose“, singt dazu ein desillusionierter Mann, der mit diesem Album 69 wird und offenbar weiß, daß alle Träume Brücken in ein verlebtes Einst sind.
Das könnte schon genügen; diese sechseinhalb Minuten reichen aus, um „Blackstar“ sehr nah an den erwähnten Kern zu rücken. Daß das 2014 schon als Single erfolglose „Sue (Or In A Season Of Crime)“ ein verunglückter Hardrock-Jazz-Bastard ist, in dem David Bowie herumirrt wie ein elektrogeschockter Affe, schreibt man dem experimentellen Charakter des Unternehmens zu, der immerhin für ein furioses Finale sorgt. Auch „Girl Loves Me“ kündigt mehr an, als es halten kann, wirkt aber auf verwirrende Weise faszinierend. Wem nun der Mut sinkt, der lasse sich von dem wundervoll elegisch ausfransenden „Dollar Days“ und einem wiederum grandiosen Saxsolo fangen, tragen und trösten, ehe „I Can’t Give Everything Away“ mit Anti-Tanz-Elektrorhythmen und Synthflächen noch mal zaghaft die frühen 90er streift, die Türe schließt und vielleicht neue öffnet.
Wagen wir diesmal besser keine Prognose, nur eine Kurzbilanz: zwei Einträge ins Best-of-Register, einiges Füllmaterial für popüberdrüssige Schreiber und manches, was wachsen könnte. Das wird der Frühling weisen, dieser oder ein anderer.

(Anmerkung: Dieser Text entstand sechs Tage vor David Bowies Tod und erscheint hier aus Gründen der historisch-atmosphärischen Stimmigkeit ohne jede Nachbearbeitung.)

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 24. Februar 2016

Belästigungen 03/2016: Vom Nachbarn und vom Furor des Vorfrühlings (bitte keinen Zusammenhang suchen!)

Wer braucht eigentlich Nachbarn? Nachbarn sind das allerletzte! Kaum will man schlafen, veranstalten sie Tischtennisturniere und Blockflötenkonzerte oder greifen zum Preßlufthammer, um Mauern einzureißen. Wenn man andererseits mal Gäste bewirten muß, weil aufgrund der unmenschlichen Münchner Sperrstundenregelungen noch keine Kneipe aufhat, oder das Schaffen von Miles Davis in den siebziger Jahren einer Neubewertung zu unterziehen trachtet, hämmern sie mit Besen gegen die Wände, um eine angebliche Belästigung anzuprangern.
In sämtlichen Ecken und Winkeln der Wohnung stapeln sich ihre verpackten Konsumgüter, die sie vor Jahren bestellt und offenbar doch nicht so dringend gebraucht haben. Aber kaum erwartet man selbst ein lebensnotwendig dringendes Paket und muß fünf Minuten aus dem Haus und der listige Bote hat mal wieder an der nächsten Ecke gelauert und rumpelt genau in diesen fünf Minuten daher, dann ist keiner da, weil die Kerle angeblich arbeiten oder sonst was müssen. Wo sie doch ganz offenbar den ganzen Tag nichts anderes tun als Würste und andere Scheußlichkeiten in Pfannen zu verbrennen, um das Treppenhaus zu verpesten.
Aber das sind ja nur alltägliche Kleinigkeiten! Wenn Nachbarn durch eine unglückliche Wendung der kapitalistischen Erbmechanismen in den Besitz von Geld geraten, hängen sie einem Balkone übers Fenster oder kaufen sich einen Porsche, um zu Zeiten, in denen vernünftige Menschen die Zumutungen des Alltags in Träumen verarbeiten, durch die Hofeinfahrten zu brettern und die Terrormotoren knattern zu lassen, daß der Putz rieselt und die Vögel aus den Bäumen fallen. Steht ihnen Grünland zur Verfügung, pflanzen sie Koniferen, Thujen und anderes Nadelgestrüpp, durch das kein winziges Sonnenstrählchen mehr dringt, und wenn sie ein ganzes Land ihr eigen nennen, dann kommen sie irgendwann auf die Idee, irgendwo einzumarschieren und irgendwas zu annektieren.
Im Extremfall. Normalerweise ist es die naturgegebene Aufgabe des Nachbarn, sich zu beschweren und einzumischen. Zum Beispiel dann, wenn man Sachen aus dem Fenster schmeißt, was ebenso natürlicherweise hin und wieder sein muß, weil einem sonst der Kragen platzt und ein Magengeschwür wächst. Das gilt insbesondere zu jener seltsamen Jahreszeit, die eventuell Vorfrühling heißt und unter den Bedingungen der Erderwärmung ungefähr eine bis zwei Wochen nach dem Ende des Spätherbstes (Weihnachten) eintritt: Da strahlt die Sonne, bläut die Luft, zwitschern die Vögel, und der Mensch entsteigt seinem Winterlager, um Vorbereitungen zu treffen, die für eine ordnungsgemäße Durchführung des Frühlings nötig sind.
Dazu gehört, die seit den Neunzigern nicht mehr entstaubte Wohnung „auf Vordermann“ zu bringen, in deren versteckten, selten bis nie beachteten Schränken und anderen Lagerstätten Stapel von Studienunterlagen, Gerichtsurteilen, Zeitungsausschnitten und anderem Zeug, das man „irgendwann noch mal durchschauen“ wollte (und im Grunde will) langsam zusammensinken und dabei hin und wieder einen der Silberfische plätten, die durch ihr Fraßwerk das Zusammensinken bewirken. Weil man beschließt, daß einem das Zeug nun wirklich endgültig nichts mehr sagt (zwanzigseitige Scheidungsurteile? mit unentzifferbar wirren, verblaßten Graphiken gefüllte Zettel mit Aufschriften wie „Segmentierungsvorschlag zur erzählten Zeit des Erzählers“?), füllt sich zunächst die Altpapiertonne (Nachbar: „Da müssen Sie aber schon die Klammern entfernen, oder sind die aus Papier, hm?“). Weil man grad dabei ist, gefällt einem das mit großteils photokopierter Literatur zur deutschen Geschichte der Jahre 843 bis 1970 gefüllte und ungefähr gleichzeitig mit gewissen Banken in Schieflage geratene Regal auch nicht mehr recht. Also baut man es ab, wodurch der Raum aus dem optischen Gleichgewicht gerät, weshalb die übrigen Regale folgen, bei deren Entfernung man faustgroße Löcher in den Putz reißt. Man schleppt in Staubwolken Halden von Büchern in andere Zimmer, wickelt sich in Spinnweben und unklar gepolte Elektrokabel, kratzt Tapetenreste ab, stolpert über Farbkübel und Klappleitern. Und spätestens beim Versuch, nach dem Neuanstrich der Zimmerwände und des Bodens und der Decke die Regale wieder aufzubauen, kommt das Fenster zum Zug, wenn nämlich die Kreuzschlitze der zehnten Kreuzschlitzschraube sich erneut in ein kreisrundes Loch verwandeln und man die Konstruktion mit der linken Hand nicht mehr halten kann, weil einem der Bohrschrauber aus der rechten fällt und unter Mitnahme von Kaffeetasse und Aschenbecher in die zu ihrem eigenen Schutz neben dem Arbeitsplatz gestapelten Spiegel und Bilderrahmen kracht.
Dann heißt es: Fenster auf und hinaus mit dem Zeug! Das Werkzeug zuerst, dann die Scherben und endlich die Malefizregalbretter! Schreitet der Nachbar nicht rechtzeitig ein, dürfen auch die Bücher folgen, weil einen unter anderem der Investiturstreit und die Geschichte des Trinitarierordens sowieso nie mehr interessieren werden und die Dinger dermaßen undankbar und schadenfroh grinsen.
Irgendwann ist die Wohnung dann so weit verwüstet, daß man sie verlassen muß, weil sowieso gerade die Sonne ums Hauseck bricht und die zugestaubten Lungen nach Frischluft krähen. Man steigt aufs Radl und stellt nach vier Metern Fahrt fest, daß der hintere Reifen ebenfalls nach Frischluft kräht oder vielmehr gekräht hat, weil er jetzt nicht mehr krähen, sondern nur noch auf der Felge übers Pflaster scheppern kann.
Was sich anschließend abspielt, ist in zivilisierten Worten kaum zu beschreiben. Fassen wir es sinngemäß zusammen: Wie gut, Herr Nachbar, daß man Fahrräder nicht aus dem Fenster schmeißen kann, weil das zunächst erfordert, sie in die Wohnung zu schleppen, was eine solche Anstrengung ist, daß einem dabei die Wut verpufft. Und falls man's doch schafft und noch genug Restzorn übrig ist, läuft man sperrigkeitsbedingt Gefahr, versehentlich das Fenster gleich mit aus dem Fenster zu schmeißen, und das wäre dann doch zu folgenreich.
Zumal nächste oder übernächste Woche möglicherweise der Nachwinter daherkommt. Da ist ein Fenster schon ganz hübsch, wenn man gemütlich neben dem Ofen in den Trümmern sitzt und Pläne für die Neugestaltung der Wohnung schmiedet, während draußen – möglicherweise, wer weiß! – der Hinterreifen wieder heilt.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 13. Februar 2016

Frisch gepreßt #356: Diverse Interpreten "Für Hilde"


Es ist schon schwierig mit den Deutschen. Setzt man an einem imaginären Cafétisch Marilyn Monroe und Hildegard Knef nebeneinander, wird man ahnen, was ich meine. Dabei hätten (und haben) sich die beiden möglicherweise gut verstanden; schließlich ist Filmen eine höchst episodische, ganz normale Tätigkeit: Man wartet, stellt sich unter Lampen vor eine Kamera, führt ein paar Sekunden lang Bewegungen und Sprechakte durch, wartet wieder. Leider umwolkt das Berufsfeld ein diffuser Nebel aus Mystifizierung und Mythisierung, der dazu führt, daß man die Darsteller mit den Dargestellten mindestens ideell identifiziert und diese dem Strudel der Nimbusbildung im Zweifelsfall selber auf den Leim gehen.
Unsere beiden waren fast gleich alt (die Knef ein halbes Jahr älter), und zieht man die nationalen Differenzen ab, verlief ihre frühe Karriere sehr ähnlich. Allerdings: die nationalen Differenzen, eben: Dort ein mythologisches Selfmade-Amerika, in dem eine uneheliche Halbwaise nach einer katastrophalen Jugend via „Entdeckung“ (in einer Rüstungsfabrik) als Animations-Model für Kriegspropaganda mit 20 „Nachwuchsschauspielerin“ wird. Hier ein mit der Zerstörung von ganz Europa beschäftigtes deutsches Reich, in dem die mittelständische Tochter eines an Syphilis verstorbenen Kaufmanns noch in den letzten Kriegsjahren zur Schauspielerin ausgebildet wird, in Filmen auftritt, die niemand sehen kann, über Kabarett und Theater in den ersten Nachkriegs-Kinohit gerät („Die Mörder sind unter uns“, 1946). 1948 sitzen beide mit Verträgen in Hollywood fest: Monroe darf für wenig Geld wenigstens ab und zu als Kleindarstellerin auftreten, Knef kriegt jede Woche einen hübschen Scheck, aber keine Rollen.
Dann kam hier „Die Sünderin“, der Skandalfilm des Jahres 1951, dort „All ABout Eve“ und der Rummel um ein Nacktfoto – plötzlich waren beide Stars und bei derselben Firma unter Vertrag, drückten ihre Hände und Füße in den Zement vor Grauman's Chinese Theatre und traten auch als Sängerinnen hervor: „Diamonds Are A Girl's Best Friend“ versus „Ein Herz ist zu verschenken“.
Und damit trennen sich die Wege. Glamour, Selbststilisierung, Weltruhm, Overkill und früher Tod dort, Kunst bis Gekünstel, geplatzte Verträge, Verzettelung im Mittelmaß, Flops und privater Wirrwarr hier. Als Monroe tot war, wurde Knef zur Starsängerin, deren unverwechselbare Mischung als Bräsigkeit und Bratzigkeit, aus unbeholfener Verletzlichkeit und hölzernem Grobgefühl, aus trampeliger Pampigkeit, ironisiertem Schnodder, Rauchschärfe, Stolpermelodien und splitterndem Charme sie als fast konkurrenzlose Regentin in dem merkwürdigen Genre des teutonischen Chansons von 1963 bis 1970 ungeheure Erfolge feiern ließ. Danach wurde die „beste Sängerin ohne Stimme“ (Ella Fitzgerald) als autobiografische Buchautorin noch berühmter, stürzte sich in Klein- bis Großkriege gegen Boulevardmedien und Exehemänner und floh als ungeschickt geliftete Skandalnudel nach Los Angeles, wo man sie dann relativ schnell vergaß, trotz oder wegen Kurzzeit-Comebacks mit Extrabreit (1992) und Till Brönner (1999), die vor allem die Bandbreite ihres Mangels an Fingerspitzengefühl dokumentierten. 2002 war die lange Reise zu Ende.
Ohne Zweifel: ein Jahrhundertleben, Stoff für tausend Geschichten und eine nicht geringe Zahl bemerkenswerter Lieder, die man zum 90. Geburtstag gerne mal wieder neu interpretieren darf. Nachdem „Ihre Lieder sind anders“ 2005 (u. a. mit Tom Liwa, Stereo Total und Paula) die abseitigeren Facetten des Knefschen Werks erkundete, ist diesmal mit Mark Forster, Fanta 4, Samy Deluxe, Miss Platnum, Clueso und dem unverweidlichen Bela B. eher der Mainstream dran. Das ist weniger spannend, trotzdem über weite Strecken zumindest interessant und auf seine Weise ja auch eine Art Indiz für die Zeiten und wie sie sich ändern (und in anderer Hinsicht immer gleich bleiben).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 4. Februar 2016

Belästigungen 02/2016: Weshalb der Wortfluß stockt und warum er das beizeiten muß (eine Abschweifung)

Von allen Übeln, die den Menschen befallen, ist das schlimmste: die Schreibblockade, der Ursumpf literarischen Schweigens, die Rachegöttin des gräßlich weißen Blatts, der grauenerregende Hirnkrebs, der den Schöpfer des Weltsinns mit leerem Schädel starrend zurückläßt, während unter dem Balkon des Elfenbeinturms die bange Masse händeringend harrt, vereint im Entsetzen angesichts der schwärenden Drohung, die Schaffenskraft werde womöglich nie wieder erwachen.
Denn was dann, wenn sich aus dem individuellen Leiden am nicht geboren werden wollenden Wort eine Epidemie entwickelt? Wenn die Zeitungsseiten leer bleiben, wenn die Stände der Buchmessen verwaisen, nur sporadisch bestreut mit Goethe-Neuauflagen für den Schulunterricht und einer um ein paar neuerdings „erlaubte“ Schreibweisen erweiterten Duden-Aktualisierung? wenn im Fernsehen ein Denis Scheck mit leeren Händen als der tumbe Mops dasteht, der er immer schon ist, den aber unter der Maske des scheinbar eloquenten und feinst literarisierten Dampfplauderers keiner sehen mochte?
Was passiert dann? Zieht das lesende Volk dann die geschenkten beziehungsweise auf dringende Empfehlung des damals noch ekstatisch pulsierenden, nun aber schlaff erlahmten Rezensionsbetriebs erworbenen Bestseller der letzten Saison aus dem Regal und schlägt sie lustlos auf, um festzustellen, daß die Shooting-Stars, Fräuleinwunder und Junggenies vom Herbst 2015 denselben Mist fabriziert haben wie ihre Vorgänger 2008 und 1995? Es wäre schrecklich!
Und so sitzt der Schöpfer am Tisch und ringt mit dem Dämon, der ihm den Ideendarm verknotet hat, starrt aus dem Fenster in einem Himmel, an dem der Föhnsturm die Januarwolken dahin und wieder daher treibt, ohne Formulierenswertes zu allegorisieren. Mitleidvolle Freunde regen an, er möge sich doch Anregungen holen, indem er „aktuelles Geschehen“ verfolge. Aber das Studium des vermeintlich politischen, womöglich gar „philosophischen“ Geweses, das ihm aus den Verkündungskanälen entgegenströmt, verhärtet den Krampf zur absoluten Starre und treibt den armen Poeten am Ende noch in den Suff, der schon ganze Schulen hoffnungsvoller Dichter wie James Joyce zu wirren Schwätzern entstellte.
Dabei ist es doch so: daß der Schreiber als Beruf überhaupt erst einen solchen vorweisen kann, seit Jungmenschen danach streben, das „Handwerk“ des Schriftstellens zu erlernen, indem sie sich ein „Studium“ draufschaffen, dessen Absolvenz ihnen die Tür zu einem Betrieb öffnet, in dem folgerichtig produziert werden muß, und zwar planvoll und regelmäßig. Keine Saison, in der nicht ein Rudel solcherart Qualifizierter ihren Gesinnungs- und Befindlichkeitenquatsch zu schäumendem Wortquark aufrührt, dessen vorgeblich „gegenwärtige“ (oder „aktuelle“) Ort- und Zeitlosigkeit offenbar niemandem mehr auffällt oder wenigstens keinen mehr stört. Da werden Telephonhörer in die Hand genommen, wird telephoniert und am WG-Tisch schwadroniert, reist man da und dort hin, um sich selbst zu finden, findet aber immer nur offene Enden und eine als Melancholie deklarierte Leere, die den Leser mit einem Ennui vermeintlicher Erhabenheit und Welterkenntnis auffüllt, die ihm wirksam jeden Versuch austreibt, tatsächlich etwas zu erkennen von der Welt, die ihn umgibt, und ihn statt dessen antreibt, ebenso ort- und zeitlos „sich selbst“ finden zu wollen.
Weiter ist es so: daß der Schreiber beneidenswerterweise eine Arbeit, einen Beruf im günstigen Falle gar nicht hat und haben kann. Zumindest ist ihm eine Neigung zum, mindestens Sehnsucht nach dem Reich der Freiheit eigen, das, wie wir von Karl Marx wissen, erst da beginnt, „wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“. Ein Schreiber, der nicht schreibt, tut also nur das, was ihm natürlicherweise zukommt und -steht, in schroffem Gegensatz etwa zum Blechstanzer, zum Teerkocher, der Blech stanzen und Teer kochen muß, weil ihm sonst Herrschende, denen seine Schufterei ihr faules Gewese ermöglicht, die Lizenz zur Selbsterhaltung entziehen.
Der Schriftsteller, der pünktlich zum Halbjahr seinen Band abliefert, von denselben Herrschenden mit Lobung, Ehrung und Preisen bedacht wird und diese Form der würdelosen, sinnlosen, lediglich zielbestimmten „Produktion als Selbstzweck“ (Theodor W. Adorno) als sein „Berufsleben“ verkauft oder gar empfindet, der ist also ein solcher gar nicht, weil ihm der (nicht nur) von Moses Heß erkannte und definierte unbedingte und unüberwindbare Gegensatz zwischen freier Tätigkeit und gezwungener Arbeit entweder gar nicht bewußt ist oder mit der Zeit und unter den Zwängen des Betriebs verschwimmt.
Damit dies niemand bemerkt, damit der „wahre“ Schriftsteller, der sich so wenig zur Arbeit zwingen läßt wie eine müßig in der Mittagssonne auf dem Fensterbrett dösende Katze, nicht als der Dissident erkannt wird, der er sein muß, und möglicherweise zersetzende Wirkung entfaltet, indem er auch andere zur Faulheit und zu einem sinnvollen Leben verleitet, wird ihm zu Zeiten, in denen er die Frage des Reporters (der seinen aktuellen Roman in die Kamera hält), was er denn als nächstes zu schreiben gedenke, mit einem frechen „Keine Ahnung, vielleicht nichts!“ beantwortet, eine Schreibblockade unterstellt. Allenfalls gönnt man ihm noch die verharmlosende Beschönigung, er ziehe sich für einige Zeit „zu Studienzwecken“ zurück.
Freilich werden hartleibige Verfechter des Rödelns und Machens und Schöpfens und Erzeugens, der Fließbänder und der Akkumulation von Geld, Müll und Elend einwenden: Ach, der Sailer! Da fällt ihm mal eine Woche lang nichts ein, schon schraubt er daraus mal wieder so eine Tirade zusammen!
Da mögen sie schon recht haben. Das macht aber nichts, ätsch.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



(Aus dem tiefen Archiv:) Bestsellende Groschenhefte


Die Süddeutsche Zeitung fand es letzten Herbst vermeldenswert, die mittlerweile inflationär in den Illustrierten wuchernden Bestsellerlisten hätten „offenbar nicht, wie sich die Verlage erhoffen, auch noch zusätzliche werbende Wirkung“. Laut einer Umfrage nämlich seien derartige Buch-Hitparaden „nur für 27 Prozent der Deutschen eine wichtige Orientierungshilfe“. Man greift sich an den Kopf und fragt sich verzweifelt, was für eine Form von Journalismus es sein könnte, wenn man einer Reklametrommel, deren Gedonner ein gutes Viertel der Gesamtbevölkerung Folge leistet, die Wirksamkeit abspricht – ganz offensichtlich ist das Gegenteil richtig, und wenn ein Viertel aller Bücher, die überhaupt verkauft werden, zuvor schon Bestseller sind und es deswegen auch bleiben, möchte man als wohlmeinender Buchrezensent die eigene Wirksamkeit mit der einer Stubenfliege auf einem Neonazikongreß vergleichen und zur intellektuellen Selbstentleibung schreiten: Lest doch, was ihr wollt!
Ein Blick auf eine solche Liste – in diesem Fall: die des Börsenvereins des deutschen Buchhandels von Mitte Mai 2010 – ergibt die weiterführende Erkenntnis, daß die Wirksamkeit umgekehrt auch nicht größer ist, denn von den dort aufgeführten 25 belletristischen Bänden ist dem Autor dieser Zeilen nicht ein einziger und kaum einer der Autoren auch nur flüchtig bekannt, zu schweigen von Verlagen wie Allegria, Baumhaus-Medien und Penhaligon, hinter denen er eher eine Frauenverblödungspostille, einen Ökokatalog und ein homöopathisches Tröpfchen für den inneren Engel vermutet hätte. Ein Großteil der Titel (und der sie verlegenden Firmen) wiederum läßt aus Erfahrung vermuten, daß sich dahinter derselbe Einheitsstuß verbirgt wie hinter ähnlichen Titeln seit Jahrzehnten: „Der Feind im Schatten“ (Zsolnay), „Erbarmen“ (dtv), „Mit dir an meiner Seite“ und „Der Menschenräuber“ (beide Heyne), „Das Gold der Maori“ (Bastei), „Cash“ und „Betrogen“ (beide Fischer), „Todesspiele“ (Droemer Knaur) usw. usf. … Das hat man alles so unendlich oft auf Stapeln in Kaufhäusern gesehen, daß man sich die Kitschtitelbilder (von der gelbrot besonnten Savanne bis zum erhobenen Blutdolch) automatisch dazudenkt und den Inhalt (heutzutage mangels Interesse an sprachlichen Qualitäten „Plot“ genannt) in drei Sätzen aufsagen könnte, wenn man jemals Lust verspürt hätte, den reaktionären bis esoterischen Schwachsinn einer exemplarischen Lektüre zu unterziehen.
Wieso wird der immergleiche Schund immer wieder gekauft? Weil ihn alle kaufen? Wer sind dann die ersten, die das tun, und warum? Und weshalb kennt kein Mensch, den man kennt, eines dieser Bücher? Bleiben wir bei Frage eins und stellen versuchsweise die These auf, das sei früher anders gewesen. Das scheint sich belegen zu lassen: Im Mai 1968 waren auf der Liste der meistverkauften (belletristischen) Bücher Elia Kazan, Michail Bulgakow, Hubert Fichte, Simone de Beauvoir und Henry Miller vertreten, und wenn man die Frage der Zuverlässigkeit der Zählungen (ebenso wie die nicht von der Hand zu weisende Tatsache, daß die heutigen „Buchkaufhäuser“ damals noch nicht einmal denkbar waren) außer acht läßt und sich durch die meistverkauften Bücher der sechziger oder früherer Jahre wühlt, zieht einen der Kulturpessimismus hinab wie ein übler Sumpf. Von Siegfried Lenz bis Mao Zedong, von Capote bis Marcuse, Arendt, Burgess, Lem, Jungk, Nabokov, Golding, Bradbury, Dürrenmatt, Pavese, Orwell, Greene, Malaparte, Mailer, Camus, Kogon waren die Abgriffhalden jener Zeit offenbar angefüllt mit Weltliteratur. Wann und warum hat sich das geändert?
Die Antwort ist klar: Es ging, wie das meiste, was der fortschreitende Endkapitalismus an intellektuellen Verfallserscheinungen mit sich zieht, schleichend voran. Erich von Dänikens Außerirdischengetue ragte in einer Zeit, als man schon C. W. Ceram und Werner Kellers Dauerbestseller „Und die Bibel hat doch recht“ (1955) als populärwissenschaftlich anprangerte, als Monolith der Weichköpfigkeit heraus, Dale Carnegie deckte das „Ratgeber“-Sortiment über Jahrzehnte zuverlässig ab, und auch trivialer Kitsch wie Eric Malpass’ immerhin auf Shakespeare zurückzuführende Gaylord-Schmonzetten verirrte sich hie und da in die Listen, aber das Konzept „Bestseller“ – also ein Buch, das die Massen ohne Rücksicht auf seine literarische oder sonstige Qualität allein aufgrund gezielter Reklame oder zu erwartender Verkaufserfolge einfach so kaufen – war wohl in der BRD noch zu wenig verankert, um Wirkung zu entfalten. Gekauft (und damit aber noch nicht automatisch gelesen) wurde, was (auch, aber nicht nur) die Kritik als wertvoll, mindestens aber wichtig identifiziert hatte. Den Hunger nach billigem Zeitvertreibsschund stillten derweil „Landser“-Hefte, Arzt- und Schicksalsromane, pseudoamerikanische Krimi-, Western- und Science-fiction-Serien, denen gemeinsam war, daß sie mit rassistischen, militaristischen, heroistischen und geschichtsfälscherischen Elementen einen wesentlichen Beitrag zur Abtötung des schlechten Gewissens der Nazigeneration leisteten und zugleich in einer als logisch empfundenen Kontinuität den Kalten Krieg quasi naturgesetzlich in den Köpfen nicht nur derer verankerten, die schon vor 1945 die Kommunisten für schlimmer gehalten hatten als die Massenmörder im eigenen Haus (oder der eigenen Haut). Derlei Zeug gibt es massenweise seit dem späten 18. Jahrhundert, aber eben nicht im „normalen“ Buchhandel, sondern am Kiosk und im Kaufhaus, es galt selbst seinen Konsumenten nicht als Literatur, und seine immensen Verkaufszahlen schlugen sich selbstverständlich nicht in Bestsellerlisten nieder.
Dann stieg die Zahl der als Buch veröffentlichten Titel immer mehr, und damit wuchs auch das Bedürfnis nach Orientierung, das zunächst noch die allerdings in Rekordzeit verwahrloste und auf Massenkompatibilität getrimmte Kritik stillte – mit einem wohligen Schaudern entsinnt sich der Autor der eigenen Anstellung in einer Buchhandlung in den Neunzigern, als am Tag nach „Der Sendung“ stets riesige Stapel der Bücher, über die Reich-Ranicki, Karasek und Löffler schwadroniert hatten (meist ohne sie gelesen zu haben), in die Regale geräumt und umgehend „abverkauft“ wurden. Die Frage, ob all die Bücher wirklich (noch) wer las, trat in den Hintergrund, weil über Literatur nicht mehr öffentlich diskutiert wurde, – unmittelbar nach Erscheinen waren sie kein „Thema“ mehr, es mußten ja die nächsten Halden an Titeln irgendwie an den Käufer gebracht werden. Rezensenten, die ein drei Monate altes, bereits „besprochenes“ Buch noch einmal hervorzogen, sich gar mit seiner Rezeption beschäftigten, galten als verworrene Spinner. Die Verlage leisteten dem Vorschub, in ihrem ohnmächtigen Furor, so viel wie möglich auf den Markt zu werfen, um die zurückgehenden Absatzzahlen zu kompensieren (und, zumindest vorgeblich, die wenigen „wichtigen“, aber angeblich kaum verkäuflichen Bücher zu subventionieren). Und sie erreichten das Gegenteil: Als selbst ein vordem als verläßliches Haus für Niveau und Qualität geltender Verlag wie Suhrkamp anfing, sein Sortiment um simple Krimis zu erweitern, griff niemand mehr einfach so zu Büchern, nur weil ein guter Name draufstand. Kaum eine Zeitschrift leistete sich noch echte Kritiker, und wenn doch, mußten diese mit blutendem Herzen Zehn-Zeilen-Kauftips zu Zeug tippen, das die Anzeigenabteilungen vorgaben und das sie mangels Zeit oft kaum angelesen hatten. Und die Buchhändler? Auch von denen war kaum mehr zu hören als Ächzen und Seufzen über den trivialen Müll, den sie ihren Kunden notgedrungen andrehen mußten, weil die’s verlangten und ihre Empfehlungen ignorierten (falls sie zu solchen angesichts der anschwellenden Flut von Leseproben und der wirtschaftlichen Not, in die die wuchernden Konzerne und Ketten sie stürzten, überhaupt noch willens und in der Lage waren).
Die Folge dieser vielfältigen und doch einheitlichen Entwicklung nach unten ist fatal: Da ein literarisches Kunstwerk erst zum „Kulturwerk“ (Gilbert Adair) wird, wenn „darüber nachgedacht, gesprochen, gelesen, kommuniziert, wenn es mit anderen geteilt wurde“ (ders.), könnte man behaupten, daß es eine literarische Kultur heute, im Zeitalter der belanglos durch Kaufhäuser, Wohnzimmer und Altpapiercontainer flutenden Bestseller (wo ein Großteil der Produktion schon wenige Wochen nach Erscheinen im Second-hand-Internetladen für 0,01 Euro zu haben ist, plus Versandkosten, von denen der antiquarische Buchhandel inzwischen offenbar lebt) und der wenigen „bedeutenden“ Bücher, über die man ab und an in den Feuilletons liest, die aber niemand kauft, gar nicht mehr gibt. Die Popmusik, die ähnliches ebenfalls seit vielen Jahren durchmacht, die gemeuchelt wird von verblödeten Konzernexekutoren, die die Welt mit Müll zuschütten und gleichzeitig jammern, daß niemand den Müll mehr kaufen mag, hat hier einen großen Vorteil: Sie läßt sich zwangsversenden, über gleichgeschaltete Radios und ein Arsenal von Beschallungsapparaten, denen kaum vollständig zu entkommen ist. Mit einem Buch geht das nicht – oder zumindest nicht so gut; man kann es höchstens durch aufwendige Medienkampagnen zum Bestseller aufpumpen, dem gleichwohl der Ruch anhängt, niemand habe sich über den Kaufvorgang hinaus je damit beschäftigt. Wer einmal versucht, ein paar Seiten von Paulo Coelho tatsächlich zu lesen, MUSS das glauben oder an einer Menschheit, die dem Mann binnen zwanzig Jahren eine annähernd dreistellige Millionenzahl von Schwarten abgekauft hat, verzweifeln.
Es gibt also zwei Arten, die deutlichen Unterschiede in den Bestsellerlisten früherer und heutiger Zeiten zu deuten. Die eine ist die Vermutung, es gebe diese Unterschiede gar nicht. Früher kaufte man gute Bücher, las sie sporadisch und vergnügte sich ansonsten mit blödem Mist, der nicht wie heute gebunden in angesehenen Verlagen erschien, sondern als Groschenheft verramscht wurde und deswegen nicht auf Buchverkaufslisten erschien. Heute kauft und liest man nach wie vor gute Bücher, die es aber nicht mehr in die Listen schaffen, weil dort der dumme Dreck sich tummelt, der von einstmals angesehenen Verlagen in (angemessen billig zusammengeleimten, aber protzteuer verkauften) Hardcover-Ausgaben zum „Event“ hochtrompetet wird, während gleichzeitig und logischerweise die Auflagenzahlen der Groschenromanindustrie zurückgehen. So hätte sich insgesamt kaum etwas verändert, abgesehen von Charakter und Aussage der Listen: Die bilden heute ab, was sie früher ignoriert haben, und umgekehrt. Man könnte sie umbenennen, wenn ihr Name nicht von je her wertfrei wäre.
So einfach ist die Sache aber nicht, wie ein Blick aus dem Fenster, auf die Straßen, ins Fernsehen, an den Kiosk, in Kneipen, Kinos, Internet zeigt: Es scheint, als würde überall das, was einst als Bodensatz galt, als Krone der Kultur zelebriert, vom „Blockbuster“ bis hin zu all dem einst peinlichen Zeug, das in nostalgischer Verklärung als „Kult“ eine teure Wiederauferstehung in die „Unsterblichkeit“ erlebt – und hat sich nicht auch (zum Beispiel) die Rezeption des Fußballspiels (seit der Weltmeisterschaft 2002) und der Schlagerkloake „Grand Prix d’Eurovision“ zumindest hierzulande bis in angeblich intellektuelle Kreise hinein so komplett verändert, daß man angesichts der tobenden, entfesselt fähnchenschwenkenden Nationalistenhorden meinen möchte, man habe die Vorladung zur verpflichtenden allgemeinen Gehirnamputation in der Post übersehen? Ist es da ein Wunder, daß literarisch anspruchsvolle Belletristik meist nur noch von Kleinstverlagen ohne Profitanspruch gepflegt wird? Und wer ist daran schuld? Die Herrschenden, ob sie sich nun Regierung oder Wirtschaft oder „Elite“ nennen? Im Falle des Buch(un)wesens: „mächtige Kräfte“, wie Hainer Plaul in seiner „Illustrierten Geschichte der Trivialliteratur“ vermutet? Konzerne und Medien, die uns verblöden, egal ob absichtlich und gezielt oder unter dem Joch ökonomischer Zwänge, die wir ihnen auferlegen, weil wir uns weigern, das im Kapitalismus nun einmal unabdingbare Wachstum durch immer schnelleres Weglesen von immer mehr „guter“ Literatur zu erzeugen?
Es ist wohl wie bei vielen kulturpessimistischen Verschwörungstheorien, die letztlich ohne Verschwörung und Verschwörer auskommen: Wenn man Trinkwasser und Gülle mischt, ist irgendwann alles Gülle. Und die Dummheit setzt sich im Kapitalismus ganz von alleine durch, wenn niemand ihr einen Damm entgegenbaut.

geschrieben im Mai 2010 für KONKRET